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Uber St6rungen der Tiefensensibilit~t bei peripheren Schiidigungen. Von Dr. Reinhard Krambach. (Aus der Nervenpoliklinik von Prof. Cassirer.) (Eingegangen am 14. Mai 1920.) Unsere Kenntnis vom Verlauf der Nervenfasern im Riickenmark, die der Zuleitung der verschicdenen Qualit~ten der Sensibilit~t zum cerebrum (und cerebellum) dienen, macht die Dissoziation der StSrungen der Oberfl~chensensibiliti~t und der Tiefensensibilit~t bei manchen spinalen Erkrankungen hinreichend verst~ndlich. W~hrend der Leitung der Berfihrungsempfindung sehr viele oder gar jeder (Mann) zentri- petale Weg zur Verffigung zu stehen scheint, verlaufen die Bahnen ffir K~lte, W~rme und Schmerz nach einer Unterbrechung in der grauen Substanz des Hinterhorns im kontralateralen Vorderseitenstrang, die Bahnen ffir die Tiefensensibilit~t im wesentlichen ungekreuzt im Hinter- strang (ein Tell in dcr Kleinhirnseitenstrangbahn). Diese Verschleden- heir in der r~umlichen Anordnung der Fasern ffir die einzelnen Qualit~ten der Sensibilit~t im Rfickenmark bewirkt bei elektiver (entzfindlicher oder degenerativer) Strangsch~digung oder bei partieller, in der Aus- dehnung begrenzter L~sion des Querschnitts ein ganz ungleichm~i~iges Betroffensein der sensiblen Qualithten dutch die Erkrankung und den Unterschied im Verhalten yon Oberflhchen- und Tiefensensibilit~t bei Tabes dorsalis, Syringomyelie, Sclerosis multiplex, L~hmungen vom Typus B r o w n - S ~ q u a r d und bei Tumoren des Rfickenmarks und seiner Htillen. Geringer ist unser Wissen fiber den Verlauf der Fasern der Tiefen- sensibilit~t auBerhalb des Rfickenmarks. Dai~ sie sich nicht den Nerven der Oberfl~chensensibilit~t anschlieI~en kSnnen, ist klar. Man nimmt allgemein an, da~ sie zusammen mit den motorischen Muskelnerven verlaufen. Den Nachweis, dal~ sich den motorischen Fasern rezeptorische anschlie~en, hatte 1895 Sherrington experimcntell erbracht. Die reichen Erfahrungen, die die Kriegsverletzungen machen lieBen, lehrten einige Einzelheiten des l~aserverlaufs. Nach L eh m a n n bekommen die Zehen ihre Gelenkfasern durch die iN. digitales proprii mediales und laterales. Ffir die Gelenke yon Daumen, Zeige- -und Mittelfinger ver-

Über Störungen der Tiefensensibilität bei peripheren Schädigungen

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Page 1: Über Störungen der Tiefensensibilität bei peripheren Schädigungen

Uber St6rungen der Tiefensensibilit~t bei peripheren Schiidigungen.

Von Dr. Reinhard Krambach.

(Aus der Nervenpoliklinik von Prof. Cass i rer . )

(Eingegangen am 14. Mai 1920.)

Unsere Kenntnis vom Verlauf der Nervenfasern im Riickenmark, die der Zuleitung der verschicdenen Qualit~ten der Sensibilit~t zum cerebrum (und cerebellum) dienen, macht die Dissoziation der StSrungen der Oberfl~chensensibiliti~t und der Tiefensensibilit~t bei manchen spinalen Erkrankungen hinreichend verst~ndlich. W~hrend der Leitung der Berfihrungsempfindung sehr viele oder gar jeder (Mann) zentri- petale Weg zur Verffigung zu stehen scheint, verlaufen die Bahnen ffir K~lte, W~rme und Schmerz nach einer Unterbrechung in der grauen Substanz des Hinterhorns im kontralateralen Vorderseitenstrang, die Bahnen ffir die Tiefensensibilit~t im wesentlichen ungekreuzt im Hinter- strang (ein Tell in dcr Kleinhirnseitenstrangbahn). Diese Verschleden- heir in der r~umlichen Anordnung der Fasern ffir die einzelnen Qualit~ten der Sensibilit~t im Rfickenmark bewirkt bei elektiver (entzfindlicher oder degenerativer) Strangsch~digung oder bei partieller, in der Aus- dehnung begrenzter L~sion des Querschnitts ein ganz ungleichm~i~iges Betroffensein der sensiblen Qualithten dutch die Erkrankung und den Unterschied im Verhalten yon Oberflhchen- und Tiefensensibilit~t bei Tabes dorsalis, Syringomyelie, Sclerosis multiplex, L~hmungen vom Typus B r o w n - S ~ q u a r d und bei Tumoren des Rfickenmarks und seiner Htillen.

Geringer ist unser Wissen fiber den Verlauf der Fasern der Tiefen- sensibilit~t auBerhalb des Rfickenmarks. Dai~ sie sich nicht den Nerven der Oberfl~chensensibilit~t anschlieI~en kSnnen, ist klar. Man nimmt allgemein an, da~ sie zusammen mit den motorischen Muskelnerven verlaufen. Den Nachweis, dal~ sich den motorischen Fasern rezeptorische anschlie~en, hat te 1895 S h e r r i n g t o n experimcntell erbracht. Die reichen Erfahrungen, die die Kriegsverletzungen machen lieBen, lehrten einige Einzelheiten des l~aserverlaufs. Nach L eh m a n n bekommen die Zehen ihre Gelenkfasern durch die iN. digitales proprii mediales und laterales. Ffir die Gelenke yon Daumen, Zeige- -und Mittelfinger ver-

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laufen die Fasem in der Regel im Medianus, fiir den 4. und 5. Finger im Ulnaris, doch werden die Gelenke yore 3. und 4. Finger manchmal yon beiden •erven versorgt, oder diese treten fiir einander ein. Nach F o e r s t e r verlaufen dann die Fasern ffir die Tiefensensibiliti~t mit den Sehnen in die Gelenke, so dab z. B. tiefsitzende Ulnarisverletzungen nicht zu StSrungen der Tiefensensibilit~t ftihren, wenn nicht die Sehnen mit verletzt sind.

:Die zur Bewegung eines Gelenkes gehSrigen Muskeln beziehen ihre Innervation oft yon mehreren peripheren Nerven; so kommt es, dab einerseits die L~sion eines Nerven StSrungen der Tiefensensibilit~t nicht in die Erscheinung treten l~[tt, anderseits bei Verletzungen eines Nerven- stammes die Intensit~t der StSrungen der Hautsensibiliti~t die des Lage- und Vibrationsgeffihls wesentlich fibertrifft. L e h m a n n land bei iso- lierten Verletzungen des Peroneus und Radialis hie StSrungen der Tiefen- sensibilit~t, merkwfirdigerweise aber bei Tibialisverletzungen. Um diesen Befund zu erkli~ren, nimmt er an, dab die vom Peroneus ffir die Zehengelenke gleichzeitig gelieferten, anatomisch nachweisbaren Fasern nicht der Vermittlung der Tiefensensibilit~t, sondern irgend welcher unbekannter, nicht zum Bewu~tsein kommender Reize diene. Von F o e r s t e r wird die Richtigkeit der Befunde, soweit sie den Tibialis be- treffen, bezweifelt. Er konnnt zu dem Ergebnis, dal~ bei Unterbreehun- g e n d e r peripheren Nerven so gut wie gar keine StSrungen der Tiefen- sensibilit~t auftreten, solange einer von den das Gelenk versorgenden Nerven noch vorhanden ist : ist also der Ulnaris durchtrennt, so resultiert Lagegeffihlst5rung nur in den Gelenken des kleinen Fingers, denn die des 4. versorgt der Medianus mit. Bei Medianusdurchtrennung fehlt die Gelenkempfindung nut in den Mittelphalangen des 1. und 3. Fingers, well an der Gelenkversorgung des 4. Fingers und des Daumens Ulnaris und Radialis beteiligt sind. Da die Daumengelenke gleichzeitig vom Medianus versorgt werden, haben Radialisverletzungen iiberhaupt keine StSrungen der Gelenkempfindung zur Folge, ebenso isolierte Verletzungen des Peroneus oder Tibialis, da die Zehengelenke yon beiden Nerven gleichzeitig versorgt werden. Hingegen fiihrt Ischiadicusdurchtrennung nattirlich zur Aufhebung der Tiefensensibilitiit im Ful~gelenk und den Zehen, ein Befund, der bereits von M a n n erhoben worden war. E d i n g e r meint, daI~ die plurinervSse Innervation eine der funktionellen Wichtig- keit der Hand- und Ful3gelenke entsprechende Sicherung der Inner- vationsmSglichkeit darstelle.

Parallelismus zwischen Oberflhchen- und Tiefenan~sthesie besteht bei Durchtrennung des ganzen Plexus. Das gleiche ist der Fall bei manchen Fhllen yon Polyneuritis, die wegen des im Vordergrund stehenden Symptoms der statischen Ataxie - - einer Folgeerseheinung der hochgradigen Beeintr~chtigung oder des Verlustes der Tiefen-

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. L I X . 18

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sensibilit~t - - von D e j e r i ne unter dem Namen der Neurotabes peri- pherica zusammengefaBt wurden. Bei ihr sind alle Hautqualit~ten ge- stSrt, regelmi~Big findet sich eine sehr bedeutende Herabsetzung des Muskel- und Gelenkgefiihls, wi~hrend die Muskelkraft erst bei li~ngerem Bestehen der Krankheit leidet. Sehr oft werden an Athetose erinnernde Bewegungen gefunden, bei intensiveren Fi~llen auch Astereognose. L e y d e n fand das Riickenmark im Gegensatz zur Tabes bei Neurotabes peripherica frei, aber Ver~nderungen am peripheren Nervensystem. ]ndessen meint W e r t h e i m - S a l o m o n s o n , es best~nde unter Berfick- sichtigung der spi~ter bei zahlreichen Polyneuritiden erhobenen patho- logischen Befunde im Rfickenmark, Grund zu der Annahme, dab bei einer ausgesprochenen Neurotabes auch die Hinterstr~nge an dem Prozel~ teiln~hmen. In i~tiologischer Hinsicht geh5ren die F~lle yon Neurotabes zur Polyneuritis nach Diphtherie und Diabetes. Einzelne F~lle sind noch beschrieben nach Erk~ltungen und Intoxikationen mannigfacher Art (Alkohol, Arsenik [Dana]).

Unterschiede im Grad der StSrung yon Oberfl~chensensibilit~t und Tiefensensibilit~t sind infolge der plurinervSsen Innervation der Ge- lenke die Regel. Mauss und K r i i g e r z. B. fanden den Ausfall der Tiefensensibilit~t meist in erheblichem Ma~e graduell hinter den fibrigen Qualit~ten der Sensibilit~t zurfickstehend. Ein Uberwiegen der StSrung der Tiefensensibilit~t fiber die der Oberfl~chensensibilit~t ist wesentlich seltener. Nach F o e r s t e r "kaun bei Vertetzungen des Plexus trotz normaler Hautsensibilit~t das Lagegeffihl gestSrt sein, gelegentlich auch bei hochsitzenden Verletzungen peripherer Nervenst~mme. Besonders bei der Restitution sensibler StSrungen kommt es zu Dissoziation yon Oberfli~chen- und Tiefensensibilit~t. Nach S alo m on beginnt sich die grobe Sensibilit~t, Drucksinn, Schmerz- und Temperaturempfindung schon vom 3. Monat an zu bessern und ist nach einem Jahr meist wieder- hergestellt; dagegen ist die feine Berfihrungsempfindung, Gelenk- und Muskelsinn, Stereognose und Lokalisation oft nach zwei Jahren noch nicht nachweisbar; am frfihesten scheine hier der Gelenksinn zu kommen. Nach F o e r s t e r bleibt das Lagegeffihl oft sehr lange ffir sich gestSrt. Nach Wiederherstellung der Beriihrungsempfindung bleiben noch StSrungen des LokalisationsvermSgens und St5rungen auf dem Gebiete des r~umlichen Erkennens zurtick. Ich habe einen Fall beschrieben, bei dem ohne direkte Verletzung der Wirbels~ule eine Parese der von C5--C ~ versorgten Muskeln bestand und im gleichen sensiblen Wurzel- gebiet Hypi~sthesie ffir alle Qualit~ten der Oberfl~chensensibilit~t und vSllige Ani~sthesie der Tiefensensibiliti~t. Bei dem Fall war besonders auffallend die scharfe Abgrenzbarkeit der letzteren (was die Aufhebung der Gelenksensibiliti~t betraf), durch im gleichen Gebiet sich zeigende athetotische Bewegungen und Stereoan~sthesie, so daft kleiner Finger

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und Goldfinger freiblieben. Mit Rticksichg auf spast ische P h i n o m e n e war die Wahrsche in l ichke i t sd iagnose zentra le Nekrose oder Hi~mato- myel ie in H6he von C5--C 7 geste l l t worden; doch war die M6gl ichkei t einer Wurzel l~s ion oder Schi~digung der p r i m i r e n Plexusst~tmme n i ch t v o n d e r H a n d zu weisen.

I m folgenden teile ich zwei :Fi~lle per ipherer Sch id igung des Armes mit , bei der schwere StSrungen der T ie fensens ib i l i t i t und Athe tose d e m K r a n k h e i t s b i l d einen charakter i s t i schen S tempel aufdr i icken:

I. Edmund F., Musketier, 30 Jahre alt (1900 Lues, 1914 zwei Quecksilber- kuren, 191~ Salvarsankur, danach Wassermann ncgativ), wurde am 4. XI. 16 durch I.-G. am rechten Hals und Brust verwundet. Sofortige Lihmung des rechten Armes, Schmerzen in dcr rechten Brustseite beim Ticfatmen (infolge eines Blut- ergusses im reehten Brustfellraum), einen Tag sp~ter Hciserkeit. Nach seinen Angaben einige Wochen spSter Erysipel. Anfangs auch Kribbeln in der rechten grol3en FuBzehe, das nach 2 Monaten nochmals auftrat. 41/~ Monate nach der Verwundung (21. III . 17) zeigte er bei der Lazarettaufnahme folgenden neuro- logisehen Befund: Einschu~narbe in der Mitte des rechten Sternocleido, Aus- sehuilnarbe am rechten unteren Sehulterblattwinkel. Rechte Lidspalte und Pupille etwas enger als linke. Beim miihsamen Drehen des Kopfes nach links Spannungs- gefiihl und Schmerzen. Kopfneigung nach rechts m6glich. Druek auf die rechte Aul~enseite des Halses erzeugg Hustenreiz. Rechte Halsgegend ctwas vorgctrieben; dort keine Pulsation fiihlbar. Rechter Radialisptfls etwas kleiner als linker. Schul. terheben rechts gelingt. Im Deltoideus, der schon etwas wirkt, fibrillire Zuckungen. Beugung des Untcrarmes fchlt, doch spannt sich dcr Biceps sicher schon etwas an; ebenso der Triceps. Alle Bewegungen in den iibrigen Muskeln sind mit verminderter Kraft m6glich. AusgcprSgte statische Ataxie dcr Hand. Sensibilitit: subjcktiv Schmerzen im Arm, die aber wesentlich besser geworden sein sollen. Objektiv: Sensibilit~tsstS,ung an dcr ganzen Innenseite des Obcrarmes, des Unterarmcs und der ganzen Hand. Nur im Radialisgebiet ist die Scnsibilit~itsstSrung geringer; sie seheint einen segmentalen Typus zu haben. Schwcre LagegefiihlsstSrung in der reehten Hand. Gegcnst~nde wcrdcn nicht erkannt. Rcchter Oberarm, Unterarm und Hand sind stark atrophisch. Elektrisch: partielle Ea.-R. in den betroffenen Muskeln, nur im Biceps und Supir~ato_,' totale Ea.-R.

Sehnenreflexe am rechten Arm fchlen. Links alle vorhanden. Achillesphino- mene beiderseits sehr lebhaft, Zchenreflexc beidcrseits plantar. Keine spastischcn Ph~nomcne. Bauchdeckenreflexe beiderseits vorhanden, der reehte vielleicht ctwas schw~cher.

An den Beinen (und dem linken Arm) Motilit~t, gesamte Sensibilit~t (Be- riihrung, Schmerz, Temperatur, Lagegcfiihl) ohne StSrung; kcine Ataxie. -- In der RSntgenaufnahme yon vorn nach hinten erscheint der 5. Halswirbel verkiirzt.

Der Befund am 10. IV. fal]t zusammen: Starkc Parese der Erbsehen Muskeln und im Triceps. Geringe Parese in den iibrigen Armmuskeln. Sensibilit~tsst6rung fiir Pinsel in den unteren cervicalen Segmenten (C6--D1). Im selben Gebiet schwere Analgesie und EmpfindungsstSrung fiir heil~ und kalt. Sehr schwere Lagegefiihls- stSrung in den Gelenken der oberen Extremit~t in ganz auBergew6hnlicher Inten- sitar bis zum Ellbogengclenk. Ausgesprochene statische Ataxie der rechten Hand. Aulhebung des Vibrationsgefiihls im rechten Arm. Gibt an, ein pelzartiges Gefiihl in der rechten Hand zu haben.

In der Folge bessert sieh die Bewegungsf~higkeit ziemlich schnell, w~hrend die SensibilitiitsstSrung, insbesondere die LagegefiihlsstSrung, konstant bleibt.

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Die Krankengeschichte hebt framer wicder die dauernden, ungewollten (als Pseudo- spontanbewegung bezeichneten) Bewegungen der Hand und der Finger hervor, die den'Pat, am meisten bel/istigen. Am 12. VIII. 17 (a/4 Jahr nach der Ver- wundung) wird als Schlul3befund erhoben: Erheben in der Schulter mit ziemlich guter Kraft, Drehbewegungen mit roller Kraft. Pectoralis vollkommen kr/~ftig. Bcugung des Unterarmes durch Biceps. Triceps wirkt in allen Teilen, wenn auch noch paretisch. Supinator vermgt im we~entlichen. Supination der Hand gut. Extension yon Hand und Fingern fast gut. Beim H/indedruck ger/it die Hand noch immer etwas in Beugestellung. Die gesamte Ulnarismuskulatur wirkt gut. In der Extensoreng~uppe des Untera rues und im Deltoideus fiblilli~res Zittern; auch im Supinator longus einige fibrill/ire Zuckungen. Muskulatur des ganzen rechten Armes ziemlich ~tark atrophisch. Spannende und ziehende Empfindungen im rechten Arm, abet keine Schmerzen. Die Sensibilit~tsstSrung fib' Pinsel entspricht noch ganz der friiheren; ebenso die fiir Nadelstich. Tiefe Nadelstiche werden im Ulnarisgebiet der Hand als unangenehm schmerzhaft empfunden. Die St6rung des Temperatursinns ist eher noch ausgedehnter als die fiir Schmerz. Er macht die Angabe, dal~, wenn er kalte Gcgenst~nde anfaf~t, er dann die K/ilte empfindet, w/ihrend er bei der Priifung hei[~ und kalt sicher nicht unterscheidet. Er ist aber auch heute imstande, flieflendes Wasser als solches zu erkennen. An Hand und lfingern werden irgendwelche Lagevcriinderungen nicht wahrgenommen, auch im Ellbogengel~nk werden noch starke Muskelbewegungen gefiihlt. Die Vibrations- empfindung ist his auf die Mitte des Oberarmes aufgehoben. Man sieht dauernd die ungewollten Bewegungen, die geradezu etwas athetoides haben.

Elektrisch finder sich nur noch im Supinator longus Ea.-R. In den iibrigcn Erbschen Muskeln nur noch einfache Herabsetzung. Keine trophischen St6- rungen an der Hand und keine vasoinotorischen StSrungen.

II. Wilhehn L., Maurer, 62 gahre alt (Vorgeschichte ohne Belang) fiel am 20. August 1918 beim Zusammenstiirzen vines Ger(istes drei Stockwerk auf das Pilaster ab, war bewufltlos. Beim Erwachen nach ctwa einer Stunde war der rechte Arm im Schulergelenk ausgerenkt und im ganzen unbeweglich. Zwei Tage sp~ter wurde der Arm im Krankenhause eingcrenkt und fiir etwa 14 Tage durch Verband ruhiggestellt. Die Gebrauchsf/~higkeit des Armes erfuhr abet in der Folgezeit keine wesentliche Bcssel~ng. Nach 8 Monaten (12. VI. 19) fand sich: Extreme Abmage- rung der Unterarmsmuskulatur, Atrophie der kleinen Handmuskeln; alle Be- wegungen in Hand und Fingern fehlen. Sensibilit/it im Ulnaris und Medianus gestSrt, abet doch noch erhalten. Nach weiteren 5 Monaten, w~thrend denen cine eingeleitete elektrische Behandlung kcine wcsentliche Besserung gebracht hatte, wnrde folgender neurologischer Befund erhoben (10. IX.) : E r bsche Muskeln in- takt, ebenso Tl~iceps; Extensoren der Hand und des D~umens paretisch; Pronation ziemlich gut; desgleichen Beugung der Hand. Beugung der Finger stark paretisch, alle kleinen Handmuskeln fehlen vSllig. Hat viol Schmerzen in der Hand, die framer kalt ist. Druck auf den Plexus ist iiberall schmerzhaft, abet der Schmerz strahlt nicht aus. Schwer abgrenzbare SensibilitiitsstSrung im Medianus und Ulnarisgebiet, es besteht eine Art Anaesthesia dolorosa. Auch das Lagegefiihl ist beteiligt. Extreme Abmagerung der Unte arm- und Handnmskulatur. Elektrisch in den langen B:ugern und Streckern der Hand und der Finger partielle Ea.R. In den kleinen Handmuskeln aufgehobene Reaktion. Es wurde darauf dem Pat. eine Operation vorgeschlagen. Sie erfolgte am 19. IX. 19 und ergab (inen vSllig negativen objektiven Befund (L~ngssehnitt obe halb der vorderen Achselfalte, LoslSsung des Pectoralis, der Plexus liegt in voller Ausdehnung his zum Wurzel- gebiet frei. Es linden sich an ihm kcine pathologisehen Ver~nderungen.)

Nach weiteren 6 Monaten, w~ihrend der sich der Pat. der Beobachtung entzog, ergab sich (10. III. 1920) folgender Befund: Narbe oberhalb der rechten vorderen

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Achselfalte reaktionslos verheilt. Die Bewegungen im Schultergelenk sind infolge Gelenkver/inderungen erheblich eingescl~riinkt. Deltoideus, Latissimus, Supra-, In- fraspinatus, Biceps, Triceps, Supinator longus spannen sich an. Funktion der Ell- bogenmuskulatur gut; Supination nur bis zur Mittelstellung. Beugung und Streckung der Hand mit gegen links herabgesetzter Kraft. Die Hand steht in leichter Krall !n- handstellung, die Finger werden im Mittelglied zum rechten Winkel gebeugt ge- harem Beugung und Streckung. der Finger in allen drei Gliedern mSglich, wenn auch mit herabgesetzter Kraft, ebenso Daumenbeugung in beiden Gliedern. Spreizung und Adduktion der Finger fehlen, ebenso Extension, Abduktion, Oppo- sition und Adduktion des Daumens. Bei ausgestrecktem ATm erfolgen, vom Pat. nicht bemerkt, fortw/ihrend Bewegungen im Daumen und Streck- und Beuge-, bisweilen auch geringe Spreizbewegungen in den Grundglicdcrn der 4 Finger. weniger in den Mittel- und Endgliedern; sie sind selten rasch, meist sehr langsam, tr/~ge, zSgernd, wurmfSrmig, athetotisch, tells in allen Fingern synchron, tells abweehselnd, mit nur geringen Differenzen in der Amplitude der Bewcgungen. Femer langsame Beuge- und Streckbewegungen im Handgelenk, yon denen Pat. auch nichts weill.

Sensibilit~t: Pinselberiihrungen werden tiberall gefiihlt; fiir Pinsel geringe I-Iyp/isthesie im Ulnarisgebiet der Handfl~che, ftir Nadel im gesamten Ulnarisgebiet der Hand und im Medianusgebiet der Hand. An Handfli~che und Handriicken leichte Thermhyp~sthesie (Sfters Fehlreaktionen bei der Unterscheidung yon warm und kalt). Die Abgrenzung der Oberfl~ehensensibilit~tsstSrung ist nicht deutlich; sie l~$t sich auf dem Unterarm nicht mehr mit Sicherheit naehweisen. Es besteht eine v611ige Aufhebung der Gelenkempfindung in den Daumen-, s/tmtliehen Finger- gelenken und im Handgelenk; im Ellbogengelenk werden Bewegungen erst bei groBen Winkel~nderungen bemerkt. Das Vibrationsgeftihl ist yon den Fingern bis iiber die H/~lfte des Unterarmes hinauf erlosehen. In der rechten Hand werdcn grSBere und kleinere Gegenst/inde nicht erkannt.

Trophik: Umfang des Armes 15 cm, obcthalb des Olecranon reehts 23 cm, links 24 cm; 12 em unterhalb des Olecranon rechts 22 cm, links 20 cm. Atrophie des Unterarmes, extreme Atrophic der kleincn Handmuskeln, insbesondere des Daumen- und Kleinfingerballens, die yon Muskeln fast entblSl3t scheinen.

Elektrisch: Faradische Erregbarkeit in Biceps und Deltoideus herabgesetzt; galvanisch blitzartig. An den Unterarmmuskeln starke Herabsetzung, aber ziem- lich rasche Zuckung mit iiberwiegender Kathode. In den kleinen Handmuskeln keine elektnsche Erregbarkeit mehr. Die indirekte Erregbarkeit ist starker herab- gesetzt als die direkte.

Aul~er groBer Trockenheit der Haut am rechten Unterarm keine trophischen StSrungen.

Nichts Spastisches in der rechten Armmuskulatur. Am linken Arm und den Beincn keine StSrungen yon Motilit/it und Sensi-

bilit/~t. Keine Symptome der Leitungsunterbrechung. P.S.R. lebhaft, r ~- 1, A.S.R. H-, Zehenreflexe plantar, keine spastischen Ph/inomene, Bauchdeckenreflexe H-, Cremasterreflexe ~- r ~ 1.

I n beiden Fa l l en is t die H6hendiagnose auf Schi~digung im Bereieh der von den un te ren Cervicalsegmenten ausgehenden Fase rn zu st~llen, und zwar ha t die L~sion die Cervicalwurzeln betroffen. Eine Ver- i~nderung im Rf ickenmark selbst is t bei dem st~ndigen vSlligen Feh len sp ina le r Le i tungss tSrung an Rumpf , Beinen und dem gesunden A r m n ich t anzunehmen. (Die zweimal auf t re tenden, ganz kurze Zeit be- s t ehenden Pari is thesien in der rech ten groBen Fuf~zehe im Fal l I s ind

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kaum zu verwerten.) Die Verlaufsrichtung des Schui3kanals in Fall I macht eine direkte Seh~digung der Wurzeln durch das Geschol3 wahr- scheinlich. In Fall I I wurden die Wurzeln durch den luxierten Humerus- kopf gezerrt. Bemerkenswerterweise wiesen aber makroskopisch Plexus und Wurzeln bei der bioptischen Kontrolle keine VerSnderungen auf. Die motorische Parese in Fall I betraf vor allem die Erbschen Muskeln und den Triceps ; a/4 Jahre nach der Verwundung ist sie bis auf den noch versagenden supinator longus so gut wie behoben. In Fall I I besteht eine vSllige Paralyse der kleinen Handmuskeln, die bei vSllig aufgehobener elektrischer Reaktion 11/2 Jahr nach dem Unfall keine Besserung er- fahren hat. Die anfangs vorhandene Parese der langen Beuger und Strecker ist gebessert.

Eigentliehe Schmerzen st~rkeren Grades fehlen in beiden F~llen. Die StSrung der Oberfl~chensensibilit~t bleibt wahrend der ganzen Beobachtungszeit in Fall I konstant. Sie betrifft die Wurzeln Cs--D 1, reicht also weiter abwarts als die motorische Schadigung. Sie ist hoeh- gradig bis zur Anasthesie, erstreckt sich auf samtliche Qualitaten und hat nur noch Reste yon Empfindungsfahigkeit (Temperatur flieBenden Wassers, Geftihl bei tieferen Nadelstichen) erhalten gelassen. In Fall I I besteht fiir keine Qualit~tt der Oberflaehensensibiliti~t Ani~sthesie, die Hypiisthesie ist nicht erheblich und erstreckt sich nur auf die Hand, ohne die MSglichkeit exakter Abgrenzung.

Anders die Tiefensensibiliti~t. Die Intensit~t ihrer StSrung ist auf- fallend grolt. Das Vibrationsgeftihl ist nach R e d l i c h kein einheitliches Geftihl, sondern eine Funktion der den Knochen bedeekenden Weich- teile, der t tau t und der tiefen Teile. Diese sollen, da das Vibrationsgeftihl dem Drucksinn relativ am nachsten steht, yon grSi3erer Bedeutung sein als die Haut selbst. In unseren Fallen folgt die St5rung des Vibrations- geffihls weder den Grenzen der Hautempfindungs- noch der Tiefen- sensibilitatsstSrung. In Fall I ragt seine Aufhebung tiber die Grenzen der StSrung des Gelenkgeftihls hinaus und bleibt hinter der Oberflachen- sensibilitatsstSrung zuriick. In Fall I I iibertrifft die StSrung des Vibra- tionsgeftihls die der Oberflachensensibilitat an Ausdehnung. Das Geftihl ftir Gelenkbewegungen ist in beiden Teilen in Fingergelenken und Hand- gelenken erloschen, im Ellbogengelenk c~eutlich herabgesetzt. In Fall I I ist also das Tiefengeftihl in ganz besonders erheblicherem MaBe gest6rt als die Oberflachensensibilitat. Ein ahnlicher Befund wurde yon Ni e s sl v. Ma ye n d o r f f in einem Falle yon Tastblindheit nach Schul3verletzung der hinteren Wurzeln erhoben. Die Unfahigkeit, in die Hand gelegte Gegenst~nde durch Betasten zu identifizieren, die in unseren beiden Fi~llen festzustellen war, fassen wir al~ eine direkte Folge der Aufhebung der Gelenkempfindung auf, also als eine Stereoan~sthesie. N iess l v.

a y e nd o r f f setzt diesen Ausfall der eigentlichen Astereognose gleieh ;

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er meint, dal~ Agnosien nicht zentrale StSrungen zu sein brauchen, sondern dab ,,Ausf~lle an der taktilen Peripherie bzw. der Leitungen derselben, welche eine EinbuBe des feineren Ortssinnes der Haut zur Folge haben, hinreichen, um das normale Tastbild schwer zu entstellen und unkenntlich zu m achen, auch wenn alle Empfindungsqualit~ten an der Peripherie verh~ltnismi~Big gut erhalten sind".

Die athetotischen Bewegungen, die in beiden Fi~llen besonders ins Auge fielen und im Fall I das subjektiv am meisten stSrende Symptom waren, Sind im wesentlichen Phi~nomene der statisehen, sensorisehen Ataxie. Es sind die Spontanbewegungen O p p e n h e i m s , die pseudo- athetotischen Spontanbewegungen von E u p h e mi u s t t e r m a n.

In ihrer Erscheinungsform gleichen sie durehaus der Athetose bei eerebralen Erkrankungen und selteneren Befunden bei spinalen Er- krankungen (Syringomyelie, multiple Sklerose und besonders bei Tabes (Rosenbaeh ) ) . Mit der letzteren haben sie das Betroffensein der distalen Gliedabsehnitte gemein. F.s erscheint fraglieh, ob der Ausfall der Meldungen yon der Peripherie an das Cerebrum v o n d e r Lage der distalen Gliedabsehnitte allein ausreicht, die charakteristisch langsamen, rhythmisehen, bizarren, wurmfSrmigen Bewegungen zu erkli~ren. Es ist denkbar, dab zu ihrem Zustandekommen auBer dem Ausfall zentri- petaler Reize noch ein bestimmter Grad yon Schi~digung der motorisehen peripheren Nerven n6tig ist.

Unsere beiden F~lle sind geeignet, zur Kenntnis v o n d e r ri~umlichen Anordnung der verschiedenen Fasern in den extravertebralen Wurzeln (oder prim~ren Plexusst~mmen) des Cervicalmarkes beizutragen. Ftir die Annahme einer intravertebralen Wurzelsch~digung vor der Ver- einigung yon vorderer und hinterer Wurzel, die im Foramen interverte- brale erfolgt, fehlen alle Grundlagen. Es ist bekannt, dab die Fasern der Oberfl~chensensibilit~t in den peripheren Nerven ri~umlich zusammen- geordnet liegen und sich nicht unter die motorisehen Fasern mischen. :Die Fasern, die die Tiefensensibilit~t vermitteln, hingegen sehlieBen sich peripherw~rts den motorischen Fasern an, um mit ihnen zu den Muskeln und dann durch die Sehnen an die Gelenke zu gelangen.

Die beiden mitgeteilten Fi~lle, in denen Motilit~t, Oberfl~chen- sensibiliti~t und Tiefensensibiliti~t in so versehiedenem MaBe betroffen sind, zeigen, dab in den extravertebralen Wurzeln und den Plexus- st~mmen auf dem Quersehnitt die Fasern fiir Oberfli~chensensibiliti~t ri~umlich getrennt von denen ftir Tiefensensibiliti~t liegen und dab die Angliederung der Gelenkfasern an die motorisehen Fasern distal yon den Li~sionsstellen statthat.

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280 H. Krambach : StSrungen der Tiefensensibiliti~t bei peripheren Schltdigungen.

L i t e r a t u r v e r z e i e h n i s .

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