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Uber eigenartige Bewegungsbilder vermutlich cerebellaren Ursprungs. Von Dr. Th. Hoepfner (Saalfe]d, Ostpr.). (Eingeffangen am 25. Dezember 1923.) W~ihrend des Lebens dfirfte kaum widerspruchslos zu analysieren sein, ob eine BewegungsstSrung, die auf eine cerebellare Systemerkran- kung hinweist, ihre Entstehung einem Reiz oder einem Ausfall verdankt~ da es sieh meist um Neubildung, Entzfindung und ~hnliche Zust~nde grober anatomischer L~sion handelt. Immerhin mul~ die Mitteilung eines Falles mit besonders eigenartigen BewegungsstSrungen neuro/o- gisches Interesse beanspruchen; die Verhandlungen fiber extrapyrami- dale BewegungsstOrungen besonders des cerebellar-stri~ren Systems stehen ja noeh im Vordergrunde des Forschens. S. K., 4 Wochen alt, ist das dritte Kind. Vater, zwei Tanten und GroBmutter v~terlicherseits sind Migraniker; Vater Adipositas; eine der Tanten Basodow- operiert, die andere kinderlos verheiratet. Das alteste Kind hatte doppelseitige Hasenscharte, durchgehende Gaumenspalte und Zwischenkiefer. Otiatrischer Befund regelreeht; es spricht mit 3 Jahren noch nicht, keine ganz sicheren Reak- tionen auf Geh6rsreize, Kitzelreflex vorhanden. Daneben besteht noch jetzt Mangelhaftigkeit der Gleichgewichtshaltung fiir Stehen; kein Nystagmus. Das zweite Kind ist durchaus wohlgebildet; es machte mit etwa 1--2 Lebenswochen einen akuten allgemeinen Schw~chezustand h6chsten Grades durch, bei dem lang- same bzw. besehleunigte Atmung, wechselnde Cyanosen verschiedener KSrper- regionen und stark verfatlenes Aussehen die einzigen Erscheinungen waren. Nach ganz kurzer Krankheitsdauer trat regelrechte Entwicklung ein; es ist heute 2 Jahre alt, Dentition und Sprache, Trophik und Motorik, Temperament, Periodik der vegetativen Funktionen, Ern~hrungszustand v611ig regelreeht. Das dritte Kind, yon dem die Rede sein soll, wurde nach regelreehter Schwanger- schaft und kurzer Geburtsdauer wohlgebildet geboren. Die Nahrungsaufnahme war regelreeht. Vor 4 Tagen (29. X.) fielder Mutter eine Art Zwangshaltung der Ober- arme auf: die Arme wurden an den K6rper gedrtickt gehalten, bei stark gebeugten Unterarmen und flektierten, etwas ulnargedrehten ]-I~nden, wie es in Bin9, Kom- pendium der topischen Gehirn- und Riickenmarksdiagnostik (4. Aufl.), S. 67, als Zwangshaltung bei Litsion des 7. Cervicalsegments abgebildet ist. Die Schild- dr~tse ist nicht tastbar, nicht sichtbar; die Trachea ist bis unter die Incisura sterni leicht tastbar. Alsbald entwiekeln sich spastische Zustande auch der unteren Extremithten, sowie Kr~mpfe, die die gesamte Muskulatur des K6rpers betrafen; das Kind erlag nach 3ti~giger Krankheitsdauer, bei beschleunigter oberfl~tchlicher Atmung, unter Erhaltensein der wesentlichen Sehnenreflexe, ohne dal~ Paresen hinzugetreten w~ren. (5./6. XI.) Etwa 24 Stunden vor dem Tode traten innerhalb anderweitiger Krampf- zust~nde zwei Arten yon Bewegungsrhythmen auf, die je 11/2 bzw. 21/2 Stunden ohne Unterbrechung und ohne J~derung anhielten. Naeh subcutaner Injektion von insgesamt 0,6 Magnesiumsulfat liel]en die Krhmpfe langsam nach. Der Stuhl-

Über eigenartige Bewegungsbilder vermutlich cerebellaren Ursprungs

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Page 1: Über eigenartige Bewegungsbilder vermutlich cerebellaren Ursprungs

Uber eigenartige Bewegungsbilder vermutlich cerebellaren Ursprungs.

Von Dr. Th. Hoepfner (Saalfe]d, Ostpr.).

(Eingeffangen am 25. Dezember 1923.)

W~ihrend des Lebens dfirfte kaum widerspruchslos zu analysieren sein, ob eine BewegungsstSrung, die auf eine cerebellare Systemerkran- kung hinweist, ihre En t s t ehung einem Reiz oder einem Ausfall verdankt~ da es sieh meist um Neubildung, Entzf indung und ~hnliche Zust~nde grober anatomischer L~sion handelt . Immerh in mul~ die Mitteilung eines Falles mi t besonders eigenartigen BewegungsstSrungen neuro/o- gisches Interesse beanspruchen; die Verhandlungen fiber ext rapyrami- dale BewegungsstOrungen besonders des cerebellar-stri~ren Systems stehen ja noeh im Vordergrunde des Forschens.

S. K., 4 Wochen alt, ist das dritte Kind. Vater, zwei Tanten und GroBmutter v~terlicherseits sind Migraniker; Vater Adipositas; eine der Tanten Basodow- operiert, die andere kinderlos verheiratet. Das alteste Kind hatte doppelseitige Hasenscharte, durchgehende Gaumenspalte und Zwischenkiefer. Otiatrischer Befund regelreeht; es spricht mit 3 Jahren noch nicht, keine ganz sicheren Reak- tionen auf Geh6rsreize, Kitzelreflex vorhanden. Daneben besteht noch jetzt Mangelhaftigkeit der Gleichgewichtshaltung fiir Stehen; kein Nystagmus. Das zweite Kind ist durchaus wohlgebildet; es machte mit etwa 1--2 Lebenswochen einen akuten allgemeinen Schw~chezustand h6chsten Grades durch, bei dem lang- same bzw. besehleunigte Atmung, wechselnde Cyanosen verschiedener KSrper- regionen und stark verfatlenes Aussehen die einzigen Erscheinungen waren. Nach ganz kurzer Krankheitsdauer trat regelrechte Entwicklung ein; es ist heute 2 Jahre alt, Dentition und Sprache, Trophik und Motorik, Temperament, Periodik der vegetativen Funktionen, Ern~hrungszustand v611ig regelreeht.

Das dritte Kind, yon dem die Rede sein soll, wurde nach regelreehter Schwanger- schaft und kurzer Geburtsdauer wohlgebildet geboren. Die Nahrungsaufnahme war regelreeht. Vor 4 Tagen (29. X.) fielder Mutter eine Art Zwangshaltung der Ober- arme auf: die Arme wurden an den K6rper gedrtickt gehalten, bei stark gebeugten Unterarmen und flektierten, etwas ulnargedrehten ]-I~nden, wie es in Bin9, Kom- pendium der topischen Gehirn- und Riickenmarksdiagnostik (4. Aufl.), S. 67, als Zwangshaltung bei Litsion des 7. Cervicalsegments abgebildet ist. Die Schild- dr~tse ist nicht tastbar, nicht sichtbar; die Trachea ist bis unter die Incisura sterni leicht tastbar. Alsbald entwiekeln sich spastische Zustande auch der unteren Extremithten, sowie Kr~mpfe, die die gesamte Muskulatur des K6rpers betrafen; das Kind erlag nach 3ti~giger Krankheitsdauer, bei beschleunigter oberfl~tchlicher Atmung, unter Erhaltensein der wesentlichen Sehnenreflexe, ohne dal~ Paresen hinzugetreten w~ren. (5./6. XI.)

Etwa 24 Stunden vor dem Tode traten innerhalb anderweitiger Krampf- zust~nde zwei Arten yon Bewegungsrhythmen auf, die je 11/2 bzw. 21/2 Stunden ohne Unterbrechung und ohne J~derung anhielten. Naeh subcutaner Injektion von insgesamt 0,6 Magnesiumsulfat liel]en die Krhmpfe langsam nach. Der Stuhl-

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gang war anfangs etwas gallig, aber gut verdaut, gut geformt, bis zuletzt ohne Zeichen yon Darmerkrankung, ebenso blieb die Nierent/~tigkeit und d~e I-Ierz- aktion gut. Der Tod erfolgte unter zunehmender Schw~ehe, ohne dab Fieber bestanden hatte, ohne Alterationserscheinungen.

Die Bewegungsrhythmen zeigten folgende zwei Arten. 1. Es bestanden neben starr aufgerissenen Augen, mittelweiten lichtstarren

Pupillen, rundlich verengtem Mund und wechselnden Kr/~mpfen des Zwerehfells sowie der Stimmb/inder (zum Teil mit inspiratorischen, zum Teil mit exspira- torisehen, einmal mehr ,,Schluckauf"-ahnlichen, dann mehr seufzer- und ,,Cri- encephalicine"-Khnlichen Lautgebungen), bei Fortdauer der Zwangshaltung der Arme und einer entsprechenden beider Beine, ohne dab in diesen Gebieten klonisehe oder tonische Zuckungen im geringsten vorhanden waren, eigentiimliche drehende Bewegungen der gesarnten Gliedmaflen. Und zwar drehten sich sowohl die F~uste wie auch die Ellenbogen, entsprechend die Fersen und die Knie, im Drehungssinne der Mahlbewegmlg, aber so, daft rechts rechtsherunl und links linksherum drehte. Diese Drehungen waren langsam, etwa in 2 Sekunden einmal. Die Enden der Glied- maBen beschrieben kleine Kreise, oben wie unten yon etwa 2 cm Durchmesser, doch so, dab die proximalen Kreise um etwas kleiner waren wie die distalen. Dabei wurden die Hande fest faustgeschlossen gehalten, die FiiBe entsprechend adduziert, die Zehen flektiert. Die Flexion im Ellenbogengelenk war maximal, die der Knie- gelenke dagegen nicht. Der Leib wies keine Einziehung auf.

2. Hiernach kam eine Periode yon rhythmischen klonischen Zuckungen der gesamten Willkiirmuskulatur von oben angegebener Dauer. W/~hrend dieser Zuckungen waren Drehbewegungen nicht zu bemerken. Dagegen zuekten, in der Sagittalebene, klonisch, mit etwa 2 cm Ausschlagsbreite, und v611ig synchron : aufler den wie ,,Haltungseinheiten" in der erstbeschriebenen Stellung verharrenden Extremi- tditen: Stirnmuskulatur, mitunter Gesichtsmuskulatur ohne Stirnmuskulatur ge- sondert, Gesiehtsmuskulatur ganz, die Bulbi, beiderseits synchron, ohne Lidschlag; entsprechende Kop/bewegungen bestanden auch, zwar gering, aber v611ig deutlich als selbst~indige Bewegungen, nicht als fortgeleitete Erschiitterungen. Die Bulbi vollfiihrten Zuckungen, die als unvollst/~ndiger Nystagmus verticalis beschrieben werden k6nnten; anscheinend ging die Zuekungsrichtung nach unten, es war aber nieht deutlich zu unterscheiden. W/~hrend dieser Zuekungen konnte man yon ,,vermehrtem Tonus" der zuekenden Muskeln, aber nieht yon tonischer Starre reden. Vereinzelte kurzdauernde Zitterbewegungen der Hande kamen im Intervall zur Beobachtung. Jedesmal war die Einfiihrung eines Saugers mit starkem beiderseitigen gleichstarken Strabismus convergens verbunden. Der Lidschlag war sehr selten, Cornealreflex vorhanden, aber sehr versp/~tet. Chvostek war wahrend der AnfMle nieht ausl6sbar.

Beide Artender Bewegungsrhythmen gingen teils mit, teils ohne cyanotische und wechselnde Verfarbungen an verschiedenen K6rperregionen einher; diese Cyanosen trafen zeitlieh nicht mit den Krampfparoxysmen zusammen, waren teils langdauernd, teils fliichtiger, und auffallend fief.

Es ist noch nachzutragen, daft wahrend der Drehbewegungen die Zunge syn- chron nach vorn und hinten gezogen wurde; 91eich/alls hiermit synchron bestand eine Art wellen]6rmigen Wogens, dessen Beginn (ob Spitze oder Zungengrund) nicht zu bestimmen war. Wdihrend der ExtremitditendrehbeweTtngen wurde in keiner Weise weder geschluekt noch phoniert.

Der eine der beschriebenen Bewegungsrhythmen ist ein vSlliges Ana-

logon zu den yon Paul Schu.~ter-Berhn, im September d. J . auf dem

Danziger Neurologentag kinematographisch vorgefiihrten, vermit tels , ,Zeitlupe" analysier ten BewegungsstSr~ngen bei Cerebellarerkrankung,

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wie sie in der gleichen Sitzung auch Goldstein-Frankfurt, besprach. Der Cortex kann im Lebensalter von 4 Wochen nieht wohl die Matrizen ffir diese Bewegungen besessen haben. Somit bleibt, da wesentliche Ano- malien des Tonus, vor Mlem im Krampfintervall, nicht bestanden, nur ein cerebellarer Ursprung anzunehmen. Die Art der vorliegenden Er- krankung ist nicht sicher zu entscheiden; hier kommt Heine-Medin und v. Economo sowie aueh Polioencephalitis in vermehrter H~ufigkeit vor, und zweifellos sind im Verlauf auch Zfige hiervon ; aber trotz nega- tiven Chvostek und trotz kurzer Krankheitsdauer mug doch aueh in Anbetracht des Erbgangs, des Schilddrfisenbefundes und des fehlenden Fiebers an Tetanie gedacht werden. Aber das bleibt sieh ffir diejenigen Uberlegungen ziemlich gleich, die wir fiber den Ursprungsort der ]le- wegungsrhythmen anzustellen haben.

Das Verhalten der Phonation hat eine besondere Bedeutung ftir die Beurteilung des Verhi~ltnisses der cerebellar-gangliii.ren Leistungen zu den kortikozentralen. Auch dieser Fall spricht ffir meine a. a. O. aus- gesproehene Annahme, dab sowohl der ,,Cri encephalique" wie der erste Schrei des Neugeborenen in/racorticale Zusammenschaltungen volt expressiver Atmung, Tonbildung und artikulatorischer Mitbewegung voraussetzen. Betrachtet man die zweite Gruppe der in diesem FMle vorliegenden rhythmischen universellen Bewegungen, so kann man sich der Annahme nicht versehlief~en, dab dieser ,,Nystagmus universMis" cerebellar bedingt sei, und zwar dureh cerebellare Tonusstd/de gegeni~ber einem wahrscheinlich gleich/~ils cerebellaren, in diesem Fall yon ibm /un!ctionell zusammenhangsgestdrten allgeme.in so~;~atotopischen Motori,um. Ich bin geneigt, ffir die Drehbewegungen das Fortbestehen yon An- lagen anzunehmen, die Matrizen ffir eine Art Peristaltik der Bewegungen auch im Lebensalter von 4 Wochen noch darstellen. Jedenfalls ist die mitgeteilte Beobaehtung geeignet, hervorzuheben, dag die fertige Will- kiirbewegung, die yore ausgewachsenen Menschen auf Grund eines (corticalen) vorgestellten Bewegungsentwurfes ziel-, tonus- und rhyth- musgereeht ausgeffihrt wird, bereits eine Anz~hl yon tieferstehenden Automatismen vorfindet, fiber die sie sich, wie die endgfiltige Physio- gnomie der Waehsbfiste sich fiber immer einfachere Sehichten bis zur Grundmatrize modelliert, gewissermalten segmentartig oder schiehten- weise fiberlagert. Der mitgeteilte Fall liigt aueh die Annahme zu, dati wit nieht nur somatotop gegliederte Tonusmatrizen (Striatum-Pallidum), sondern auBer somatotop statischen auch rhythmische haben; diese letzteren treten aber im Leben unter normalen Verhi~ltnissen nieht ge- sondert in Erscheinung. Anscheinend gilt, soweit dieser Fall, der aus iiugeren Grfinden post mortem nieht weiter untersucht werden konnte, Schlugfolgerungen zulitgt, dies nicht ffir die Grundlagen der Willktir- spraehe, obgleieh theoretisch etwas Ahnliches zu fordern ware.