28
Arts dem Gemeindekrankenhaus in's Gravenhage und dem Neurologischen Laboratorium der Universit~ttsklinik in Amsterdam. Uber die Ver~nderungen im Zentralnervensystem bei Poeken (Variola). Von B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Roehat. Mit 8 Textabbildungen. Bei den Pocken k0nnen sich eerebrale, spinale und neuritische Symptome entwickeln. Seit mehreren Jahrzehnten sind die klini- schen Erscheinungen und der Verlauf der Krankheit in detaillierter Weise in zahlreichen Arbeiten beschrieben worden. Die Zahl der pathologisch-anatomisch untersuchten F~tlle ist jedoeh nur klein; die meisten sind in der ~lteren Literatur zu linden. Die Beobach- tungen tiber die postvaceinale Encephalomyelitis haben aber in den letzten Jahren auch ein neues Interesse betreffs der Histopatho- logie der nerv0sen Komplikationen bei Pocken erregt, so daft jetzt auch einige Berichte in der Literatur fiber Untersuchnngen vor- liegen, in welchen das Zentralnervensystem mit modernen Methoden histologiseh bearbeitet ist. Eine neue Beobachtung dieser Art, welche etwas yon den bisher beschriebenen abweicht, m0chten wir in den folgenden Seiten fest- legen. Der Fall ist wahrend einer kleinen Pockenepidemie, die 1929 und Anfang 1930 in Holland herrschte, klinisch yon einem yon uns (C. L. de Jongh) studiert worden. Die Diagnose Pockenmyelitis wurde bei der Sektion bestgtigt (R. R. R oehat). Die weitere Aus- arbeitung des Materials land zum Tell im Pathologiseh-anatomi- schen Institut in's Gravenhage, zum Tell im Neurologischen Labo- ratorium in' Amsterdam statt. Krankengeschichte. X., ein 27jghriger Mann, von Beruf Chauffeur beim St~dtischen Gesund- heitsamt, wurde am 23. XL 1929 in das Stgdtische Krankenhaus in's Graven- hage aufgenommen. Vom 8. X.--21. XL war er t~tig beim Transport yon Pocken- Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 131. la

Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Arts dem Gemeindekrankenhaus i n ' s Gravenhage und dem Neurologischen Laboratorium der Universit~ttsklinik in Amsterdam.

Uber die Ver~nderungen im Zentralnervensystem bei Poeken (Variola).

Von

B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Roehat. Mit 8 Textabbildungen.

Bei den Pocken k0nnen sich eerebrale, spinale und neuritische Symptome entwickeln. Seit mehreren Jahrzehnten sind die klini- schen Erscheinungen und der Verlauf der Krankheit in detaillierter Weise in zahlreichen Arbeiten beschrieben worden. Die Zahl der pathologisch-anatomisch untersuchten F~tlle ist jedoeh nur klein; die meisten sind in der ~lteren Literatur zu linden. Die Beobach- tungen tiber die postvaceinale Encephalomyelitis haben aber in den letzten Jahren auch ein neues Interesse betreffs der Histopatho- logie der nerv0sen Komplikationen bei Pocken erregt, so daft jetzt auch einige Berichte in der Literatur fiber Untersuchnngen vor- liegen, in welchen das Zentralnervensystem mit modernen Methoden histologiseh bearbeitet ist.

Eine neue Beobachtung dieser Art, welche etwas yon den bisher beschriebenen abweicht, m0chten wir in den folgenden Seiten fest- legen. Der Fall ist wahrend einer kleinen Pockenepidemie, die 1929 und Anfang 1930 in Holland herrschte, klinisch yon einem yon uns (C. L. de J o n g h ) studiert worden. Die Diagnose Pockenmyelitis wurde bei der Sektion bestgtigt (R. R. R oeha t ) . Die weitere Aus- arbeitung des Materials land zum Tell im Pathologiseh-anatomi- schen Inst i tut i n ' s Gravenhage, zum Tell im Neurologischen Labo- ratorium in' Amsterdam statt .

K r a n k e n g e s c h i c h t e .

X., ein 27jghriger Mann, von Beruf Chauffeur beim St~dtischen Gesund- hei tsamt, wurde am 23. XL 1929 in das Stgdtische Krankenhaus i n ' s Graven- hage aufgenommen. Vom 8. X. - -21 . XL war er t~tig beim Transport yon Pocken-

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 131. la

Page 2: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Roehat :

pa~ienten, un te r welchen sich einige Schwerkranke befanden. Er war behilflich, diese Pa t i en t en auf die Tragbahre zu legen und ins Xranken~u to und aus dem- selben zu t ragen. AIR 31. X. t r anspor t i e r te er einen Mann, der einige Tage sparer an hgmorrhagischen Pocken s tarb. Am 11. XI . ffihlte der Chauffeur sieh selbst k rank ; er bekam Fieber und einen masernar t igen Ausschlag. Am folgenden Tage war er sehlaff a n d klagte fiber Schmerzen im Kopf und im K.renz. Diese Beschwerden bl ieben bis zum 15. Xl . (einschliel~lieh) bestehen, nachdem am 13. XI . aufterdem noch t ta l sschmerzen h inzugekommen wgren. Trotz dieses Zus tandes ve r sah er seinen Dienst wie gew6hnlich. Am 16. XI . fiihlte er sieh wieder ganz wohl, doeh am 21. XI . bemerk te er Schwere im reehten Bein n n d vermochte er dieses n u t mi t Mfihe zu heben. Aul~erdem stel l ten sieh t I a rn - besehwerden ein; er ftlhlte zw~r I-Iarndrang, konn te aber n ich t gu t urinieren. Am n~chs ten Tage verspfir te er aueh Beschwerden im l inken Bein a n d am 23. XI . konn te er beide Beine n u t schwer bewegen und war auch das Urinieren unm6gl ich geworden. I n diesem Zus tande wurde er in die Kl in ik aufgenommen.

Die Anamnese ]ehrte, dab der Kranke an den Armen niehts Besonderes bemerk t ha t t e , und dal~ die Sehmerzen im Kopf n n d im Kreuz seit den ers ten Tagen der E r k r a n k u n g n ich t zuri tckgekehrt waren. Essen, Tr inken und Schlaf waren immer normal geblieben. In seiner J u g e n d war er gegen Poeken geimpft worden; am 2. X. und 5. XI . ha t t e Wieder impfung s ta t tgefunden . Beide letz- te ren Impfungen ergaben eine F rahreak t ion .

Bei der Un te r suchung in der Klinik erwies sieh der Al lgemeinzustand als gut . Nur schwitzte der Kranke s ta rk ; seine XSrl0ertemperatur bewegte sich zwisehen 38 o und 39%

t terz , Lungen und Bauehorgane zeigten keine Abweichungen. Der t I a r n war ~nfangs normal ; die W a g im Blur war negat iv. Das klinisehe Bild wurde yon neurologisohen Symptomen beherrscht . Diese beschr~nkten sieh anfangs auf die untere H~lfte des K6rpers. Psychische Abweichungen fehlten. An den Hi rnne rven wurden keine Abweiehungen gefunden. Die Arme wurden gu t be- wegt; es bes tand keine Ataxie ; die Sehnenreflexe an den oberen E x t r e m i t ~ t e n waren normal . Dagegen bes t and fast eine vSllige Paralyse der Beine. Die ak- t iven Bewegungen im rechten tI t if t- und Kniegelenk waren ganz gufgehoben, und im Ful~gelenk a n d in den Zehen konn~en nu t geringe Bewegungen aus- gefi ihrt werden. Das l inke Bein konn te im Kniegelenk etwa 1 cm ak t iv gehoben werden, aber mi t viel weniger Kra f t als norm~lerweise, wghrend die Beweg- l ichkeit im Fnl~gelenk etwas ausgiebiger war als an der anderen Seite. Die Zehen des l inken Ful~es wurden ziemlieh gut bewegt~ ~ber auch sie h a t t e n an Kra f t abgenommen. Die Sehnenreflexe an den un te ren Ex t r emi t~ t en waren n ich t auslSsbar. Der reehte Fuftsohlenreflex fehlte; an der l inken Seite bewlrk te Stre ichen un te r der Ful~sohle ein geringes Streeken der Zehen mi t Ausnahme der gro[ten Zehe, die unbeweglich blieb. Die Banch- und Cremasterreflexe ]iel3en sieh n ich t auslSsen. Bei der Un te r suehung der Sensibil i tgt wurde fest- gestell~, dal~ der Muskelgelenksinn und der Berahrungss inn normal waren, aber der Sehmerz- und Temper~turs inn an der un te ren X6rperh~lf te 10raktiseh guf- gehoben war. Die obere Grenze dieser Sensibil i t~tsstSrung verlief ~n der Vorder- seite in H6he des Processus xiphoides hor izontal fiber den KSrper, u n d e r Hinter- seite hber den 3. Lendenwirbel . Eine Anssparung der sakralen Segmente bes t and

Page 3: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

t3ber die Vers im ZentrMnervensystem bei Pocken (Variola). 3

nicht. Was das Harnen betrifft, ffihlte der Patient zwar Drang, aber spontanes Urinicren fiel sehr schwer, und der Kranke fuhlte nicht, ob Harn abflol] oder nicht.

W~hrend der ersten Tage des Aufenthaltes in dcr Klinik anderte sich der Zustand nur wenig; allein entwickelte sich eine vollst~ndigc Retentio urinae et alvi. Am 4. Tage trat p16tzlich eine Verschlimmerung des Leidens ein. Patient klagte fiber Benommenheit und konnte nicht tier einatmen und husten; auch klagte er fiber Brennen und ](lopfen in der rechtcn Hand. Bei der Untersuchung zeigte sich, dab sich die Lungengrenzen nur wenig bei der Atmung verschoben hatten, zumal an der rechten Seite. Die Kraft in der rechten Hand hatte etwas abgenommen; die linke obere Extremitat erwies sich als normal. Am n/~chsten Tage klagte der Kranke fiber Schmerzen in der Brust beim tiefen Einatmen; am liebsten b]ieb el" auf der rechten Seite liegen. Die Lungengrenzcn erwiesen sich auch nun wieder a]s nur m~t2ig verschoben, und das Atmungsger/iusch war schw~cher als normalerweise. 2 Tage sparer ging der Stuhl spontan ab, aber die ttarnverhaltung blieb bestehen. Das neurologische Bild war fibrigens un- verfindert. Nun bcgann aber eine Besserung einzutreten; so wird z. B. in dcr Krankengeschichte vermeldet, dab am 3. XII. spontan 700 ccm Harn entlcert wurdcn. Die Abweichungen am rechten Arm waren versehwunden. Dcr linke Ful] konnte bewegt werden, das rechte Bein aber erwies sich, praktisch ge- nommen, als v611ig gel~hmt. In der Sensibilit~tsst6rung ist eine ~nderung ein- getreten, in dem Sinne, dag vom Processus xiphoides his zum Nabel eine Zone yon gyper/~sthesie besteht, w/~hrend unterhalb der genannten Grenze Schmerz- und Temperatursinn aufgehoben sind. Die Grenze dieser Sensibilit~tsstSrung wechselte in den folgenden Wochen etwas; als zuletzt genannte obere Grenze der Analgesic und Thermoan~tsthesie ist in der Krankengeschichte einc Linie angegeben, welche etwa 5 cm oberhalb der Symphyse verl~uft. Im letzten Sta- dium seiner Krankheig war aueh der Berfihrungssinn des rechten Beines nicht ganz normal. Der Muskelgelenksinn blieb jedoch erhal~en. Auch die Motilit~t blieb unver/indert. Die Sehnenreflexe an den unteren Extremit~ten fehlten immer. Der FuBsohlenreflex schlieBlich wurde beiderseits normal.

Inzwischen hatte sich vom 7. XII. an ein Odem des rechten Beines ent- wickelt, und - - was ernster war - - ein Decubitus auf dem Sacrum. Dieser Deeubitus breitete sich allmahlich fiber den ganzen unteren Teil des l%fickens aus, wobei sich viel Nekrose aueh in der Tiefe der Gewebe entwickelte. W/ihrend des ganzen Aufenthaltes in der Abteilung war die K6rpertemperatur erh6ht gewesen; sic schwankte zwischen 38 o und 390. ]{itte Januar 1930 stieg sic jedoch wiederholt bis 410; es trat Schiittelfrost auf; die Pulsfrequenz stieg, es ent- wickelte sich leichte Albuminurie; im Harnsediment wurden einige Leukocyten gefunden. Der Allgemeinzustand verschlcchterte sich immer mehr, und am 27. I. trat das Ende ein.

D ie k l i n i s ehe D i a g n o s e w u r d e au f Mye l i t i s a e u t a n a e h V a r i o l a

l e v i o r ges t e l l t . F t i r die D i a g n o s e V a r i o l a s p r a c h das p l o t z l i e h e E r -

k r a n k e n m i t F i e b e r , K o p f - u n d L e n d e n s e h m e r z e n , sowie das A u f -

t r e t e n e ines m a s e r n a r t i g e n E x a n t h e m s , 11 T a g e n a e h e i n e m K o n -

t a k t m i t e i n e m e r n s t e n P o e k e n k r a n k e n . Das V e r s e h w i n d e n d e r

i*

Page 4: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

4 B. ]3rouwer, C. L. de Jongh und R. 1~. Rochat:

~kuten Symptome nach r Tagen und die genannte Inkubationszeit wurden w~hrend der Haager Epidemie wiederholt bei don leich- teren F~llen yon Variola festgestellt. Die Wichtigkeit des Er- kennens dieser Ieiehten F~lle yon Pocken fiir die Verbreitung der Epidemie ist yon einem yon uns an Hand zahlreieher eigener Be- obaehtungen sehon friiher in der Literatur dargelegt worden (C. L. do J o n g h ) .

Was das neurologisehe Syndrom betrifft, ~hnelte der Verlauf einer L a n d r y sehen Paralyse, welche zum Stillstand kam und etwas zurfiekging. Es wurde angenommen, daft sieh die Myelitis beson- ders im lumbo-sakralen Mark und in den unteren thorakalen Seg- menten ausgebreitet habe. Auf Grund der dissoziierten Sensibili- t~tsstSrung wurde es fiir wahrseheinlieh gehalten, daft namentlieh die graue Masse des Rtickenmarks, speziell in der Umgebung des Zentralkanals, gelitten hatte.

Diese Myelitis wurde in direkten Zusammenhang mit der Va- riola gebraeht. Die M6glichkeit einer Myelitis nach Wiederimpfung wurde zwar erwogen, aber verworfen, well es erktinstelt w~tre, die Variola auszuschalten, und weil die Inkubationszeit zwischen den Wiederimpfungen und dem Auftreten der Erkrankung des Zentral- nervensystems nieht mit den bei der postvaccinalen Encephalo- myelitis gesammelten Erfahrungen im Einklange stand.

P a t h o l o g i s e h - a n a t o m i s c h e U n t e r s u e h u n g .

Die Sektion wurde 16 Stunden naeh dem Tode verrichtet. Aus dem Sektionsberieht erw/~hnen wir, daft ein ausgedehnter Decubitus am Ges/~l~ vorhanden war, aus welchem sieh eine Phlegmone zwi- schen den langen l%tickenmuskeln entwickelt hatte. Am Herzen wurden keine Besonderheiten festgestellt. Beide Lungen enthielten bronchopneumonisehe Herde. Die Milz war gro{], sehr weich und wog 300 g. Auch land sich eine h~morrhagische Cystitis vor. Die iibrigen Bauehorgane zeigten keine Abweiehungen. Ebenso waren am Gehirn und Rtickenmark yon auBen makroskopiseh keine Ab- weichungen festzustellen; zwecks mikroskopischer Untersuehung wurden beide Teile in Formalin fixiert.

M i k r o s k o p i s e h e U n t e r s u c h u n g dos Z e n t r a l n e r v e n s y s t e m s .

Verschiedene Tefle des 1~uckenmarks, des verl~ngerten Ma.rkes, des Klein- hirns, des Pons Varoli, des Mittelhirns, der S~ammganglien und der GroBhirn-

Page 5: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Uber die Ver~nderungen im Zentralnervensystem bei Poeken (Variola). 5

rinde wurden teils in Gefrierschnitten, tells nach Einbet ten in Paraffin und Ce]luloidin ffir histopathologische Untersuchung bearbeitet~. Gef~irbt wurde mit Hi~matoxylin-Eosin und nach ) I i s s l , W e i g e r t - P a l , v a n G i e s o n , S p i e l - m e y e r (Markseheidenfiirbung), M a l l o r y , C a j a l u. B i e l s c h o w s k y (Silberim- pr~gnation), H e r x h e i m e r u. S u d a n I I I , H o l z e r , A l z h e i m e r A, B und C (Gliaf~rbung), Caj al (Gliafi~rbung), P e r d r a u u. B i o n d i (Gef~f~rbung). Aul~er- dem wurden einige Teile der Medulla oblongata und des Pons Varoli an Serien- schnitten un~ersuchL die abwechselnd nach den Methoden W e i g e r t - P a l s und v a n G i e s o n s gef~rbt waren. Die nach dem yon H o r t e g a - P e n f i e l d an- gegebenen Verfahren hergestellten Pr~parate ergaben infolge der Fixierung in Formalin nur zu einem Teile brauchbare Resultate. - - Die mikroskopische Untersuchung lehrte folgendes:

a) R f i e k e n m a r k .

Weitaus die schwers~en Vergnderungen werden im lumbo-sakralen Marke ge- funden. In den W e i g e r t - P a l - P r g p a r a t e n sieht man ausgedehnte Areale yon

Abb. 1. Demyelinisation im lumbalen Mark. (Nach einem Wcigert-Pal-Prfiparat.)

I)emyelinisation, sowohl in der weil~en als in der grauen Substanz (Abb. 1). In den I-Iinterstr/~ngen und Hinterh6rnern is~ die Zahl und die Ausdehnung dieser ge rde kleiner als in den anderen Teilen des Rfickenmarksquersehnittes. Am meisten sind die Vorderh6rner und die Vorderseitenstr/inge yon dem patho- logisehen ProzeB ergriffen worden. Die I)emyelinisation finder sich aueh rings um den Zentralkanal. Eine Randdemyelinisation ist nicht vorhanden. Die Hinter- und Vorderwurzeln zeigen in den W e i g e r t - P a l - Pr/iparaten keine Abblassung.

Die demyelinisierten Fleeken halten sich vielfaeh an die Blutgef~iBe (Abb. 2). Sie gehen meistens mit unseharfen Grenzen in das umgebende Par- enehym fiber, wobei um das v611ig myelinffeie Areal eine Zone liegt, in weleher k6rnig zerfallene Markseheiden mit normalen gemiseht sind. Es gibt jedoeh auch Stellen, we das 10athologiseh tie~ ver~nderte Gewebe seharf gegen/iber den

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. 131. lb

Page 6: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

6 B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R, P~ochut:

Abb. 2. ]~erivasculi~re Demyelinisation, (Nach einem Weigert-Pal-Pr~parat.)

Abb. 3. byncytiale Wucherung der Mikrogliazenen, (Nach einem Nissl-Prfiparat.)

normal myelinlsierten Gebieten abgegrenzt ist. Die Intensi t~t dieser Ver~nde- rung der Markseheiden weehselt etwas in den verschiedenen Segmenten des lumbo-sakralen Markes. Ein kleiner Teil des Lumbalmarkes ist aueh an Schnitt-

Page 7: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Ober die VerEnderungen im Zentralner.v.ensystem bei Pocken (Variola). 7

serien untersucht; diese Pr~parate lehren, daI] mehrere yon diesen perivaskul/iren Demyelinisationsarealen nut sehr k le in Mnd, ~ . . . . . " -

An den Stellen dieser Demyelinisation sieht man in den Pr~paraten, welche nach N i s s l u. v a n G i e s o n mit H/~matoxylin-Eosin gef/~rbt sind, massenhafte Anh/~ufungen kleiner Zellen. Diese Zellen liegen zum Teil in den V i r e h o w - 1%obinsehen 1%/~umen der Venen und Arterien, aber gehen auch welter in das Parenchym fiber and sind dann an vielen Stellen in syncytialer Weise ange- ordnet (Abb. 3). Die Gliapr/~parate lehren, da ] weithin der grSBte Teil davon als Gliazellen betrachtet werden muB, obsehon die M6gliehkeit zuzugeben ist, dab auch einige Lymphocyten dazwisehen verstreut sind. Diese Gliazellen sind polymorph; man finder sowohl i~[ikrogliazellen, Ms auch zahlreiche gr61]ere Ele-

Abb. 4. Wucherung der faserigen Glia. (Nach einem Holzer-Priiparat.)

mente mit vielen Ausl~u~ern, welche zu der faserbildenden :Neuroglia gehSren. DiG C a j a l s c h e n Pr~parate zeigen massenhafte Astrocyten yon versehiedenem Typus; die nach H o l z e r , M a l l o r y u. A l z h e i m e r A. gef~rbten Schnitte lehren, da~ in diesem unteren Tell des l~fickenmarks eine erhebliche Neubildung yon Gliafibrillen stat tgefunden hat (Abb. 4). Riesengliazellen sind wir nicht begegnet, auch keinen A l z h e i m e r s c h e n Typen wie man z. B. bei der Pseudosklerose regelm~13ig findet. Ein Teil der Gliazellen ist in K5rnchenzellen fibergegangen. Polynukle~re Elemente and Plasmazellen haben wir vermil~t. In den v a n G i e s o n - P r ~ p a r a t e n sieht man hier und da kleine Lfickenfelder. Die Pia mater ist etwas dicker als in normMen Schnitten, aber Zellanh~ufungen fehlen bier; wohl sieht man perivaskul~re Infil trate an der Arteria spinalis anterior, welehe aus Lymphocyten bestehen.

Page 8: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

B. Brouwer, C. L. de Jongh und P~. R. Roehat:

Sehr anffallend sind nun die VerhMtnisse der Ganglienzellen und Achsen- zylinder in den demyelinisierten Gebieten. Die parenchymat6sen Zellen in den HinterhSrnern sind auch da, wo Demyelinisation vorhanden ist, fiberhaupt nicht ver~ndert. Eine deutliehe Verminderung der Zahl der Vorderhornzellen ist nieht festzustellen (Abb. 5) und bTeuronophagie haben wit nicht gefunden. Die mit Hamatoxyl in-Eosin und nach N i s s l gef~rbten Pri~parate zeigen neben scharf begrenzten, ganz normale Zellen, auch vie]e, in welchen das Tigroid geschwollen, der Kern wandst~ndig geworden ist, w~hrend die Konturen der Ze]lw~nde etwas weniger scharf sind als normalerweise. In den Silberpri~paraten sieht man, dab in inehreren Zellen das intraze]lulare Fibrillennetz weniger regelm~l~ig ange-

Abb. 5. Zellen im Vorderhorn des Riickenmarkes, schwache VergrSBerung. (Nach einem Caj al-Goldsublimat-Pr/~parat.)

ordnet ist als in den Kontrollsehnitten. Auch kann man hier und da Vakuoli- sierung in den Vorderhornzel]en feststellen. Im allgemeinen besteht hier jedoch ein Kontras t gegeniiber den schweren Vergnderungen ira Mgrksehcidenbild der VorderhSrner. Derselbe Gegensatz ]~l~t sich beziiglieh der blervenfasern fest- stellen. In den Silberprgparaten ist es deutlich, dab auch in den vollst~tndig demyelinisierten Gebieten viele Aehsenzylinder erhMten sind und dal~ z. ]3. die Wurzelfasern, die aus den VorderhSrnern treten, in normaler Weise den Vorder- strang durehqueren (Abb. 6). Es sind also vor ahem die Markscheiden, die bei dieser Krankhei t gelitten haben. In den nach H e r x h e i m e r u. S u d a n I I I ge- fi~rb~en Pri~paraten sieht man in den demyelinisierten Gebieten Anh~iufung yon fettart igen Produkten. Viele Gliaze]len sind mit diesen Stoffen prall angefiillt, vor allem in den V i r c h o w - R o b i n s e h e n Rgumen. Es mul~ iedoeh hervor-

Page 9: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Uber die Ver~nderungen im ZentralnervensysSem bei Pocken (Variola). 9

gehoben werden, dal~ diese fettartigen Stoffe auch in mehreren Arealen fehlen, insbesondere dort, wo schon s~arke fibrillare Gliamatosis vorhanden ist.

Vie]e Gef/£Be sind rait Blur prall gefiillt, aber Blutungen sind nirgends vor- handen. In den nach P e r d r a u u. B i o n d i bearbeiteten Schnitten ist Ver- dickung der Adventitia und der Elastica bemerkbar. Es macht auch den Ein- druck, dab Neubildung kleinerer Gef/iBe stattgefunden hat.

Die hier beschriebenen Vergnderungen nehraen beira Hinaufsteigen ira Rtickenmark schnell ab. In den unteren Teilen des thorakalen Markes beschr/m- ken sich in den W e ig e r t- Pa l - Pr/~paraten die Abweichungen auf kleinere demye- linisierte Areale in den Strgngen. In den nach anderen Methoden gefi~rbten

Abb. 6. Achsenzylinder im demyelinisierten Gebiete. (Nach einem Bielschowsky-Pr~parat.)

SchnitSen s~SBt man auf dieselben Ver~tnderungen, wie sie beim lurabo-sakralen Marke beschrieben sind. Nur f~]lt es im H e r x h e i m e r - P r g p a r a t auf, dab bier im Brustmark auffallend viel Fettstoffe als Abbauprodukte vorhanden sind, w/ihrend die Zahl der neugebildeten Gliafibrillen erheblich kleiner geworden ist. Beachtenswert ist der Ums$and, dab die Vorderhornzellen in dieser Gegend ganz normal sind, dab die Umgebung des Zentralkanals jetzt gut rayelinisiert ist und dab auch hier eine Randdemyelinisation ~ehlt. Auch die perivaskul/~ren Lymphocyteninfiltrate an der Arteria spina]is anterior werden hier vermiBt. Im Halsraark haben wit tiberhaup~ keine Ver/~nderungen gefunden. Die MSg- lichkei$, dab kleinere Iterde im Brust- und ttalsmark vorhanden gewesen sind, muB zugegeben werden, weft nicht Pr/~parate aus allen Riickenraarksegmenten angefertigt wurden.

Page 10: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

10 B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Rochat:

b) Gehi rn .

In den eaudalen 8chnittebenen der Medulla oblongata (Hypoglossus- bis Glossopharyngeusgebiet), welehe an einer fortlaufenden Sehnittserie studiert wur- den, sind fiberh~upt keine Ver~nderungen nachweisbar. DemyelinisierteFleeken fehlen; auch der Boden des vierten Ventrikels ist in dieser ItShe unvergndert; der Plexus ehoriodeus und das Blutgefi~itsystem sind normal. In mehr oral gelegenen Gebieten treten jedoch wieder kleine demyelinisierte Areale auf, welehe ebenfalls hauptsi~chlich in der N~ihe yon Blutgef~l~en angetroffen werden. So

Abb. 7. Demye]inisierte Areale in den um das Corpus restiforme herumbiegenden Cochlearisfasern. (Nach einem W e ige r t -Pa l -P r~ ipa ra t . )

fanden wit diese in den nm das Corpus restiforme herumbiegenden Cochlearis- fasern (Abb. 7), weiter im mittleren Ponsarm (Abb. 8), im mittleren Tefl des Tegmentums im Lemniscus medialis und in versehiedenen Teilen der ventralen Brfickenfasern. In der HShe der Trochleariskerne ist alles wieder normal. Wichtig ist, in dieser Schnittserie festzustellen, dab nur in einem Teil dieser demye]inisierten Stellen der Oblongata und Pons in den Zellprgparaten eine deutliehe Gliawueherung anzutreffen ist; in mehreren fehlt diese.

Die Zellpr~parate der Kleinhirnrinde zeigen keine Abweichungen. Nach S p i e l m e y e r bearbeitete Markscheidenpr~parate des ~ucleus den~atus zeigen, da] Demyelinisation fehlt. Was die flbrigen Teile des Zentralnervensystems betrifft, sei hervorgehoben, dal~ demyelinisierte Stellen sich weiter nur im Pul-

Page 11: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

~ber die Ver/~nderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola). l l

vinar und in don medialen Teilen des Thalamus opticus vorfinden. Diese sind nicht yon Gli~wucherung begleitet. In den Weigert-Pal-Pr/iparaten des Ammonshornes, des Frontallappens, der Gegend des Corpus geniculatum exter- num ist keine I)emyelinisation n~chweisbar. Zellpr~parate aus verschiedenen Arealen der Grol3hirnrinde und des Corpus striatum weisen keine Ver/inderung auf. ])as Ventrikelependym, das Bhtgef~tBsystem und der Plexus chorioideus sind - - soweit untersucht - - auch bier als normal zu betrachten.

Ab b. 8. D e m y e l i n i s i e r t e s A r e a l a m v e n t r a l e n B r i i e k e n r a n d e . (l~!ach e i n e m W e i g e r t - P a 1 - P r ~ p a r a t . )

Zusammenfassung.

Bei einem 27j~hrigen Mann entwickelte sich, trotz einer vor kurzem erfolgten Wiederimpfung, eine leichte Form yon Pocken, woran sich ein Spinalleiden anschlol], das unter septischen Erschei- nungen, welche die l~olge eines ausgedehnten I)ecubitus waren, nach 67 Tagen zum Tode fiihrte. ]~ei der Untersuchung des Zentra]- nervensystems wurden alle Anzeichen einer Myeloencepha]itis yon einem sehr eigenartigen Gepr/ige gefunden. I)ieselbe war in der Haupt sache durch Demyelinis ierungsherde mi t Wuche rung yon Gli~elementen gekennzeichnet , wobei das nervSse P a r y n c h y m zwar

nicht verschont wurde, aber wobei doch ein Gegensatz zwischen den tiefen Ver~nderungen in den Markscheiden und der l~eurogli~ und

Page 12: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

12 B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Rochat:

den leichten Abweichungen in den Nervenzetlen und Achsenzylin- dern best~nd. Die pathologischen Ver~nderungen w~ren ara st~trk- sten ira lurabo-sakralen Mask uusgesprochen. Sic nahraen beim Hinaufsteigen im I~iickenraark schnell an Intensit~t ab, tr~ten aber an verschiedenen Stellen ira Cerebrum wieder ~uf.

Bestiraraen wir nunraehr die Stellung dieser pathologisch-anu- tomischen Befunde in der Reihe der bisher publizierten, dann kann man sagen, d~l~ die genauere Untersuchung der histologischen Ver- ~nderungen ira Zentralnervensystera rait den diesbeziiglichen Ar- beiten We s t p h ~ l s (1874) beginnt. Zwar hatte schon einige Jahre vorher D a ra a s c h i n o (1871) ein Se'ktionsresultat besehrieben, doch scheint in diesera Falle eine Poliomyelitis acuta anterior ira Spiele gewesen zu sein. W e s t p h a l hatte schon 1872 die klinischen neuro- logischen Ausfallserscheinungen bei V~riola geschildert und darauf hingewiesen, dait sich das klinische Bild in raehreren Hinsichten der ~kuten Sclerosis multiplex n~hert, oft wieder ganz zuriickgeht, ohne l~estzust~nde zu hinterlassen und dal~ kein direkter Zusara- raenhang zwischen der Intensit~t der Variola und dera Auftreten der nervSsen Koraplikationen besteht. In zwei F~llen konnten histologisch alle Erscheinungen einer diffusen Myelitis nachge- wiesen werden. O e t t i n g e r u. M a r i n e s c o (1895) beschrieben einen Fall, der unter dem Bilde einer aufsteigenden L ~ n d r y s c h e n L~h- raung naeh 31/2 Tagea zura Tode fiihrte. W~hrend d~s periphere Nervensystera histologisch unver~ndert war, wurden yon diesen Autoren ira Rtickenmark und im Gehirn zahlreiche Herde yon Infiltrationstellen gefunden, welche haupts/~chlich rings um die Ge- f~[~ gelagert waren und sich sowohl in der grauen als in der weiBen Substanz nachweisen lieften, in der ersteren jedoch hgufiger als in der letzteren. Dgbei waren auch vide Ganglienze]len im I~iieken- raark, Bulbus, Mittelhirn und GroBhirn pathologisch vergndert. Die beiden Autoren fanden weiter Mikrokokken in den nervSsen Zellen und den infiltrativen Elementen und vermuten, dab diese die Xuge- rung einer Sekund~rinfektion waren. S p i l l e r (1903) konnte in einem Falle keine deutlichen Vergnderungen ira Nervensystem nachweisen, ein l~esultat, welches man in der ~lteren Literatur raehrfach in raehreren anderen F~llen verraeldet findet. Bei einer zweiten Beobachtung land S p i l l e r eine Myelitis, bei welcher die Ver~nderungen in den VorderhSrnern so sehr dominierten, dab er diese zu der Gruppe der Poliorayelitiden rechnen muBte. Vor eini-

Page 13: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

l)ber die Vergnderungen im Zentralnervensystem bei Poeken (Variola). 13

gen Jahren (1929) hat S p i l l e r in seiner Arbeit fiber die Encephalo- myelitis dieselbe Beobachtung noch einmal kurz beschrieben und darauf hingewiesen, dal~ er bei der Revision der Pr/iparate in den Seitenstr~ngen des Rfiekenmarks dieselben Demyelinisationsherde gefunden hat, wie sie bei der postvaccinalen Myelitis regelm~iftig vorkommen, wodurch diese beiden Affektionen eine grofte Uber- einstimmung im histologisehen Bilde zeigen. E i e h h o r s t (1913) land ebenfalls eine Myelitis und schloB aus seinen Untersuchungen, daft die Ver~inderungen im Riiekenmark sich sehr der akuten Polio- myelitis n~hern. Er machte weiter auf die Tatsache aufmerksam, daft nach Variola such Polyneuritis entstehen kann und erwghnte unter anderem ein yon Zf i lze r (]872) beschriebenes Beispiel, wobei Blutungen im Nervus ischiadicus gefunden wurden. Obschon noch einige histologische Untersuehungen ver0ffentlicht wurden - - man vergleiche das yon I t e n n e b e r g (1911) im L e w a n d o w s k y s Hand- buch der Neurologie verfa6te Kapitel fiber Myelitis - - wurde dieses Problem doch nicht viel weiter gef6rdert, bis die neueren Unter- suchungsergebnisse bei der postvaccinalen Encephalitis wieder die Aufmerksamkeit auf die Verhgltnisse des Zentralnervensystems bei echten Pocken hinlenkten. In ihrer klassischen Arbeit fiber die Encephalomyelitis nach Vaccination, haben T u r n b u l 1 u. M c I n- t o s h (1926) aueh die klinisehe und pathologisch-anatomische Lite- ratur fiber die nerv0sen Komplikationen nach Variola revidiert. Sie betonten, dal3 die yon ihnen gefundenen histologischen Ver/tnde- rungen bei Vacciniaeneephalitis viel Xhnliehkeit rnit denjenigen auf- wiesen, welche einige Autoren bei Pockenmyelitis beschrieben ha- ben. Dies l/~13t sich verstehen, wenn man bedenkt, dal3 das Virus yon Vaccinia demjenigen der Variola sehr/~hnlich, wenn auch nicht ganz gleich ist, vielleicht etwas ver&ndert dutch die Tierpassage. Da in der ~lteren Literatur mehrere negative tlefunde vorliegen, einige F/~lle mit positiven histologischen Vergnderungen durch se- kundgre pyogene Misehinfektionen kompliziert waren und im all- gemeinen die Dfirftigkeit der Kasuistik eine sichere Entscheidung erschwert, betonten T u r nb u l l u. M c I n t o s h die Wichtigkeit einer n&heren Analyse ktinftiger F~lle nervOser Komplikationen nach Pocken auch ffir die Pathogenese der Vacciniaencephalitis. Schon 2 Jahre sp/~ter konnten M c I n t o s h u. S c a r f f fiber das Gehirn eines an Pockenencephalitis gestorbenen Kindes berichten. Die histologi- schen Bilder zeigten eine grofte Xhnlichkeit mit denjenigen der

Page 14: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

14 B. Brouwer, C. L. de Jongh and R. t~. Rochat:

Vaccinia-Encephalitis: auch bier fanden sieh kleine Herde yon Demyalinisation mit Wuaherung infiltrativer Zellen, welche tei]s perivaskul~r lagen, tails waiter in das Parenehym eingedrungen waren.

Erheblich gefOrdert wurde dieses Problem dureh die yon T r o u p u. I t u r s t (1930) angestellte Untersuehung. Auf einer Itoehzeits- feier wurden 16 Personan mit Variola infiziert von einem der G~tste, der an einer leiehten Form dieser Krankheit litt. Ftinfzehn blieben yon nerv6sen Komplikationen frei, abet ein Mann von 63 Jahren, waleher friihar hie geimpft worden war, bekam 12 Tage naeh dem Beginn seiner Krankheit Schmerzen in den Bainen, 4 Tage sparer auah im Buueh, w~hrend pl0tzlieh I tarnverhaltung auftrat. Am n~chsten Tage entwiekelte sieh eine L~hmung dar unteren Extremi- ts mit Sensibilit~tsstOrungen, w~hrend die Setmenreflexe an den Beinen nieht auszulOsen waren. Sp~ter warden aueh die oberen Extremithten paretiseh; der Patient, der stark Iiaberte, wurde be- nommen, es entwiekelte sieh ein Deeubitus am Sacrum; der all- gemeine KOrperzustand wurde allm~hlieh sehIeehter. Am 29. Tage naeh dem Beginn der neurologisehen Erseheinungen trat der Ted ein. T r o u p u. H u r s t untersuahten das ZentrMnervensystem aueh mit den modernen Methoden der Histopathologie. Sie fanden sehr viele Demyalinisationsherde im Rtiekenmark, vet allem im lum- balen und thor~kalen Tail, aber aueh noeh im nnteren Cervical- mark. Der obere Tell des Halsmarkes war frei geblieben. An den Stellen dieser Herde waren sehr viele perivaseul~re Infiltrationen vorhanden, welehe zum grogten Teil aus Mikrogliazellen bestanden. Viele dieser Zellen waren mit Fe t t beladen. Silberprgparate lehrten, dab in den demyelinisierten Arealen noeh viele Aehsenzylinder er- halten waren, aber ihre Anzahl war doeh zu gering and viele der erhaltanen Fasern zeigten pathologisehe Ver~nderungen (lokale An- sehwellungen usw.). Merkwtirdig war, dab die nerv0sen Zellen - - aueh in den Gebieten der Demyelinis~tion - - versehont geblieben waren. Eine ganddegenerat ion des Rtiekenmarks fehlte. In der Medulla oblongata waren die pathologisehen Veri~nderungen nut ge- ring; aber im Pens Varoli war die zentrale Gegend vers Die Ver~nderungen versehwanden wieder, als das Mittelhirn im Sehnitt ersehien. Im Kleinhirn fanden sieh mehrere perivaskuls Herde im Marklager, aber in den basMen Ganglien und im Groghirn waren die Vergnderungen nut sehr gering. Aulfallend war in der genannten

Page 15: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Uber die Ver~nderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola). 15

Beobachtung, dal3 die Menge der fettart igen Stoffe nicht der Intensi- t~t der Demyelinisation entsprach. Die Autoren erklaren dies dutch den Umstand, dai~ das Fet t schnell wieder weggeffihrt wird, wie es auch bei der postvaecinalen Encephalitis festgestellt wurde.

Vor einigen Monaten haben nun P i c k f o r d , M ~ r s d e n u. W e s t o n H u r s t elf Falle beschrieben, in welchen nerv0se St(~run- gen naeh Variola in England beobachtet wurden. Mehrere Patien- ten genasen, in einigen Fallen blieben leichtere Defekte zurfick, vier Kranke starben. In drei Fallen konnte eine genaue histologische Untersuchung des Nervensystems vorgenommen werden. Es wur- den dabei dieselben histopathologischen Bilder gefunden, die yon M c I n t o s h u. S c a r f f , yon T r o u p u. t I u r s t beschrieben wurden. In einem dieser Falle wurden aueh Streptokokken im Zentralnerven- system nachgewiesen, welche yon den Autoren mit einer fermi- nalen Bakterieamie in Verbindung gebracht wurden. In dem Falle, welcher nicht anatomisch kontrolliert werden konnte, zeigten sich am 5. Tage des Exanthems die Erscheinungen einer akuten Myeli- tis, kombiniert mit Blindheit durch Neuritis optica und starb der Kranke 4 Tage sparer.

Der histopathologische Befund in dem yon uns beschriebenen Fall verl~uft in mehreren Hinsichten denjenigen der englischen Autoren parallel, weicht abet in einem wichtigen Punkte davon ab. Dies betrifft die Wucherung der faserigen Glia, welche - - wie oben beschrieben wurde - - i m lumbosakralen Marke erheblich aus- gesprochen war, wahrend sie bei den bis jetzt beschriebenen Beob- aehtungen fehlte. Dieser Unterschied l~il~t sich jedoch aus dem Umstand erkli~ren, dat3 unser Patient mehr als 2 Monate lebte, nachdem die neurologischen Symptome aufgetreten waren, wah- rend es sieh bei fast allen anderen Fallen um Prozesse handelte, die innerhalb kurzer Zeit todlich verliefen; nut bei dem Patienten, den T r o u p u. I t u r s t besehrieben, bestand die nerv6se Komplika- tion etwas l~inger; aber auch hier dauerte die Myelo-Encephalitis noch keinen Monat. Bei der ~Beurteilung der histopathologischen Bilder ist der Faktor der Zeit yon hervorragender Bedeutung. Es dauert l~ngere Zeit, bis die Wucherung der faserigen Glia geniigend eingesetzt hat, um die 1Yarbe im Zentralnervensystem zu bilden.

Versucht man sich eine Vorstellung fiber den Gang des Pro- zesses in unserem Falle zu bilden, so l~l~t sich aus der Verschieden- heit im Bau der demyelinisierten Gebiete mit Sicherheit schliel~en,

Page 16: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

16 B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Rochat:

dab die Ver~nderungen im lumbo-sakrMen Marke die ~ltesten sind und dug der iibrige Teil des ZentrMnervensystems erst spgter be- fMlen wurde. Denn w/~hrend im lumbosakrMen Marke auBer der Demyelinisation nicht nur Wucherung der Mikrogliazellen, sondern sogar Vermehrung der Astrocyten und Fibrillenbildung gefunden wurden, so trafen wir im Gehirn z~hlreiche demyelinisierte Stellen an, in welchen tiberhaupt keine Anh/~ufung yon Gli~elementen stat t- gefunden h~tte. Eine solche Beobachtung machte auch P e r d r a u bei der postvaccinMen EncephMitis und er zog daraus die berech- t igte Folgerung, dM~ das Prim~re des Prozesses in der Degeneration der Markscheiden gesucht werden miisse. Diese letztere ist eine l~eaktion des Gewebes, wobei die ZerfMlsprodukte der Murkscheiden ~ufgergumt werden. Da die Zonen der Demyelinisution vor Mlem bei den kleineren Herden gen~u perivaskul/ir gelagert sind, liegt es nahe, anzunehmen, dab das sch/~dliche Agens durch das Blut- gef~Bsystem die verschiedenen Tei]e des ZentrMnervensystems er- reicht.

P i c k f o r d M a r s d e n u. W e s t o n H u r s t sind nicht ganz iiber- zeugt, dal~ man hier yon einer echten Entziindung sprechen darf, weil es auch mOglich ist, d~B die Degenerationsprodukte der Mark- scheiden Reizerscheinungen im Gewebe hervorrufen konnen, die im histologischen Bilde den Eindruck machen, yon einem exogenen Entziindungsagens hervorgerufen zu sein. Sie nennen diesen Pro- zeB daher ,,perivascul~r Myelinoclasis". Bedenkt man jedoch, d~B der~rtige Patienten w~hrend der Entwicklung der nervOsen Kom- plikation 6fters fiebern, dM~ man mehrfach bei der LumbMpunktion Pleocytose festgestellt hat und dM~ man bei der histologischen Untersuchung nicht nur periv~skul/~re Infiltrate yon Lymphocyten, sondern guch Ver/~nderungen an den Ganglienzellen und Achsen- zylindern konstatieren kann, so scheint es erkiinstelt, in derartigen F/~llen den Begriff der Entziindung fMlen zu lassen. Wir hMten es daher f/ir richtiger, bei der Entscheidung in pathogenetischen und ~tiologischen Fr~gen yon dem St~ndpunkt auszugehen, daG es sich bei den Pocken um eine echte MyeloencephMitis handelt, sei es auch eine solche, besonderen Gepr~ges.

Wenn einer ~kuten infekti6sen Erkrankung wie den Pocken eine MyeloencephMitis folgt, so liegt die Folgerung auf der Hand, dM3 diese letztere Krankheit yon dem Pockenvirus selbst verursacht

Page 17: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

~ b e r die Ver~nderungen im Zent ra lnervensys tem bei Poeken (Variola). 17

wird und dal3 die pathogenetische Problemstellung sich ~uf die Frage beschr/~nken k~nnte, warum nur ein Tell der ~ngesteckten Personen yon dieser nerv6sen Komplikation befallen wird. D~s Bilden eines sicheren Urteiles w/~re leichter, werm wir in dieser Periode der wissenschaftlichen Forschung nicht fiber die Erfah~ rungen bei Encephalomyelitis nach Kuhpockenimpfung verffigten. Seit den grundlegenden Untersuchungen yon T u r n b ul 1 u. Mc I n- t o sh , B o u w d i j k B a s t i a a n s e , B o u m a n u. Bok, P e r d r a u , P e t t e u. a. wissen wir, dab ~uch bei der Vacciniaeneephalitis die perivaskul/~re Demyelinisation und die Anh/~ufung yon Gliaelemem ten die charakteristischen Kennzeichen dieses Prozesses darste]len. Die Ubereinstimmung im histopathologischen Bride zwischen den Pocken und der Vaceiniaencephalomyelitis ist so groB, dab man ruhig yon einer Gleichstellung reden darf. Die Wucherung der faserigen GliB, wie wir sic oben beschrieben h~ben, ist in ihrer be- ginnenden Phase ~uch bei subakuten F/~llen yon Vaccineencepha- litis yon T u r n b u l l u. M c I n t o s h beobachtet worden. Ob der Tat- sache, dab bei der postvaccinalen Komplikation die Ver/~nderungen im Grol3hirn fiber diejenigen im R/Jckenmark fiberwiegen (w/~hrend bei den Pocken das Umgekehrte der Fall ist), eine wesentliche Be- deutung zukommt, muB als fraglich betrachtet werden. Die klini- sehen Beobachtungen weisen darauf hin, dab aueh bei den Pocken das Grol]hirn erheblich mitleiden kann, und bei der kleinen Zahl der bis jetzt histologiseh untersuehten F/~lle mu] der Zufall eine groBe l~olle spielen. Die M0gliehkeit bleibt natiirlieh gegeben, dal] die grol]e Z~hl der Gehirnver/~nderungen n~eh Kuhpockenimpfung mit dem Umstand in Verbindung gebracht werden muB, dab es sich bier meistens um Kinder handelt, bei denen das Telencephalon in seiner Entwicklungsphase gesch~digt wurde. Indessen kommen auch im jugendlichen Alter erhebliche Riickenmarksver/~nderungen naeh Kuhpockenimpfung vor, bei we]ehen sich eine Differential- diagnose gegenfiber der Pockenmye]itis in den histologischen Bil- dern nicht stellen 1/~Bt. Von mehreren Autoren werden die histo- pathologischen Bilder, welche man bei der 1V[asernencephalitis (Wohlwill) finder, als gleiehwertig rnit denjenigen der Vaccine- encephalitis betrachtet ( P e r d r a u , S p i e l m e y e r , G r e e n f i e l d , P e t t e u.a.). Van B o u w d i j k B a s t i a a n s e konnte sich diesem Standpunkt nicht ansehliel~en. Er selbst land bei der Masernenee- phulitis nur einen sehr umfangreiehen Degenerationsherd in der

Deutsche Zeitschrift f. Nervenhcilkunde. Bd. 131. 2

Page 18: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

18 B. Brouwer, C. L. de Jong und 1~. I1, Roohat:

Hippocampusgegend und erw~hnt mehrere Fglle aus der Literatur, in welchen eine h~morrhagische Encephalitis festgestellt wurde, w/~hrend yon anderen fiber rein degenerative Prozesse und fiber erhebliehe Gef~gver~nderungen berichtet wurde. Bei diesem Gegen- satz mug man jedoch bedenken, dab die weitere Entwicklung unse- rer Kenntnisse betreffs der postvaecinalen Encephalomyelitis ge- zeigt hat, dag das histopathologisehe gild ziemlieh stark weehseln kann. tt~morrhagische Ersehe.inungen, degenerative Ver~nderun- gen in den Ganglienzellen und Aehsenzylindern, Neuronophagie kommen aueh bei dieser Erkrankung vor.

Wenn somit die Gleichstellung dieser beiden Krankhcitstypcn noeh nicht ganz gesiehert ist, steht man bei der EneephMitis naeh anderen akuten exanthematisehen Krankheiten auf noeb weniger festem Boden. Auf Grund klinischer Beobaehtung hat man aneh die Varicellae-Eneephalitis zu derselben Gruppe gerechnet. In den letzten Jahren sind zwei Y/~lle anatomiseh nntersncht worden. Die Beobaehtung yon Z i m m e r m a n n u. Y a n n e t ist mit t~fieksieht auf die bier gestellte Frage sehwer zu benrteilen, weft der Patient schon naeh einigen Stunden in einem Krampfzustand starb. Es wurde eine diffuse akute Zellver~nderung im Zentralnervensystem und eine perivaskul~re Narkst6rnng im Lobus parieto-oceipitMis gefunden.

In eingehender Weise hat v a n B o g a e r t eine typisehe Vari- eellae-EneephMitis untersucht. Er fand eine akute degenerative Affektion, die hauptss die wcige Substanz im GroG- und Klein- him betraf, aber aneh die grauen Massen des Nervensystems nieht ganz versehonte. In der l~inde waren die Betzsehen Elemente betroffen, in der Kleinhirnrinde sowohl die Purkin je-Zel len , wie die groGen Zellen dcr ~ugeren Sehieht. Weil die erhebliehen Zell- veranderungen und die Lokalisation der Herde im Kleinhirn ffir die postvaeeinale Encephalitis eine sehr ungewOhnliehe Ersehei- hung sind, will van B o g a e r t auch keine Itomologie annehmen. Er glaubt, dag die EneephMitis naeh Varieellae der akuten Sclerosis multiplex n~her steht als tier postvaeein&len und postmorbill6sen Encephalitis. AuffMlend bleibt indessen auch bei dieser EneephMitis naeh Varieellae das Auftreten perivaskul~rer Demyelinisation und die eigentfimliehe Gliareaktion in den ergriffenen Arealen. Diese eharakteristisehen histopathologisehen Ver~nderungen sind es, wel- ehe viele Autoren dazu gebraeht haben, mehrere Krankheitsbilder

Page 19: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Uber die Vergnderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola). 19

zu einer Gruppe zu vereinigen. Man rechnet dann nicht nur die Encephalomyelitiden, welche im Anschlul] an akute exanthemati- sche Krankheiten auftreten, sondern such die selteneren F~Lle, die nach Influenza, Gonorrhoe, Serumbehandlung (Antirabies) entstan- den sind, dszu und schliel~lich such die Form akuter Encephalo- myelitis, welche ohne bekalmte Ursache hervorgerufen wird, und sich im histologischen Bilde der akuten Sclerosis multiplex n~hert oder dieser gleichgestellt werden kann. Was die chronische ;Form dieser letzteren Krankheit betrifft, gu/3ert man sich etwas vorsich- tiger, obschon such bier die Tendenz besteht, dieses Leiden anf Grund des anatomischen Bildes in diese Gruppe einzureihen. Man seheut sieh, diese Krankheit ohne weiteres hinzuzugruppieren, weil der klinische Verlanf ein ganz anderer ist. Das schubsrtige Hin- und Kergehen dcr Symptome, welches fiir die chronische Form der Sclerosis multiplex so charakteristisch ist, wird bei diesen anderen Krankheiten vermil]t. So haben W h i p m a n u. Myers zwei Pa- tienten, welche in erwachsenem Alter in Anschluft an Variola das Syndrom einer Pseudosclerosis multiplex zeigten, mehrere Jahre im Auge behalten und festgestellt, das keine neuen Symptome bin- zukamen, mehrere dagegen verschwanden. Auch nach der Vaccine- Encephalitis sind Defektzust/~nde zurtickgeblieben (v. B o u w d i j k B a s t i a a n s e u. a.) und hat man einige Male l~ezidive gesehen, aber intermittierende Verschlimmerungen und Verbesserungen wurden dabei bis jetzt nicht beobschtet. Einer yon uns verfolgt seit 3 Jahren den Krankheitsverlauf einer Frau, welche im Anschlui3 an eine Wiederimpfung eine stiirmische Erkrankung des Zentral- nervensystems durehmachte, aber seit den ersten Monaten keine nennenswerte Vergnderung der klinischen Erscheinungen zeigte (man vergleiche F. Krsuse) . Bei der Maserneneephalitis sind nach- bleibende Defektzust~nde ziemlich h/~ufig, aber such hier fehlen l~emissionen und Verschlimmerungen. Zwar hat S c h l e s i n g e r einen Fall yon Sclerosis multiplex, der nach Masernencephalitis ent- standen war und mit Schiiben verlief, in eingehender Weise histo- logisch untersucht, abet bier war h6chstwahrscheinlieh such heredi- tare Syphilis im Spiel, w~hrend im Riickenmsrk eine kombinierte Strangerkrankung mit sekund/~ren Degenerationen neben den skle- rotischen Herden im Zentralnervensystem festgestellt wurde. Auch in histologischer Hinsicht werden Unterschiede zwischen der oben gensnnten Gruppe der akuten Affektionen und der chronischen

2*

Page 20: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

20 B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. 1~. Rochat:

Sclerosis multiplex angegeben. Bei der letzteren Krankheit ist die Sch~idigung der G~nglienzellen und Achsenzylinder weniger aus- gesprochen, wghrend auch die Begrenzung der demyelinisierten Areale eine vim sch~irfere zu sein pflegt. Man muB jedoch P e r d r a u zugeben, dab diesen Untersohieden keine wesentliche Bedeutung zukommt, well die Herde bei der Sclerosis multiplex gew6hnlich schon durch Wucherung der faserigen Glia in I~arbengewebe iiber- gegangen sind, wahrend welter auch bei dieser Krankheit die Zell- und Faserver~nderungen nieht selten angetroffen werden.

Auf Grund dieser Ubereinstimmung im histologischen Bilde, ins- besondere auf Grund des Auftretens der perivaskul~ren Demyelini- sation, der syncytiMen Gliawucherung mit dem Zuriicktreten der pathologisohen Ver~nderungen in den Zellen und Achsenzylindern, hat sich eine Mlgemeine Tendenz entwickelt, die Pathogenese dicser nerv6sen Komplikation nicht als Folge einer direkten Wirkung des Giftes zu sehen, welches z. B. das Exanthem verursacht hat. Man nimmt vielmehr eine selbst~ndige Krankheit an, die durch ein Virus verursaeht wird, das durch die akute Krankheit aktiviert wurde. Eine solche SohluSfolgerung, welche vor allem fiir das Pro- blem der postvaccinMen Encephalitis hervorragende Bedeutung hat, ist nicht Ms zwingend zu betrachten. Mit Recht hat S p i e l m e y e r wiederholt darauf hingewiesen, da$ ein gleiches histopathologisches Bild bei ganz verschiedenen Krankheiten gefunden wird. Als Bei- spiel hat er die groBe Ubereinstimmung in den anatomischen Bil- dern der Schlafkrankheit mit der Dementia paralytica und in den eigentfimhchen Gliaherdchen bei Flecktyphus und septischen Er- krankungen hervorgehoben. Wir m6chten weiter an die Strang- erkrankungen des Rfickenmarks erinnern, welche yon ganz versehie- denen Ursachen herriihren kSnnen, sowie an die akuten Bulb~r- erkrankungen, die yon ganz verschiedenen Giften hervorgerufen werden k6nnen, ohne dab das anatomische Substrat verschieden ist. Obschon nun die Ubereinstimmung im histologischen Bilde allein nicht den Schlug gestattet, dab immer dasselbe Agens im Spiel ist, weil verschiedene Noxen dieselbe I~eaktion im Nervengewebe her- vorrufen k6nnen, muB betont werden, dab mehrere Untersucher beim Studium der postvaecinMen Encephalitis yon anderen Ge- sichtspunkten aus ebenfMls zu der Auffassung gekommen sind, dab die Erkrankung nicht yon dem Vaccinevirus selbst verursacht wird, sondern nur vom Kuhpoekenvirus aktiviert worden ist. Denheutigen

Page 21: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

tJber die Vergnderungen im ZentrMnervensystem bei Pocken (Variola). 21

Stand dieses Problemes findet man dargelegt in dem ktirzlieh er- sehienenen Berieht des niederlgndisehen Regierungsaussehusses, der das postvaeeinMe EneephMitisproblem naeh alien Seiten lain in ein- gehender Weise studiert hat. Es darf jetzt als feststehend betraeh- tet werden, dab die VaeeiniaeneephMitis nieht dureh eine Verun- reinigung der bei der Impfung benutzten Lymphe hervorgerufen wird. Als Wahrseheinliehstes wird yon den meisten Mitgliedern dieses Aussehusses die Aktivierung eines latent vorhandenen enee- phMitogenen Virus unter EinfluB der Impfung angenommen, oder, dab bei dem dutch Impfung gesehw~ehten Individuum kommen- sale Vira virulent werden. Ftir die Aktivierungshypothese werden unter anderem einige epidemiologisehe Tatsaehen angefiihrt. So ist es auffallend, dab die postvaeeinMe EneephMitis in Holland und England viel h~ufiger vorgekommen ist als in anderen L~ndern. Dies k6nnte dureh die Annahme erkl~rt werden, dab in den ge- nannten L~ndern eine Epidemie yon latenten Irffektionen mit einem eneephalitogenen Virus herrsehe. Aueh die dureh epidemiologisehe Untersuehungen naehgewiesene gr6Bere Frequenz in bestimmten Gegenden der Niederlande st/~nde hiermit im Einklange, w~thrend weiter auch die Anh~ufung yon EneephMitisfallen in bestimmten Jahreszeiten fiir die Aktivierungshypothese spreehen wfirde, ttinzu kommen noeh einige negative Argumente, yon denen das wieh- tigste ist, dab es bisher nieht gelang, mit dem Kuhpoekenimpf- stoff eine typisehe EneephMitis bei Versuehstieren hervorzurufen. Allerdings gltiekte es mit diesem Virus, Entz/indungserseheinungen im Gehirn bei h6heren S~ugetieren zu erzeugen (Levad i t i , Nieo- lau, Saneh i s B a y a r r i u. a.), aber diese Meningoeneephalitis hat ganz andere Kennzeiehen als die EneephMitis postvaeeinMis.

Ftir eine Minderheit der Mitglieder dieses Aussehusses sind die genannten Arguhlente nieht tiberzeugend; sie bevorzugt die Hypo- these, dab die Krankheit dureh das Vaeeinevirus selbst hervor- gerufen wird. Die ungleiehartige Frequenz in den versehiedenen L~ndern k6nnte man zum Tell dureh das Lebensalter, in welehem man zu impfen pflegt, erkl~ren, da die Untersuehungen gelehrt haben, dab die Gefahr ftir die EneephMitis mit zunehmendem Alter (wenigstens bis zum 9. Jahre) steigt, und in Holland nnd England pflegt man sp~ter zu impfen Ms in anderen L~ndern. Den nega- tiven I{espltaten bei Versuehstieren kommt nut eine besehr~nkte Bedeutung zu, weil dieses Versagen bei Tieren aueh bei anderen

Page 22: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

22 B. Brouwer, C. L. de dongh und R. 1%. Rochat:

Krankheiten des Nervensystems vorkommt, bei denen der exogene Erreger bekannt ist. Des weiteren ist nach Meinung der Anh~inger der Vaccinevirushypothese die Tatsache yon Bedeutung, daft das einzige Virus, das mehrmMs in den Gehirnen gestorbener Patienten gefunden wurde, das Vaccinevirus ist. Diese Untersucher nehmen an, da f heutzutage durch unbekannte Umst~nde eine besondere Vulnerabilitat des ZentrMnervensystems bestehe.

Wahrend somit fiber die Art der kausMen Beziehung zwischen Kuhpockenimpfung und EncephMitis noch Meinungsverschieden- heiten bestehen, ist es auch fiir das Problem der Pockenmyelo- encephalitis yon Bedeutung, darauf hinzuweisen, daft es nicht als bewiesen erachtet wird, dab die bisher aus dem Gehirn, der SpinM- fliissigkeit, den inneren Organen geziichteten Mikroorganismen in ursachlichen Zusammenhang mit der postvaccinMen Encephalitis stehen (einige experimentelle Ergebnisse yon A l d e r s h o f f und yon I { o e l e n miissen in dieser Beziehung noch nachgepriift werden). Ein experimenteller Grund far die Aktivierung eines latenten Virus im ZentrMnervensystem fehlt also.

Unter diesen Umst/~nden ist es unseres Erachtens beim Studium der nerv0sen Komplikationen bei Variola gerechtfertigt, wieder zu der auf S. 12 dieses Aufsatzes gemachten Bemerkung zuriickzu- kehren: Wenn einer akuten infekti0sen Erkrankung wie den Pocken eine MyeloencephMitis folgt, so liegt die Folgerung auf der Hand, daft diese letztere Krankheit yon dem Pockenvirus selbst verursacht wird und dab die pathogenetische Problemstellung sich beschranken k0nnte auf die Frage, warum nur ein Tell der angesteckten Personen an dieser nerv0sen Komplikation zu leiden beginnt. Richten wir jetzt unsere spezielle Aufmerksamkeit auf den K0rperzustand des yore seh~dlichen Agens angegriffenen Individuums, darm lernen wit aus den bei de.n Komplikationen nach Kuhpockenimpfung ge- sammelten Erfahrungen much einige Tatsachen, welche fiir eine Ein- sieht in die Verh~ltnisse bei Pocken-MyeloencephMitis yon Bedeu- tung sind. Eine der bekanntesten Komplikationen bei einer solehen Impfung stellt die Vaecina generMisata dar, yon welcher man MI- gemein tiberzeugt ist, dab sie durch das Vaccinevirus selbst ver- ursaeht wird. Es ist anzunehmen, dab Ms einer der Faktoren, wel- che fiir die Pathogenese dieser Komplikation yon Bedeutung sind, die immun-biologische Minderwertigkeit der Haut betrachtet wer- den muB. Aus mehreren Untersuchungen ist es nun Mlm/~hlieh

Page 23: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Uber die Verinderungen im Zentralnervensystem bei Poeken (Variola). 23

deutlich geworden - - man vergleiche den Bericht des niederl~ndi- schen Eneephalitisausschusses--, dab die verschiedenen Organe des- selben Individuums nieht gleiehzeitig immun zu sein brauchen, und dab z.B. die Haut eines Patienten Immunit~t aufweisen kann, w/~hrend das Gehirn in vitro keine virulizide Eigensehaften besitzt. Es dr~ngt sich daher die Frage auf, ob vielleicht das Zentralnerven- system bei den Patienten, welehe an nerv/)sen Komplikationen naeh Vaccine und Variola leiden, fiber zu wenig Abwehrkr/~fte verffigt. Eine solche Annahme ist ffir die Pocken berechtigt, well die Mini- sehe Beobachtung lehrt, dab auch bei nieht komplizierten Poeken als erste Symptome regelm~Big Kopf- und Lendenschmerzen auf- treten, so dab man otme diese Erscheinungen nut ungern die ])ia- gnose stellt. Schon T r o u s s e a u hat diese Rfickenschmerzen als ein spinales Zeichen aufgefagt. Bei vielen schwereren Poekenf~llen sieht man neben den Kopfschmerzen wiederholt aueh bedeutende psychische Abweichungen, welche darauf hindeuten, dab das Virus und seine Gifte das Zentralnervensystem erreicht haben. Seitens vieler dieser Patienten kOnnen jedoch diese Erseheinungen wieder fiberwunden werden, w~hrend nut ein ganz kleiner Teil auf die Pocken mit Entzfindnng im Zentralnervensystem reagiert.

DaB endogene Momente bei der postvaceinalen Encephalitis yon ausschlaggebender Bedeutung sein mfissen, und daft die jeweilige konstitutionelte Besehaffenheit des Organismus ffir die Entwick- lung des Prozesses wiehtig ist, hat vor allem P e t t e betont. ])as Vorkommen postvaecinMer Encephalitis bei Geschwistern kOnnte in dieser Weise erld~rt werden. Wie rs m a beschrieb einen Fall yon Vacciniaeneephalitis bei einem Kinde, das einer Familie entstammte, in welcher mehrere Mitglieder an Konvulsionen litten. Bei einer anderen seiner Beobaehtungen war das Kind von Geburt an schwach und krinklich. Es ist richtig, das solche Mitteilungen in der Literatur sehr sp~rlich sind; aber man darf nicht vergessen, dab Angaben fiber endogene Verhiltnisse sich Ofters nur sehr schwer e~mitteln lassen, w/~hrend weiter die Aufmerksamkeit der Untersucher nieht in dieser Richtung orientiert ist.

])asselbe trifft ffir die Berichte zu, in welchen der Korperzustand im Augenbliek der Impfung oder Variolainfektion dureh vorher- gehende exogene Momente geschwaeht war. W i e r s m a hat einen Encephalitisfall beschrieben, in welchem der Patient unmittelbar vor der Impfung eine Influenza fiberstanden hatte. In den yon

Page 24: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

24 B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Roehat:

P i c k f o r d - M a r s d e n u. W e s t o n H u r s t mitgeteilten Kr~nken- gesehichten ~ber V~riol~enceph~litis findet man mehrere Male er- w~hnt, dab die P~tienten vorher andere Infektionen durehgemacht h~tten. Einer yon uns (de J o n g h ) stellte die Diagnose einer Poekeneneephalitis bei einem Kinde~ das zug]eieh ~n K e u e h - h u s t e n l i f t .

Uber eine eventuelle endogene Schw~chung des Nervensystems bei dem von uns beschriebenen Patienten k~nnen wir nur mitteilen, dab seine Mutter zu den sehr nerv0sen Pers0nliehkeiten gehOrt und 9 Monate in einer Irrenanstalt verpflegt wurde und sein Vater als ein in sozialer Hinsieht sonderbarer Mensch bekannt ist. Wir m0ehten welter hervorheben, dab - - obschon es richtig ist, dab er yon einem sehweren t0dlich verlaufenden Pockenfall infiziert wurde - - sein Organismus in immun-biologischer tt insicht anschei- nend nicht sehr kr/~ftig war, well er trotz Impfung und Wieder- impfung an Variola erkrankte. Vielleicht ist es dabei yon Bedeu- tung, dab er sieh nieht sehonte, bis die pathologisehen Erschei- nungen des Nervensystems auftraten.

Unter den Autoren, welche zur Erkl~rung der nerv0sen Kompli- kationen naeh Vaccine aueh die kOrperliche Disposition des Pa- tienten im Augenbliek der Impfung beriicksichtigt haben, befinden sich mehrere, welche der Hypothese sympathisch gegeniiber stehen, dab es sieh hier um eine anaphylaktische Erscheinung handelt, bei welcher das Zentralnervensystem durch die Impfung allergisch ge- worden ist ( G l a n z m a n n , P e t t e , K e l l e r u. a.). Man kam haupt- ss zu dieser Annahme, well die ersten Symptome der Ence- phalitis meistens zwischen dem 9. nnd 12. Tage auftreten, d. h. im HOhepunkt des Vaccinationsprozesses. In dieser Beziehung kOnn- ten wohl einige Analogien mit Erfahrungen bei Injektionen ange- ffihrt werden. G r e e n f i e l d hat aber schon mit Reeht dagegen her- vorgehoben, dab es sehr auffallend ist, dab man bei den bis jetzt bekannten todlich verlaufenden F~llen yon Behandlung mit Teta- nus- oder Diphtherieserum solehe charakteristisehe histologische Bilder ira Zentralnervensystem vermiBt hat. V a n B o g a e r t , wel- cher eine solche Hypothese in konsequenter Weise auch fiir die Encepha]itiden nach anderen akuten infekti0sen exanthematischen Krankheiten gelten lassen will, hat aber selbst schon als eine in dieser Weise schwer zu erkl~rende Tatsaehe darauf hingewiesen, dab solche allergische Zust~nde dann woM auBerordentlieh selten

Page 25: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Uber die Vergnderungen im Zentralnervensystem bei t)ocken (Variola). 25

sind, weil so viele Kinder ein- oder mehrmals im Leben eine exan- thematisehe Erkrankung durehmaehen mfissen. Mit der Annahme eines groBen Einflusses angeh/~ufter Antigen-AntikOrperreaktionen bei den hier in Frage kommenden Erkrankungen ist fibrigens nu t wenig gewonnen. In der Lehre fiber Sypldlis nervosa hat eine damit sehr verwandte Hypothese nur wenig t~rfiehte getragen and das- selbe trifft aueh ffir andere Krankheiten des Nervensystems zu. Es seheint uns riehtiger, bei solehen herdfOrmigen Prozessen im Gehirn und l~fiekenmark an der Wahrseheinliehkeit festzuhalten, dab diese vom Erreger selbst odor den yon ihm produzierten Giften hervorgerufen sind.

Aus den obigen Auseinandersetzungen wird es deutlieh sein, dag wit die Tatsaehe, dab eine Gruppe yon Krankheiten dieselben histo- logisehen Charakteristika im Zentralnervensystem zeigt wie die Poeken, nieht in der Weise interpretieren kOnnen, dab diese alle yon einem latenten Virus hervorgerufen sind, das aktiviert wurde. Welehe Stellung mug man dann einnehmen gegenfiber der auf- fallenden Ubereinstimmung in der herdfOrmigen Demyelinisation, dem eigentfimliehen Verhalten der Neuroglia und der relativen Geringffigigkeit der pathologisehen Verinderungen in den Ganglien- zellen und den Aehsenzylindern? Die herdfSrmige Demyelinisation ist ein histologisehes Bild, das man nieht nut bei ganz anderen Krankheiten kennt, sondern sogar bei einer Erkrankung, yon der man wail3, dab der Erreger im Zentralnervensystem anwesend ist und destruktiv wirkt, d .h . bei der Dementia paralytiea (Spie l - m e y e r ) . Aueh die herdfOrmige Wueherung der Neuroglia ist eine Ver/~nderung, die in derselben Weise bei anderen Krankheits- gruppen angetroffen wird und als eine allgemeine Reaktionsersehei- nung des Gewebes zu betraehten ist. Die Bevorzugung der Mark- seheiden seitens seh~dlieher Agentien ist t in Befund, bei dessen Deutung man vor allem im peripheren Nervensystem auf festem experimentellem Boden steht. Die experimentellen Erfahrungen mit Blei ( G o m b a u l t , S t r a n s k y u .a . ) und die neuerdings er- zielten Ergebnisse mit Triorthokresylphosphat (t e r B r a a k u. C a r- r i l lo u. a.) haben mit grol3er RegelmgBigkeit gelehrt, wie sehnell das Myelin vergiftet wird und wie lange die Aehsenzylinder Wider- stand leisten. Die Sehidigung der nerv6sen Fibrillen ist zwar an mehreren Stellen naehzuweisen; sie ftihrt jedoeh nieht zu einer W a l l e r s e h e n Degeneration. Ein soleher Untersehied l~Bt sieh aus

Page 26: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

26 B. Brouwer, C. L. de Jongh und R. R. Rochat:

der Verschiedenheit in der anatomisehen Struktur und chemischer Zusammenstellung erkl~ren. In solehen Fallen hat man mit Ver- ~nderungen zu tun, welche als leichtere Formen yon Polyneuritis gedeutet werden, die im Prinzip noch wiederherstellungsfahig sind. So kann man auch die Ver~nderungen im Zentralnervensystem bei den Pocken als eine leichtere Form yon Encephalomyelitis be- trachten. Wenn man die Prgparate aus dan am schwersten l~- dierten Teil des l~tickenmarks mit denjenigen einer echten neuro- t ropen Krankheit wie der Poliomyelitis aeuta vergleieht, so wird man immer wieder ttberrascht durch die Tatsache, wie lange an- scheinend der eigentliche reizleitende Tail des 1Nervensystems dem seh~dlichen Agens Widerstand leistet und wie wenig in diesem Sinne , ,neurotrope" Eigenschaften dieses letztere besitzt.

Sieht man yon den versehiedenartigen Lokalisationen yon Krankheitsprozessen im Zentralnervensystem ab, so wird man zugeben mtissen, daf~ bei der heutigen Technik die MSgliehkeiten der Variation der histopathologischen Bilder nur ziemlich be- schr~nkte sind. Die M0glichkeiten der Variation der exogenen Momente, welche diese anatomischen Bilder hervorrufen k0nnen, sind dagegen ziemlich grof. Eine solche Einstellung in der Frage der Pathogenese der hier besproehenen Krankheiten scheint uns lohnender als diejenige, welche haupts~chlich aus morphologischen Griinden alle diese Krankheiten zu einer Gruppe vereinigen will und sie als die Folge der Wirkung eines latenten aktivierten Virus betraehtet .

Z u s a m m e n f a s s u n g .

In dieser Arbeit wird ein Tall yon nervSsen Komplikationen bei Pocken beschrieben, welcher sich yon den wenigen bisher in der Literatur vorliegenden dutch die Wueherung der faserigen Glia unterscheidet. Dieser Unterschied wird aus dam Umst~nd erkl~rt, daft der Patient eine l~ngere Zeit n~ch dem Anfang der Erkrankung lebte, wodureh eine beginnende Narbenbildung im Rtickenmark stattfinden konnte. Die pathologisehen Ver~nderungen warden Ms eine besondere Form yon Myeloencephalitis gedeutet, welche dureh das Variolavirus hervorgerufen wurde. Des weiteren wird der Wef t eines Studiums der endogenen Faktoren der befallenen Pat ienten betont. Unter Beriicksiehtigung der Literatur wird die Analogie mit den histologisehen Bfldern bei Vaccine-Encephalomyelitis her- vorgehoben. SchlieBlich wird Stellung genommen gegeniiber der

Page 27: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

Uber die Ver~nderungen im Zent ra lnervensys tem bei Poeken (Variola). 27

Auffassung, eine Reihe yon Krankhciten aus morpho]ogischen Grtinden zu einer ~tiologischen Gruppe zu vereinigen, in welcher die ch~rakteristischen histologischen Ver~nderungen yon einem la- ~ e n t e n a k t i v i e r t e n V i r u s h e r v o r g e r u f e n s i n d .

Literatur. 1. v a n B o g a e r t , L. : His topathologische Studien fiber die Encephal i t i s nach

Windpocken (Encephal i t i s postvarieellosa). Z. Neur. 140 (1932). - - 2. Essai d ' in te rp r6 ta t ion des manifes ta t ions nerveuses observ~es au cours de la vacci- nat ion, de la maladie s@rique et des maladies 6ruptives. l~ev. neur. (1932). - - 3. B o u m a n , L. u. S. T. B o k : Die Histopathologie der Encephal i t i s postvaceina- t ionem. Z. Neut . 111 (1927). - - 4. v a n B o u w d i j k - B a s t i a a n s e , F. S.: Die in Hol land beobachte~en F/~lle yon Encephalomyel i t i s postvaccinal is his zum 1. I. 1929. E b e n d a 134 (1931). - - 5. t e r B r a a k , J . W. G. en R a m o n C a r i l l o : Polyneuri t is nach Gebrauch eines Abor t ivums (Tr i -Or tho-Kresyl -Phosphatver - giftung). I) tsch. Z. Nervenhei lk . 125, I t . 1 a n d 2 (1931). - - 6. E i c h h o r s t , H. : ~ b e r E r k r a n k u n g e n des Rf ickenmarks bei Nenschenpocken. I) tsch. Arch. klin. Ned. 3 (1913). - - 7. G r e e n f i e l d , J . G.: The Pa thology of Measles encephalo- myelitis. Bra in 52 (1929). - - 8. Acute d isseminated encephalomyeli t is as a sequel to , , influenza". J. of Pa th . 311 (1930). - - 9. t I e n n e b e r g , R.: Myelitis. Lewandowskys I-Iandbuch der Neurologie. 1911. - - 10. H o e l e n , E. : Bi jdrage to t de kennis v a n her Encephal i t i svraags tuk . Inaug.-Diss. U t r ech t 1931. - - 11. N c I n t o s h , J. a. R. W. S c a r f f : The Histology of some Virus infections of the centra l Nervous System. Prec. roy. See. Ned. 21 (1928). - - 12. de J o n g h , C .L . : Over zeer l ichte geval len v a n pokken en hun beteekenis vee r de ver- spreiding dezer ziekte. Nederl. Tijdschr. Geneesk. (1929). - - 13. Nededeel ingen over pokken. E b e n d a (1930). - - 14. K e l l e r , W.: l )be r E r k r a n k u n g e n des Zen- t ra lnervensys tems im AnschluB an die Kuhpockenimpfung . Nervenarz t (1928). - - 15. K r a u s e , F . : Klinische Mi~teilung fiber schwere Defektzust~nde naeh Encephalomyel i t i s postvaeeinalis . Dtsch. Z. Nervenhei lk . 114 (1930). ~ 16. Le - v a d i ~ i , C., N i c o l a u , S. e t S a n e h i s B a y a r r i : L'6tiologie de l 'ene@phalopathie postvaecinale. Presse m6d. (1927). - - 17. O e t g i n g e r e~ G. N a r i n e s c o : De l 'origine ilffectieuse de la paralysie ascendante aigue ou maladie de Landry . Semaine m6d. (1895). - - 18. P e r d r a u , J . 1R.: The histology of Pos~vaccinal Encephal i t is . J . of Pa th . 81 (1928). - - 19. P e t t e , H. : In fek t ion und Nerven- system. D~sch. Z. Nervenhei lk . 110 (1929). - - 20. P i c k f o r d M a r s d e n , J . a. E. W e s t o n I- Iurs~: Acute per ivascular Myelinoelasis (, ,Acute d isseminated Encephalomyel i t i s" ) in smallpox. Bra in g5 (1932). - - 21. R a p p o r t v a n de Neder landsche Encephali t is-Commissie. 's Gravenhage 1932. ~ 2 2 . S c h l e s i n g e r , I-I. : Zur Frage der aku~en mul t ip len Sklerose a n d der Encephalomyel i t i s disse- m i n a t a im Kindesal ter . Arbei~en aus dem Neurologischen Ins t i t u t e Obersteiners 17 (1909). - - 23. S p i e l m e y e r , W. : Die nichtei t r ige Encephal i t i s im t~indesalter. Nschr. Kinderhei lk . 44 (1929). - - 24. Infekt ion und Nervensys tem. Z. Neut . 1~.] (1930). - - 25. Vergle ichend-anatomische BetrachCungen fiber einige Ence- phal i t iden, insbesondere fiber den Typus der Impfencephal i t is . Z. Hyg. 113 (1931). - - 26. S p i l l e r , W. G.: A repor t of two cases of paraplegia occuring in

Page 28: Über die Veränderungen im Zentralnervensystem bei Pocken (Variola)

28 B, Brouwer, C. L. de Jongh u. R. R. Rochat : Z. 1~. S. bei Pocken.

variota, one being a case of an ter ior poliomyelit is in an adult . Bra in 26 (1903). - - 27. Encephalomyel i t i s disseminata. Arch. of Neur. t2 (1929). - - 28. S t r a n s k y , E. : ~ b e r diskontinuler l iehe Zcffallsprozesse an der per ipheren l~ervenfaser. J . Psyehol. u. Neur. 1 (1902--1903). - - 29. T e r b u r g h , J . T h . : De epidemiologie v a n de postvaccinale Encephal i t i s in Nederland. Nederl. Tijdschr. voor Genecsk. (1927). - - 30. T r o u p , A. G. a. E. W e s t o n H u r s t : Disseminated Encephalo- myeli t is following small-pox. Lance t (1930). - - 31. T u r n b u l l , H. ~r a. J . M c l n t o s h : Encephalo-myel i t i s following vaccinat ion. Bri t . J . exper. Pa th . 7 (1926). - - 32. T u r n b u l l , H. M.: Encephalo-myel i t i s in virus diseases and exan- t hema ta . Bri t . mad. J. (1928). - - 33. W a l t h a r d , K . M . : Sp~ts tad ium einer Encephal i t i s nach Masern. Z. Neur. 124 (1930). - - 34. W e s t p h a l , C.: (~ber eine Affekt ion des I~crvensystems nach Poeken und Typhus. Arch. f. Psychia t r .

(1872). - - 35. Beobach tungen und Un te r suchungen fiber die Krankhe i t en des zent ra len Nervensystems. E b e n d a 4 (1874). - - 36. W h i p m a n , T. a. A . T . M y e r s : On some chronic Nervous sequelae of smallpox, especially affecting the speech. Trans. clin. Soc. Lond. 19 (1886). - - 37. W i e r s m a , D.: Remarks on the Et iology of Encephal i t i s af ter Vaccinat ion. Acta psyehiatr . (Stockh.) 4 (1929).

- - 38. W o h l w i l l , F. : ~ b e r Encephalomyel i t i s bei Masern. Z. Neut . 112 (1928). - - 39. Z i m m e r m a n , H. M. u. H. Y a n n e t : l~on suppura t ive Encephalomyel i t i s accompanying Chickenpox. Arch. of Neut . 26 (1931).