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Ueber die physiologische Bedeutung des Sehpurpurs. Ein Beitrag zur Physiologie des Gelb-Violettsehens.’ Von Docent V. 0. Sivh und Amanuensis G. von Wendt. (Aus dem physiologischen Institut der Universitat Helsingfors, Finland.) I. Mittheilung. Ueber die Einwirkuiig des Santoiiiiis auf den Gesiehtssinn. Seit Boll’s schBner Entdeckung des Sehpurpurs (1876) und W. Kuhne’s und Ewald’s klassischen Untersuchungen desselben hat die physiologische Forschung nicht sonderlich riel in Bezug au? diese wunderhare chemische Substanz hinzuzufiigen gehabt. Ueber die Be- deutung desselben fiir das Behen weiss man his hierzu nichts Sicheres. Die Ansichten, welche im Anschluss an die Max Schultze’sche Hypothese von der totalen Farbenblindheit der Stlbchen von v. Kries u. A. ausgesprochen werden, fussen, scheint es, auf nicht ganz sicheren Griinden. Veranlasst durch einige Beobachtungen , welche wir kiirzlich in der Lage waren zu machen, wollen wir einige Fragen zur Discussion bringen, die auf das Engste mit der physiologischen Aufgabe der Stiibchen (des Sehpurpurs) zusammenhiingen. Auf Grund der That- sachen, die wir feststellen konnten, scheint es uns, dass die gegenwlrtig in der Physiologie herrschende Anschauung iiber die Function der Stiibchen in mehrfacher Hinsicht modificirt werden miisse. In dieser erstm Nittheilung werden wir zeigen, dass man im Santonin ein Mittel besitzt, welches auf eigenthiimliche Weise die Ein- Wir wenden hier und zum Theil auch im Folgenden den Ausdruck ,,Gelb-violett“ an, obgleich derselbe, wie wir weiterhin sehen werden , nicht ganz dem factischen Thatbestande entspricht. Es geschieht dies der Bequem- lichkeit wegen, da wir sonst nur durch eine Umschreibung einen Am- druck fir den richtigcn Begriff erhalten wiirden.

Ueber die physiologische Bedeutung des Sehpurpurs : Ein Beitrag zur Physiologie des Gelb-Violettsehens

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Ueber die physiologische Bedeutung des Sehpurpurs.

Ein Beitrag zur Physiologie des Gelb-Violettsehens.’ Von

Docent V. 0. S i v h und Amanuensis G. von Wendt.

(Aus dem physiologischen Institut der Universitat Helsingfors, Finland.)

I. Mit the i lung . Ueber die Einwirkuiig des Santoiiiiis auf den Gesiehtssinn.

Seit Boll’s schBner Entdeckung des Sehpurpurs (1876) und W. Kuhne’s und Ewald’s klassischen Untersuchungen desselben hat die physiologische Forschung nicht sonderlich riel in Bezug au? diese wunderhare chemische Substanz hinzuzufiigen gehabt. Ueber die Be- deutung desselben fiir das Behen weiss man his hierzu nichts Sicheres.

Die Ansichten, welche im Anschluss an die Max Schultze’sche Hypothese von der totalen Farbenblindheit der Stlbchen von v. Kries u. A. ausgesprochen werden, fussen, scheint es, auf nicht ganz sicheren Griinden.

Veranlasst durch einige Beobachtungen , welche wir kiirzlich in der Lage waren zu machen, wollen wir einige Fragen zur Discussion bringen, die auf das Engste mit der physiologischen Aufgabe der Stiibchen (des Sehpurpurs) zusammenhiingen. Auf Grund der That- sachen, die wir feststellen konnten, scheint es uns, dass die gegenwlrtig in der Physiologie herrschende Anschauung iiber die Function der Stiibchen in mehrfacher Hinsicht modificirt werden miisse.

In dieser erstm Nittheilung werden wir zeigen, dass man im Santonin ein Mittel besitzt, welches auf eigenthiimliche Weise die Ein-

Wir wenden hier und zum Theil auch im Folgenden den Ausdruck ,,Gelb-violett“ an, obgleich derselbe, wie wir weiterhin sehen werden , nicht ganz dem factischen Thatbestande entspricht. Es geschieht dies der Bequem- lichkeit wegen, da wir sonst nur durch eine Umschreibung einen Am- druck f i r den richtigcn Begriff erhalten wiirden.

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wirkung des Lichtes auf den Sehpurpur im Auge beeinflusst, und dass man mit dessen Hilfe auf eine verhaltnissmassig einfache Weise die Yhysiologie des Sehpurpurs studieren kann.

Schon seit, lange ist es bekannt, dass hei Santoninvergiftung ein eigent,hiimliches Farbensehen auftritt , welches meistens so geschildert wird, dass weisse Gegenstande gelb erscheinen (Xanthopsie), und dass diesem Gelbsehen ein Violettsehen vorausgeht.

Schon bei verhaltnissmassig klejnen Dosen des Giftes (Natr. santonic. etwa 0.3 bis 0.58) konnen die Symptome hervortreten, noch ehe sich andere Vergiftungssymptome zeigen. Bei grijsseren Dosen treten Hallucina- tionen auf (Geruchs- und Geschmacksempfindungen), Schwindel, Flimmern Tor den Augen, Pupillenermeiterung, Uebelkeit, Erbrechen, Benommen- heit, Dyspnoe und Krampfe.

Die Einwirkung des Santonins auf den Farbensinn hat schon seit Jahrzehnten die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, gleichwohl nicht in dem Maasse, wie sie es verdient. Ton mehreren Forschern ist dieser Umstand, menn man so sagen darf, mehr im Vorubergehen nntersucht worden, und doch scheint schon die Thatsache von griisstem Interesse zu sein, dass wir ein Gift besitzen, durch welches unser Farben per- cipirender Apparat in einer gewissen bestimmten Richtung beeinflusst werden liann. Fiir die Auffassung und das Studium der Physiologie der Farbenempfindungen muss ja diese Thatsache von der grEssten Bedeutung sein.

Ehe wir naher darauf eingehen, wie das Santonin auf den Farben- sinn einwirkt, mollen wir zunlchst einige Theorien zur Erklarung des Phanomens einer Betrachtung unterziehen.

Bekanntlich ist das Gelbsehen ein Symptom, das auch unter anderen Verhiltnissen auftritt als bei der Santoninvergiftung. Man hat es in gewissen von Icterus begleiteten Krankheiten heobachtet. Dieses ver- anlasste eine Erkllrung des Phiinomens in der Annahme einer Gelb- firbung der Augenmedien zu suchen. Obwohl diese Hypothese a priori wenig Wahrscheinlichkeit fiir sich hat, so sei sie doch erwiihnt, da eine Autoritiit wie A r t h u r Kcinig sich nicht abweisend zu einer der- artigen Deutung des Phiinomens gestellt hat. KBnig', der den That- bestand an sich selbst nntersuchte, hebt hervor, dass das Santonin ausschliesslich eine Verkiirzung des Spectrums am violetten Ende ver- ursacht. ,,Da man die beschriebenen Aenderungen in den Farben- wahrnehmungen" - schreibt KB n i g - ,,mit sehr grosser Annlherung

* Arthur K 6 n ig , Ueber den Einfluae von aantonineaurern Natron auf ein normalee bichromatischee Farbeneyetem. Centralbl. f. Bugenheilk. 1888. S. 373.

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auch erhalten kann, indem man durch ein dickes Uranglas Idickt, so wurde zunachst an eine Gelbfarbung der Augenmedien zu denken sein. Bei den im Hinblick darauf angestellten ophthalmoskopischen Unter- suchungen mar eine solche Farbung nicht zu erkennen; doch muss bemerkt werden, dass bei denselben kiinstliche Beleuchtung augemandt murde, bei der Benutzung ron Tageslicht ware sie vielleicht, wahr- ziinehmen gewesen."

Vor mehr als 40 Jahren hob jedoch schon Edm. I tosel herror, dass eine derartige ErklLrung jeder Berechtigung entbehrt. Eine Gelb- farhung der Augenmedien konnte nach Rose nie constatirt werden, weder bei getodteten Thieren noch bei opthalmoskopischer Untersuchung des Augenhintergrundes, in melchem Falle doch die Strahlen die Medien zweimal durchlaufen mussen, um in iinser Auge zu gelangen. Auch Pi lehne2, der den Augenhintergrund bei Tageslicht untersuchte, konnte keine Spur ron Gelbfarbung entdecken. Ebenso wenig liess sich eine solche am Glaskorper eben getodteter Thiere nachweisen.

Auch wir haben vergebens nach einer derartigen Farbenverinderung der Augenmedien gesucht. In Uebereinstimmung mit fruheren Forschern untersuchtcn wir den Augenhintergrund santoninrergifteter Kaninchen (0.6 g Natr. santonic.) mit dem uf Schult6n'schen Augenspiegel, ohne auch nur eine Spur von Gelb in den Augenmedien entdecken zu konnen. Da bei der Santoninrergiftung eine ausgepragte Verkiirzung des Spectrums in seinem kalten Tlieile beobachtet wird, so liesse sich riel- leicht in Uebereinstimmung mik KBnig an eine Absorption der rioletten Strahlen in den Augenmedien denken; aber auch diese Annahme muss fallen gelassen werden. Abgesehen davon, dass eine miisserige Losung des Salzes gar keine Lichtabsorption zeigt, liess sich eine solche auch nicht am Glaskiirper santoninvergifteter Thiere conststiren. Wir haben die Augenmedien (Glaskiirper und Linse) eben getiidteter Kaninohen, die grosse Dosen santoninsaures Natron erhaltea hatten, speotroskopisch untersucht, ohne die geringste Absorptbn oder Ferkiimung des Spec- trums beobachten zu konnen.

In Uebereinstimmung mit friiheren Forschern miissen auch wir somit dafur halten, dass das Gelbsehen bei der Santoninvergiftung durchaus nicht auf diese Weise entstehen kann. Hiergegen spricht u. A. auch der Umstand, dass bei der Vergiftung ein Violettsehen ent- steht, und dass dieses Violettsehen ebenso deutlich herrortritt wie das Gelbsehen, hieriiber weiterhin mehr.

__ .

Edm. Rose, Virchow'e Archiv. 1860. Bd. XVIII. S. 27 * Pfliiger's Archiv. 1900. Bd. LXXX. S. 100.

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Wenn sich das Farbensehen bei der Santoninvergiftung nicht auf diese Weise erklaren lasst, so muss man annehmen, dass das Gift direct. auf das Nervensystem einwirkt, und hier fragt es sich nun, ob diese Einwirkung eine centrale ist oder eine periphere.

Da ausser dem Gelb- und Violettsehen auch andere Storungen auf'treten , wie Geruchs - und Geschmackshallucinationen, Aphasie, Schwindel, Erbrechen u. s. w., welches theils Symptome cerebralen Ursprunges sind, so hat man angenommen, dass auch die StBrungen der Parbenwahrnehmungen derselben Natur seien.

Mehrere Umstande, auf die wir weiterhin zuruckkommen werden, sprechen gleichwohl dafur, dass das Santonin auf den Gesichtsapparat nicht central, sondern peripher einwirkt.

Wir haben es hier mit dem interessanten Umstande zu thun, dass ein Gift solche Veranderungen in der Retina erzeugen kann, dass unsere Auffassung des objectiven Lichtes theilweise verandert wird. Diese Thatsache an und fur sich scheint uns der grossten Aufmerksam- keit werth zu sein, mehr als ihr in neuerer Zeit zu Theil geworden ist. Denn, wenn wir solche Mittel besitzen, dass wir auf die farben- percipirenden Organe einwirken konnen, ohne dass die iibrigen Func- tionen des Gesichtssinnes Schaden erleiden, so ware es vielleicht maglich, durch Experimente in dieser Richtung zur Erklgrung der Physiologie des Farbensinnes beizutragen.

Im Folgenden versuchen wir das Wichtigste zusammenzustellen, was uns iiber die Einwirkung des Santonins auf den Sehact bekannt ist. Vor Allem sollen folgende Fragen beriihrt werden: 1. Wie wird unsere Auffassung dor Farben vergndert? 2. Lassen sich wahrend der Santoninvergiftung functionelle Veranderungen an der Retina nachweisen, und welche sind es? 3. Lassen sich diese functionellen Veranderungen mit der Storung der Farbenwahrnehmung in Zusammenhang bringen?

Was die erste Rage betrifft, so ist sie sehr griindlich von Edm. R o s e studirt worden.

Ueber die kiinstliche Farbentluschung nach Genuss der Santonin- same giebt Rose' an: ,,1. Dass sie sich jedesmal als ,,Gelbsehen" kund- giebt, und man dann mit diesem Namen an das griinlich-gelbe Aus- sehen lichter weisser Fliichen (2. B. hhreibpapiers, weisser Flammen, des Himmels) daran erinnert. 2. Dass dabei bisweilen ausserdem ein Lichteindruck als violett empfunden wird. Es stellt sich dabei heraus, dass der Lichteindruck nur undeutlich und matt sein muss, um dies Violettsehen hervortreten zu lassen, wie es denn fast stets

1. c. Bd. XIX. S. 532.

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an weniger beleuchteten Theilen des Papiers z. B. bemerkt murde, wahrend die direct beleuchteten wohl gelh erschiencn oder an den RHndern lichtschmacher Flammen, und dass es unter dieser Bedingung gleichgiiltig ist, ob das I x l i t den Eindruck eines E'arbentones sonst macht, insofern es namlich in den meisten Fillen gelb, bei anderen roth oder auch, je nach der schwicheren Lichtstarke, roth odey gelb gefarbt sein konnte. 3. Ohne Einnirkung von Licht kommt das Violett- sehen nicht zu Stande, zum Unterschiede von den gewi~hnlichen Arten der Chromopsie."

Rose bemerkt weiter, ,,dass, je nachdem Violettsehen da ist, je nachdem Violettsehen und Gelbsehen verschieden stark sind, anfangs der Narcotisirte wechselnde Farbentone von einem und demselben Farben-

ungetriibter, mehr weniger starker sog. Gelbsichtigkeit rerfillt." ,,In jedem Falle leidet wahrend der Zeit des Rausches der Farben-

sinn, indem der Umfang der Farbenempfindung erregenden leuchtenden Strahlen in der Scala des Spectrums mit seiner In- und Abnahme schwindet und wieder wachst , so dass die brechbarsten Lichtwellen nicht mehr den Eindruck von Violett machen, Fondern nur den Licht- sinn erregend, als meiss erscheinen, melches Erblassen des Farben- eindruckes sich von da mit dem Steigen der Narcose auf immer weniger brechbare Lichtwellen fortsetzt, so dass das gesammte Beer blaulicher Farbenempfindnngen fehlt. Da diese Blindheit fiir Violett sich bei den verschiedensten Methoden herausgestellt hat, sich allein stets findet ebenso regelmiissig, mie unter den subjectiven Beobachtungen das sogenannte Gelbsehen und so lange a19 dieses besteht, so muss man als die Ursache der sogenannten Gelbsichtigkeit eine mehr oder weniger starke Violettblindheit ansehen, die bis zur vollstiindigen Blaublind- heit gehb."

Neuere Untersuchungen haben im Grossen und Ganzen die Be- obnchtungen Rose's best2itigt. Gleichwohl fanden andere Forscher in gewissen nkten Abweichungen.

J! K F s giebt an, dass wiihrend des Violettsehens das Spectrum auf beiden Seiten erheblich verliingert wird, un!l dass dasselbe wihrend des darauf folgenden Stadiums von G lbsehen sich auf beiden Seiten verkiirzt. Dasselbe Phiinomen konnte h K & s auch bei einer violett- blinden Person beobachten.

Nach K onig ruft die Santoninvergiftung ausschliesslich eine Ver- kiirzung des violetten Theiles des Spectrums hervor.

gemisch empfinden kaun, dass er jedoch schliesslich stets in ein St a d ' 111111

Archiv f. Augenheilkunde. 1898. S. 253.

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Im Vorhergehenden haben wir nur die wichtigsten Arbeiten auf diesem Gebiete beriicksichtigt. Mehrere andere Abhandlungen (wie z. U. die ron Hiifner, Krauss, Woinow, Brackmeyer , Frohnstein, Henneberg, Hilbert; u. A.), in denen die bezm. Verfasser eine Er- klarung des Phanomens zu geben suchen, sind wohl zu unserer Kenntniss gelangt; da es uns aber zu weit fuhren wiirde, nhher auf alle diese mehr weniger plausiblen Hjpothesen einzugehen, so mussen wir es unterlassen. - Die Beobachtungen frliherer Forscher in Bezug auf die Farbenempfindungen sind allerdings richtig, aber in mehreren Punkten unvollstindig, so dass man nicht auf sie bauen kann.

Wir haben daher die Wirkungen des Santonins von neuem und zwar an uns selbst studirt und erlauben uns die Resultate unserer Untersuchungen hier darzulegen.

Am 23. December 1902 urn 6 Uhr Abends nahm ich (T. Wendt) 0.4 R santonsaures Katron in absoluter Finsterniss ein und verblieb eine Stunde im Dunkeln.

Farbensehen im Dunkeln oder dergl. konnte nicht beobachtet werden, auch kein Flimmern vor den Augen u. dergl.

Um 7 Uhr wurde eine rothe elektrische Lampe angeziindet uiid war an derselben kein veranderter Farbenton zu beobachten. Hierauf begab ich mich in einen halbdunklen Roum, um mit dem Zeiss’schen Apparat zur Dtlrstellung complementiirer Farben zu prtifen, ob eine Aenderung des Farbemehens hestand. Ich beobachtete jetzt, dass das weisse Licht des Projectionsapparates eine gelb - orangegelbe Farbe an - genommen hatte, ebenso das elektrisehe Bogenlicht , uberhaupt, dass von jedem mit weissem oder weissgelblichem Ticht leuchtenden Korper ein reines gelb-orangegelbes Licht stromte. Weisse, stiirker beleuchtete Fliichen hatten einen gelblichen Farbenton, schwacher beleuchtete Plachen behielten ihre gewohnliche Farbe. Mit Ausnahme der stiirker beleuchteten weissen Flachen liessen sich somit keine Farbenverinderungen in der Umgebung wahrnehmen. Eine Einschriinknng des Spectrums wurde nicht beobachtet, nur eine rasch eintretende Ermiidung beim Fixiren des violetten Theiles des Spectrums. Dieses gab sich dadurch zu erkennen, dass dieser Theil fiir kurze Augenblicke gleichsam viillig verloscht war. Desgleichen machte jede einzelne Spectralfarbe den- selben Eindruck auf das Auge wie unter normalen Verhliltnissen. Wir hatten niimlich unter friiheren Uebungen genau gelernt die Farben iibereinstimmend zur benennen und unsere Angaben stimmten auch nach der Vergiftung viillig miteinander iiberein. Noch um 11 Uhr Abends hestand das oben beschriebene Gelbsehen fast ginzlich ungeschwkht.

Am 25. December 1902 nahm ich ( S i v h ) urn 1/212 Uhr

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Xorgens 0.3u Natr. santonic. und um 12 Uhr 15 Min. weitere 0.106. Cm 10 Uhr Vorm. hatte ich gefruhstuckt. Das Zimmer, in dem ich mich aufhielt, hatte drei grosse Fenster nach Suden und drei nach Osten. Der Wintertag war klar und das Sonnenlicht stromte reichlich ins Zimmer.

Etwa 15 Minuten nach der letzten Dosis erschien es mir, als ob das Tageslicht sich etwas verandert hatte. Es nahm einen etwas griin -gelblichen Ton an, als ob durchsichtige gelb - grune Gardinen ror eines der Fenster gezogen wiiren. Alle Gegenstlnde erschienen gleichwohl in ihren naturlichen Farben. Ein weisser Papierbogen ist weiss. Keine Spur von Violettsehen. An schwarzen Gegenstunden lisst sich auch bei der sorgfaltigsten Beobachtung nichts derart,iges spiiren. Eine Untersuchung des Farbensinnes mit den Ho1mgren’- schen Wollfaden giebt ein normales Resultat. Urn 12 Uhr 40 Min. begab ich mich in das zum Dunkelzimmer nmgewandelte Auditorium, woselbst der Zeiss’sche Projectionsapparat aufgestellt ist, um meinen Farbensinn mit dem Spectralapparat desselben zu untersuchen. Beim Eintritt in dieses Halbdunkel blieb ich pliitzlich vor Verwunderung dariiber stehen, dass alle Banke und Tischfiisse des Auditoriums mir in heller, reiner, rosa-violetter Beleuchtung entgegenschimmerten. Diese Biinke und Tische sind hellgelb gebeizt. Alle weissen Gegenstande in diesem halbdnnkeln Raume, der Ofen, die Instrumentenschriinke u. s. w. erscheinen beim ersten Anblick in ihrer natiirlichen Farbe, desgleichen alle schwarzen Gegenstlnde. Nur die gelbgefirbten Gegen- stiinde erscheinen schon rosa-violett.

Es wird sogleich im Halbdunkel eine Priifung des Farbensinnes mit den H olmgren’schen Wollenfaden rorgenommen. Both, griin, blau kann ich ebenso gut wie in normalem Znstande unterscheiden; gelb und violett hingegen merden verwechselt. Aufgefordert , alle rioletten Filden auszuwiihlen, sammelte ich eine Meng solcher von rerschiedenen Schnttirungen. Als ich mit ihnen in’s volle Tageslicht hinaustrat, hielt ich eine bunte Sammlung von rein violetten, hell- gelben und orangefarbenen Fiiden in der Hand. Der Farbensinn wurde von Neuem bei voller Beleuchtung gepriift und erwies sich in jeglicher Hinsicht als normal. Wiederholte Priifungen im Dunkeln ergeben, dass ich die gelben und orangegelben Farben violett sehe.

Ich war also im Halbdunkel viillig gelb-orangeblind. Mit dem Zeiss’schen Projectionsapparat wird ein Spectrum auf

die weisse Wand geworfen. Etwas Abnormes kann ich an demselben nicht bemerken. Die Llnge des Spectrums gebe ich genau an. Nur wird bei der violetten Farbe ein eigenthiimliches Plackern verspiirt.

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Zeitweise erscheint sie graulich; zeitweise aieder mehr riolett, mitunter liann die riolette Farbe fur einen Augenhlick rerschwinden.

Ein gelh-orange gefarbtes Papier wird in dem halbdunklen Raume so gelegt, dass das Licht dnrch die Thiir des angrenzenden Zimmers darauf fillt; Die eine Hllfte des Papierbogens steht rertical, die andere horizontal. Das Papier ist so placirt, dass es ausserdem mit starkeni, weissen Bogenlicht beleucht,et werden kann. Im Halbdunkel sehe ich die verticale Halfte, auf melche das Tageslicht durch die Thiire fiillt, in ihrer natiirlichen orange- gelben Farbe, die horizontale E l f t e , die im Schatten liegt, leuchtet rosa-violett. Bei Beleuchtung mit der Bogen- lampe nimmt diese HBlfte dieselbe orange-gelbe Farbung an [vie die rerticale, doch tritt die Farhenveranderung nich t unmi t te lbar ein. Pon violett kllrt sie sich in einigen Secunden zu orange-gelb. Verloscht man die Bogenlampe, so wird sie unmittelbar violett,. Mehrere Wieder- holungen des Versuches geben dasselbe Resultat.

Gelbgefirbte Fliissigkeiten (Pikrinsaurelosung, Urin) erscheinen im Halhdunkel schiin violett.

Um 2 Uhr erneuerte Priifung des Farbensinnes bei rollem Tages- licht und im Halbdunkel mit demselben Resultate wie vorher. M'enn ich bei voller Beleuchtung mit weissem Bogenlicht das Gefass mit der Pikrinsaurelosung gegen den weissen Projectionsschirm halte, so ist die Fliissigkeit rein gelb, gegen eine schwarze Flache gehalten, ist sie bei derselben Beleuchtung violett.

Um 2 Uhr 30 X n . ist der Thatbestand noch derselbe. Ein starkeres Gelbsehen konnte ich nicht beobachten, vielleicht, dass das Licht der weissen Bogenlampe etwas gelblich schimmert, doch kann ich fiieses nicht mit Bestimmtheit entscheiden. Die Schatt,en um eine kleine elektrische Gliihlampe schimmern violett.

5 Uhr 30 Min. Nachm. Das Phinomen dauert fort. Noch am folgenden Morgen erscheint mir ein gelber Lampensohirm in der Morgen- dammerung hell rcithlichviolett (blasse Lachsfarbe). Eine Violettblindheit konnte ich wahrend des ganzen Versuches nicht feststellen, wenn man nicht das Flackern der violetten Farbe im Spectrum dahin deuten will, ebenso wenig ein vcillig typisches Gelbsehen.

Mein (v. Wendt) zwei ter Versuch wurde am 26. Dea 1902 bei Tageslicht unternommen. Um 11 Uhr wurden 0.45 * santon- saures Natron eingenommen. Schon eine Viertelstunde darauf bemerkte ich eine Verinderung der Beleuchtung. Es erschien mir draussen und drinnen heller, wm wohl einer stirkeren Nuance von gelb in der Be- leuchtung zuzuschreiben ist, wenngleich eine solche nicht sicher constatirt merden konnte. Um 12 Uhr Der Schnee z. B. erschien vcillig weias.

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204 T’. 0. S I V ~ N UKD G. VON WENDT:

brach die Soline hervor, und die Schneedecke erschien jetzt etwas gelb- gefarbt.

Lampenlicht, elektrisches Bogenlicht u. s. m. hatten schon nach 20 his 25 Xin. denselhen gelb-orangegelben Farhenton wie beim ersten Versuche. Eine Einschrankung des Spectrums murde nicht beobachtet; auch keine Veranderung der einzelnen Spectralfarben. Im Halbdunkel kam dieselbe Erscheinung zur Beobachtung, wie in Siv-Qn’s erstem Versuche, wenngleich in etwas modificirter und geschwlchter Form. Orange-gelb und violett wurden verwechselt. Bei schwacherer Be- leuchtung erschienen beide Farben rein rosa-violett, war die Beleuchtung starker, so imponirten sie beide als braungelb. Ein orange-gelbes Glanzpapier hatte bei durchfallendem schwachen Tageslicht reine Veilchen- farbe; eine orange-gelbe Losung im Schatten eines dunklen Tuches rosa-violette Farbe.

Fraule in G. nimmt am selben Tage um 12 Uhr Mittags 0.2g Natr. santonic. ein. Nach etwa Stunden stellen sich Vergiftungs- symptome ein. Ein deutliches Gelbsehen ist nicht zu bemerken, aber im Halbdunkel leuchten gelbe Gegenstinde rosaviolett. Eine Priifung des Farbensinnes im Dunkeln (mit Holmgren’schen Wollenfiiden und farbigen Papierstucken) erweist eine vollige Gelbblindheit wie im Ver- suche SivBn’s. Doch sind die Symptome bei Fraulein G. nicht so ausgepragt. Hat sich das Auge eine Zeit lang, 3 bis 5 Minuten, fiir die Dunkelheit adaptirt, so unterscheidet man auch i Halbdunkel gelb und violett ziemlich gut. Bei nicht volliger AdapTon geschieht Verwechselung. Eine Verkiirzung des Spectrums bemerkt Fraulein G. nicht. Die kalte Seite des Spectrums erscheint ihr normal.

Am 27. December 1902 um 11 ’Is Uhr Vorm. nahm ich ( S i v h ) bei vollem Tageslicht 0-4 g Natr. santonio. ein, ohne etwas anderes genossen zu haben, als um 7 Uhr Morgens eine Semmel mit Butter und zwei Tassen Kaffee. Etwa eine halbe Stunde nach der Einnahme des Giftes begannen sich die Symptome geltend zu machen und bald darauf waren sie vBllig ausgepdgt. Das Zimmer (dasselbe wie im ersten Versuche) begann anf einmal griinlich-gelb zu schimmern, ganz als ob helles Sonnenlicht durch eine hellgriingelbe Gardine hereingefallen ware.

Ein deutliches Violetbehen ging dem Cfelbsehen nicht voraus, obgleich ich mit besonderer Aufmerksamkeit hierauf achtete. Wohl aber schienen Schatten, besonders in den weniger hellen Theilen des Zimmers, in violett zu schimmern. Bald darauf begab ich mich in das wieder zum Dunkelzimmer umgewandelte Auditorium. Die gelben Tische und Blnke leuchten wie im ersten Versuche in rosa-

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violetter Farbe. Tinmittelbar darauf mird eine Prufung des k'arben- sinnes mit den Holmgren'schen Garnfaden und farbigen Papier- stuckchen im Halbdunkel rorgenommen. Roth und grun werden gut unterschieden. Gelb und violett werden verwechselt; gelb und orange erscheinen rosaviolett. &lit dem hlasson'schen Farbenkreisel wird die Farbenmischung untersucht. Orange und roth geben im Halbdunkel Purpur .

Bei viilligem Aueschluss des ausseren Lichtes is1 lieine Spur von Farbensehen zu bemerken. Als ich ins helle Zimmer heraustrat, schimmerte alles um mich in gelblich-hellgrunem Licht. Der Farben- sinn im Tageslicht riillig normal. TViederholte Untersuchungen ergeben das gleiche Resultat. So lange das Gelbsehen fortdauert, sehe ich im Halbdunkel alle gelb und orange gefarbten Gegenstinde rosa bis violett. - Eine Untersuchung des Spectrums (erzeugt durch den Zeiss'schen Projectionsapparat) ergiebt ziemlich normale Verhaltnisse; es lasst sich weder eine Verlangerung, noch eine Terkurzung desselben constatiren. Ich gebe die Lange genau so an wie Dr. v. Wendt. Das einzige Be- merkenswerthe ist, dass die violette Farbe nicht vollig deutlich her- vo&,ritt. Ich sehe violett, aber das Auge ermiidet gleichsam vom An- sehen dieser Farbe; wie im ersten Versuche bemerkt man auch hier ein Flackern der violetten Farbe. Sie spielt zeitweise in grau, mitunter nur theilweise, mitunter bis blau hiniiber.

12 Uhr 30 Min. Nachm. ist das Gelbsehen beim Tageslicht am intensivsten. Die weisse elektrisohe Bogenlampe leuchtet citronengelb. Wie v. Wend t beobachte auch ioh, dass das Gelbsehen um so inten- siver, je starker die Lichtquelle ist.

Stehe ich mit dem Bucken gegen das Fender, so scheint es, als ob das gelbe Licht Ton beiden Seiten hereinstrdme. Die Farben der Gegenstande unterscheide ioh gut.

Ein weisser Papierbogen schimmert gleichwohl gelb. Fixire ioh ihn niher, so erscheint die Stelle, auf die der Blick f"allt, weiss, dooh die Peripherie leuchtet gelb. Ich nehme ein kleineres Stiick weissen Papiers, fixire irgend einen Gegenstand und schiebe das Papier etwas zur Seite, BS leuchtet gleichsam in gelb auf (in der Farbe eines gelben Kanarienvogels). Ich untersuche die Sache nlher. Zwei weisse Papierstiioke von der Griisse eines Markstiickes werden neben einander auf eine schwarze Unterlage gelegt. Ich fixire sie und sehe sie beide rollig weiss. Nun wird das eine mit dem Auge fixirt, wiihrend das andere zur Seite gesohoben wird. Sogleich sehe ich das periphere Papierstiick gelb, wahrend das mit dem Ange fixirte rein w e b verbleibt.

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Ich begebe mich wieder ins halbdunkle Zimmer, um diese meissen Papierstiicke in: Halbdunkel zu priifen. Die Stiicke merden neben einander auf eine schwarze Unterlage placirt; sie erscheinen beide gleich mit einem violetten Farbenton. Das eine wird fixirt, das andere nach aussen zu fortgeschoben. Jetzt erscheinen sie verschieden. Das fixirte ist grau-violett. das in der Peripherie befindliche hat sich aufgehellt und ist nahezu weiss; die Farbe lasst sich nicht be- stimmen.

Eine vollstandige perimetrische Untersuchung des Farbensinne> Iasst sich dieses Nal nicht mehr vornehmen. Gegen 2 Uhr hat das Gelbsehen schon betrachtlich abgenommen. Im Halbdunkel jedoch erscheinen gelbgefArbte Gegenstande noch immer rosaviolett.

Ein leichter Kopfschmerz belastigt mich den Rest des Tages. Sonst keine unangenehmen Symptome. Die Wirkung des Giftes \Tar dieses Ma1 bedeutend starker als beim ersten Versuche. Hierzu trug der Umstand bei, dass es bei niichternem Magen genommen wurde, etwas, worauf schon Edm. Rose hinmies.

Fassen wir die Hesultate dieser Beobachtungen in Kurze .zu- sammen, so lassen sich folgendt! Satze aufstellen.

1. Bei volliger Abmesenheit von iiusserem objectiven Licht ist ein Farbensehen bei der Santoninvergiftung nicht zu beobachten. Zum Zu- standekommen desselben ist es nothwendig, dass lusseres Licht ins Auge fallt.

2. Violett- und Gelbsehen losen einander nicht derart ab, dass ein Violettsehen dem Gelbsehen vorausginge, sondern sind beide gleich- zeitig. Im Tageslichte oder bei voller Beleuchtung tritt das Gelbsehen hervor, im Halbdunkel das Violettsehen, so dsss bei schwaoher Be- leuchtung gelbe Gegenstiinde violett erscheinen. In vollem Tageslichte schimmern auch Schatten und dunkle Gegenstiinde, die schwaoh be- leuchtet sind, in violett.

3. Bei schwacher Beleuchtung ist eine Person im Santoninmusche vollstlndig gelbblind, nicht aber roth- oder griinblind.

4. Nine ausgesprochene Blindheit fiir spectral Violett konnten wir in diesen ersten Versuchen nicht beobachten, wenn man nicht das Flackern in grauviolett, welches wir am violetten Theile des Spectrums wahrnahmen, 81s solche deuten will. Bei einer anderen Person (Prof. J. W. Runeberg) traf eine sehr ausgesprochene Blindheit fiir spectral Violett ein, mie weiterhin eriirtert mird.

5. Fixirt man eine griissere weisse Fllche bei vollem Tageslichte, so ist die centrale fixirte Stelle viillig weiss, mehr peripher hingegen schimmert die weisse Fliche in gelb. Dieser bemerkenswerthe Umstand

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wird auf folgende Weise noch besser festgestellt. Zwei kleine weisse Papierstiickchen werden in einer Entfernung von 15 bis 2OCm von einander placirt, das eine wird in einer Entfernung von 30 bis 40'" mit dem Auge fixirt; man bemerkt dann, dass dieses rein weiss leuchtet, das andere hingegen gelb. Dieses deutet darauf, dass nicht der centrale Theil der Retina (die Macula) das Gelbsehen percipirt, sondern der periphere Theil desselben. Auf diesen michtigen That- bestand werderi wir weiterhin zuruckkommen.

6. Ein gelb-orangefarbener Papierbogen erscheint im Halbdunkel rosaviolett. Wird dieses Papier plotzlich mit weissem Bogenlicht be- leuchtet, SO nimmt es nicht unmittelbar seine richtige Farbe an. Die violette Farbe klingt gleichsam ab. Wird das Bogenlicht plotzlich aus- geloscht, so erscheint das Papier sofort rostl-violett.

Wie hieraus ersichtlich, stimmen unsere Beobnchtungen in mehreren wichtigen Beziehungen nicht mit den Angaben fruherer Forscher uber die Einwirkung des Santonins auf den Farbensinn iiberein. Gleichwohl stehen diese Abweichungen nicht in directem Gegensatz zu friiheren Beobachtungen. Das was andere friiher sahen, konnten auch wir bis auf einige Ausnahmen constatiren, zugleich aber waren wir in der Lage, unsere Kenntniss dieser PhHnomene in gewissen Punkten zu erweitern.

Im Folgenden wollen wir nun diese Beobachtnngen nnd ihre Be- deutung einer nlheren Priifung unterziehen.

Wir betonen gleich, dass dieses hier nicht in der ganzen Ausfiihr- lichkeit geschehen kann, welche die Sache erforderte. Um diese That- sachen rnit jetzigen Lehren der Physiologie des Farbensinnes zu ver- gleichen, bedarf es eingehenderer Untersuchungen, als wir bis jetzt in der Lage waren auszufiihren. Nur in dem Grade sollen diese Facta hier einer Betrachtung unterzogen werden, als sie allgemein bekannte Cardinal- fragen beriihren. Da uns die umfangreiche Litteratur auf diesem Ge- biete nicht in allen Einzelheiten bekannt ist, so miissen wir im Voraus um Nachsicht bitten, sollten einige schon bekaunte Thatsachen von uns iibersehen sein oder als noch nioht beobachtet angesehen werden.

Was nun die erste Beobachtung betrifft, so haben alle friiheren Forscher - soweit wir finden konnten - constatirt, dam bei Ab- wesenheit jeglichen iiusseren Iichtes wahrend der Santoninvergiftung

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208 V. 0. SIVBN UND G. VON WENDT:

keine Farbenphanome herrortreten. F i l e h n e hat allerdings angegeben, dass A r t h u r K o n i g an sich selbst auch ohne objectires Licht Violett- sehen beobachtete, aber die Angabe beruht offenbar auf einem Miss- rerstiindniss, denn wir haben in dem Aufsatze Ton Kijnig nichts Der- artiges gefunden.

Der Umstand, dass durchaus objectives Licht in‘s Auge fallen muss, spricht, wie schon Rose herrorgehoben, fur die periphere Natur des Phanomens. - Hierin liegt auch die Bedeutung dieser Thatsache.

Mehrere friihere Forscher haben angegeben, dass wahrend der Santoninvergiftung das Violett - und Gelbsehen einander ablosen , so zwar, dass dem Gelbsehen ein Tiolettsehen rorausgehe. Sndere wieder fanden, dass das Violettsehen dem Gelbsehen folgte. Die letztere Be- ohachtung ist die richtige. W e schon oben hervorgehoben worden, schliessen Violett- und Gelbsehen einander keineswegs aus, und wir mussen daher die Richtigkeit der Kfies’schen Beobachtungen be- zweifeln, wenn er behauptet, dass im Stadium des Violettsehens das Spectrum an beiden Seiten verlangert sei, wahrend des Gelbsehens oer- kiirzt. Es verhalt sich nimlich so, dass im Licht das Grun-Gelbsehen hercortritt, im Dunkel Rosa-Violettsehen. Hierdurch erklart sich auch, neshalb man im Licht Schatten und schmarze Gegenstande in Violett schimmern sieht, wahrend hell beleuchtete in den Complementarfarben, hellgriingelb, schimmern. Wir haben diese interessante Erscheinung wiederholt beobachtet und haben zu wiederholten Malen das Spectrum untersucht, um die Richtigkeit der K f i es ’schen Angaben feststellen zu kiinnen, aber, wie gesagt, mit negativem Resultat.

Als besonders wichtige Thatsache sei also hervorgehoben, dass d a s Gelb- n n d Vio le t t sehen e i n a n d e r n i c h t abli isen, s o n d e r n dass s ie g le ichze i t ig bestehen. D m dieses Phiinomen nichts mit Contrast+ wirkungen oder mit complementiiren. Nachbildern zu thnn hat, wird schon von Hi i fnerB betont. Hiifner weist darauf hin, dass das Violet- sehen nicht verschwindet, wenn man die Schatten durch ein intensiv rothes Glas betrachtete, welches auch nicht eine Spur gelben Lichtes hindurchliess. Wir k6nnen noch hinznftigen, dass das Phiinomen zu lange fortdauert, als dass an Nachbilder zu denken ware, und dass es auch hervortritt, ohne dass zuerst gelbgriine Strahlen ins Auge eindringen.

Die rosariolette Farbe, welche besonders gelbe und orange- farbene Gegenstande wlhrend der Santoninvergiftung im Halbdunkel

Pfliiger’s Archizt. 1900. Bd. LXXX. S. 97. * Griife’s Archin. 1867. Bd. XIII. S. 315.

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~ B E R DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES SEHPURPURS. 209

annehmen, ist selbstverstandlich, wie wir in einer folgenden Abhandlung naher darlegen merden, nicht der violetten Farbe des Spectrums gleich- zustellen.

Die Thatsache, dass wahrend der Santoninvergiftung im Halb- dunkel eine melir oder weniger ausgeprbgte, aber stets;deutlich nachweisbare Gelb blind heit eintritt (gelb und orangefarbene GegenstZinde, Papier- stiicke, Garnfaden erscheinen rosaviolett und werden mit der vio- letten rerwechselt), wlhrend der Farbensinn fur die iihrigen Farben, specie11 fur roth und grun, erhalten ist, scheint uns der Aufmerk- samkeit merth. Leider waren wir nicht in der Lage, diese Gelb- blindheit mit feineren Methoden zu untersuchen und mussen uns daher darauf beschrbnken nur das thatsiichliche Bestehen derselben hervor- zuheben.

Es ist offenbar, dass ein derartiges Verhalten nicht mit der Young- Helmhol tz’schen Farbentheorie im Einklange steht. Eine Gelbblindheit mit gleichzeitiger Beibehaltung des Farbensinnes fur roth und gr in ist dieser Theorie nach unmiiglich.

Auch mit der Hering’schen Theorie lasst sich das Phiinomen nicht gut cereinigen, wenn gleich zuzugeben ist, dam diese Theorie die Erscheinung vielleicht erklken kijnnte.

Eine nahere Untersuchung des Thatbestandes ist gleichwohl unumganglich nothig, ehe man sich mit Bestimmtheit hieriiber aussern kann. Die Bedeutung des Phiinomens liegt klar zu Tage und hoffen wir, weiterhin Gelegenheit zu haben es naher zu untersuchen.

Wie schon hervorgehoben wurde, waren wir bei unserem ersten Selbstversuche nicht in der Lage, eine vbllige Blindheit fur die spec- trale violette Farbe zu constatiren, die von den meisten friiheren Forschern beobachtet wurde. Dam jedoch auch in diesen Versuchen eine Storung in der kurzwelliges Licht percipirenden Substanz der Netzhaut stattfand, war durch den Umstand angedeutet, dass die violette Farbe im Spectrum gleichsam flackerte. Zeitweke erschien sie grauartig, bisweilen nur zum Theil, bisweilen ganz und gar, um d a m wieder im gewohnlichen Farbenton hervorzutreten. Eioe V e h d e - rung der iibrigen Spectralfarben konnten wir bei diesen Vemuchen weder am warmen noch am hellen Theile des Spectrums bemerkea

Durch das liehenswurdige Entgegenkommen Prof. J. W. Runeberg’s erhielten wir Gelegenheit, an ihm wiihrenil der Santonhvergiftung eine vollige Blindheit fir die kurzwelligen Lichtstrahlen zu oonstatieren.

Am 30. December und 9. Januar nm 11 Chr 30 Min. Vorm. nahm Prof. Runeberg auf niichternen Magen 0-36 Natr. santonic. Etwa 20 Minuten darauf tritt Gelb-Violettsehen ein. Prof. Runeberg

Slrsndin. Archiv. XIV. 14

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sieht es wie wir in unseren Versuchen. Das Tageslicht schimmert in hellgrtin-gelb; im Halbdunkel schimmern gelbe und orangefarbene Gegenstande rosa-violett. Als Prof. Runeberg ein mit dem Zeiss'- sohen Projectionsapparat gegen den weissen Projectionsschirm geworfenes Spectrum betrachtet, sieht er keine violetten Farben. Prof. Runeberg beschreibt seine Beobachtungen folgendermassen:

,,Die Beobacht.ungen, die ich nach Einnahme von 0.36 santonsauren Natrons zu zwei verschiedenen Xalen auf iibereinstimmende Weise machen konnte, sind der Hauptsaohe nach folgende.

Etwa eine Viertelstunde nach der Einnahme bemerkte ich, be- sonders beim Anblicken weisser Gegenstinde, einer schneebedeckten Fliiohe oder eines weissen Ofens einen deutlichen griingelben Schimmer, ungefahr als ob man die GegenstLnde durch ein derart'ig gef'irbtes Glas betrachtet hitte. Dieser Farbenton, der vollig mit der Complementiir- farbe des Speotralvioletts iibereinstimmte, trat allmihlich immer stirker hervor, erreichte etwa eine halbe Stunde nach der Einnahme sein Maximum und begann ungefihr eine halbe Stunde spiter wieder an Intensitiit abzunehmen. Gleichwohl war dieses Gelbsehen , wenngleich in immer schwicherem Grade, noch mehrere Stunden spiter zu be- merken, ja selbst mehrere Tage nachher erschien beim Ansehen einer Lichtflamme, besonders einer rasoh aufflammenden, z. B. beim Anziinden eines Streichhiilzchens, ein gelblicher Schimmer um die Flamme.

Beim Betrachten des auf einen Schirm projicirten Spectrums wiihrend der maximalen Einwirkung des Santonins erschien der violette Theil des Spectrums viillig farblos, grau, ungefihr im selben Ton, wie der Schirm, auf den es projicirt war, und trat nur a b etwas stirker beleuchteter Theil des Grundes hervor. Der blaue Theil des Spectrums erschien nioht ganz in derselben Farbennnanoe wie vorher, sondern niiherte sioh etwas mehr dem Gcriin. Der griine, gelbe und orange- farbene Theil des Spectrums sohienen giinzlioh unveriindert, dagegen aber hatte der rothe, besonders der iiusserste Theil desselben, eine deutlioh und stark hervortretthde Nuance in dunklem Purpur. Dieser Purpur ist von einem Bande von rothem Farbenton eingefasst. Auch wenn der violette Theil des Spectrums fiir sioh allein projicirt wurde (durch den Complementirfarbenapparat von Zeiss), so war auf der Stelle dieser Farbe nichts anderes zu entdeoken, als ein schwach beleuchteter Fleck, von ganz demselben Farbenton, wie der umgebende Fond, wiihrend die Stelle der Complementiirfarbe auf keine Weise von dem vollkommen im selben grtinlichgelben Farbenton hervortretenden, von weissem Lichte beleuohteten Theile des auf den Schirm projioirten Lichtbildes zu unter- soheiden war. Bei Projection der verschiedenen Spectralfarben, getrenn t

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GBER DIE PHYSIOLOGISCEE BEDEUTWNG DES SEEWURPIJRS. 21 1

jede fur sich, war zu bemerken, dass die blaue Farbe einen etwas griin- lichen Ton hatte und die rothe eine deutliche Purpurfarbe, wlhrend die ubrigen Spectralfarben vollig normal erschienen.

Dieselben Veranderungen des Buffassungsvermagens der violetten Farbe und der Nuancen von blau und roth liessen sich mit farbigen Papieren feststellen, wenngleich nicht ganz ebenso scharf und unzwei- deutig wie bei den reinen Syectralfarben.

Zur selben Zcit trat, besonders beim Betrachten gelber und orange- farboner Gegenstinde, bei gewissen Beleuchtungen im Halbdunkel ein rosa, mitunter etwas in violett spielender Farbenton hervor, der bis- weilen so iiberwiegend werden konnte, dass die Gegenstande rosa oder violett gefarbt erschienen.

Beim Betrachten eines weissen Papierbogens in vollem Tageslichte erschien der ganze Bogen im selben grungelben Farbenton, der sich iiberhaupt beim Sehen im Tageslichte geltend machte. Aber bei genauem Fixiren eines kleinen weissen Papierbliittchens erschien dasselbe ganz weiss. Im peripheren Gesichtsfelde erschien auch das kleine Papierbliittchen in der gewohnlichen griingelben Farbennuance, aber eine ganz bestimmte Grenze, wo der griingelbe Farbenton ver- schwand, wenn das Papierblattchen dem Fixationspunkte des Auges genahert wurde, konnte nicht erkannt werden. Hierbei ist zu be- merken, dass ich stark myop bin, und dass eine genaue Auffassung der Barbennnancen im peripheren Sehen sowohl ohne als mit Brillen mir nicht miiglich war."

Prof. Rune berg's interessante Farbenwahrnehmungen, specie11 das Sehen von Purpur im iiussersten rothen Theile des Spectrums, veranlassten uns zu Selbstversuchen rnit etwas grosseren Santonindosen. - Friih am Morgen erneuerten wir unsere Selbstversuche mit einer kiirzlich von Merck erhaltenen Sendung von Natr. santonic. (DO& 0.4 bis 0-6), mit dem Resultat, dass auch wir viillig blind fiir das Spectralviolett wurden. Der violette Theil des Spectrums erscheint auf dem Projectionsschirm deutlich als griiulicher, schwiicher beleuchhter ungefarbter Theil. Die blaue Spectralfarbe erscheint auch uns in griin- lichem Sohimmer. Im iiussersten rothen Theile des Spectrums ist eine deutliche Purpurfarbe zu sehen. Das auf dem weissen Sohum pro- jicirte Spectrum ist in dem rothen Theile so geformt, dass auf der rechten Seite ein convexer Schatten in das Roth hineinragt. Dieser Schatten und seine nlchste Umgebung im Roth waren es, die in der

Dae anfange benubte Salz war d o n im Frtihling 1900 in Berlin ge- kauft und hatte vielleicht etwsll durch die Einwirkuog dea Lichtea gelitten, 80-

dsss ea vielleicht nicht ganz krl[Wg war. 14

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212 Y. 0. S I V ~ N CND G. VON WENDT:

Santoninrergiftung in schoner Purpurfarbcl leuchteten. Mehr nach innen zum spectralen Orange hin, ist die rothe Spectralfarbe unrerandert. An den iibrigen Spectralfarben (orange, gelb, griin) war nichts Abnormes zu bemerken.

Wie erklaren wir nun alle diese Beobachtungen ? Am einfachsten scheint uns his auf Weiteres die Annahme, dass

das Santonin auf irgend eine Weise auf die Substanz im Auge ein- wirkt, die durch das kurzwellige Licht, riolett, beeinflusst mird. Wir werden weiterhin den Beweis dafiir erbringen, dass diese Substaoz der Sehpurpur ist. Bis auf Weiteres sei nur herrorgehoben, dass dies mit K ii h n e's classischen Untersuchungen iiber diese wunderbare Substanz in gutem Einklange steht.

Der Umstand, dass bei der Santoninvergiftung die Farben- wahrnehmung fur spectrales Violett ganzlich oder theilweise rer- schwunden ist, erklart auf einfache und vbllig befriedigande Weise das Gelbsehen oder richtiger das Hellgiingelbsehen bei hellem Tageslichte.

Wie wir oben schon im Vorhbergehen herrorhoben, hangt dieses Gelbsehen wesentlich von der Menge objectiven ausseren Lichtes ab, das ins Auge fallt. Wir konnen dieses in Kiirze so zusammenfassen, dass das Gelbsehen wachst in directem Verhaltniss zu der Nenge rein weissen Lichtes, das ins Auge f"a1lt.l Rei einer gewissen unteren Grenze, die wir noch nicht Zeit und Gelegenheit hatten naher zu bestimmen, verschwindet es ganzlich. Ob die von uns beobachtete Gelbblindheit an dieser Grenze eintritt, konnten wir gleichfalls noch nicht mit volliger Genauigkeit bestimmen , obgleich es hochst wahr- scheinlich ist, dass es sich so verhalt. Es ist gleichwohl keineswegs ausgeschlossen, dass bei einer gewissen Beleuchtung sozusagen ,,normale" Farbenverhiltnisse conshtirt werden konnen. Dieses scheint uns bis auf Weiteres plansibel.

Da, wie oben hervorgehoben wurde, die Farbenwahrnehmnng fiir die kurzwelligen - violetten - Lichtstrahlen venchwnnden ist, muss man selbstverstiindlich das weisse Licht, welches ins Auge fillt, in der Complementlrfarbe sehen, die natiirlich nicht einfach, sondern aus den iibrigen Spectralfarben zusammengesetzt ist. Eine Uischung desselben mit Ausschlues der rioletten Farbe giebt bekanntlich hellgelb-griin - ein Farbenton - in welchem bei voller Yantoninvergiftung alle rein weissen Gegenstiinde bei Beleuchtung schimmern. Es ist klar,

Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, daw wir hier g e w h e individuelle Verhsltnisse, wie die GrSsse der Giftdosis und die grossere oder ge- ringere Empfllnglichkeit der Versucbsperson fur dieselbe nicht beriicksichtigt haben.

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~ B E R DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES SEHPUIWJRS. 2 13

dass die Reinheit dieses Grhn-Gelbsehens von der Reinheit des ins Auge fallenden objectiren Lich tes abhangt.

Das Auftreten der Pnrpurfarbe im alleriussersten Theile des spectralen Roth muss mohl darauf bernhen, dass der Schatten, der ins Roth hineinragt, eigentlich Fiolett erscheint, wie alle Schatten wahrend der Santoninvergiftung. Dieser violeite Schatten gemischt mit dem spectralen Roth giebt Purpur.

Wir haben es also hier rnit einer hesonders interessanten Ent- stehung der Purpurfarbe zu thun.

Dass es rnit allergrkter Wahrscheinlichkeit der Sehpurpur ist, der vom Santonin angegriffen mird, lBsst sich ;&us dem Umstande schliessen, dass mahrend der Santoninvergiftung die Stelle des centralen Sehens (Nacula) keine yeriinderten Farbenempfindungen hat.

Bei genauer Beobachtung erscheint ein meisser Papierbogen an der Stelle, die das Auge fixirt, vollig weiss, schimmert aber peripher von derselben in Gelbgrun. Kann man schon hiernach vermuthen, dass die Stelle des Gelbsehens sich peripher in der Retina befindet, so geht dieses mit voller Deutlichkeit aus einer perimetrischen Unter- suchung des Farbensinnes wahrend der Santoninvergiftung hervor.

Wir haben den Farbensinn mahrend der Santoninvergiftung perimetrisch untersucht. Es wurden dabei mehrere interessante That- sachen constatirt. In einer folgenden Abhandlung werden wir naher auf dieselben eingehen; hier seien nur folgende das Oelbsehen be- riihrende Beobachtungen mitgetheilt

Die perimetrischen Messungen wurden nur fur das rechte Auge ausgefuhrt. Die Griisse der Papierbllttchen betrug 1 der Abstand des Auges vom fixiertm Punkte etwa 32 cm.

Ein weisses Papierblgttchen giebt im griisseren Theile des Gesichts- feldes die Empfindung von Gelb, nur im Msculatheile erscheint das Blattchen weiss. Das Verhlltniss geht am besten aus den beigefiigten Abbildungen unseres Gesichtsfeldes hervor. (Siehe Fig. 1 und 2.)

Diese Untersuchung zeigt mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wiinschen iibrig libst, dass nicht die Gegend der hlacula Sitz des Qelb- sehens ist, sondern die Peripherie der Retina und zwar in einer Am- dehnung, die dem normalen Sehen von Weiss entspricht.

Das Phinomen, dass ein weisses Papier an der Stelle des centralen Sehens weiss erscheint, in der Peripherie gelb, erhiilt seine Erkliirung in Folgendem. An der Stelle des centralen Sehens in der Retina finden sich bekanntlich nur Zapfen und keine Stiibchen, wlihrend in der Peripherie die Anzahl der Sttibehen iiberwiegt. Sieht m m rnit dem centralen Theil der Retina, oder mit anderen Worten, mit den Zapfen,

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214 V. 0. SIV$N UND G . VOK WENDT:

so erscheinen die Gegenstande in ihren natiirlichen Farbeu, und specie11 aeisse Gegenstiinde weiss, wahrend im Gegentheil Ton der Retina- Peripberie, wo die Stabchen vorkommen, die weissen Gegenstande im Santoninrausche gelb gesehen werden. Es muss dieses offenhar darauf beruhen, dass das Santonin nur auf die Stabchen einwirkt. Dass die Zapfen gar nicht vom Santonin beeinflusst werden, zeigt u. A.

Fig. 1. Sehfeld fiir Webs im Santoninrauecbe (v. Wendt).

die Cntersuchung der Sehschlirfe wiihrend der Santoninvergiftung. Docent G r o n h olm hatte die Liebenswiirdigkeit , unsere Sehscharfe wiihrend voller Einwirkung dea Giftes auf die iibliche Weise zu- untcrsuchen und fand sie ebenso wie unter normalen Verhiltnissen.

Die histologischen Untersuchnngen der Lage der Zapfen in Frosch- augen aahrend der Santoninvergiftung, Untersuchungen , au welchen air gleich kommen werden, zeigen auoh ihrerseits, dass das Santonin keine merkbare Einwirliung auf diese Organe hat.

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OBER DIE PHIYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES SEEPURPURS. 2 15

Die wichtige Thatsache, dass nur die Stabchen vom Santonin an- gegriffen werden stiitzt in hohem Maasse unsere Annahme, dass es nur Veranderungen im Sehpurpur sind, die sowohl das Violett- als dau Gelbsehen in der Santoninvergiftung bedingen.

Wir haben bei unseren Experimenten das Adaptionsvermijgen des Suges nicht untersucht, cine Untersuchung, die zweifkllos von grijsstem Interesse ware. Friihere Forscher, die den Sachverhalt studirten, ge-

langten zu versohiedenen Resultaten. ) KTies fand, dass die Adap bei der Santoninrergiftung nicht ve andert sei. Fi lehne fand verlangsamt.

__ -~

Wir haben im Vorhergehenden als selbstverstlndlich angenommen, dass das Santonin peripher auf das Auge wirkt und nicht central auf das Gehirn, und dies geht auch unzweideutig aus unseren Unter- suchungen hervor. Das Fehlen jeglichen Farbensehens in absolutem

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Dunkel, der Umstand, dass das Gelbsehen ron der Peripherie der Retina percipiert wird, wahrend die Macula vom Gifte gar nicht oder, zum mindesten, nicht merkbar beeinflusst wird, diese Thatsachen beweisen, dass das Farbensehen in der Santoninvergiftung auf Ter- anderungen im peripheren Sehapparate beruht.

Diese wichtige Thatsache wird noch des Weiteren dadurch gestutzt, dass sich hei santoninvergifteten Thieren Storungen der functionellen Veranderungen in der Retina nachweisen lassen.

Im Jahre 1900 wies F i lehnez am E’rosche wihrend der San- toninvergiftung deut,liche Veriinderungen am Sehpurpur nach. F i le h n e gab das Gift in Dosen von 0.3 bis 0 . 7 5 9 und constatirte dabei folgendes:

,,Wird ein Frosch rergiftet, nachdem seine Augen durch einen zweistundigen Aufenthalt im Dunkeln sehr reich an Sehroth geworden sind, und wird or hierauf weitere Zeit im Dunkeln belassen, so unter- scheidet sich nach der Praparation sein Sehpurpurlager, sowie das Ver- halten der den Purpur liefernden Pigmentzellen zur lusseren Schicht der Netzhaut und das Abbleichen des Purpurs unter der Einwirkung des Tageslichts in n ich ts von der Korm. Bei der Prgparation ge- lingt es leicht, die Chorioidea mit den Pigmentzellen von der Aussen- flache der Retina abzuziehen; der Purpur ist prachtvoll und bleicht in normaler Weise und Zeit. Es wird also der Vorrath vorher ge- bildeten Purpurs von Santonin entweder nicht erreicht, oder doch nicht veriindert.

Ganz anders ist der Befund in solchen Versuchen, in denen am santoninvergifteten Auge der Ersatz des durch Belichtung rerbrauchten Sehpurpurs in Frage kommt. Wenn an den Fergifteten Thieren ge- niigend lange hellea Tageslicht eingewirkt hat und der Sehpurpur ah verbraucht betrachtet werden kann, und wenn man dann die Thiere for zwei Stunden ins Dunkle bringt, so h d e t man bei der alsdann vor-

Wir wollen hier nochmale betonen, dass diese Verhliltnieee durchaus dagegen sprechen, dass daa Gelbsehen auf einer Gelbarbung der Augenmedien beruhte. Waire dieaes der Fall, 80 museten auch beim centralen Sehen weiese Gegenstbde gelb erscheinen. Daa Auesehen des Spectrums gegenuber dem santoninvergifteten Auge ist such ein anderea, als wenn man es durch ein Uranglaa (oder gelbgrun gefArbte Gelatinetafeln) betrachtet , welche den vio- letten Theil des Spectrums absorbirt. Dem eantoninvergifteten Auge erscheint der violette Theil d e u t l i c h grllulich, beim Blick durch ein Uranglas ist dieser Theil derr Spectrums so gut wie verschwunden, was darauf beruht, dass dieae kunwelligen Lichtstrahlen vollstfindig absorbirt sind. Dae santoninvergiftete Auge empfindet also noch Helligkeit in dieaem Theile des Spectrums.

Pf l i iger’s Archiv. 1900. Bd. LXXX. S. 104.

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~ B E R DIE PHYSIOLOOISCHE BEDEUTUNG DES SEHPURPURS. 21 7

genommenen Priparation meist fast keinen, zuweilen gar keinen, otter geringe Mengen von Purpur: der Grad der Purpurarmuth hingt einer- seits von der Grosse der Giftgabe, andererseits ron individuellen Verschieden- heiten der Thiere ab. W o sich Ersatzpurpur gebildet hatte, verblich er im Tageslicht auffallend schnell, schneller als ein gleich grosser Vorrat h von Purpur in einem unvefgifteten Suge verbleicht. - Ein besonderes Interesse bot in Santoninbparaten, die lieinen oder nur wenig Purpur besassen, das Verhalten der Pigment(Epithe1)zellen. Das Abziehen der Netzhaut von der Chorioidea gelang nie glatt. Das Epithel (die Pigmentzellen) haftete ungemein fest an der Aussenflache der Xetzhaut. Es liegt auf der Hand, dasr dieses Anldammern der (purpur- erzeugenden) Pigmentzellen nur eine Folge des augenblicklichen Seh- rothmangels ist. - Nicht die Santoninvergiftung als solehe, sundern der Mangel an Sehroth, welcher in Folge der Santoninvergiftung auf- getreten ist, liefert den Grund dafiir, dass in den zuletzt besprochenen PrSiparaten die Pigmentzellen sich so energisch an die Retina an- klammern.'b

Diese Beobachtungen Fi lehne 's konnten wir fast in jeder Hin- sicht bestatigen und betonen dieses gegeniiber KTies, der ein Jahr vor F i lehne gleichfalls die Einwirliung des Santonins auf den Seh- purpur untersuchte, doch nur mit negatirem Resultat. Worauf es beruhte, dass Kfies die deutlichen Veriinderungen des Sehpurpurs bei santoninve if eten Thieren nicht bemerkte, lasst sich nicht be- stimmen, da $Kfies keine nlheren Einzelheiten iiber seine Versuche veroffentlicht at. Vielleicht, dass das Santonin in den Tersuchen

eue vergiftete, dass er ein Krystall von etwa 0-2 Natr. santonic. nnter die Riickenhaut einfiihrte.

Dass der FroSch wirh-lich vergiftet ist, liisst sich schon nach dem Aussehen desselben beurtheilen ; das Hautpigmen t zeigt namlich wiihrend der Santoninvergiftung interessante Verlnderungen. Bei fast allen santoninvergifteten Froschen fanden wir die Haut von auffallender Bliisse, das Pigment hat sich gleichsam vermindert. - Schon dnrch diesen einfachen Umstand kann man einen santoninvergifteten Frosch von einem normalen unterscheiden.

Die niihere histologische Cntersuchung iiber die Einwirkung des santonsauren Natrons auf die Froschretina ergab folgende Resultate.

Die gleich nach der Dekapitirung hervorprlparirten Augen wurden fixirt und gehertet in:

nicht in die Blutbahn gelangte, da er seine Frosche auf die

l a. a. 0. S. 252.

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218 V. 0. S I V ~ N UND G . VON ~ V E N D T :

3 Proc. Salpeterssure, 18 Stunden, hierauf in steigendem Alkohol 5 bis 10 Proc. Formol, 1 bis mehrere Tage ,, 13 1:

3 Proc. Salpeterssure, u. 5 Proc. Formol 1 bis 2 Tage 7 1 7 ,

4 Proc. Trichloressigsaure, 20 Stunden ,, 9 9 9

Einige Augen wurden vor der Hartung eroffnet, andere hingegen wurden uner6ffnet gehartet. Vergleiche daruber, welche der verschiedenen Fixir- und Hilrtungsmethoden fur das Auge am geeignetsten sind, konnten naturlich nicht in Frage kommen.

Einige vergleichende Versuche wurden mit Car n o y 'scher Mischung gemacht: 20 bis 30 Minuten langes Fixiren des getiffneten Auges in der- selben und darauf Htirtung in Alkohol von steigendem Proc.-Gehalt. Diese Praparate varen den in Salpetersilure - Formol und in Trichloressigsilure fixirten nicht merkbar uberlegen, ja zu langes Fixiren in Carnoy's Mischung konnte fast untaugliche Prgparate geben.

Paraffin eingebettet, theils vermittelst Xylol, theils vermittelst dsr kurzlich von H e idenha in empfohlenen Schwefelkohlenstoffmethode. Die Paraffinblljcke wurden in 3 bu 5 Mikron dicke Serien geschnitten und die Prlparate theils in Toluidin-Erythrosin, theils in Hamatoxylin-Eisenalaun-Bordeauxroth gef&rbt. Die Farbung in Toluidin- Erythrosin geschah derart, dass die Prilparate (stehende) zuerst 24 Stunden in I/, Proc. Toluidinl6sung geflirbt, hierauf einige Augenblicke in Wasser gespult und dann in gesattigter ErythrosinlSsung gefhbt wurden , indem ein Tropfen der Erythrosinlasung auf den horizontal gehaltenen Object- trager getropfelt und sobald er sich uber die Mitte verbreitet hatte, so- gleich abgespiilt wurde. Die Prlparate wurden dann in Alkohol differenzirt und in Xylol-Canadabalsam eingebettet.

Die H&matoxyliif%rbung geschah so, dass die Pfiparate 24 Stunden lang in einer schwachen Eisenalaunbordeauxl6sung gebeizt, dann gespult, in Hhatoxyl in (H e id en h a i n) gearbt, wieder gespult und in der Beizungsflussig- keit differenzirt wurden , mit schliesslicher Controle durch das Mikroskop.

Wir haben nicht verschiedene Theile der Retina untersucht, sondern wurden die Schnitte immer von einer centralen Partie derselben genommen.

Eine grasse Anzahl von ihnen wurde nach folgendem Schema untemucht.

Die Praparate wurden in 52

- Serie I.

1 , 11. 7 J 111.

1, IV.

1, V.

7) VI.

Fr6sche hellem Tageslicht ansgesetzt und im Tageslicht getodtet. Frosche im Dunkeln verwahrt nnd im Dunkeln getiidtet. Fr6sche 3 Stunden in hellem Tageslicht, hierauf 1 bis 2l/, Stunden im Dunkeln, dann get6dtet. Fr6sche 2 und mehr Stnnden im Dunkeln, hierauf '1, bis' 2 Stunden im Licht, dam get6dtet. FrSschen, mit Serie I controlirt, wird 0.1 bis 0 .49 Natr. santonic. injicirt, get6dtet bis 2 Stunden spster (die ganze Zeit im Licht). Mit Sene I1 controlirten Fr6schen wurde 0.1 bis 0.49 santonsaures Natron injicirt ; get6dtet g/4 bis 2 Stunden sp&ter (die ganze Zeit im Dunkeln).

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OBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES SEHPURPURS. 21 9

Serie VII. Frlischen mit Controle der Serie 111 wird dieselbe Dosis Natr. santonic. injicirt; sie werden bis 2 Stunden spater ins Dunkel gebracht und bis 13/, Stunden sptiter im Dunkeln getlidtet.

,, VIII. Frlischen mit Controle der Serie IV wird im Dunkeln dieselbe Dosis Natr. santonin. injicirt und werden sie nach bis 13/, Stunden ins I ich t gebracht und 11, bis 1 l/z Stunden darauf getlidtet.

Wir Jaben Frosche zu verschiedenen Jahreszeiten benutzt, im Friih- ling, Herbst und Winter. Einen ausgesprochenen Unterschied konnten wir nicht finden, vielleicht dass doch die Fruhlingsfrlische am besten reagirten.

Die Normalrersuche I, 11, I11 und 1V gaben stets typische Resultate. Schon nach etwa einer Stunde war in den meisten Fallen die

Dunkelstellung vollig ausgebildet. Die Pigmentzellen sind dann mit Pigment getullt, so dass der Kern nur theilweise zu sehen ist. Das Pigment ersheckt sich kaum zwischen die Stabchen. Ganz so typische und schone ,,Dunkelstellungen" der Zapfen, wie sie zuerst von Th. W. Enge lmann und van Genderen S to r t beschrieben worden sind, gelang es uns nur vereinzelte Male zu erhalten. Die Licht- stellung sowohl des Pigments als der Zapfen hingegen War in den allermeisten Fiillen vollig typisch.

Nach der Satoninyergiftung zeigt die Retina folgende Eigen- thiimlichkeit en .

Die histologischen Praparate von nach V behandelten Frosch- augen zeigen folgende Abweichiingen von der Norm. Die Pigment- zellen sind fast von Pigment entblosst. Das Pigmentist in dichten Massen zwischen den Stiibchen zu sehen. Das Maxi- mum des Pigmentgehaltes fallt ungefahr in gleiche Hohe mit dem oberen Theil der Innen- glieder der Stabchen. In Be- zug auf die Zapfen sind keine deutlichen Veriinderungen zu sehen. Lichtfrosch.

Fig. 3. Normaler Fig. 4. Santonin- rergift. Lichtfrosch. F -

Ein nach VI behandelter Frosch weicht in Bezug auf die Lage des Pigments und der Zapfen nur unbedeutend vom Controlfrosche ab. Das Pigment dringt etwas zwischen die Stiibchen herab. Ein deutlicher Unterschied zeigt sich

Von einer 20procent. Usung santonsauren Natrons wurde bis 3""' (0 * 1 bis 0 - 6 Natr. santonic.) unter die Ruckenhaut eingeapritzt.

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220 Y. 0. SIV$K UND G. vox WENDT:

iiii histologischen Retinapriparat des nach YlI behandelten Erosches (s. Fig. 5). Die Figur bezieht sich auf einen Frosch, der eine halbe Stunde nach der T'ergifhng ini Licht und dann zwei Stunden im Dunlie! gewesen war, der

Fig. 5. Fig.. 6

Dunkelfrosch. Dunkelfrosch. Santoninvergift. Normaler

Controlfrosch mar et8wa 1 I/, Stunden im Dunkeln gemesen und zeigte vollig normale Dunkelstellling (s. Fig. 6).

Das Pigment. des vergifteten Frosches ist bis zur Hohe des mittleren Ilrittels der Sussenglieder der Stabchen herabgedrun- p i . Die Aussenglietler der Zapfen ragen rinbedeutend ins Pigment hinein.

R i r haben es hier also, sozusagen, init einer unvollstindigen Dunlielstellung zu thun. Der nach TI11 l~ehandelte Frosch zeigt in Bezug auf die Retina ein ahnliches Bild wie V.

13s wurden mehrere Controlserien gemacht und waren die Resultate iibereinstimmend.

Wir konnten somit constatiren, dilss santoninsaures Batron in Dosen von 0.1 hie 0.6 eine Reizung des Auges verurmht, die sich im histologischen Bilde in der Lage des Pigmentes zeigt. Wir erhalten bei einem im Licht vergifteten Thiere eine, menn man so sagen darf, ,,Hyperlichtsstellung" des Pigments. I m Dunkeln wieder scheint beim vergifteten Thiere eine rollstindige Riickkehr des Pigments von der Lichtstellung zu einer typischen Dunkelstellung nicht stattzufinden, oder zum mindesten ausserst verlangsamt zu sein. Dass die Ursache dieses Verhaltens nicht in einer primaren Reizung der Pigmentzellen mit nachfolgender Lahmung derselben zu suchen sei, zeigt der Urn- stand, d u s dieselbe ,,Hyperlioht&ellung" auch bei Fr6schen auftritt, die im Dunkeln vergiftet wurden oder nach der Vergiftung lingere Zeit im Dunkeln gehalten und dann ins Licht gebracht wurden.

Das Santonin hat also an und fiir sich eine relativ unbedeutende Einwirkung auf die Lage des Pigments im Auge. Es erzeugt keine Pigmentwanderung im eigentlichen Sinne - unterstiitzt aber in hohem Grade die Einwirkung des Lichtes auf die Bewegung des Pigments und hat dann eine verhlltnissmjasig lange Nachwirkung, auch nachdem das Licht vom Auge abgesperrt wurde.

Dieses steht auch in gutem Einklange mit den Schliissen, zu denen F i l e h n e hinsichtlich des Sehpurpurs gelangt.

Soweit sich die Sdche gegenwgrtig beurtheilen lasst, sind bei der Santoninvergift.ung d ie V e r l n d e r u n g e n des S e h p u r p u r s d a s

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CBER DIE PHYSLOLOGISCHE BEDEUTUNG DES SEEIPURPURS. 22 1

Pr imare , die Veranderungen i n der P igmentwanderung eine se cun dare E r s c h e inun g.

Konnen wir nun annehmen, dass bei der Satoninvergiftung auch im menschlichen tluge dieselben morphologischen Veranderungen auf- treten, wie im Froschauge?

Fi lehne nimmt ohne \Veiteres an, dass dieses der Fall sei, und auch wir sind geneigt, uns auf denselben Standpunkt zu stellen, umsomehr, als beim Menschen , wie mir zeigten, mit grosster Wahrscheinlichkeit das Farbensehen wahrend der Santoninrergiftung eine Stiibchenfunction ist.

Die physikalische Prufung des Farbensinnes und die morphologischen Veranderungen in der Retina des Froschauges ergeben also unzweideutig, dass das Santoniii in erster Keihe den Sehpurpur des Auges angreift. Mehrere Cmstande spr9chen ferner dafur, dass das Gift, zum mindesten in mass igen Dosen, nicht auf nndere licht-(farbe-)percipirende Organe des Auges (Zapfen) einwirkt.

Wie schon friiher hervorgehoben wurde, liess sich wahrend der Ver- giftung keine Verinderung der Sehscharfe constatiren und auch in den Lageverlnderungen der Zapfen beim Frosch mar keine Abweichung von der Norm zu bemerlien. Soweit sich die Sache gegenwartig beurtheilen llsst, scheint also das Santonin nu r den Sehpurpur in der Ret ina anzugreifen und die fibrigen Elemente des Sehepi thels i n t ac t zu lassen.’

Da es sich so verhiilt, so ergiebt sich hieraus, dass die Sttirungen der Farbenempfindungen im Santoninrausche auf Storungen des Seh- purpurs beruhen.

Die Blindheit fur das spectrale Violett, wodurch das Griingelb- sehen im Tageslicht entsteht, ist somit verursacht durch die Einwirknng des Santonins auf den Sehpurpur.

Nun fragt es sich, ist der Sehpurpur die Sehsubstanz, durch melohe unter normalen Verhaltnissen diese Farbenempfindung (spectrales Violett und seine ComplementSirfarbe) vermittelt wird?

Die Antwort scheint nicht anders als bejahend ausfallen zu kiinnen. Es ist nimlich schwer, sich rorzustellen, dass eine Sehsubstanz, wie. der Sehpurpur, durch eiii Gift in solcher Richtung beeinflusst wiirde,

Da bei Einnahme grotjeerer Dosen Santonin vollatlSndige Amblyopie ein- treten kann, so ist gleichwohl nicht vollig ausgeschlossen, daw, bei g r b r e n Giftdosen wenigstens, auch andere Theile der Retina angegriffen werden k6n- nen. Die Amblyopie an und ftir eich spricht allerding nicht ohne Weiteres hierfur, da dieselbe ja offenbar centralen Ursprunges eein kann und aller Wahr. scheinlichkeit nach auch ist.

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222 V. 0. SIVBN UND G. VON WENDT:

dass sie gewisse Farbenempfindungen erzeugte , wenn diese Substanz nicht schon unter normalen Verhaltnissen eine derartige Eigenschaft bedsse. - Waren die Stabchen (der Sehpurpur), wie gegenvartig all- gemein mgenommen wird, total farbenblind und nur Organe der Helligkeit, so mare zu erwarten , dass wihrend der Santoninrergiftung nur Veranderungen der Helligkeit eintreten mfissten. Da jedoch das Santonin eine Farbenempfindung erzeugt, so muss dieses darauf beruhen, dass eine Storung in einem Organ aufgetreten ist, welches schon nornial Farbenempfindungen vermittelt.

Wir gelangen also mit Nothwendigkeit zum Schlusse, dass der Sehpurpur l auch un te r normalen Verhiiltnissen die Seh- substanz is t , durch welche die Farbenempfindung des kurz- welligen Lichtes (Violett) r e rmi t t e l t wird.

Auf Grund der vijlligen Blindheit fur spectrales Violett wahrend des Santoninrausches ergiebt sich ferner, dass der Sehpurpur die einzige Sehsubstdnz ist, wodurch diese Farbenempfindung percipirt wird.

Ob und in welchem Maasse eine andere Spectralfarbe (beispielsweise blau) durch gewisse Processe des Sehpurpurs percipirt wird, waren wir bis jetzt nicht in der Lage, naher zu untersuchen.

Ehe wir schliessen, kiinnen wir nicht umhin, wenn auch nur im Voriibergehen, darauf hinzuweisen , dass gewisse physiologische Er- scheinungen, wenn sie mit dem, was wahrend der Santoninrergiftung beobachtet wird, zusammengestellt werden, ungesucht auf den Gedanken bringen, dass sie nur durch normal vor sich gehende Processe des Seh- purpurs hervorgerufen werden.

Betrachtet man in einem halbdunkeln Zimmer einen matt orange- gelb gefirbten Gegenstmd (die Farbenscheiben des Masson’sohen Farbenkreisels), wenn geeignetes Tageslicht (durch die offene Thiir eines angrenzenden Zimmers) darauf fdt, 80 ersoheint der Gegenstand in seiner richtigen Farbe - orange-gelb. Beschattet man denselben (am einfachsten, indem man sich vor das Tageslicht stellt), so nimmt die Pappscheibe sofort einen rosa in Violett spielenden Farbenton an. Die Farbe veriindert sie nach einigen Minnten von neuem. In der Peri-

‘ pherie der Scheibe klgrt sich die Farbe auf - wird wieder orange- gelb; in der X t t e erscheint sie noch immer rosa-violett, aber von der Peripherie schieben sich gleichsam orange-gelbe Buchten in das Rosa- violette hinein; dieser Farbenton scheint ziemlich veranderlich zu sein.

l Den Begriff Sehpurpur nehmen wir hier selbatverstlindlich in weiterem Sinne und rerstehen darunter, wie aue dem Zusammenhange hervorgehen diirfte, keineewega nur die Art der Substanz, welche sich in Dunkelaugen findet.

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UBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES SEHPUEPURS. 223

Xach einigen weiteren Secunden hat die ganze Pappscheibe, auch im Schatten, wieder ihre urspriingliche Farbe - orangegelb - nur un- deutlicher, grauer.

Eine rein gelbe Pappscheibe nimmt unter ahnlichen Verhiil t- nissen einen blauen Farbenton an. Eine griine verandert nicht die Farbe, sie wird nur dunkler. Ebenso eine rothe. - Wenn das Auge vorher eine lingere Zeit eine weisse sonnenbeleuchtete Schnee- fliche betrachtet, so tritt das Phanomen sofort ein, wenn man im Halbdunkel die orangefarbene Pappscheibe ansieht. Sie erscheint sogar schijner rosa mit einem deutlicheren Strich ins Violette.

Es liegt klar zu Tage, dass man es hier nicht mit irgend welchen farbigen Nachbildern zu thun hat, denn das Phanomen tritt auch herror, wenn man die Scheibe, vor der Beschattung derselben, gar nicht fixirt hat.

Der Farbenton, den die orangegelbe Scheihe annimmt, erinnert in hohem Grade an den Farbenton, den sie erhilt, wenn sie im Halbdunkel von einem santoninvergifteten Auge betrachtet wird. Nur dieses das Phanomen bestindiger und nicht voriibergehend. i;' diesem Grunde sind wir geneigt anzunehmen, dass das Phiinomen unter pbysiologischen VerhLl tnissen auf irgend eine Weise mit dem Stiibchen- sehen und mit Processen im Sehpurpur zusammenhangt.

Auf diese an und fur sich interessanten Phanome werden wir in spateren Mittheilungen zuriickkommen bei nlherer Betrachtung der Function der Stiibchen und der Art und Weise, auf welche der Seh- purpur durch die Einwirkung des kurzwelligen Lichtes veriindert wird.

Im Friihling des Jahres 1900 hatte ich Gelegenheit, einige Wochen bei Herrn Geheimrath Th. W. Engelmann in Berlin zu arbeiten, der mich in Anlass des kiirzlich veroffentlichten Aufsatzes von F i lehne aufiorderte, die Einwirkung des Santonins auf die functionellen Ver- inderungen in der Retina einer niiheren histolopohen Untersuchung zu unterwerfen. Wihrend des Aufenthaltes in Berlin wurden die Ver- Zinderungen der Pigmentwanderung festgestellt. - Arbeiten anderer Art unterbrachen diese Untersuchungen, welche jetzt im hi4gen physiologischen Laboratorium vollendet wurden.

Es ist mir angenehm, hier H e m Professor Th. W. Engelmann meinen wirmsten Dank auszudriicken, nicht nur fiir die erste Anregung zu dieser Arbeit, sondern noch mehr fiir seine ansserordentliche Liebens- wiirdigkeit wlhrend meines kunen Aufenthaltes in Berlin.

Der grossere Theil der histologisohen Untersachung wurde von meinem Freunde v on Wen d t ausgefiihrt.

Helsingfors, im Jannar 1903.

Berich tigung. Lie8 vorstehend iiberdl: .,Knied' statt: ,,v. Kries".

V. 0. 8ivBn.