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Uber die Lieder der Biermosl Blosn
Uwe Durst
Published online: 24 December 2010� Akademiai Kiado, Budapest, Hungary 2010
Zusammenfassung Die Biermosl Blosn ist eine in Deutschland sehr bekannte bayerische
Musikkapelle, die sich parodistisch mit traditionellen ‘Volksliedern’ auseinandersetzt. Der
Aufsatz untersucht die sich hierbei entfaltende evolutionare Aktivitat. Zunachst wird die
kategorielle Differenz zwischen ‘echtem Volkslied’ und industriell gefertigtem ‘volks-
tumlichen Lied’ problematisiert und Ernst Klusens Auffassung bekraftigt, daß es so etwas
wie das Herdersche Volkslied nie gegeben hat. Statt dessen gab und gibt es nur die Lieder
sozialer Gruppen, die fur sie lebenspraktische, nicht aber asthetische Funktionen erfullen.
Die Biermosl Blosn zerbricht die petrifizierten Verfahren tradierter Gruppenlieder,
wodurch diese prasentativ gewendet zu kunstlerischen Gegenstanden werden, die keine
lebenspraktische Funktion mehr besitzen und ihren Gruppenliedcharakter verlieren. Die
verschwundene Gruppe wird dabei durch bestimmte Verfahren simuliert.
Schlusselworter Biermosl Blosn � Hans Well � Bayerische Musik � Volkslied �Volkstumliches Lied � Gruppenlied � Ernst Klusen
I
Hans Well, der alle Texte der Biermosl Blosn verfaßt,1 hat sich 1997 zu ihrer Poe-
tik ausfuhrlich geaußert und ‘‘eine personliche Standortbestimmung in Sachen
U. Durst (&)Schwieberdinger Str. 61, 70435 Stuttgart, Germanye-mail: [email protected]
1 Die Biermosl Blosn (bayr., ‘Beerenmoor Clique’) besteht seit 1976, sie hat drei Mitglieder, die BruderHans, Michael und Christoph Well. Auf alteren Tontragern ist falschlich Christoph statt Hans Well alsTextautor angegeben. Neben Liedern, die an keine unmittelbare Vorlage anschließen, und solchen, dieuberlieferte Lieder parodieren, veroffentlicht die Biermosl Blosn auch traditionelles bayerisches Liedgut,das textuell unverandert bleibt (vgl. u.a. Biermosl Blosn (‘‘Sepp’’, Tontrager 1993; ‘‘Rauber’’, Tontrager1998).
Bisher haben sich kaum wissenschaftliche Arbeiten mit den Liedern der Biermosl Blosn aus-einandergesetzt. Eine Ausnahme bildet die lesenswerte Untersuchung von Matthias Strose (2009).
123
Neohelicon (2011) 38:223–241DOI 10.1007/s11059-010-0087-0
Volksmusik’’2 vorgenommen. Bayerische Musik, schreibt er, habe einerseits ein erzkon-
servatives, ja reaktionares Image, andererseits werde sie mit dem ‘‘Deppenbild des
Volkstumlichen’’ identifiziert, da viele Menschen nicht mehr in der Lage seien, Volksmusikvon volkstumlicher Musik zu unterscheiden. Er fuhrt dies auf drei Ursachen zuruck:
1. Bayern sei das einzige Bundesland, in dem noch eine traditionelle Volksmusik
existiere, in den ubrigen sei sie langst verloren gegangen. Nicht-Bayern falle es daher
schwer, die Begriffe zu differenzieren.
2. Die mediale Prasenz des Volkstumlichen drange die Volksmusik in den Hintergrund.
Fernsehsendungen wie der Grand Prix der Volksmusik oder die Schlagerparade derVolksmusik vermengten die Begriffe, um zu suggerieren, daß das volkstumliche Lied
eine dem Volkslied aquivalente Authentizitat besitze.3 ‘‘Fast alle volkstumlichen
Gruppen schmucken sich bezeichnenderweise mit dem Titel ‘Original’ – wohl
wissend, daß […] diese Musik und ihre Protagonisten genau das Gegenteil von
original sind.’’4 Tatsachlich stehe die volkstumliche Musik mit ihren musikalisch-
literarischen Klischees ‘‘dem Schlager und der Popmusik wesentlich naher als
originarer Volksmusik.’’ Wie der Schlager erzeuge sie die Illusion einer heilen Welt:
Die Thematisierung von politischen bzw. sozialen Mißstanden galten (anders als im
Volkslied) als Miesmacherei und seien allenfalls ‘‘stark verkitscht’’ zulassig. Trotz der
Phantasietracht, mit der die Musikgruppen ein ‘‘optisches Signal fur Heimatverbund-
enheit und Naturnahe’’ setzten, handle es sich bei der volkstumlichen Musik um ein
synthetisches Industrieprodukt, was schon daran zu erkennen sei, daß man dialektale
Elemente weitgehend vermeide, um den Verkauf nicht durch sprachliche Exotik zu
gefahrden.5 ‘‘Diese Musik’’, kritisiert Well, ‘‘ist […] ein musikalischer Big Mac’’, sie
bestehe aus ‘‘Ersatzstoffen und Geschmacksverstarkern’’.6
3. Die ‘‘‘echte’ bayerische Volksmusik’’ sei ihrer pflegerischen Musealisierung zum
Opfer gefallen: Man konzentriere sich auf fromme Lieder, ‘‘einfach, geradlinig und
bauerlich’’: Wie die volkstumliche Musik zeige die Volksmusikpflege
eine eigenartige Scheu […], die Welt so zu sehen, wie sie ist. So singen die
unzahligen Dreigesange halt am liebsten weiter uber Scherenschleifer, Hirtabuam,
Magde und Knechte statt uber zunftige Siemensler. Auf de Oima [den Almen]
gibt’s Koima [Kalber] und keinerlei Massentourismus oder Massentierhaltung in
den Talern. Hauptsache, im Lied ist das Altmuhltal kein Altmuhlkanal.7
Die Vermeidung von Wirklichkeitsbezugen habe zum ‘‘Museumszustand der Volks-
musik’’8 gefuhrt, was durch die Textzensur seitens der Volksliedsammler noch
begunstigt worden sei, die aus ‘volkspadagogischen’ Grunden einen wichtigen Bereich
des Liederschatzes ignoriert hatten:
2 Hans Well (‘‘Kitsch’’, 1997, S. 18). Der vollstandige Text ist ohne Paginierung auch im Internet ver-fugbar: http://www.biermoesl-blosn.de/index2.htm (Zugriff 1. Sept. 2009). Zitiert wird nach Hans Well(‘‘Kitsch’’, 1997).3 Ebd., S. 19.4 Ebd., S. 20.5 Ebd., S. 19.6 Ebd., S. 19f.7 Ebd., S. 20.8 Ebd.
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123
Der Wert ordinarer, deftig erotischer oder obrigkeitsfeindlicher Lieder wurde nicht
erkannt. Teils wurden sie gar nicht gesammelt, wodurch ein verfalschtes, geschontes
Bild des Volkes geschaffen wurde, teils weigert sich eine prude Volksmusikgeme-
inde, solche Lieder wahrzunehmen. Ein Lied wie ‘‘Es wollt’ ein Bauer fruh au-
fstehn’’ aus dem Glogauer Liederbuch des [15]. Jahrhunderts ware in seiner
Deftigkeit und Aufmupfigkeit (‘‘Der Pfaff der schrie o Schreck o Graus und hielt den
Arsch zum Fenster raus’’)9 auf einem Volksmusiktreffen heute absolut undenkbar.
Solche Lieder und Texte, die Aggressionen und Wutgefuhle gegen weltliche und
geistliche Obrigkeiten ausdruckten und fruher ebenso verbreitet waren wie ‘‘schone’’
Lieder, fielen fast ganzlich unter den Tisch.10
Das gepflegte Volkslied sei entscharft und werde ‘‘andachtsmaßig zelebriert’’,
Humoristisches werde als ‘‘Sakrileg’’ betrachtet. Eine solche Volksmusik sei ‘‘die
Zierde jedes Bauernhofmuseums.’’11
Hans Well versteht die Lieder der Biermosl Blosn als eine Art neuer Volksmusik, die
einerseits die musealisierten Strukturen traditioneller bayerischer Volkslieder entauto-
matisiert, andererseits sich von der ‘volkstumlichen’ Hitparade distanziert.
II
So plausibel die Unterscheidung zwischen ‘echter’ (‘originaler’) und ‘unechter’ Volks-
musik auf den ersten Blick scheinen mag, so problematisch ist eine derartige Differen-
zierung. Die Forschung hat widerstrebend festgestellt, daß sich keine Merkmale anfuhren
lassen, anhand derer ein einzelnes Lied eindeutig als Volkslied identifizierbar ware.12 Eine
normpoetologische Unterscheidung zwischen ‘echt’ und ‘unecht’ ist somit undurchfuhrbar.
Daruber hinaus halt der Begriff des ‘Volkslieds’ einer kritischen Uberprufung nicht
stand. ‘‘Das, was Herder ‘Volkslied’ nannte’’, kritisiert Klusen (1967), ‘‘hatte fur ihn zwei
Eigenschaften: Universalitat der Verbreitung (‘im Volke’) und Homogenitat der aesthet-
ischen Qualitat (‘Gold’, ‘Natur’). Beide Eigenschaften aber fehlen den in der Bevolkerung
umlaufenden Liedern.’’13 Weder gebe es ein Lied, das von der Allgemeinheit (d.h. von
allen Generationen und allen sozialen Schichten) gesungen werde,14 noch sei die astheti-
sche Qualitat der sogenannten Volkslieder einheitlich: man finde viel Holzernes und
Schematisches.15 Das kuhne Zusammenraffen dieser Gebilde im Volksliedbegriff habe das
Inhomogene nicht binden konnen.16 ‘‘Herder hat das selbst erkannt und sah in den von ihm
als solche anerkannten Volksliedern […] die letzten Reste des goldenen Zeitalters, die
Reste des erhaltenen Goldes unter Schlamm, die Naturpoesie schlechthin. […] Herder […|
9 Hier liegt offenbar ein Irrtum vor. Vgl. meine Bemerkungen in Abschnitt IV.10 Hans Well (‘‘Kitsch’’ 1997, S. 22).11 Ebd., S. 21.12 ‘‘Innerhalb einer mehrfach geschichteten Kultur ist das einzelne Volkslied nicht als solches erkennbar, estragt weder im Text noch in der Melodie unverwechselbare Volkslied-Kennzeichen an sich. […] Volks-poesie einerseits und Kunstdichtung andererseits sind nicht gesondert zu betrachten.’’ (Suppan 1978, S. 28.)13 Klusen (1967, S. 36).14 Ebd.15 Ebd., S. 27.16 Ebd., S. 37.
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 225
123
rettete sich in die Fiktion […]’’,17 was zur Folge hatte, daß spatere Liedsammler ver-
suchten, das ‘echte’, das ‘schone’ Volkslied aus dem vorhandenen Material herauszu-
destillieren: Sie grenzten jene Lieder aus, die die gesetzte Norm nicht erfullten. Die ganze
Diskussion um das Volkslied, diagnostiziert Klusen, bezeuge die verwirrenden Bemuh-
ungen der Forscher und Pfleger, die Fakten mit Herders Volkslied-Fiktion in Uberein-
stimmung zu bringen.18 Zwei Jahrhunderte lang habe man versucht, eine Sache
intellektuell einsichtig und praktisch darstellbar zu machen, die es nicht gibt, und hierdurch
in gewissem Maße das erst selbst erschaffen, was man erforschen bzw. pflegen wollte:
einen weit bekannten, gruppenubergreifenden Liederschatz.19 Außerhalb der Wissenschaft
wurden heute nur solche Lieder ‘Volkslieder’ genannt, ‘‘die durch die Manipulation der
Fachleute – durch die ‘Pflege’ – gruppenubergreifenden Charakter erhalten haben, wie
‘Das Wandern ist des Mullers Lust’ […].’’20
Klusens strukturalistischer Vorschlag zur analytischen Bewaltigung des Gegenstands
geht von dessen Funktionen aus, die er in primare und sekundare differenziert. Da die
angeblichen Volkslieder keineswegs vom gesamten Volk gesungen wurden, sondern nur
von bestimmten Gruppen, von denen jede uber ein eigenes Liedgut verfuge, sei der Begriff
‘Volkslied’ untauglich und der Begriff Gruppenlied vorzuziehen: ‘‘[Ich …] behaupte […]
schlicht, daß es ein Volkslied in dem Sinne, wie wir seit Herder den Begriff angewandt
haben, gar nicht gibt. Es gibt nur Gruppenlieder, und das was wir Volkslieder nennen, ist
eine theoretische Abstraktion von Gruppenliedern, die hin und wieder verschiedenen, nie
aber allen Gruppen gemein sind.’’21
Als Gruppe definiert Klusen einen kleineren, uberschaubaren Zusammenschluß von
Menschen, der sich durch folgende Merkmale auszeichnet:
1. Jeder kennt jeden, man handelt in direktem Zusammenspiel, weshalb die Große einer
Gruppe auf zwei bis einige Dutzend Personen beschrankt ist.
2. Jede Gruppe verfugt zu ihrer Konstitution und Funktion uber mindestens ein dominantes
Element: Familie, Alter, Wohnung, Arbeit, Stand, Religion, Politik, Wohlfahrt oder
Geselligkeit. Meist liegen aber zwei oder mehr konstitutive Elemente vor.22
Primar diene das Gruppenlied der Bewaltigung einer aktuellen Gruppensituation, der
Gesang sei ein Ritual der aktiven Lebensgestaltung, ein Instrument des Gruppenlebens:
Das Lied der gronlandischen Jager diene dazu, Seehunde zu fangen, Should auldaquaintance be forgot habe die Funktion, Freunde zu verabschieden, das Arbeitslied ko-
ordiniere die Bewegungen des Kollektivs, und das Rugelied sei ein Mittel der Zuchtigung.
Der Zweck des Gruppenlieds liege folglich außerhalb seiner selbst, es sei nicht Sel-
bstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck. Das Lied lebe in der Gruppe, weil es fur sie eine
festumrissene Funktion erfulle, und die Gruppe sei nicht des Liedes wegen da, sondern das
Lied der Gruppe wegen. Es handle sich um einen dienenden Gegenstand, den alle
17 Ebd., S. 36f. Der Begriff ‘Fiktion’ wird hier, wie sich versteht, im außerwissenschaftlichen Sinne alsSynonym fur ‘Erfindung’ gebraucht.18 Ebd., S. 36.19 Ebd., S. 37.20 Ebd., S. 38.21 Ebd., S. 39.22 Ebd., S. 24f. Klusens drittes Gruppenmerkmal, daß jede Person, die einer Gruppe angehort, ‘‘um sostarker und ausschließlicher in ihrer Haltung durch die Gruppengeistigkeit bestimmt wird, je undifferen-zierter sie mental organisiert ist’’ (ebd., S. 25), stellt offenbar fur die Liedklassifikation kein relevantesKriterium dar.
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123
Gruppenmitglieder kennten. Wo es seinen Ursprung habe (ob es in der Gruppe entstanden
oder von außen in sie hineingelangt und den Gruppenbedurfnissen angepaßt worden sei),
habe keine Relevanz. Der Wert des Lieds werde nur durch dessen Tauglichkeit fur die
Gruppenintentionen bestimmt: Herders Kriterium einer asthetischen Homogenitat sei
mithin schon deshalb falsch, weil asthetische Qualitaten nicht wesensgemaß jenen
Gegenstanden eigen seien, die eine lebensgestaltende Funktion besitzen. Zwar stelle
bereits die musikalische Gestaltung auch einen asthetischen Akt dar (eine aus dem Alltag
gehobene Stilisierung), dieser Akt diene aber lediglich dazu, das Lied zu einem besonders
dienlichen Werkzeug zu machen. Seine asthetische Qualitat sei zweitrangig.23
Ebensowenig wie die Herkunft spielt die Lebensdauer eines Gruppenlieds in Klusens
Definition eine Rolle. Lieder verschwanden, wenn andere nach Meinung der Gruppe die
gewunschte Funktion besser erfullten. Das Gruppenlied musse in seiner dienenden Prim-
arfunktion also weder alt noch schon noch langlebig sein: es musse nur tauglich sein, das
Leben der Gruppe mitzugestalten.24
Allerdings verfuge das Gruppenlied, wenngleich es ganz auf seine dienende Funktion
hin konzipiert sei, gelegentlich uber asthetische Qualitaten, die uber die gebrauchsnot-
wendigen Merkmale hinausgehen. Das Lied verwandle sich von einem primarfunktionalen
zu einem sekundarfunktionalen, triumphierenden Gegenstand, zu einem Kunstwerk, wenn
die Erfullung der ursprunglichen Gruppenfunktion unwesentlich geworden sei. Das Lied
werde zu einem selbstgenugsamen Trager asthetischer Qualitaten, zu einem ‘Ans-
chauungserlebnis’25 (d.h.: die asthetische Funktion wird dominant).
Im Gegensatz zum primarfunktionalen Gegenstand bedurfe der sekundarfunktionale
keiner klar umrissenen Gruppe, die mit ihm umgehe, er wende sich prasentativ an ein
anonymes, amorphes Publikum, das aus Individuen bestehe. ‘‘Mit anderen Worten: bei der
Primarfunktion schafft die Funktion das Lied als dienenden Gegenstand, bei der Se-
kundarfunktion schafft der Triumphierende Gegenstand die Funktion.’’ So diene in Ges-
angsvereinen und Singkreisen nicht das Lied der Gruppe, sondern die Gruppe dem Lied.26
Freilich gebe es zwischen Primar- und Sekundarfunktion allerlei Wanderungen: Wie di-
enende Lieder existierten, die schließlich triumphierten, konnten sich sekundarfunktionale
in primarfunktionale verwandeln. Klusen fuhrt fur ersteren Fall das Lied von denKonigskindern an, das ursprunglich in der Spinnstube gesungen und zur Gestaltung des
gemeinsamen Feierabends gebraucht worden ist, heutzutage aber im Konzertsaal vor-
getragen wird. Demgegenuber ist Das Wandern ist des Mullers Lust (gedichtet von Wil-
helm Muller 1818 und von Schubert vertont) ursprunglich auf die Konzertdarbietung hin
entworfen worden und inzwischen (in vereinfachter Struktur) als geselliges Lied und
Wanderlied primarfunktional popular. Eine Uberschneidung der Funktionen finde
beispielsweise auf Probenabenden von Gesangsvereinen statt: Hier werde nicht nur der
sekundarfunktionale Gegenstand erlebt, er diene zugleich primarfunktional der
gruppenmaßigen Lebensgestaltung.27
Klusens Systematik ist uberzeugend.28 Zumal die Lieder des beschriebenen Typs keine
musikalischen oder textuellen Merkmale aufweisen, die eine Genredefinition rechtfertigen
23 Ebd., S. 25f.24 Ebd., S. 27.25 Ebd., S. 28.26 Ebd., S. 30.27 Ebd., S. 31f.28 Dennoch ist die Durchsetzung des Gruppenlied-Begriffs gegenuber dem des Volkslieds im wissens-chaftlichen Diskurs nach wie vor ein Desiderat.
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 227
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konnten, ermoglicht der Gruppenaspekt zumindest eine funktionale Unterscheidung. Der
naheliegende Einwand, daß beispielsweise die sekundarfunktionalen Auftritte Franz Josef
Degenhardts auch eine primarfunktionale Aufgabe, namlich die Selbstversicherung der
Zuhorer im politischen Kampf, erfullen, bildet meines Erachtens keinen Widerspruch zur
referierten Kategorisierung, da sich diese einerseits am dominanten Hervortreten der
Primar- oder Sekundarfunktion orientiert, andererseits das Gruppenkriterium auf der
gegenseitigen Bekanntschaft aller Mitglieder basiert. Eine beliebige definitorische
Vergroßerung der Gruppe wurde hingegen dazu fuhren, daß der Begriff mit dem des Lieds
schlechthin synonym wurde und seine Bedeutung als klassifikatorisches Instrument
verlore. Gleichwohl existieren Grenzphanomene, bei denen die Große einer Gruppe weit
uberschritten wird, das Lied aber dennoch eine dominant primarfunktionale Aufgabe
erfullt. Ein solcher Fall ist gegeben, wenn Tausende Anhanger einer Fußballmannschaft im
Stadion We Are the Champions29 anstimmen, um den Sieg ihres Vereins zu feiern.
Auch Umsingeerscheinungen sind nachweisbar, die von einer bedurfnisorientierten
Liedoptimierung zeugen:30 Die Fans des Vereins Schalke 04 skandieren auf die Melodie
von Go West31 ‘‘Steht auf, wenn ihr Schalker seid’’,32 die Gegner des 1. FC Bayern singen
auf die Melodie von Yellow Submarine33 ‘‘Zieht den Bayern die Lederhosen aus’’ usw.
Aus Klusens Argumentation ist der Schluß zu ziehen, daß die Lieder der Biermosl Blosn
keine Volkslieder sind, weil es keine Volkslieder gibt. Zugleich sind sie (wenigstens in der
Konzertdarbietung) auch keine Gruppenlieder, weil sie nicht zur lebensgestaltenden
Bewaltigung einer Gruppensituation dienen. Es handelt sich um triumphierende,
sekundarfunktionale Gegenstande: Die Biermosl Blosn steht auf der Buhne, das anonyme
Publikum lauscht Liedern, die dominant asthetische Funktionen erfullen.
III
Da eine Wanderung von Sekundar- zu Primarfunktion moglich ist, geschieht es bisweilen,
daß ein volkstumliches Lied zum Gruppenlied avanciert.34 Auch aus diesem Grund kann
von ‘echten’ und ‘unechten’ ‘Volksliedern’ nicht gesprochen werden. In der Konzertpra-
sentation sind volkstumliche Lieder jedoch gleichfalls triumphierende Gegenstande: Die
Auseinandersetzung der Well-Bruder mit dem volkstumlichen Lied ist folglich nicht die
29 Mercury (Tontrager 1993).30 Variabilitat wird oft als ein wesentliches Kriterium des Volkslieds angefuhrt (vgl. z.B. WilhelmScheppings Darstellung der Forschungsgeschichte Schepping (2001, S. 592). Fur eine Normierung desVolksliedbegriffs ist es gleichwohl ungeeignet: ‘‘Trotz der zweifellos vorhandenen Bedeutung des Um-singens ware es mit der Singwirklichkeit […] unvereinbar, wurde man nur solche Musik als ‘Volksmusik’gelten lassen, bei der jene Umgestaltung stattfindet. Denn in gleicher Primarfunktion bzw. in gleichervolksmusikalischer Interaktionsform begegnen nebeneinander Umgestaltung wie Invarianz, produktiveAneignung wie weitestgehend unverandertes Reproduzieren von Ubernommenem, durch Schriftlichkeit‘Petrifiziertes’ wie trotz Schriftlichkeit Zurechtgesungenes.’’ (Ebd., S. 595. Vgl. Klusen (1972)). Es kanndaher, wie mir scheint, im Bereich des Gruppenlieds lediglich von einer erheblichen Umsingeneigunggesprochen werden, die indes nur dann realisiert wird, wenn das jeweilige Lied die Bedurfnisse der Gruppenicht befriedigend erfullt.31 Morali / Belolo / Willis (Tontrager 1996). Am bekanntesten ist die mit einigen Textanderungenversehene Cover-Version der Pet Shop Boys (Tontrager 1993).32 Das Lied wird – entsprechend angepaßt – auch von den Anhangern vieler anderer Vereine gebraucht.33 Lennon / McCartney (Tontrager 1966).34 So etwa wenn das Kufsteinlied von den Bewohnern eines Altenheims zur geselligen Abendgestaltunggesungen wird.
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zwischen ‘unechtem’ und ‘echtem’ Volkslied, sondern die zwischen automatisierten und
entautomatisierten Verfahren, worin sich der formalistische Gegensatz zwischen bloßem
Wiedererkennen und bewußter Wahrnehmung abbildet.
Der Kampf, den die Biermosl Blosn gegen das volkstumliche Lied fuhrt, soll hier nur
knapp skizziert werden. Ihre evolutionare Aktivitat besteht darin, das ‘Deppenbild des
Volkstumlichen’, d.h. die Automatisiertheit ‘volkstumlicher’ Verfahren, bloßzulegen:
Biermosl Blosn, Gruß Gott im schonen Bayernland (1991)
Gruß Gott bei uns im schonen Bayernland, Jodler …dort sind die Leut so zunftig beianand. Jodler …Ja, die Gaudi, die ist riesengroß,
auf dem Bauerndorf, ja, da ist was los,
auf den Bergen bluht der Enzian
und grußt hinab ins Tal zur Autobahn.
Wenn beim Alpengluhn die Zither klingt,
das ganze Bayernlandl frohlich singt:
Gruß [G]ott bei …
[Gesprochen:]‘‘Agamemnon! Der kraftvolle WC-Reiniger! Keimfrei! Abflußfrei! Rohrfrei!
Ring frei fur Agamemnon! Agamemnon, die neue Freiheit!’’
[Gesungen:]Gruß Gott bei uns im schonen Bayernland, Jodler …dort sind die Leut so zunftig beianand. Jodler …
[Gesprochen:]‘‘Dieses wunderschone Volkslied widmet Ihnen die Agamemnon WC-Reiniger
GmbH und Co. KG! Agamemnon, die neue Freiheit!35
Zunachst werden die bekannten Klischees des volkstumlichen Lieds zitiert: das Bayernland
ist ‘schon’, die Leute benehmen sich ‘zunftig’, sie spielen Zither, sie haben eine
‘riesengroße Gaudi’, ganz Bayern singt, das Bauerndorf ist ein erlebnisreicher Ort, an dem
‘was los’ ist, und die Natur ist gesund (der Enzian bluht, die Alpen gluhen). Die abrupte
Unterbrechung durch den Werbespot, dessen Firma sich als Prasentator des ‘wunderscho-
nen Volkslieds’ zu erkennen gibt, legt die Automatisiertheit des Liedes bloß, indem der
Aspekt der Trivialisierung in den Phrasen des Spots deutlich hervortritt. Er zeigt sich in der
Verwendung eines antiken Heldennamens fur einen WC-Reiniger und in der Verknupfung
des hehren Begriffs ‘Freiheit’ mit einem banalen Gegenstand des Haushaltsbedarfs.
So wie der Werbespot versucht, positive Elemente mit der angepriesenen Ware in
Verbindung zu bringen (indem er vorgibt, das angeblich gluckliche, gesunde Landleben,
Freiheit und das beworbene Produkt der chemischen Industrie seien Konstituenten ein und
desselben Paradigmas), empfangt das Lied vom Werbespot die Fakalien und das Merkmal
sprachlicher Hohlheit, was eine entautomatisierte und disqualifizierende Wahrnehmung
der volkstumlichen Phrasen provoziert. Diskreditierend ist auch die Kopplung des idyl-
lischen Landlebens und der alpenlandischen Musik mit dem Aggressionsvokabular des
Spots: ‘Ring frei’ ist ein Begriff aus dem Boxsport und ‘Rohr frei’ ein Ausdruck, der dem
U-Bootkrieg entstammt.
35 Hans Well / Polt / Muller / Christoph Well (Tontrager 2008, Booklet, o.S.).
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 229
123
Das volkstumliche Produkt der Musikindustrie wird hierdurch ebenso als Vernich-
tungsmittel definiert wie das Produkt der chemischen Industrie: ‘Wunderschon’ im
industriellen Sinne ist nur eine ‘keimfreie’ Musik, die, wie Hans Well zu Recht betont,
‘‘den Widerspruch zur Masse oder herrschenden Meinung’’36 (d.h. auch: die oftmals auf
Widerspruch stoßende Entautomatisierung der Wahrnehmung) meidet und sich entsprec-
hend vermarkten laßt.
IV
Die Biermosl Blosn greift auf Strukturen primarfunktionaler Gruppenlieder zuruck, die sie
von ihrer ‘Gepflegtheit’ befreit. Hierbei handelt es sich gleichwohl um eine Evolution-
serscheinung innerhalb der sekundarfunktionalen Musik: das Gruppenlied wird zerbrochen
und zum Materialgeber triumphierender Gegenstande. Die tradierten primarfunktionalen
Liedstrukturen werden einem veranderten Neuaufbau unterzogen, wobei die Veranderung
nicht zuletzt in der Integration moderner thematischer Materialien besteht. Zu den uber-
lieferten Textvarianten des Gruppenlieds Drunt in da greana Au gehort folgende Version:
Drunt in da greana Au, steht a Birnbaum schee blau juhe,
drunt in da greana Au, steht a Birnbaum schee blau.
Was is an dem Baum? A wunderschoner Ast!
Ast am Baum, Baum in der Au.
Drunt in der greana Au […].
Was is an dem Ast? A wunderschoner Zwoag!
Zwoag am Ast, Ast am Baum, Baum in der Au –
drunt in der greana Au […]
Was is an dem Zwoag? A wunderschons Nest. / Nest am Zwoag […].
Was is in dem Nest? A wunderschons Oa! / Oa im Nest […].
Was is in dem Oa? A wunderschons Vogerl! / Vogerl im Oa […].
Was is an dem Vogerl? A wunderschons Federl! / Federl am Vogerl […].
Was macht ma aus am Federl? A wunderschons Betterl! Betterl vom Federl […].
Was liegt in dem Betterl? A wunderschons Maderl! Maderl im Betterl […].
Was liegt bei dem Maderl? A wunderschoner Bua! Bua beim Maderl […].
Was macht denn der Bua? A wunderschons Kinderl! Kinderl vom Buam […].37
Das Lied der Biermosl Blosn (1982b) lost sich nach einigen Zeilen, in denen der
intertextuelle Bezug etabliert wird, vom Vorlagenbundel:
Drunt in da greana Au, steht a Birnbaam schee blau, juchhee,
drunt in da greana Au, steht a Birnbaam schee blau!
‘‘Was is an dem Baam?’’
‘‘An dem Baam is a Ast!’’
Ast am Baam, drunt in da greana Au, steht a Birnbaam schee blau, juchhee,
drunt in da greana Au, steht a Birnbaam schee blau!
36 Hans Well (‘‘Kitsch’’, 1997, S. 19).37 Anon. (‘‘Drunt’’, 1974, S. 30f).
230 U. Durst
123
‘‘Was is an dem Ast?’’
‘‘Um den Ast is a Strick!’’
Strick am Ast, Ast am Baam, drunt in da …
‘‘Was is an dem Strick?’’
‘‘An dem Strick hangt da Sepp!’’
‘‘Was hat a denn do?’’
‘‘Er hat gsagt, da Kriag waar verlorn!’’
[Gesprochen:] ‘‘Und de Nazis gangs boid an Kragn!’’
[Gesungen:] Sepp am Strick, Strick am Ast, Ast am Baam, drunt in da …
‘‘Wer hat denn des ogschafft?’’
‘‘Der soi war a Richter!’’
(gesprochen)‘‘Da Sepp und vui andere san tot,
aa Richter, der kennt heit koa Not.
Er werd ois guada Christ verehrt,
woaß oiwei, was si ghort,
er tragt de allerhochstn Ordn,
is Minister gar wordn.’’
(gesungen)‘‘Was sagn denn da d’Leit?’’
(gesprochen)‘‘Mei, es war hoit a schlechte Zeit!
Aber vui Sachan, de warn recht,
und heitzuTags, da macht ma ja glei oissam schlecht,
und uberhaupts, im Kriag,
da gibts koa Nachstnliab!!’’
(gesungen)Minister, Richter, Sepp am Strick, Strick am Ast, Ast am Baam, Baam im deitschn
Boden.
Weißt du, wieviel Birnbaum stehen, drunten in der greanen Au?38
Die syntaktische Struktur bleibt teilweise erhalten (so etwa prinzipiell das Wechselspiel
von Frage und Antwort), aber die heimelige, harmlos zotige Welt des Gruppenlieds wird
zerstort, indem die Biermosl Blosn thematisches Material aus dem zeitgenossischen
Paradigma der Politik integriert.
Schon die 2. Strophe verlaßt den tradierten Weg zur erotischen Pointe und etabliert mit
dem ‘Strick am Ast’ eine Antistruktur des Todes, die aufgrund der lustig-komischen
Vorlage groteske Zuge besitzt. Die 3. Strophe verletzt die Syntax des Kettenlieds, indem
nach ‘‘‘Was is an dem Strick?’ / ‘An dem Strick hangt da Sepp!’’’ statt der Kette und des
Refrains (‘Sepp am Strick, Strick am Ast, Ast am Baam, drunt in da greana Au …’) gleich
eine Nachfrage gestellt und auf diese statt einer einzeiligen eine zweizeilige Antwort
gegeben wird. Die Nachfrage entspricht zudem nicht mehr dem syntaktisch strengeren
38 Biermosl Blosn (1999, S. 26f). Eine Live-Aufnahme dieses Lieds findet sich auf Biermosl Blosn (‘‘GrußGott’’, Tontrager 1982b). Fur alle zitierten Texte der Biermosl Blosn sei darauf hingewiesen, daß Inkonse-quenzen in der dialektalen Schreibweise einzelner Worter unmittelbar auf die Quellen zuruckzufuhren sind.
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 231
123
Frage- und Antwortschema des Gruppenlieds, dessen Struktur sich allmahlich auflost: die
zweite Antwortzeile verlaßt die Melodie, sie wird gesprochen (‘‘‘Und de Nazis gangs boid
an Kragn!’’’). Nur fur wenige Zeilen wird die Syntax des Gruppenlieds wieder realisiert
(‘‘Sepp am Strick, Strick am Ast, Ast am Baam’’), und die Strophe ‘‘‘Wer hat denn des
ogschafft?’ / ‘Der soi war a Richter!’’’ folgt zwar wieder der Melodie, ignoriert aber das
andersartige Frage- und Antwortschema des Gruppenlieds, dessen Struktur sodann in zwei
großeren gesprochenen Passagen ganzlich verschwindet.
Am Schluß tritt die Melodie noch einmal auf, als zusammenfassend die parodistische
Kette formuliert wird, die den Birnbaum statt mit dem Thema der korperlichen Liebe mit dem
des legalisierten Mords verknupft (‘‘Minister, Richter, Sepp am Strick, Strick am Ast, Ast am
Baam, Baam im deitschn Boden’’). In der letzten Liedzeile ist, gleichfalls kontrafazierend,
der Anfang eines Gutenachtlieds von Wilhelm Hey aus dem Jahre 1816 einmontiert, dessen
Beschworung einer traulichen Welt mit der Versicherung endet ‘‘Gott im Himmel hat an allen
/ Seine Lust, sein Wohlgefallen, / Kennt auch dich und hat dich lieb.’’39 Der in eine Frage
gekleidete Hinweis Wells auf die ungesuhnten Mordtaten des Dritten Reichs verweist die
Vorstellung einer frohlich-gottgeordneten Welt ins Reich frommen Wunschdenkens.
Das kunstlerische Verfahren realisiert sich in ahnlicher Weise auch in der Kontrafaktur
des Gruppenlieds Das Bauerndorf. Als Vorlage diente der Biermosl Blosn die Fassung, die
ich hier auszugsweise wiedergebe:
2 Was braucht ma auf am Bauerndorf?
Was braucht ma auf am Dorf?
A Glockn, die scho klingt,
an Lehrer, der scho singt,an Schulmoasta, an gscheitn Mo,
der lesen, schreibn und rechna ko.
Des braucht ma auf am Bauerndorf,
des braucht ma auf am Dorf!
3 Was braucht ma […]?
An Halter, der hell blast,
und’s Vieh brav woaden laßt,
a Harfen und an Dudlsack,an guaten Rauch- und Schnupftabak.Des braucht […]!
[…]
7 Was braucht ma […]
An Knecht, der net bloß schwitzt,wenn er beim Essen sitzt.a Dirn, die zu der Arbeit taugt
und net sechs Stund in Spiegel schaugt.
Des braucht […]!
8 Was braucht ma […]
An Backer, der oft bacht
39 Hey (1986, S. 488f).
232 U. Durst
123
und d’Semmeln net z’kloa macht,an Brau, ders Malz scho fleißig ruhrt
und schaut, daß’s Bier net z’waßrig wird.
Des braucht […]!
[…]
11 Was braucht ma […]
A Katz, die recht brav maust,an Kammpl, der guat laust,
an Beutel, der die Steuern zahlt,
an Maler, der die Kasten malt.
Des braucht […]!
[…]
14 Was braucht ma […]
An Tanzbodn, der net kracht,
Laterna bei der Nacht,
a Schulhaus mitm Lehrer drin,an Doktor und a Medizin.Des braucht […]! [Hervorhebungen von mir.]40
Hans Well reduziert in ‘‘Was braucht ma aufm Bauerndorf?’’ (1982) den Text von 16 auf 4
Strophen.
1 Was braucht ma aufm Bauerndorf, was braucht ma aufm Dorf?
An Backer, der guat backt und d’ Semmeln net z’ kloa macht,
a Schuihaus mit am Lehrer drin, an Doktor und a Medizin,
des braucht ma aufm Bauerndorf, des braucht ma aufm Dorf.
2 Was braucht ma aufm Bauerndorf, was braucht ma aufm Dorf?
An Knecht, der net bloß schwitzt, wann er beim Essen sitzt,
a Katz, de wo recht fleißig maust, a Dirn, der wo’s vor gar nix graust,
des braucht ma aufm Bauerndorf, des braucht ma aufm Dorf.
3 Was braucht ma aufm Bauerndorf, was braucht ma aufm Dorf?
An Stier, der fleißig springt, an Pfarrer, der schee singt,
an Harpfn und an Dudelsack, an guadn Rauch- und Schnupftabak,
des braucht ma aufm Bauerndorf, des braucht ma aufm Dorf.
4 Was gibts no aufm Bauerndorf, was gibts no aufm Dorf?
Koan Schuaster und koan Backer, de kloana Baurn verrecka,
in d’Stadt fahrn d’ Leit zur Arbat nei, auf d’ Nacht schoitn s’ an
[Fernseher ei’,
so is’ heit aufm Bauerndorf, so is’ heit aufm Dorf.41
40 Anon. (‘‘Bauerndorf’’, 1974, S. 24–28). Eine fast identische Version findet sich in: Schmidkunz / List /Fanderl (1938, S. 48–51).41 [Hans!] Well / Trad. / Christoph Well (‘‘Was braucht ma’’, Tontrager 2007). Text zitiert nach BiermoslBlosn (1999, S. 72f).
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 233
123
Die intertextuelle Beziehung wird durch eine weitgehende Isomorphie mit der Vorlage
hergestellt: Die Strophen 1-3 beginnen mit der bekannten doppelten Frage, der mehrere
Antworten und schließlich die doppelte Bekraftigung folgen. Gleichwohl wird der
uberlieferte Text des Gruppenliedes aufgebrochen, einzelne Materialien werden ausgewahlt
und neu verknupft (siehe Hervorhebungen): jeweils zwei Zeilen aus den Strophen 8 und 14
der Vorlage kommen in Hans Wells 1. Strophe zusammen, seine 2. Strophe besteht aus
Elementen der 7. und 11., seine 3. Strophe hingegen aus Elementen der 2., 3. und 6.
Vorlagenstrophe. Die Formulierung ‘‘a Dirn, die zu der Arbeit taugt’’ wird zugespitzt zur
‘‘Dirn, der wo’s vor gar nix graust’’, und statt des Lehrers ist es der Pfarrer, der ‘‘schee
singt’’. Die 4. Strophe der Biermosl Blosn negiert durch Aktualisierung des thematischen
Materials die Welt, die in den Strophen 1-3 evoziert wird. Statt des betrugerischen Backers,
der die Semmeln zu klein macht, hat man (aufgrund der wegbrechenden Nahversorgung)
heute gar keinen Backer mehr, der faule Knecht, der nur beim Essen schwitzt, ist durch den
Ruin des kleinen Bauern um sein Brot gekommen, man treibt keine Landwirtschaft, sondern
fahrt zur Arbeit in die Stadt, das Dorfleben ist Geschichte.
Dennoch vermeidet der Text jede Nostalgie. Das Leben in der Landwirtschaft ist nicht
paradiesisch, wie es das volktumliche Lied behauptet, sondern durch harte Arbeit ge-
kennzeichnet (der Knecht muß schuften, die Dirn darf sich nicht ekeln). Hans Well setzt eine
realistische Struktur fort, die schon in der Vorlage existiert: Zu den wunschenswerten
Bedurfnissen des Dorflebens gehoren dort u.a. ‘‘a Hebamm, die nix sagt’’ (Str. 5), ein Pfarrer,
der ‘‘was er predigt selber tuat’’ (Str. 1) und ‘‘an Bauern, der sei Weib net schlagt’’ (Str. 6).
Ein drittes Beispiel liefert die Kontrafaktur des Gruppenlieds Wollt ein Bauer fruhaufstehn. Ich zitiere zunachst den Schluß der von Zupfgeigenhansel (Thomas Friz und
Erich Schmeckenbecher) publizierten Fassung:
Da nahm der Bauer ein’n Ofenscheit
und schlug den Pfaffen, daß er schreit.
Der Pfaffe schrie: ‘‘0 Schreck, o Graus!’’
und hielt den Arsch zum Fenster raus.
Da kamen die Leut’ von nah und fern
und dachten, es sei der Morgenstern.
Der Morgenstern, der war es nicht –
es war des Pfaffen Arschgesicht.
So soll es allen Pfaffen gehn,
die nachts zu fremden Weibern gehn.
Und die Moral von der Geschicht:
Trau nicht des Pfaffen Arschgesicht!42
In der parodistischen Umsetzung der Biermosl Blosn (Brrm Bm Bm, 2003) wird der
Geistliche durch den ungeliebten bayerischen Ministerprasidenten ersetzt:
Da ziahgt da Jackl sein Ochsnfiesl raus [- Brrm Bm Bm Brrm Bm Bm]
und schlagt de drei durchs ganze Haus. [- Brrm Bm Bm Brrm Bm Bm]
Da Stoiber schreit: I hoits net aus! [- Brrm Bm Bm Brrm Bm Bm]
Und hoit an Arsch zum Fenster naus. [- Brrm Bm Bm Bm Bm]
Da bekreuzigten sich alle Leut: [- Brrm Bm Bm Brrm Bm Bm]
42 Trad. / Friz / Schmeckenbecher (Tontrager 1976, Beilage, o.S.).
234 U. Durst
123
Schaugts hi’, der Geist von Wildbad Kreuth! [- Brrm Bm Bm Bm Bm]
Und aus dem Arsch, oh Schreck, oh Graus, [- Brrm Bm Bm Brrm Bm Bm]
da schaugt da Sonnleitner heraus! [- Brrm Bm Bm Bm Bm]
Und die Moral von der Geschicht: [- Brrm Bm Bm Brrm Bm Bm]
Dieses Lied kommt im Bayrischen Rundfunk nicht! [- Brrm Bm Bm Brrm Bm Bm]43
Im Gegensatz zu Hans Wells Auskunft44 ist der Text im Glogauer Liederbuch indes nicht
zu finden. Er wird bei Ditfurth (1855) als ‘Volkslied’ dokumentiert. Die letzten Strophen
lauten dort:
Der Bauer erwischt ein Ofenscheit,
Und haut den Pfaffen daß er schreit.
Der Bauer erwischt den Rechenstiel,
Und haut den Pfaffen daß er fiel.45
Die angeblich uberlieferten Elemente, uber die die Biermosl Blosn parodistisch verfugt
– der aus dem Fenster gehaltene Arsch; die sich hieruber irrenden Leute; das Epimythion
– wurden erst 1976 durch Zupfgeigenhansel erganzt: hier liegt eine mehrfache Wanderung
zwischen primarer und sekundarer Liedfunktion vor. Das Ditfurthsche Gruppenlied
ist bei Zupfgeigenhansel bereits ein triumphierender Gegenstand, der, wegen der
Obrigkeitsfeindlichkeit des Texts, anschließend in den primarfunktionalen Liederschatz
linksalternativer Gruppen gelangt, bei denen er in seinem neuen Erscheinungsbild im Rufe
steht, ein jahrhundertealtes Gruppenlied zu sein.46 Durch die Biermosl Blosn werden
einige seiner Strukturen wiederum in ein sekundarfunktionales Lied integriert.
Eine wichtige Strophenform des bayerischen Gruppenlieds ist das Gstanzl (auch
Schnaderhupfl), eine gereimte, vierzeilige Spottstrophe. Sie wird beim Aussingen (Derb-lecken) verwendet, etwa beim gegenseitigen Schmahen zweier Sanger im Wirtshaus oder
beim geselligkeitserzeugenden Necken seitens des Hochzeitsladers, der sich auf landlichen
bayerischen Hochzeiten bis heute sowohl uber die Gaste als auch uber das Brautpaar lustig
macht. Diese Primarfunktionen sind der intertextuelle Bezugsrahmen der Biermosl-
Gstanzln, etwa in Das Wasser ghort zum Waschen (1998):
Bayern ghort die Zukunft, jedoch der Auerhahn,
gehort wia’s scheene Altmuhltal der Vergangenheit langst an!
De Blattlaus ghorn auf d’Rosen, d’Salmonellen in Tiramisu,
und der Gerhard Schroder, der ghort in d’CSU!47
Wiederum entstammt das thematische Material vorzugsweise dem Feld der Politik. Der
Idylle, die im gepflegten Gruppenlied gern beschworen wird, steht die Naturvernichtung im
Namen eines zweifelhaften Fortschritts gegenuber. Gerhard Schroder bildet mit Blattlaus,
Salmonelle und CSU eine paradigmatische Achse.48
43 Hans Well / Trad. (‘‘Brrm Bm Bm’’, Tontrager 2003, Booklet, o.S.).44 Hans Well (‘‘Kitsch’’, 1997, S. 22).45 Anon. (‘‘Uberraschung’’, 1855, S. 58).46 Zupfgeigenhansel hat in der Beilage der Schallplatte als Quelle Ditfurth angegeben, die eigene Uber-arbeitung aber verschwiegen, was zur kategoriellen Mobilitat des 1976er Liedes beigetragen haben durfte.47 Hans Well / Trad. (‘‘Das Wasser’’, Tontrager 2007, Booklet, o.S.).48 Das Lied arbeitet in den ubrigen Gstanzln mit der Auflistung paarweiser Zuordnungen: Das Wassergehort zum Waschen, der Hunger zum Durst usw. Der SPD-Bundeskanzler wird also nicht etwa als Ver-derber der CSU kritisiert, sondern als ihr heimlicher Parteiganger entlarvt.
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 235
123
Signifikanterweise fuhrt die Ubernahme tradierter Gruppenliedstrukturen auch zur
Simulation der verschwundenen Gruppe, deren Ausfall durch textliche Strukturen kom-
pensiert wird. Das Lied 1,2?3=? beispielsweise basiert gleichfalls auf einem Gruppen-
lied,49 als Kettenlied verfugt es uber eine amobische Syntax. Bei jedem Gedankenstrich
wechselt der Sanger, so daß jedes Mitglied der Biermosl Blosn mehrmals an die Reihe
kommt. Ein Gruppenspiel wird imitiert, bei dem es gilt, die eigene Schlagfertigkeit als
Stegreifdichter unter Beweis zu stellen: Der nachste Sanger wird mit einem Reimwort
konfrontiert, fur das er sofort eine moglichst lustige Antwortzeile finden muß. Der folgende
Text wurde wahrend eines Biermosl-Konzerts vorgetragen:
Biermosl Blosn, 1,2?3=? (1998)
1 Oans, zwoa und drei, oid is net nei,
Nei is net oid, - Warm is net koit, koit, koit.
Koit is net warm, - Reich is net arm,
Arm is net Osterreich, - A Bettelmo is koa Scheich, Scheich, Scheich.
5 A Scheich is doch koa Bettelmo, - A Zeck is koa Floh,
A Floh is koa Zeck, - A Dampfnudl koa Big Mac, Mac, Mac.
A Big Mac is koa Rohrnudl, - A Dackl is koa Pudel,
A Pudel is koa Dackl, - A Tschentlman is koa Lackl, Lackl, Lackl.
A Lackl is koa Tschentlman, - A Schneller Bruter is koa Legehenn,
10 A Henna is kein Schneller Bruter, - A Bierwagn transchportiert
[koane Gefahrenguter, Guter, Guter.
Gefahrenguter wia der Castor des is doch koa Fassl Bier, - Sei san
[koane Stier,
Stier san koane Sei - S’Oktoberfescht is net im Mai, Mai, Mai.
Im Mai gibt’s koa Oktoberfescht, - Da Rinderwahn is koa Schweinepest,
Schweinepest is koa Rinderwahn, - A, a Wurm hat koan Zahn, Zahn, Zahn.
15 Koan Zahn, koan oanzigen Zahn hat a Wurm - A Maibaum is kein Sendeturm,
Sendemast is kein Maibaum, - A Quark is koa Rahm, Rahm, Rahm.
49 Adolf Eichenseer hat 1990 folgende Version des zugrundeliegenden Gruppenlieds im Ort Kotzting (Bayr.Wald) aufgenommen:
Oans, zwoa und drei
Oans, zwoa und dreioid is net nei,nei is net oid,awer woa[r]m is net koid, koid, koid.
Koid is net woa[r]m,reich is net oa[r]m,oa[r]m is net reich,awer ungrad net gleich, gleich, gleich.
Gleich is net ungradder Wagn, der hat vier Rad.Vier Rad hat der Wagn,awer gsunga is net gsummt, gsummt, gsummt. [Etc.]
Gewahrsperson: Veronika Schaffer / Heinz Kolbeck, Bad Kotzting (Landkreis Cham), Aufzeichner: AdolfJohann Eichenseer (1990). Der Aufzeichner hat mir den Text freundlicherweise zur Verfugung gestellt. Dervollstandige Text einschlieblich Noten wird in Adolf Eichenseer, Brouder, liaderle san mia - Gschaamigeund Ausgschaamte Wirtshauslieder aus der Oberpfalz im MZ-Buchverlag erscheinen. Vgl. auch Anon.(‘‘Oans’’, 1996, S. 218f).
236 U. Durst
123
A Rahmstrudel, do is doch net drin, koana drin a Quark, in’n Rahmstrudel
[ghert gwies nicht ein Quark, - Da, da Euro is net Mark,
Auch die Schweizer Franken san kein Euro, - A Hei is koa Stroh,
[Stroh, Stroh.
A Stroh is koa Hei, - A Kokain is koa Schmei,50
20 A Schmei is doch koa Kokain, – A Brandy is koa Gin, Gin, Gin.
A Gin is koa Brandy, - A Maßkruag is koa Handy,
A Handy is koa Maßkruag, - Auf Teneriffa fahrt koa Schneepfluag, Pfluag,
[Pfluag.
An Schneepfluag braucht mer net in Teneriffa, - D’Angela Merkel ist net
[Claudia Schiffer,
Aber alle zwoa gfalln’s mer net ums Verrecka, - Rom is net Mekka, Mekka,
[Mekka.
25 Mekka is net Rom, - Da Papst braucht koa Kondom,
Koa Kondom, sagt der Papst, braucht er net, - Schlau is net blad, blad,
[blad.
Blad is net schlau, - Schwarzbraun is net Weißblau … eigentlich,
Weißblau is net Schwarzbraun, Braunschwarz, Blauschwarzbraun, - So oam
[wiam Tandler51 dad i ned traun, traun, traun.
Leit, traut’s nie nicht einem Tandler, - A Marsch is koa Landler,
30 A Landler is koa Marsch, - ‘as Gsicht is net der Arsch, Arsch, Arsch.
[… Des san Fakten!Der Arsch is koa Gsicht, - Uber’n Beckstein sing ma weiters nicht,
Nix sing ma uber’n Beckstein, A Most is koa Wein, Wein, Wein.
A Wein is koa Most, - Amen is net Prost,
Prost is net Amen – Fallera, Halleluja.52
Obwohl das letzte Wort des Liedes, ‘Halleluja’, von allen Mitgliedern der Biermosl Blosn
im Chor gesungen und hierdurch die Vorbereitetheit, also das Fehlen jedes Stegreifcha-
rakters offenbart wird, weist der Vortrag viele Elemente auf, die eine spontane Erfindung
suggerieren, so etwa ein Zogern beim Sangerwechsel (v.a. in Zeile 14), das den Eindruck
erweckt, der neue Sanger habe sich erst auf einen Reim besinnen mussen.53 Alle
Erweiterungen und Verletzungen der syntaktischen, metrisch undefinierten Grundstruktur
a ist nicht b, - c ist nicht b’,
b’ ist nicht c, - d ist nicht c’, c’, c’
50 Schnupftabak.51 Gemeint ist der bayerische Landespolitiker Gerold Tandler (CSU), der wahrend seiner Zeit als Staats-minister des Innern (1978-82) u.a. durch fragwurdige Rechtfertigungen polizeilicher Ubergriffe und spaterdurch seine Verwicklung in die Zwick-Affare beruhmt geworden hat.52 Den Text transkribiere ich von einer auf CD veroffentlichten Live-Aufnahme: Hans Well / Trad.(‘‘1,2?3=?’’, Tontrager 2007) (Weilachmuhle (Thalhausen), 6. und 7. Mai 1998).53 Dagegen legt das Zogern in Zeile 16 wiederum den sekundaren Charakter des Liedes bloß, da nach dersuggeriert unerwarteten oder versehentlich standarddeutschen Aussprache des Reimwortes ‘Maibaum’komisierend der sehr unreine Reim mit ‘Rahm’ erzwungen wird, der bei dialektaler Aussprache [‘maiba:m]rein ware. Vgl. hierzu die Textfassung des CD-Booklets: ‘‘[…] a Sendeturm is koa Maibaam, a Quark is koaRahm, [Rahm, Rahm, …].’’ (Ebd., Booklet, o.S.)
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 237
123
tragen gleichfalls zur Suggestion eines spontanen Zeilenentwurfs bei, wie etwa ‘Osterr-
eich’ statt ‘reich’ (Z. 4), ‘Rohrnudl’ statt ‘Dampfnudl’ (Z. 7), ‘Fassl Bier’ statt ‘Bierwagn’
(Z. 11), Ausrufe (‘Des san Fakten!’, Z. 31, und ‘eigentlich’, Z. 27) oder Zusatzbemerk-
ungen (‘wia der Castor’, Z. 11; ‘A Rahmstrudel, do is doch net drin, koana drin a Quark,
in’n Rahmstrudel ghert gwies nicht ein Quark’, Z. 17). Dasselbe gilt fur den kompletten
Ausfall des syntaktischen Schemas (statt ‘Claudia Schiffer is net d’Angela Merkel’ ‘Aber
alle zwoa gfalln’s mer net ums Verrecka’, Z. 24). Hierdurch wird eine virtuelle Gruppe
erzeugt.
Dem gleichen Zweck dient die permanente Variation gewisser Lieder. Sie imitiert das
Umsingen, mit dem eine Gruppe ihr Liedgut zur Erfullung ihrer Bedurfnisse optimiert. Der
1999 in Buchform veroffentlichte Text von 1, 2 und 3 zeigt neben dem modifizierten Titel
gegenuber der oben zitierten Version zahlreiche Veranderungen, z.B.:
[…] a Floh is koa Zeck,
A Dampfnudl koa Big Mac, Mac, Mac.
A Big Mac is koa Dampfnudl,
de Lady Di konn koan Apfistrudl,
an Apfistudl konns net de Lady Di,
a Kokain is koa Schmei, Schmei, Schmei.54
[…] da Ratzinger hat an Heiligenschein, -schein, -schein.
Scheinheilig is net fromm,
da Papst braucht koa Kondom,
koa Kondom braucht da Papst,
in d’ Holl kimmst, wannst no oamoi sowas sagst, sagst, sagst.
Wer nix glaabt, kimmt in d’Hoi,
da Tandler hat koa weiße Soi,
koa weiße Seel’ hat da Tandler,
a Marsch is koa Landler, Landler, Landler.55
[…] da Arsch is net as Gsicht,
ubern Beckenbauer sing ma weiters nicht, nicht, nicht.
Nix sing ma ubern Kaiser Franz,
a Stier is koa Gans […].56
Ebenso weist schon das Booklet, das der Aufnahme von 1,2?3=? beigelegt ist, gegenuber
dem oben zitierten Vortrag mehrere Anderungen auf:
[…] a Henna is koa Schneller Bruter, aufn Bierwagn ghorn koane Gefahrenguter,
[Guter, Guter,]
a Gefahrengut is doch koa Fassl Bier, Sau san koane Stier,
[…] Mekka is net Rom, da Papst braucht koa Kondom,
koa Kondom braucht da Papst net, schlau is net blod, [blod, blod,]
[…] weißblau is net schwarzbraun, am Tandler daat i nia net traun, [traun, traun,]
trau nie einem Tandler, a Marsch is koa Landler […].57
54 Biermosl Blosn (1999, S. 204).55 Ebd., S. 205.56 Ebd.57 Hans Well / Trad. (‘‘1,2?3=?’’, Tontrager 2007, Booklet, o.S.).
238 U. Durst
123
Noch umfangreicher wird das Lied Zum Waschen ghort das Wasser verandert: Das
sekundarfunktionale Lied wird an den Auftrittsort angepaßt, indem lokale thematische
Materialien aufgenommen und hierfur neue Strophen verfaßt werden. Bei einem Konzert
in der Stadthalle der Ortschaft Ebrach (bei Heidelberg) wurde der (nach Meinung der
Biermosl Blosn) besonders protzige Kronleuchter mit folgenden Zeilen bedacht:
Zum Januar ghert da Februar und zum April do ghert der Mai,
und der Kronleuchter in dera Stadthalle ghert in an Glascontainer nei!58
Fur einen Auftritt beim Meinheimer Schutzenverein (6. Mai 2002) ruckte Hans Well diese
Passage ein:
Zur Jagd da gherd as Halali, und as Messer des ghert gwetzt,
wer eiam Schutznvorstand s’Schiaßn lernd, dem gher a Denkmal g’setzt.
In Pfaffenhofen an der Ilm (28. Juni 2002) sang man:
Zum Kind da ghert de Kindstaufe, zur Leich der Leichenschmaus
und wer lebensmude is, ghert ins Pfaffenhofener Krankenhaus.
In Ingolstadt, im Wahlkreis Horst Seehofers (CSU):
Zum Glauben ghert die Treue, zur Geburt do ghert die Wehe –
zum Horst do ghert des Bekenntnis zum hl. Sakrament der Ehe.
Bei einem Auftritt in Vaduz (Liechtenstein):
Zum Geld da ghert die Wasche, zum Raub da ghern die Ritter
und der Doktor Batliner ghert endlich hinta Gitter!59
Die Neigung zum Umsingen ist eine Eigenschaft des primarfunktionalen Lied-
gebrauchs, durch die er sich vom sekundarfunktionalen unterscheidet.60 Die fortwahrende
58 Dieser Text und alle folgenden sind bisher weder schriftlich noch auf einem Tontrager veroffentlichtworden. Hans Well hat sie mir freundlicherweise zur Verfugung gestellt. Nicht in jedem Fall konnte der Tagdes Auftritts ermittelt werden.59 Zum Hintergrund: Der Liechtensteiner Jurist und Multimillionar Herbert Batliner ist der Erfinder dersogenannten Familienstiftungen. Laut Stern hat er ‘‘in uber 10000 anonymen Stiftungen ein Milli-ardenvermogen von Steuerfluchtlingen und Großkriminellen versteckt’’ (Muller / Rickelmann (2000,S. 204)).60 Dementsprechend beklagt Suppan, daß das Volkslied (sprich: das Gruppenlied) durch schriftliche Fix-ierung seine primare Funktion verliere. Feldforschungen, schreibt Suppan, hatten ergeben, daß selbst eineinzelner Sanger ein Lied von Mal zu Mal verandere, so daß es ebenso viele ‘richtige’ Versionen einesVolkslieds gebe, wie es irgendwo gesungen werde. Die schriftliche Fixierung jedoch verfuhre die Pflegedazu, ihren Gegenstand mißzuverstehen: Sie begreife die Fixierung als Soll-Notation und sehe Abweich-ungen als Falsch-Spielen an, was zur Petrifizierung des Volkslieds fuhre: ‘‘Dort, wo Analphabetismus mitErfolg ausgerottet worden ist, dort wurde mit diesem auch das Volkslied ausgerottet […]. ’’ (Suppan, S. VI.)Durch die Alphabetisierung sei dem Volkslied der Nahrboden entzogen worden. In Mitteleuropa sei derProzeß bereits abgeschlossen und jeder Sanger von der angeblich einzig ‘richtigen’ Fassung des Liedsumstellt. In den hochzivilisierten Landern mit ihren Massenmedien sei das Volkslied tot (ebd, S. VII).
Klusen widerspricht solchen Auffassungen. Da man das Herdersche Volkslied nicht habe finden konnen,habe man sich auf die Suche nach Schuldigen gemacht und sie in der industriellen Arbeitswelt, im Man-agement der Unterhaltungsindustrie, in der Schallplatte und in der Vermassung der Gesellschaft zu findengeglaubt. ‘‘[…] so’’, bemerkt Klusen, ‘‘entstand das Marchen vom sterbenden Volkslied als das Marchenvom Tod eines Dinges, das es nie gegeben hat.’’ (Klusen (1967), S. 38.) In Wahrheit aber entzieht sich diePrimarfunktion des Gruppenlieds nur weitgehend der offentlichen Darstellung durch die technischen Mittler.‘‘[L]ebensgestaltende Situationen einer Gruppe [haben …] auf dem Aktualitatenmarkt keinen Kurswert[…]’’. Sie ergaben sich spontan und seien fur technische Kommunikationsmittel schwer greifbar, was den
Uber die Lieder der Biermosl Blosn 239
123
Veranderung des Lieds Zum Wasser ghort das Waschen ist eine Nachahmung der prim-
arfunktionalen Variantenbildung des Gruppenlieds.
V
Die Lieder der Biermosl Blosn stehen dem Gruppenlied ebenso fern wie dem volks-
tumlichen Lied: Von diesem unterscheiden sie sich durch erhebliche strukturelle
Differenzen (aggressiv-satirische Elemente, Entautomatisierung), von jenem durch ihre
Sekundarfunktionalitat.
Die Biermosl Blosn zerbricht das petrifizierte Gruppenlied und baut dessen Strukturen
aus aktuellen thematischen Materialen neu auf, wodurch die Lieder beachtliche evolu-
tionare Aktivitat gewinnen. Hans Well sieht hierin zu Recht ‘‘eine Chance fur die Forts-
etzung einer volksmusikalischen [also: gruppenmusikalischen] Tradition’’,61 eine
Fortsetzung, die sich jedoch aufgrund des sekundarfunktionalen Charakters des prasenta-
tiven Lieds notwendigerweise zugleich von der gruppenmusikalischen Tradition verabs-
chiedet. Die verschwundene Gruppe wird durch geeignete Kunstgriffe simuliert.
Kunstlerische Texte
Anon. ‘‘Das Bauerndorf’’. In: Ulrich Seibert (Hg.). Der Klampfn-Toni: Eine Sammlung lustiger alpen-landischer Lieder, Gstanzln, Wirtshauslieder, Moritaten und Wildschutzen-Lieder mit Gitarre- undAkkordeon-Bezifferung, vorgesungen vom Surrer Franz, Bauer in Hiensdorf, und der Nieder Christine,genannt Sederin, Sagewerks-Inhaberin in Muhlen. Aufgezeichnet von Ulrich Seibert. Munchen 1974,S. 24–28.
Anon. ‘‘Der Birnbaum: ‘Drunt in der greana Au’’’. In: Ulrich Seibert (Hg.). Der Klampfn-Toni: EineSammlung lustiger alpenlandischer Lieder, Gstanzln, Wirtshauslieder, Moritaten und Wildschutzen-Lieder mit Gitarre- und Akkordeon-Bezifferung, vorgesungen vom Surrer Franz, Bauer in Hiensdorf,und der Nieder Christine, genannt Sederin, Sagewerks-Inhaberin in Muhlen. Aufgezeichnet von UlrichSeibert. Munchen 1974, S. 30f.
Anon. ‘‘Oans, zwoa und drei’’. In: Adolf Eichenseer (Hg). Brouder, liaderle san mia - Gschaamige undAusgschaamte Wirtshauslieder aus der Oberpfalz. (Noch nicht erschienen.).
Anon. ‘‘Oans, zwoa und drei!’’. In: Christoph Well (Hg.). Klampfn Toni: Eine Sammlung bairischer Liederund Gstanzl, Moritaten, Couplets, Wirtshaus- und Wildschutzenlieder zusammengestellt aus Schrift-und Tondokumenten des Kiem Pauli, Georg Queri, Karl Valentin, des Wastl Fanderl, Weiß Ferdl,Roider Jakl und Kraudn Sepp, der Geschwister Simbock, Christine Nieder und des Franz Surrer, desFranz Eimer, Fredl Fesl, der Mehlprimeln, der Biermosl Blosn und anderen. Munchen 1996, S. 218f.
Anon. ‘‘Uberraschung’’. In: Franz Wilhelm v. Ditfurth (Hg.). Frankische Volkslieder mit ihren zwei-stimmigen Weisen, wie sie vom Volke gesungen werden, aus dem Munde des Volkes selbst gesammelt.II (Weltliche Lieder). Leipzig 1855, S. 58.
Biermosl Blosn. ‘‘Drunt in da greana Au’’ [1982a]. In: Dies., Gruß Gott, mein Bayernland: Lieder- undMusikstucke. Munchen 1999, S. 26f.
Footnote 60 continuedfalschen Eindruck erwecke, die Primarfunktion ware dem Untergang geweiht, das Gruppenlied habe nur inseiner Sekundarfunktion noch eine Uberlebenschance. Dagegen finde die Feldforschung immer wiederprimarfunktionales Singen, auch Umsingeerscheinungen ließen sich beobachten (ebd., S. 34).61 Hans Well (‘‘Kitsch’’, 1997, S. 22).
240 U. Durst
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Biermosl Blosn. ‘‘Drunt in da greana Au’’ [1982b]. Auf: Dies., Gruß Gott, mein Bayernland [Tontrager,1982]. Mood-Records 2007.
Biermosl Blosn. ‘‘Was braucht ma aufm Bauerndorf?’’ [1982c]. In: Dies., Gruß Gott, mein Bayernland:Lieder- und Musikstucke. Munchen 1999, S72f.
Biermosl Blosn. Rauber und Gendarm: Bayerische Rauber- und Wildschutzenlieder [Tontrager, 1998].Mood Records 1998.
Biermosl Blosn. Sepp Depp Hennadreck: 37 lustige bayerische Kinderlieder [Tontrager, 1993]. MaresaWell / Maria Well / Maximilian Well / Monika Demmel / Cornelia Patzelsberger (Gesang), BiermoslBlosn (Begleitung). Max Hienger 1993.
Biermosl Blosn. ‘‘1, 2 und 3’’ [1999]. In: Dies., Gruß Gott, mein Bayernland: Lieder- und Musikstucke.Munchen 1999, S. 204–205.
Hey, Wilhelm. ‘‘Gott weiß’’ [1816]. In: Gustav Wustmann (Hg.). Als der Großvater die Großmutter nahm:Ein Liederbuch fur altmodische Leute [1886]. Bearb. v. Anton Kippenberg / Friedrich Michael.Frankfurt a.M. 1986, S. 488f.
Lennon, John / Paul McCartney. ‘‘Yellow Submarine’’ [1966]. Auf: The Beatles, Revolver [Tontrager,1966]. EMI 1966.
Mercury, Freddie. ‘‘We Are the Champions’’ [1977]. Auf: Queen, News of the World [Tontrager, 1977].EMI 1993.
Morali, Jacques / Henri Belolo / Victor Willis. ‘‘Go West’’ [1979]. Auf: Village People, Go West [Tontrager,1979]. Polygram 1996.
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Well, Hans (Text) / Trad. (Musik). ‘‘1,2?3=?’’ [1998]. In: Biermosl Blosn, Wellcome to Bavaria! [Ton-trager, 1998]. Mood-Records 2007, Booklet, o.S.
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Suppan, Wolfgang. Volkslied: Seine Sammlung und Erforschung. 2., durchges. u. erg. Aufl., Stuttgart 1978.
Sonstige Texte
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Uber die Lieder der Biermosl Blosn 241
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