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Uber die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis bei der progressiven Paralyse. Von Dr. Victor Kalka, erster klinischer Assistent. (Aus der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.) Mit 1 Textfigur. ~ Einge~angen am 21. Mai 1910.) Die Befunde des geh~uften Vorkommens yon polynucle~ren Leuko- cyten im Liquor cerebrospinalis, speziell bei der progressiven Paralyse und der Tabes, zeigen in ihrer Deutung noch betr~chtliche Divergenzen. Widal und Lemierre (1) fanden nach paralytischen Anf~llen Polynucleose und bezogen sic auf einen kongestiven Prozel~, w~hrend die Lymphocytose nur Ausdruck eines irritativen Prozesses der Meningen sei, auch Bel~tre (2) ist der Meinung, dab das geh~ufte Vorkommen von Pol~nucle~ren im Liquor auf einen akuten oder subakuten Prozel~, die Lymphocytose auf einen torpiden hinweise. 0. Fi s c h e r (3) betont an der Hand eines reichen Materiales energisch, dal~ man auch fiir eine qualitative ~nderung des Zellbildes kein Sym- ptom eruieren kann, das damit in einem gewissen klinischen Zusammen- hang stehen wiirde. Er hat weder nach Anf~llen, noch nach Tempe- ratursteigerungen gesteigerte Pleocytose, geschweige denn Polynucleose gefunden. Maillard (4) fand w~hrend der tabischen Krisen Polynucleose, dies wird best~tigt von Villaret und Tixier (2), die konstatierten, dal~ in zwei Tabesf~llen zugleich mit subakuten Symptomen (Kopf- schmcrzen, Delir, epileptischen Anf~llen) Polynuclcose im Liquor auf- trat, die sic auf einen kongestiven aseptischen Proze~ der Meningen oder auf eine sekund~re Infcktion bezogen. M. Pappenheim (5) schildert einen Fall von progressiver Para- lyse, bei dcm cs parallel mit Temperatursteigerung zu einer starken Polynucleose des Liquors und des Blutes kam, und fiigt mehrere Be- obachtungen von F~llen hinzu; bei den ersten findet er 3 Tage nach einem Anfall (dernur anamnestisch eruiert wurde) 40~ Polynucle~re, eine Woche sp~ter 6~o ; bei dem zweiten im Verlaufe von Zuckungen im Mundfacialis bMd 20, dann 50, dann 30% Polynucle~re, w~,hrend

Über die Polynucleose im liquor cerebrospinalis bei der progressiven Paralyse

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Page 1: Über die Polynucleose im liquor cerebrospinalis bei der progressiven Paralyse

Uber die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis bei der progressiven Paralyse.

Von Dr. Victor Kalka,

erster klinischer Assistent.

(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.)

Mit 1 Textfigur.

~ Einge~angen am 21. Mai 1910.)

Die Befunde des geh~uften Vorkommens yon polynucle~ren Leuko- cyten im Liquor cerebrospinalis, speziell bei der progressiven Paralyse und der Tabes, zeigen in ihrer Deutung noch betr~chtliche Divergenzen.

Wida l und L e m i e r r e (1) fanden nach paralytischen Anf~llen Polynucleose und bezogen sic auf einen kongestiven Prozel~, w~hrend die Lymphocytose nur Ausdruck eines irritativen Prozesses der Meningen sei, auch Bel~ t re (2) ist der Meinung, dab das geh~ufte Vorkommen von Pol~nucle~ren im Liquor auf einen akuten oder subakuten Prozel~, die Lymphocytose auf einen torpiden hinweise.

0. Fi s c h e r (3) betont an der Hand eines reichen Materiales energisch, dal~ man auch fiir eine qualitative ~nderung des Zellbildes kein Sym- ptom eruieren kann, das damit in einem gewissen klinischen Zusammen- hang stehen wiirde. Er hat weder nach Anf~llen, noch nach Tempe- ratursteigerungen gesteigerte Pleocytose, geschweige denn Polynucleose gefunden.

Mai l l a rd (4) fand w~hrend der tabischen Krisen Polynucleose, dies wird best~tigt von Vi l l a re t und T ix ie r (2), die konstatierten, dal~ in zwei Tabesf~llen zugleich mit subakuten Symptomen (Kopf- schmcrzen, Delir, epileptischen Anf~llen) Polynuclcose im Liquor auf- trat, die sic auf einen kongestiven aseptischen Proze~ der Meningen oder auf eine sekund~re Infcktion bezogen.

M. P a p p e n h e i m (5) schildert einen Fall von progressiver Para- lyse, bei dcm cs parallel mit Temperatursteigerung zu einer starken Polynucleose des Liquors und des Blutes kam, und fiigt mehrere Be- obachtungen von F~llen hinzu; bei den ersten findet er 3 Tage nach einem Anfall (dernur anamnestisch eruiert wurde) 40~ Polynucle~re, eine Woche sp~ter 6~o ; bei dem zweiten im Verlaufe von Zuckungen im Mundfacialis bMd 20, dann 50, dann 30% Polynucle~re, w~,hrend

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in der anfallsfreien Zeit keine Punktion gemacht wurde. Der drit te Fall zeigt nach einem paralytischen Krampfanfal l 11% Polynucleitre, nach Zuckungen im Facialis 28%. In einem vierten Fall zeigen sich nach einem Anfall von Sprachlosigkeit 40% Polynucleiire (vorher 3%, nachher 12~ in einem fiinften nach einem psychischen Erregungs- zustand 30% Polynuclegre, drei Tage spiiter 60/0 . Der Autor n immt an, dab es Temperatursteigerungen gebe, die mit Vermehrung der Polynucleiiren im Blute und im Liquor einhergehen, und da[3 es zur letzteren auch bei paralytischen Krampfanfiillen und Rindenausfalls- erscheinungen sowie bei psychischen Erregungszustgnden kommt ; dio Polynucleose des Liquors ski ein Zeichen eines gr613eren Schubes yon Paralysetoxin.

A n g l a d a (6) drfickt sich in seinem groBen Buch fiber den Liquor cerebrospinalis nur ganz kurz und wenig priizise fiber die Polynucleose aus: ,,on peut la retrouver dans le tab~s, la paralysie g~n~rale, parfois sans qu'aucun symptome nouveau puisse 8tre invoqu6, habituellement pourtant dans les pouss6es congestives, dans les ictus."

Bevor wir zur Besprechung der Literatur fibergehen, wollen wir unsere eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiete mitteilen, und zwar aus einem Materiale yon fiber 450 Punktionen. Schon anderwiirts (8) wurde mitgeteilt, dal3 wir k e i n e r l e i P a r a l l e l i s m u s zwischen der Z e l l m e n g e des Liquors und den K r a n k h e i t s s y m p t o m e n kon- statieren konnten.

Was abet die Z e l l a r t speziell, die polynuclegren Leukocyten be- trifft, so seien die diesbeziiglichen Ergebnisse hier in extenso mit- geteilt.

Zuerst seien P a r a l y s e n m i t A n f g l l e n angefiihrt. 1. Fall: B. L. wurde am 18. Juni 1906 zu uns transferiert. Er war seit Fe-

bruar an rechtsseitigen Krampfanfgllen mit nachfolgender SprachstSrung erkrankt. Auf der Klinik zeigt er Sprachst6rungen weehselnder Art. Im Oktober 1907 stellte sich ein Status von Anfgllen ein, die bald blo13 den Faeialis, bald die ganze recht- seitige KSrperhitlfte ergriffen. Nach einem solchen Sta tus yon 14 Anfgllen wurde er punktiert. Das Resultat ist: Ziihlkammerzghlung: 13 Zellen im emm; im Prgparate durchschnittlich 8 Zellen, davon 4% polynuclei~re Leuko- eytenZ).

Pat. starb am 24. Oktober 1907; die Autopsie bestiitigte die Diagnose: Lis- sauersehe Paralyse.

2. Fall: P. W., 27j~hr. Jurist, wurde am 20. ,~ugust 1907 zu uns iiberffihrt. Sehon seit mehreren Monaten wurden ein Riickgang der Intelligenz, Gr5Ben- ideen bemerkt.

.Auf der Klinik somatisch: Pupillendifferenz und sehlechte Liehtreaktion der- selben, Faeialisdifferenz, starker Tremor der Zunge, gesteigertes Knieph~nomen, schwere SpraehstSrung. Psyehiseh: dement mit GrSl3enideen, h~ufig delirant, Zust~nde yon s t a rkem Zi t t e rn des ganzen KSrpers, das einige Minuten anhielt, dabei steife Haltung der oberen Extremit~ten, Bewul3tseinsverlust. Die

1) Teehnik bei Ka fka (8).

43*

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650 V. Kafka:

j e t z t vorgenommene Punktion ergab: Ziihlkammer 10 Zellen ira emm, unter denen, wie das Trockenpr~iparat ergab, sieh soviel wie ke in L e u k o c y t befand. Pat. starb am 1. Oktober 1907, kliniseher wie Obduktionsbefund: progressive Paralyse.

3. Fal l : W. W., 34j~ihr. Privatier, am 27. Juni 1907 zur Klinik gekommen. - - Seit einem Jahre fortschreitende Vergellliehkeit, tder und da GrSllenideen, leiehte Krampfanfiille. Auf der Klinik sehr stumpf, macht einen dementen Eindruck, Sprache bebend, h~iufig silbenstolpernd, deutliche Faeialisdifferenz im ganzen Gesicht, Beben beider Innervation; hoehgradig gesteigerte Patellarsetmenreflexe Am 26. August 1907 wurde er nach e inem K r a m p f a n f a l l , der die ganze rech te Seite betraf, punktiert. Das Ergebnis war: Z~hlkammerziihlung 27 Zellen im cram, 30 durchsehnittlich im Gesichtsfelde des Pr~iparates, d a v o n e twa 420/0 p o l y n u e l e ~ r e L e u k o c y t e n . Die Anf~lle dauerten fort. Er wurde am 19. Sep- tember in einer Reihe yon Anfiillen wieder punktiert. Nun sind die Zahlen: 36 im cram, 35 im Pr~iparate, woven etwa 25 0/0 polynukle~ire. Am 2. Oktober wurde er dann in einer anfallsfreien Zeit punktiert; jetzt waren 18 Zellen im cmm, im Pr~i- parate 23, davou 40% polynue le i i re . Exitus am 12. Oktober 1907. Klinisch wie pathologisch-anatomisch: progressive Paralyse.

4. Fa l l : V. F., ein 40j~ihr. Postbediensteter, wurde am 17. M~irz 1906 unserer Klinik iibergeben. Abnahme der Intelligenz und massenhafte GrSllenideen waren seit einiger Zeit beobachtet worden.

Auf der Klinik: PupillenstSrung, gesteigerte Sehnenreflexe, SprachstSrung, sehr euphorisehes Wesen, Diabetes melitus. Nach einem K r a m p f a n f a l l , der in Zuekungen im r e c h t e n Mundfacialis bestand, wurde am 31. August 1907 die Lumbalpunktion vorgenommen. Es fanden sieh 15 Zellen im cmm, 13 im Prii- parate, davon 5% po lynuc le i i r e . In der nun folgenden anfallsfreien Zeit (auch keine Temperatursteigerungen) wurde er noeh zweimal punktiert. Er- gebnis 9 resp. 17 Zellen im cram, beide Male fast ke ine p o l y n u c l e ~ r e n . Exi- tus am 13. Juli 1908. Autoptisch wie kliniseh einwandsfreie progressive Paralyse.

5. ]?all: R.J . , 39]~ihr. Lehrer, wurde am 14. Juni 1907 unserer Klinik iibergeben. Anamnestisch: seit 3 Monaten veriindertes Wesen, Reizbarkeit, Stumpfheit.

Auf deV Klinik stumpf-dementes Wesen, angeregt produziert er GrSllen- ideen; somatisch: Pupillen reagieren schlecht auf Licht, Facialisdifferenz, ge- steigerte Sehnenreflexe. Wird imme~ mehr apathiseh. Erste Punktion am 4. Sep- tember 1907 ergibt im Priiparate durehschnittlieh 20 Zellen mit 50/0 P o l y n u - c le~ren, am 13. November 1907 zweite Punktion mit 35Zellen, mit ebenfalls 5~o P o l y n u c l e ~ r e n . Im Dezember traten Krampfanfiille auf; die Punktion ergibt nun in dem viele rote Blutk6rperchen enthaltenden Priiparate durch- sehnittlich 13 weiile Zellen, yon denen 15~ p o l y n u c l e ~ r e Leukoeyten sind. Exitus noch an demselben Tage (26. Dezember 1907); kliniseh und pathologisch- anatomisch: progressive Paralyse.

6. Fal l : B. K., 44j~hr. Dienstmannsgattin, am 20. September 1907 bei uns eingeliefert. Anamnestisch: manisches Wesen, Schlaflosigkeit, motorische Unruhe.

Auf der Klinik stumpf-dementes Wesen, hypochondrische Klagen, schwero SprachstSrung, Pupillen schlecht reagierend, hochgradig gesteigerte Patellar- reflexe. Am 27. September 1907 wird die erste Lumbalpunktion gemaeht. Sic ergibt im Priiparate durchschnittlieh 14 Zellen, sehr wenige po lynuc l e i i ro L e u k o e y t e n ; am 19. Januar 1908 wird e in Anfa l l beriehtet, nach demselben durchschnittlich nur 2 ZeUen mit sehr wenig polynucle~iren Leukocyten, die nun durch Durehsieht des ganzen Pr~parates gefunden werden konnten. Exitus 30. Juli 1908. Klinisch und autoptisch: progressive Paralyse.

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7. Fai l : P. A., 36js Prokuristengattin, wurde am 7. August 1907 zur Klinik gebraeht. Anamnestiseh: Erregungszusts Krampfanfalle.

Auf der Kfinik dementes Aussehen, greift nach allem, stark hs und verwaschene Spraehe, starkes Beben des ganzen Gesiehtes bei Innervation, dement- euphoriseh, immer mehr apathisch, schliel]lich vSllige Verstumpfung. Erste Punktion 2. November 1907, ergibt durchsehnittlich 13 Zellen, davon 5 % P ol y- nucle i i re , zweite am 18. Februar 1908 naeh e inem Anfall yon Zuckungen im Facialisgebiete mit 14 Zellen, davon n u r 1% P o l y n u c l e i i r e n ; dritte Punktion am 7. Oktober 1908 ohne Anf/~lle, ohne Temperatursteigerung, ergibt durch- schnittlich 25 Zellen mit 80% P o l y n u e l e g r e n . Exitus am 21. November 1908 an einer Pneumonie. Klinischer und Obduktionsbefund: progressive Paralyse.

8. Fal l : R.N., 45js Hs am 31. Dezember 1907 zur Klinik ein- gebracht. Anamnestiseh: demente Erregungszusts Auf der Klinik ebenfalls erregt, delirant, GrSgenideen; somatisch: triige Lichtreaktion der Pupillen, Fa- cialisdifferenz, SprachstSrung. Erste Punktion am 3. Januar 1908, im Prs durehsehnittlieh 15 Zellen, davon 5% po lynue le / i r e L e u k o c y t e n . Er wurde im Ms 1908 an die Landesanstalt transferiert, yon dort entlassen und am 1. No- vember 1908 wieder bei uns in bedeutend verschleehtertem Zustande eingebraeht. Sehr erregt, Spraehe ganz verwasehen und stockend, kolossale GrSl~enideen.

Im Januar treten Anfi~lle a l ler Ar t , bei fast dauernd getriibtem BewuBt- sein, auf. Eine Punktion ergibt jetzt 15 Zellen, davon kaum 1% P o l ynuc l e ~ r e . Exitus 10. Januar 1909. Pathologiseh-anatomische Bestiitigung der klinischen Diagnose, progressive Paralyse.

9. Fal l : K. R., 31jKhr. Oberversehieber, wurde am 11. Mai 1909 zur Klinik eingeliefert. Anamnestisehe Angaben besagen, dal3 K. seit Weihnaehten 1909 reizbar sei, sich draul~en herumtreibe, Unfug treibe, die Frau schlage; es traten aueh GrSBenideen auf. Vor 2 Jahren ein Unfall, dessen Folgen nach 10 Tagen zuriickgegangen waren.

Auf der Klinik stumpf-dementes Wesen, zeitweise hypoehondriseh. Status ergibt: Pupillen tr/~ge Liehtreaktion, deutliche Facialisdifferenz, hoehgrddig ge- steigerte Patellarreflexe, Spraehe langsam, verwaschen, h/iufig stolpernd.

Am 14. Mai 1909 wird eine Lumbalpunktion vorgenommen, die 23 Zellen mit 2% Polynuele~ren ergibt.

Im weiteren Verlaufe zeitweise motorisch unruhig, sonst aber euphorisch dement. Am 24. Februar 1910 wird eine zweite Lumbalpunktion vorgenommen, die im Gesichtsfeld der Immersion etwa 5 Zellen mit 8 ~o polynuele/iren Leuko- eyten ergibt.

Am 21. April 1910 tritt ein schwerer e p i l e p t i f o r m e r K r a m p f a n f a l l auf. Eine Lumbalpunktion ergibt nun 8 Zellen durchschnittlieh im Gesichtsfelde der Immersion, d a v o n 9% p o l y n u e l e s L e u k o c y t e n .

E in Fal l mi t T e m p e r a t u r s t e i g e r u n g sei im Anschlul3 auch noch erwiihnt :

10. Fal l : F. J., 40 Jahre alter Gastwirt, wurde am 30. Juli 1907 der Klinik iibergeben. Die Krankheit begann vor einigen Monaten mit Aufregungszust~nden. Auf der Klinik dementer Gesichtsausdruek, deutliches Silbenstelpern, fehlende Patellarsehnenreflexe, liehstarre Pupillen, ataktischer Gang. Im August traten, ohne dab man eine sonstige Ursaehe nachweisen konnte, durch etwa 5 Tage Tem- peratursteigerungen yon 37,5--39,3 ~ auf. W/s derselben wurde er zweimal punktiert. Die erste Punktion Mitre August ergab 16 Zellen, fast nur Lymphoeyten. die zweite am 24. guli 1908 13 Zellen, 1 ~o polynueleiire Leukoeyten. Im weiteren Verlaufe war Pat. ruhig, wurde immer stumpfer. Temperatursteigerungen stellten sich nicht mehr ein. Zwei weitere Punktionen, eine am 28. August, eine am 4. Ok-

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tober 1907, ergaben in dem einen Falle keine, in dem anderen (ohne jede Tem- peratursteigerung, ohne Anfall) 40~ Polynucle~re.

I ch mSchte nun F~l le in extenso diesen gegeni iberstel len, bei denen wit h~ufige Polynucleose beobach ten konnten , o h n e d a b i r g e n d e i n e p a r a l l e l g e h e n d e E x a c e r b a t i o n d e s K r a n k h e i t s b i l d e s nach- weisbar war (wofiir ja auch schon Fa l l 7 und 10 I l l u s t r a t i o n e n s ind) :

11. Fa l l : H .J . , 46j~hr. Schlossergehilfe,.wurde am 14. Januar 1907 zur Klinik eingeliefert, angeblich an einer halluzinatorischen GeistesstSrung erkrankt.

Auf der Klinik leerer Gesichtsausdruck, Sprache verwaschen, Pupillen licht- starr; fehlende Patellarsehnenreflexe; stumpfes Wesen, aber sehr arbeitsam. Er zeigte nie Anf~lle irgendwelcher Art, hatte hie Temperatursteigerung. Der Zu- stand blieb der gleiche, bis im August 1909 die Kr~fte abnahmen under bettl~gerig wurde.

Punktionen: Am 2. September 1907, 50 Zellen im Pr~parate mit 3% p o l y - n u c l e ~ r e n ; am 13. November 1907, 36 Zellen mit 5~o p o l y n u c l e ~ r e n ; am 30. November 1907, 34 Zellen mit 17~ p o l y n u c l e ~ r e n ; am 7. September 1908, 18 Zellen mit 5O/o po lynuc le~ i ren .

12. F a l l : W. F., 33j~hr. Bergmann, am 28. September 1907 zur Klinik ge- bracht.

Angeblich seit einem Unfall vergeBlich, schlaflos, hier und da erregt. Auf der Klinik ruhig, arbeitsam, GrSfienideen, aber sonst ziemlich komponiert.

Somatisch: tr~ge Lichtreaktion der Pupillen, Facialisdifferenz, fehlende Patellar- sehnenreflexe. Nie Anf~ l l e , hie T e m p e r a t u r s t e i g e r u n g e n , nie b e s o n d e r e p s y c h i s c h e E r r e g u n g s z u s t ~ n d e oder sonstige auffallende Symptome.

Punktion: Am 2. Oktober 1907 fiber 150 Zellen, davon 29O/o p o l y n u c l e ~ r e Leukocyten.

Er wurde am 15. Februar 1908 an die Landesabteilung transferiert. 13. F a l l : St. E., 30j~hr. Ehefrau (Mann auch paralytisch), am 26. August 1907

zur Klinik gebracht worden. Anamnestisch wird angegeben, es sei ein maniaka- lischer Anfall mit GrSl]enideen bei ihr ausgebroehen.

Auf der Klinik manisch, produziert massenhaft GrSl~enideen, sehr erotisch; somatisch: Pupillendifferenz, Romberg, gravid.

Der Zustand besserte sich so, dab sie, nachdem sie im Geb~rhause einem Kinde das Leben geschenkt, am 30. September 1907 gebessert nach Hause entlassen wurde.

Sie wurde aber am 19. Oktober 1907 wieder eingebracht, es war wieder ein Erregungszustand mit GrSBenideen eingetreten. Auf der Klinik beruhigt sie sich bald, hilft bei alien Arbeiten mit und wird in einem ganz ruhigen Zustande punk- tiert. Es ergaben sich 18 Zellen mit 20~o p o l y n u c l e ~ r e n Leukocyten.

Sp~ter wurde sie wieder unruhiger, hypomanisch, konfabuliert viel, und dann wieder deprimiert, konnte aber doch im Juli 1908 gebessert nach Hause entlassen werden.

14. F a l l : P .A. , 52j~hr. Dienstmagd, wurde am 20. Juli 1905 der Klinik iibergeben. Anamnestisch: Verwirrtheitszustand.

Auf der Klinik stumpf, deutlieh verwaschene und stockende Sprache; bald tr i t t Besserung ein, sie ist still, hilft bei allen Arbeiten mit, hier und da etwas mfirrisch und stumpf. Somatisch: lichtstarre Pupillen, Facialisdifferenz, lebhafte Sehnenreflexe. Dann zeitweise stumpf, negativistisch, sparer wieder euphorisch. Diese Remission h~lt sehr lange an. In derselben am 11. November 1907 sie punktiert und es linden sich 60 Zellen mit 50O/o p o l y n u c l e ~ r e n L e u k o c y t e n . In diesem gebesserten Zustande nach Hause entlassen, wird sie am 4. Februar 1908

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in vM sehleehterem Zustande wieder eingebracht, nach kurzer Zeit aber zur Landesanstalt transferiert.

15. Fal l : B. A., 40j~hr. verheirateter G~rtner, eingebracht am 30. M~rz 1908. Anamnestisch nichts bekannt. Auf der Klinik ruhiges, dement-euphorisches Wesen, Sprache verwasehen und silbenstolpernd, Pupillen different mit geringer Lichtstarre, Facialisdifferenz, Differenz der lebhaft gesteigerten Patellarsehnen- reflexe. Es wurde eine Lumbalpunktion vorgenommen - - keine Temperatur- steigerung, kein Anfall, kein Erregungsznstand - - und es fanden sich 43 Zellen mit fiber 90% p o l y n u c l e s L e u k o c y t e n . Der weitere Verlauf ein dement- stumpfes Wesen ohne besondere Erscheinungen. Zweite Punktion am 7. Sep- tember 1908 ergab 14 Zellen mit 0% Le u koc yte n. Er starb am 3. Dezember 1908. Die Obduktion best~tigte die klinische Diagnose: progressive Paralyse.

16. Fal l : U. N[., 42js Arbeitersgattin, wurde am 27. Mai 1908 zur Klinik eingebracht. Die Krankheit begann mit einem Erregungszustand religi6ser Natur, der bald in Stumpfheit fiberging.

Auf der Klinik stumpf, apathisch, deutliches Beben beim Sprechen, Knie- phhnomen hochgradig gesteigert. Weiterer Verlauf: euphorisch, dement, sehr arbeitsam. Keine Anfs keine Temperatursteigerungen, keine Erregungszusts Punktion am 29. Mai 1908 ergibt im Prhparate etwa 15 Zellen mi t 40% poly- nuc le s

Der nun folgende Fall sei als besonders charakteristisch hier ausfiihrlieh an- geffihrt:

17. Fal l : M.K., 42js Bfirstenmachergehilfe, wurde am 6. Januar 1908 auf unsere Klinik eingeliefert. Das polizeiliche Parere und eine weitere Zusehrift des Polizeiarztes, der M. vorher behandelt hatte, besagte, dab schon im Novem- ber 1907 bei dem Pat. eine Charaktervers eingetreten sei, er arbeitete nichts, war schlaflos; zu Hause war er zeitweise sehr erregt, wollte mit Papp- arbeiten groBe Gesch~fte machen. Sps traten Gr6Benideen aller Art auf.

Auf der Klinik ist er sehr heiter, hubert, er sei Doktor, Ingenieur und Po- lizist, schl~ft nicht, s ganz kolossale GrSBenideen. Somatisch: fast vollkommen fehlende Lichtreaktion der Pupillen, starkes Beben der Zunge, gesteigerte Sehnen- reflexe, leichtes Stocken beim Sprechen. Temperatur normal.

Er wurde am 8. Januar zum ersten Male punktiert. Der Liquor war triib, in demselben waren ziemlich groBe :Flocken wahrnehmbar; die Zs in der Ziihlkammer ergibt fiber 450 Zellen im emm; im Trockenprs ist eine Zs kaum ausffihrbar, es zeigen sich fast n u r p o l y n u c l e ~ r e L e u k o c y t e n .

Das manisch-euphorische Wesen mit reichlichen GrSBenideen dauert weiter an, am 10. Januar wurde eine zweite Punktion vorgenommen. Der Liquor'war nun weniger trfib, zeigte aber noch immer weiBliche Flocken und weniger als 400 Zellen im cmm; darunter waren 27 % Lymphocyten, 38 % Plasmazellen und 35% p o l y n u c l e ~ r e L e u k o c y t e n . Im Blute waren an beiden Tagen 6--7000 weiBe ZeUen im cmm. Am 14. Januar wurde bei unver~ndertem Wesen die dritte Punktion vorgenommen. Es zeigten sieh jetzt nur 46 Zellen im cmm, mit 6O/o P o l y n u c l e s n. Die vierte Punktion am 21. Januar ergibt (im Blute 8000 weiBe Zellen; ebenfalls Status idem, keinerlei Temperatursteigerung, sehr arbeitsfreudig) 116 Zellen im cram, im Prs durchschnittlich 50 mit e twa 9% p o 1 y n u cle ~ r e n. Das euphoriseh-manische Wesen besteht weiter; im Februar wurden zwei weitere Punktionen gemacht, die erste ergibt im Prs durchschnittlieh 26 Zellen, mit 26% po lynuc le i~ ren L e u k 0 c y t e n , eine Woche sparer bei unvers Zu- stande im Pr~parate durchsehnittlich 13 Zellen mit 7% P o l y n u c l e ~ r e n .

Im M~rz, April besserte sich der Zustand, er wurde ruhiger, korrigierte seine GrS~enideen und wurde am 6. Mai 1908 gebessert entlassen. Am 26. September

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654 V. Kafka:

aber wurde er wleder eingebraeht. Seit l~ngerer Zeit habe n~mlich wieder ein dementer Erregungszustand begonnen. Auf der Klinik sehr heifer, sehr arbeit- sam. Klagen fiber Brust- und Kopfschmerzen. Jeden Abend Temperaturst~ige- rungen, die dutch einen Lungenspitzenkatarrh hervorgerufen wurden. Erste Punktion am 30. September ergibt klaren Liquor, im Pr~parate durehschnittlich 200 Zellen, davon 83O/o p o l y n u c l e ~ r e L e u k o c y t e n ; im Blute einmal 7100, einmal 8000 weiBe Zellen im cmm. Die Temperatursteigerungen sistierten am 5. Okf~ber. ])as psychisehe Wesen ~nderte sich jetzt, er ist mehr erregt, sehimpft, schl~gt andere Kranke.

Eine Lumbalpunktion am 8. Oktober ergibt jetzt im Pr~parate durehschnitt- lich 60 Zellen, davon fast 40O/o P o l y n u c l e ~ r e ; eine Woche sp~ter, 15. Okt~ber, finden sich im Pr~,parate 33 Zellen, davon durchschnittlieh 40~o P o l y n u c l e ~ r e . Gegen Ende 0ktober beruhigt er sich, klagt fiber Brustschmerzen, Seitenstechen usw. keine Tempgratursteigerung. Lumbalpunktion am 31. Oktober ergibt durchsehnitt- lich 111 Zellen im Pr~parate, davon 40~o Po lynuc l e~ re . ])er kSrperliche Zu- sta~d bessert sieh dann wieder, er wird psychisch wieder agiler, arbeitsam. Lum- balpunktion am 14. November: Liquor etwas blutig tingiert; es zeigen sich unter den weiBen Zellen fast n u r p o l y n u c l e ~ r e L e u k o c y t e n , hSehstens 3~o an- dere weil3e ZeUen.

Im ])ezember wird Pat. wieder stumpf, deprimiert, will nicht essen, massen- hafte hypocl~ondrische Ideen ~uflernd. Am 21. Februar gibt er an, in der Nacht einen Anfall gehabt zu haben, es seheinen aueh leiehte t?berbleibsel einer Parese zu bestehen. Lumbalpunktion am 22. Februar 1909 ergibt im Pr~parate durch- sehnittlieh 44 Zellen, yon denen 40~o P o l y n u e l e ~ r e sind. Eine Punktion am 22. M~rz fSrdert stark blutig tingierten Liquor zutage, so dab nicht gez~hlt werden kann.

])er Patient wird im M~rz ikteriseh durch etwa 14 Tage, im Mai tritt ein Ge- lenkrheumatismus auf. Psyehisch ist er wechselnd, bald mehr heiter, bald mehr deprimiert, Demenz und SprachstSrung nimmt zu; punktiert wird er wieder am 17. August 1909. Es finden sich im Pr~parate durchsehnittlich 40 Zellen, yon denen 26~o p o l y n u e l e ~ r e L e u k o e y t e n sind. Im weiteren Verlaufe tritt fort- schreitende Verstumpfung, auch langsamer kSrper]icher Verfall auf. Pat. zeigt jetzt kein Interesse fiir die Umgebung, liegt den ganzen Tag; anfangs Oktober erscheinen multiple H~morrhagien der Haut der unteren Extremit~ten und des Bauches, es treten Gelenkschmerzen auf, Temperatursteigerung. Mitre Ok- tober geht die Affektion zuriick. Sp~ter bildet sich ein Deeubitus am Kreuz- beim

Die n~chste Lumbalpunktion wird am 2. November gemacht; es linden sieh im Gesichtsfelde der Immersion etwa 21 Zellen mit 33~o polynuele~ren Leuko- cyten.

Beginn 1910 wird Pat. immer stumpfer, geht auch im KSrperzustand sehr zuriick. Eine Lumbalpunktion yore 20. Januar 1910 ergibt im Gesichtsfeld der Immersion durchsehnittlieh 29 Zellen mit 70% polynuele~ren Zellen. W~hrend Pat. zusehends eingeht, wird am 11. M~rz eine neuerliche Lumbalpunktion ge- maeht, die im Gesiehtsfeld der Immersion etwa 5 Zellen ergibt, mit gegen 40 ~o polynuele~ren Leukocyten. Am 8. April tritt ffiih ein Krampfanfall ein, der in klonisch-tonisehen Zuckungen des linken Armes und Beines besteht, Kopf naeh links gedreht.

Eine Lumbalpunktion ergibt leicht blutig tingierten Liquor; im Immersions- gesichtsfelde finden sich durchsehnittlieh 26 Zellen, davon k a u m 2% po ly- n u e l e ~ r e L e u k o e y t e n .

Pat. erholt sich nicht mehr und stirbt am 8. April um 1/28 Uhr abends.

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Uber die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis bei der progressiven Paralyse. 655

Bevor wir auf die Besprechung der eben geschilderten Fs ein- gehen, miissen wir fixieren, welcher Prozentgehalt an polynucls Leukocyten noch als normaler, d. h. am h~ufigsten in nicht abnormal verlaufenden Paralysef/illen ohne besondere Exaeerbationen vor- kommender zu gelten hat. P a p p e n h e i m r nimmt als hSehstes MaB 15~o an; wir wollen dies vorls auch annehmen.

Legen wir nun diesen Mal~stab an unsere F~lle, so linden wir im ersten in einem Status von Anfs keine Steigerung der Polynucleose (4%), im 2. Falle naeh einem anfallsartigen Zustande keine poly- nucle~ren Leukocyten, im 3. Falle mit einem rechtsseitigen Krampf- anfall 42~ naeh einer Reihe von Anfs 250/0 und in der anfalls- freien Zeit auch 40~o polynucle~re Leukocyten. Der 4. Fall zeigte nach einem Anfall von Zuckungen im Mundfaeialis nur 50/0 Poly- nucles im 5. Falle fanden wir in einer anfalls- und exacerbations- freien Zeit 50/0 Polynueles nach einem Anfall 15~/o . Im 6. Falle bleibt sich die Zahl der Polynucles in, vor und nach dem Anfalle ungef~hr gleich; im 7. Falle sehen wir vorher 5% Polynucle~re nach einem Anfall 1 ~o, sp~ter in der anfallsfreien Zeit hingegen 80 0/0. Der 8. Fall zeigt uns nach einem Anfalle 1 o/0 polynucle~re Leuko- cyten, ws vorher 5~o nachweisbar waren. Der 9. Fall zeigt in einem schweren Krampfanfall 9% Polynucle~re, vorher 8%. Der 10. Fall, in dem Temperatursteigerungen die Exacerbationen des tabo- paralytischen Krankheitsbfldes zu bilden schienen (es ist aber keines- wegs sichergestellt, dab es sieh um ein ,,paralytisches Fieber" handelte), zeigte w~hrend dieser Zeit keine Steigerung der Polynueleose (1~ w/ihrend sieh pl6tzlich in einer Zeit die von Exacerbation jeder Art ganz frei war, zuerst ein ganz negativer Befund an polymorph- kernigen Leukocyten, dann pl(itzlich eine starke Steigerung (40 0/0) einstellte.

Noch mehr iiberrascht werden wir, wenn wir die folgenden Zell- befunde von F/illen durchgehen, die nachweisbare Exacerbationen des Krankheitsbfldes (Krampfanfs aller Art, Temperatursteigerungen, besondere Vers im Krankheitsbilde somatischer oder psychi- scher Art) entweder absolut nicht oder in keinerlei Parallelismus mit den Liquorbefunden darboten. Fall 11 zeigt bei vollkommen gleichem Krankheitsbilde 5%, dann 17~ dann wieder 50/0 polynucle~re Leuko- cyten; Fall 12 weist in einer ganz freien Zeit 29~o polymorphkernige Zellen im Liquor auf. Im 13. Fall sehen wir in ruhigem, somatisch gutem Zustande 200/0 polynucle~re Leukoeyten. Im 14. Falle zeigen sieh in einer k6rperlichen und geistigen Remission 500/0 Polynucles im 15. FaUe ohne besondere Exacerbationserscheinungen 400/0, sp~ter 00/0 Polynucle~re, desgleiehen der 16. Fall mit 40~ polynucle~rer Leukocyten.

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656 V. Kafka:

Die Schwankungen im Gehalte an polynuclc~ren Leukocyten des 17. Falles sehen wir graphisch in Fig. 1 dargestcllt. Speziell im ersten Teil steigt und f~llt der GehMt an polynucleErcn Leukocyten in deut- lichen Wellenbewegungen; im zweiten Teile ist dies nicht so deut- lich, da hier in gr6Beren ZeitabstEnden Lumbalpunktionen gemacht worden waren. Wir sehen, dab keinem der Wellengipfel eine bcsondere Exacerbation im Krankheitsbilde entspricht und dab sowohl zur Zeit des Erregungszustandes, wie auch zu der des crsten Anfalles der Ge- halt an polynucleEren Leukoeyten ein

so

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to

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relativ geringer ist (40 ~ gegen-

F a l l 17.

fiber 100, 83~o), zur Zeit des zweiten Anfalles sogar sehr gering (etwa 2 ~o).

Die Temperatursteigerungen in diesem Falle sind somatisch be- grfindet; die Zahl der weiBen Zellen im Blute ist in den Zeiten der grSBten Polynueleose eine normalc.

Es ist also ins Auge fallend, wie selten in unseren ersten 9 F~llen eine Exacerbation des Krankheitsbildes mit einer Steigerung des Leukocytengehaltes des Liquor auch nur ann~hernd parallel geht. Wird doch im 3. Falle die Bedeutung der Polynucleose nach einem Anfall dadurch beeintr~chtigt, dab auch in der anfallsfreien Zeit der gleiche Prozentgehalt an Polynucle~ren besteht. Im 5. Falle kSnnen wir yon einer Steigerung nach cinem Anfall sprechen, doch bildet sie noch den Grenzwert. Die andcren F~lle aber gar keinen Anhaltspunkt, ja oft das Gegenteil. Und die folgenden 6 F~lle (11--16) zeigen uns mit Deutlichkeit, dab sich Steigerungen des Leukocytengehaltes bis 90% ohne jegliche Exacerbationserscheinung kSrperlicher oder geistiger Natur linden kSnnen, die dann eine gewisse Periodizit~t bewahren.

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bet die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis bei der progressiven Paralyse. 657

Der schon mehrmals zitierte 17. Fall zeigt uns dies besonders pr~chtig; der Gehalt an Polynucle~ren sinkt w~hrend des so ziemlich vSllig psychisch und somatisch gleichbleibenden Krankheitsbildes von fast 100 auf 6%; und zeigt weiterhin ein wellenfSrmiges Auf- und Absteigen, das sich der Kurve des Krankheitsbildes absolut nicht n~hert und daher mit den Exacerbationen des Krankheitsbildes weder im Kausalnexus, noch in bloBem Zusammenhange stehen kann.

P a p p e n h e i m (5) hat, wie oben beriehtet, eigentlich nur drei hier verwertbare F~lle beigebraeht, ein Material, welches unseren 16 F~llen gegeniibergestellt, doch wohl nicht zur Annahme geniigt, dab paralytischer Anfall und Polynucleose in einem Zusammenhange stehen. Seine Hauptbeobachtung freilich gibt zu denken, wenn sie auch, neben unseren 17. Fall gestellt, die Deutung zul~Bt, dab es zu einem mehrmaligen mehr zuf~lligen Zusammentritt der Kurvengipfel der Polynucleose mit denen der Blutleukocytose und Temperatur- steigerungen kam, zumal Zellz~hlungen vor und nach diesem Zeit- raume nicht vorliegen.

W a d a und M a t s u m o t o (7) haben iiberdies nachgewiesen, dab es im Blute der Paralytiker zu Schwankungen in der Menge der poly- nucle~ren Leukocyten kommt, die auch ohne Anfall oder Exacerbationen des Krankheitsbildes hohe Zahlen erreicht und mit der Liquorpoly- nucleose nicht parallel geht.

Zieht man noch in Betracht, dab F i s c h e r (3) u. a. bei einem groBen Materiale, nie nach Anf~llen Polynucleose gefunden haben, so werden wir wohl an der Hand unserer F~lle die Schliisse ziehen kSnnen: bei der Paralyse (wohl auch, wenn auch seltener, bei der Tabes und bei den sonstigen mit Pleocytose des Liquors einhergehenden Erkrankungen) finden sich nicht nur p e r i o d i s c h e S c h w a n k u n g e n de r Z e l l z a h l , s o n d e r n a u c h de r Z e l l a r t ; es~kann in vielen F~llen p e r i o d i s c h zu e i n e r S t e i g e r u n g des L e u k o e y t e n g e h a l t e s ko m m e n , ohne dal] sich dabei irgendwelche Ver~nderungen des Krankheitsbildes zeigen miissen. Bedenken wir noch, dab yon den Autoren ja nur jene F~lle publiziert werden, wo Exacerbationen mit Polynucleose vorkommen, die ohne solche aber nicht, dann dab in vielen Fi~llen die Liquorzellen nicht vor und nach der Periode der Anf~lle oder Exacerbationen gez~hlt werden, dab viele Autoren das Vorkommen der Polynucleose nach oder bei Anf~llen usw. direkt leugnen, so werden wir, wenn wir unsere Resultate daneben setzen, wohl sagen miissen, dab das Nebeneinandervorkommen von Poly- nucleose und Anfall wohl ein zuf~lliges ist. Man kann daher weder sagen, dab die Polynucleose die Ursache oder Folge des Anfalles ist, noch dab beide einer gemeinsamen Ursache entspringen. Die Poly- nucleose im Liquor cerebrospinalis diirfte auf einen rein lokalen ProzeB,

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658 V. KaVa:

auf Exacerbationen im Entzfindungsbflde der Meningen der unteren Riickenmarksabschnitte ausgel6st sein; dafiir sprechen auch: das schnelle Verschwinden der Leukocyten, ilrre Labilit~t, das Nicht- auftreten sonstiger Krankheitserscheinungen; die Anf~lle usw. hin- gegen werden natfirlich vom Gehirn ausgel6st. Unser Fall 17 h~tte in dieser Richtung sehr wertvoll sein k6nnen, w~re es zu einem Zeit- punkte zum Exitus gekommen, in dem sieh noch Polynucleose im Liquor fand und h~tten wir eine gleiche Infiltration in den Meningen der unteren und untersten Rfickenmarksabschnitte gefunden. Nun aber war der Gehalt an Polynucle~ren vor dem Tode um 2 % und eine postmortale Punktion f6rderte blutigen Liquor zutage. Es mfissen uns weitere geeignete histologisehe Befunde hier Klarheit schaffen.

Die oben besprochene Labilit~t der polynuele~ren Zellen bei der Paralyse lernten wir anl~Blich cytoly~ischer 1) Versuche kennen, bei welchen die polynucle~ren Leukocyten der Meningitiden eine viel st~rkere Widerstandskraft zeigen. DaB sieh die Leukoeyten bei ihrem Verschwinden aus dem Liquor nieht in Plasmazellen umwandeln, wie behauptet wurde, daffir gibt uns der Fall 17 einen Beweis, bei welchem naeh Zuriicktreten der polynuele~ren Leukocyten es nie zu einer Ver- mehrung der Plasmazellen kam.

Wir k6nnen unsere Resultate in folgende S~tze zusammenfassen: 1. In Paralysef~llen (wohl auch bei Tabes und luisehen Cerebral-

erkrankungen) kommt es nieht selten zu periodischem Aufsteigen und Absinken des Gehaltes an polynuele~ren Leukocyten im Liquor cerebro- spinalis und die Zahl derselben kann eine sehr groBe H6he erreichen, ohne dab irgendwelche Exaeerbationserscheinungen des Krankheits- bildes wie Anf~lle, Erregungszust~nde, Fieber usw. vorangehen, sie begleiten oder folgen und ohne dal3 sie mit der bei dieser Krankheit oft vorhandenen Steigerung der Anzahl der polynucle~ren Leukocyten im Blute parallel geht.

2. Die nach Anf~llen yon verschiedenen Autoren beobaehtete Poly- nueleose dfirfte wohl nur auf einem zuf~lligen Zusammentreffen be- ruhen.

3. Die Ursache fiir die Polynucleose im Liquor cerebrospinalis sehen wir in einem lokalen Prozel3, in einer Exacerbation des chronisch meningitischen Prozesses der unteren Rfickenmarksabschnitte.

4. Die polynuele~ren Leukocyten, die bei dieser Form der Liquor- polynucleose vorkommen, zeigen eine gr6Bere Labilit~t als die gleich- artigen Liquorzellen bei akuten Meningitiden und gehen nicht in Plasmazellen fiber.

1) Diese Versuche werden sp~ter publiziert werden.

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~ber die Polynucleose imLiquor cerebrospinalis bei der progressiven Paralyse. 659

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