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794 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 76 (2007), Heft 11 Aufgrund der vergleichsweise großen Schlankheit niedriger Ver- bundträger wird bei diesen Trägern in sehr vielen Fällen die Einhal- tung von Verformungsgrenzwerten querschnittsbestimmend. Das Verformungsverhalten dieser Träger wird dabei wesentlich durch die große Biegesteifigkeit des Betongurts und dessen Rissbildung bestimmt. Einer der maßgebenden Einflüsse auf die rechnerischen Verformungen ist die mittragende Breite des Betongurts. Neue Untersuchungen, die das Verformungsverhalten niedriger Verbundträger unter Berücksichtigung der Biegetragwirkung und Rissbildung des Betongurts betrachten, zeigen unter anderem, dass für die Spannungs- und die Verformungsberechnung unter- schiedliche Werte der mittragenden Breite anzusetzen sind. An- hand umfangreicher experimenteller, analytischer und numerischer Untersuchungen konnten die Einflüsse auf die mittragende Breite analysiert werden. Auf Basis der Ergebnisse einer ausführlichen Parameterstudie wird ein Berechnungsansatz für die verformungs- bezogene mittragende Breite entwickelt und ein Vorschlag zur quasi-elastischen Verformungsberechnung niedriger Verbund- träger gemacht. Es zeigt sich, dass die verformungsbezogene mit- tragende Breite im Besonderen von der Biegetragwirkung des Betongurts, dessen Rissbildung, dem Verhältnis von Gurtbreite zu Trägerlänge, der Steifigkeitsverteilung im Verbundträger und der Belastungshöhe abhängt. Mit dem entwickelten Berechungsansatz sind eine realistische Ver- formungsberechnung und eine wirtschaftliche Dimensionierung niedriger Verbundträger möglich. Effective width due to deflections of composite girders with shallow height. Due to the high slenderness of composite girders with shallow height their deflection behaviour is of great importance. In many cases the cross sectional dimensions are determined by the limitation of the deflections. In contrary to high composite beams the deflection behaviour of these girders is influenced especially by the bending state and cracking behaviour of the concrete slab. Among others the deflection or the stiffness of the composite girders depend on the effective width of the slab. This article reports on investigations of the deflection behaviour and the effective width of shallow composite girders taking into account the bending state and the cracking of the concrete slab. At first it is shown that for the calculation of stresses a different value of the effective width has to be taken into account than for the calculation of deflections. On basis of extensive experimental, analytical and numerical investigations the influences on the effec- tive width are analysed. A wide-ranging parametric study leads to the development of an approach of the effective width for the calculation of deflections and a proposal for a quasi-elastic calcu- lation of the deflections of shallow composite girders. At this it turns out that the effective width due to deflections is influenced above all by the bending state of the concrete slab, its cracking behaviour, its ratio width to length, the ratio of the individual stiffness com- ponents of the composite cross section and the load level. On basis of the proposed approach for the calculation of the effec- tive width the deflections of shallow composite girders can be determined realistically. This leads to a more economic design of composite shallow girders than until now. 1 Anwendung und Tragverhalten niedriger Verbundträger Im Vergleich zu herkömmlichen Stahlbetonkonstruktionen zeichnen sich Verbundträger niedriger Bauhöhe und Slim- Floor-Träger (s. Bild 1) durch zahlreiche Vorteile aus, vgl. u. a. [5] bis [10]: – hohe Montagefreundlichkeit und Bauzeitverkürzung durch den Einsatz von vorgefertigten Bauelementen wie Stahlträgern, Betonfertigteilplatten, Stahlprofilblechen, etc. geringe Bauhöhe und damit geringe Geschosshöhe, das heißt Reduktion der Fassadenflächen und unter Umstän- den zusätzliche Geschosse geringes Eigengewicht der Deckenkonstruktion und Er- sparnisse bei der Ausführung von Stützen, Wänden und Fundamenten. Bei vergleichbaren Herstellkosten besitzen die mögli- chen Varianten von Verbundträgern und Verbundflach- Verformungsbezogene mittragende Breite niedriger Verbundträger Andreas Rieg Ulrike Kuhlmann Fachthemen DOI: 10.1002/stab.200710086 Bild 1. Verbundträger niedriger Bauhöhe und Slim-Floor- Träger [1], [15] Fig. 1. Composite girders with reduced height and slim-floor girders [1], [15]

Verformungsbezogene mittragende Breite niedriger Verbundträger

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Aufgrund der vergleichsweise großen Schlankheit niedriger Ver-bundträger wird bei diesen Trägern in sehr vielen Fällen die Einhal-tung von Verformungsgrenzwerten querschnittsbestimmend. DasVerformungsverhalten dieser Träger wird dabei wesentlich durchdie große Biegesteifigkeit des Betongurts und dessen Rissbildungbestimmt. Einer der maßgebenden Einflüsse auf die rechnerischenVerformungen ist die mittragende Breite des Betongurts. Neue Untersuchungen, die das Verformungsverhalten niedrigerVerbundträger unter Berücksichtigung der Biegetragwirkung undRissbildung des Betongurts betrachten, zeigen unter anderem,dass für die Spannungs- und die Verformungsberechnung unter-schiedliche Werte der mittragenden Breite anzusetzen sind. An-hand umfangreicher experimenteller, analytischer und numerischerUntersuchungen konnten die Einflüsse auf die mittragende Breiteanalysiert werden. Auf Basis der Ergebnisse einer ausführlichenParameterstudie wird ein Berechnungsansatz für die verformungs-bezogene mittragende Breite entwickelt und ein Vorschlag zurquasi-elastischen Verformungsberechnung niedriger Verbund-träger gemacht. Es zeigt sich, dass die verformungsbezogene mit-tragende Breite im Besonderen von der Biegetragwirkung desBetongurts, dessen Rissbildung, dem Verhältnis von Gurtbreite zuTrägerlänge, der Steifigkeitsverteilung im Verbundträger und derBelastungshöhe abhängt.Mit dem entwickelten Berechungsansatz sind eine realistische Ver-formungsberechnung und eine wirtschaftliche Dimensionierungniedriger Verbundträger möglich.

Effective width due to deflections of composite girders withshallow height. Due to the high slenderness of composite girderswith shallow height their deflection behaviour is of great importance.In many cases the cross sectional dimensions are determined bythe limitation of the deflections. In contrary to high composite beamsthe deflection behaviour of these girders is influenced especiallyby the bending state and cracking behaviour of the concrete slab.Among others the deflection or the stiffness of the compositegirders depend on the effective width of the slab.This article reports on investigations of the deflection behaviourand the effective width of shallow composite girders taking intoaccount the bending state and the cracking of the concrete slab.At first it is shown that for the calculation of stresses a differentvalue of the effective width has to be taken into account than forthe calculation of deflections. On basis of extensive experimental,analytical and numerical investigations the influences on the effec-tive width are analysed. A wide-ranging parametric study leadsto the development of an approach of the effective width for thecalculation of deflections and a proposal for a quasi-elastic calcu-lation of the deflections of shallow composite girders. At this it turnsout that the effective width due to deflections is influenced above

all by the bending state of the concrete slab, its cracking behaviour,its ratio width to length, the ratio of the individual stiffness com-ponents of the composite cross section and the load level.On basis of the proposed approach for the calculation of the effec-tive width the deflections of shallow composite girders can bedetermined realistically. This leads to a more economic design ofcomposite shallow girders than until now.

1 Anwendung und Tragverhalten niedriger Verbundträger

Im Vergleich zu herkömmlichen Stahlbetonkonstruktionenzeichnen sich Verbundträger niedriger Bauhöhe und Slim-Floor-Träger (s. Bild 1) durch zahlreiche Vorteile aus, vgl.u. a. [5] bis [10]:– hohe Montagefreundlichkeit und Bauzeitverkürzungdurch den Einsatz von vorgefertigten Bauelementen wieStahlträgern, Betonfertigteilplatten, Stahlprofilblechen, etc.– geringe Bauhöhe und damit geringe Geschosshöhe, dasheißt Reduktion der Fassadenflächen und unter Umstän-den zusätzliche Geschosse– geringes Eigengewicht der Deckenkonstruktion und Er-sparnisse bei der Ausführung von Stützen, Wänden undFundamenten.

Bei vergleichbaren Herstellkosten besitzen die mögli-chen Varianten von Verbundträgern und Verbundflach-

Verformungsbezogene mittragende Breite niedriger Verbundträger

Andreas RiegUlrike Kuhlmann

Fachthemen

DOI: 10.1002/stab.200710086

Bild 1. Verbundträger niedriger Bauhöhe und Slim-Floor-Träger [1], [15]Fig. 1. Composite girders with reduced height and slim-floorgirders [1], [15]

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decken eine Zeitersparnis auf der Baustelle von bis zu 20 %,so dass gerade in einer wirtschaftlichen Gesamtbetrach-tung das Verbunddeckensystem gegenüber der herkömm-lichen Stahlbetonbauweise interessant ist [6], [9], [12].

Bild 2 stellt das Tragverhalten normal hoher (a) undniedriger (b) Verbundträger gegenüber. Bei normal hohenVerbundträgern sind das Biegemoment Mc und die Biege-steifigkeit Ic des Betongurts vernachlässigbar. Der Beton-gurt ist dabei – zumindest im Gebrauchszustand – im Be-reich positiver Momente überdrückt und frei von Rissen(Zustand I).

Im Gegensatz dazu ist bei Verbundträgern niedrigerBauhöhe und Slim-FloorTrägern die Biegesteifigkeit Ic desBetongurts so groß, dass sie nicht vernachlässigt werdenkann und der Betongurt so große Biegemomente Mc erhält,dass er bereits im Gebrauchszustand Risse bekommt (s.Bild 2b). Das Tragverhalten von niedrigen Verbundträgernliegt somit zwischen hohen Verbundträgern und gewöhn-lichen Stahlbetonträgern.

Während auf die rechnerische Tragfähigkeit die mit-tragende Breite im Allgemeinen nur einen sehr geringenEinfluss hat, wird die rechnerische Steifigkeit der Ver-bundquerschnitte durch den Wert der mittragende Breiteinsbesondere bei niedrigen Verbundträgern und Slim-Floor-Trägern wesentlich bestimmt. [1], [11].

2 Mittragende Breite – Stand der Technik2.1 Grundsätzliches

Das Tragverhalten von Betongurten lässt sich grundsätz-lich in einen Scheibenzustand und einen Biegezustandunterscheiden (s. Bild 3). Der Scheibenzustand resultiertaus der Dehnsteifigkeit des Gurtes und der schubfestenVerbindung mit dem Stahlträger. Die Gurtnormalkraft istTeil des inneren Kräftepaars im Verbundquerschnitt. DerBiegezustand resultiert aus der immer vorhandenen Biege-steifigkeit des Gurtes und der Kopplung der vertikalenVerformungen des Gurtes und des Stahlträgers. Hierausergibt sich ein Biegemoment im Betongurt.

Um den Plattenbalken mit der einfachen technischenBiegelehre berechnen zu können, wird die mittragendeBreite so definiert, dass im mittragenden Gurt die gleichekonstante Spannung resultiert wie beim eigentlich dreidi-

mensionalen Tragverhalten des Plattenbalkens im Anschnittzwischen Steg und Gurt. Graphisch entspricht dies einerUmlagerung der nichtlinearen Spannungsverteilung desBetongurts in Querrichtung durch einen Spannungsblockmit dem gleichen Maximalwert der Spannung. Wegen desBezugs auf die Gurtspannung wird die so definierte mit-tragende Breite auch als „spannungsbezogene mittragendeBreite“ bezeichnet. In Trägerlängsrichtung ändert sich diemittragende Breite dabei und schnürt sich z. B. im Stütz-bereich von Durchlaufträgern ein. Dadurch ist das Träg-heitsmoment des Plattenbalkens in Trägerlängsrichtungnicht konstant. Da die Berücksichtigung dieses Effekts beieiner praktischen Berechnung viel zu aufwendig ist, wurdein [1] die „verformungsbezogene mittragende Breite“ einge-führt. Diese ist so definiert, dass sich bei einer ein-dimen-sionalen Berechnung des Verbundträgers mit der in Trä-gerlängsrichtung konstanten verformungsbezogenen mit-tragenden Breite die gleiche Trägerdurchbiegung ergibt wieam realen Träger.

2.2 Mittragende Breite bei linear-elastischem Material-verhalten

Unter der Voraussetzung linear-elastischen Materialver-haltens kann die mittragende Breite von Gurten in Platten-balken u. a. durch Lösung der Differentialgleichung derScheibe bzw. Platte bestimmt werden. Dabei ergeben sichdie (spannungsbezogene) mittragende Breite des reinenScheibenzustands bm,S und des reinen Biegezustands bm,B(s. Bild 4). Die mittragende Breite des Biegezustands istdeutlich größer als die des reinen Scheibenzustands. Diemittragende Breite des Biegezustands bm,B ist dabei beider Berechnung des Eigenträgheitsmoments des Gurtes Ic zuberücksichtigen, die mittragende Breite des Scheibenzu-stands bm,S bei der Berechnung der Gurtfläche Ac. DurchGleichsetzen von Gleichung (1) und (2) kann daraus einmittlerer Wert für die spannungsbezogene mittragendeBreite für die kombinierte Wirkung des Scheiben- undBiegezustands berechnet werden [1].

a)

b)

Bild 2. Tragverhalten von Verbundträgern [1]Fig. 2. Structural behaviour of composite girders [1]

Bild 3. Scheiben- und Biegezustand des Gurtes von Verbund-trägern [11]Fig. 3. Membrane and bending state of concrete chords ofcomposite girders [11]

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(1)

(2)

mitIi,0 effektives Trägheitsmoment des Verbund-

querschnittsIa Trägheitsmoment des StahlquerschnittsIc,0 reduziertes Trägheitsmoment des Beton-

querschnittsSi,0 statisches Moment des BetonquerschnittsAa Querschnittsfläche des Stahlquerschnittsn0 = Ea/Ecm Reduktionszahl (Ea E-Modul von Stahl,

Ecm E-Modul von Beton)bm,S, bm,B mittragende Breite des Betongurts für den

reinen Scheiben- bzw. Biegezustandbm mittragende Breite des Betongurts bei kom-

binierter Wirkung des Scheiben- und Biege-zustands

hc Dicke des BetongurtsaSt Schwerpunktabstand zwischen Beton- und

Stahlquerschnitt

Je größer die Biegetragwirkung des Betongurts ist, destonäher liegt die mittlere mittragende Breite bm am oberenGrenzwert des reinen Biegezustands bm,B. Bei hohen Trä-gern mit dünnen Gurten hingegen ist die Biegesteifigkeitdes Betongurts im Vergleich zur Gesamtsteifigkeit des

I Ib h

n

b hn

A

b hn

Aai a

m c

m ca

m ca

St,0

3

0

0

0

2

12= + ◊

◊+

◊ ◊

◊ +◊

I Ib h

n

b hn

A

b hn

Aai a

m B c

m S ca

m S ca

St,,

,

,0

3

0

0

0

2

12= +

◊◊

+

◊◊

◊+

I I I S ai a c i St, , ,0 0 0= + + ◊

Querschnitts vernachlässigbar klein. Bei diesen Quer-schnitten ist die mittlere mittragende Breite daher nur un-bedeutend größer als der untere Grenzwert des reinenScheibenzustands bm,S.

2.3 Normung

In den nationalen und europäischen Normen des Stahlbe-ton- und Verbundbaus im Hoch- und Brückenbau ist diemittragende Breite von Betongurten unterschiedlich gere-gelt, wie der Vergleich der Werte für den Feldbereich vonPlattenbalken mit parabelförmigem Momentenverlauf inBild 5 zeigt. Eine Unterscheidung in die mittragende Breitebm für die Spannungsberechnung und die mittragendeBreite bm,V für die Verformungsberechnung wird dabei mitAusnahme von DIN 1075 [3] nicht vorgenommen.

Bild 4. Mittragende Breite bm,B der Gurtplatte und bm,S derGurtscheibe des einstegigen Plattenbalkens in Trägermitteunter Gleichlast [1], [11]Fig. 4. Effective width in midspan for the bending state bm,Band the membrane state bm,S of composite girders loadeduniformly [1], [11]

Bild 5. Vergleich der genormten mittragenden Betongurtbrei-ten bm für den Feldbereich von Plattenbalken mit parabel-förmigem Momentenverlauf in Abhängigkeit vom Verhältnisder geometrischen Breite b zur Stützweite LFig. 5. Comparison of different code rules for the effectivewidth in midspan of composite and concrete beams depend-ing on the ratio of width b to span L

So liefern die Verbundbaunormen wie EN 1994-1-1 [2]sehr viel kleinere Werte für die mittragende Breite als dieRegeln für Stahlbetonplattenbalken z. B. in Heft 240 [17]und DIN 1045-1 [4]. DerWert nach EN1994-1-1 entsprichtdabei im Wesentlichen der elastischen mittragenden Breitedes Scheibenzustands (vgl. Bild 4) vernachlässigt also denEinfluss des Biegezustands. Nach Heft 240 besteht dage-gen eine starke Abhängigkeit von der Dicke des Beton-gurts, ausgedrückt durch das Verhältnis d/d0, je dicker derBetongurt (d/d0 wird größer) desto größer ist die mittra-gende Breite.

Für Verbundträger niedriger Bauhöhe und Slim-Floor-Träger geben die dargestellten zurZeit gültigen Normrege-lungen keine realistische Aussage über die mittragendeBreite, weil sie die große Biegesteifigkeit des Betongurts unddie Rissbildung im Betongurt nicht berücksichtigen. Dies istvor allem für die Berechnung der Verformungen wichtig.

3 Verformungsbezogene mittragende Breite3.1 Allgemeines

Im Rahmen eines DASt-/AiF-Forschungsvorhabens [11]wurden sowohl rechnerische als auch experimentelle Un-tersuchungen zum Verformungsverhalten niedriger Ver-bundträger durchgeführt. Für die rechnerische Untersu-

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chung wurde eigens ein analytisches Berechnungsmodellentwickelt und anhand von Versuchsergebnissen verifi-ziert. Mittels einer umfangreichen Parameterstudie konnteein Berechnungsansatz für die verformungsbezogene mit-tragende Breite niedriger Verbundträger entwickelt wer-den, der eine wirklichkeitsnahe Verformungsberechnungdieser Träger ermöglicht.

3.2 Analytisches Berechnungsmodell

Das analytische Berechnungsmodell wurde zur Verfor-mungsberechnung niedriger Verbundträger insbesondere imGebrauchszustand entwickelt. Das Modell basiert auf einerDiskretisierung des Trägers durch einzelne Trägerelemente,die das nichtlineare Tragverhalten des Verbundquerschnittsabbilden [1]. Aus den Systemwerten des Trägers (Stützweite,Breite, Belastungsform, etc.) wird für jedes Element diespannungsbezogene mittragende Breite im reinen Scheiben-zustand bm,S und im reinen Biegezustand bm,B berechnet.Damit sind für jedes Element die rechnerischen Quer-schnittsabmessungen bekannt. Unter Berücksichtigung derMaterialwerte kann dann für jedes Trägerelement die ent-sprechende M-k-Linie ermittelt werden. Parallel hierzu wer-den aus der äußeren Belastung die Schnittgrößen der einzel-nen Trägerelemente berechnet. Mit Kenntnis der Belastungund des Tragverhaltens der Trägerelemente können die Än-derungen der Verdrehung in jedem Element und darausschließlich die Verformung des Trägers bestimmt werden [1].Das Vorgehen ist schematisch in Bild 6 dargestellt.

Die Breite des Betonquerschnitts der jeweiligen Träger-elemente wird entsprechend dem Verlauf der spannungs-bezogenen mittragenden Breite in Trägerlängsrichtung an-gesetzt, der sich bei rein elastischem Systemverhalten er-gibt. Somit hat im Allgemeinen jedes Trägerelement eineandere Breite des Betongurts, einen anderen rechnerischenQuerschnitt und eine eigene M-k-Linie.

Gewisse Voraussetzungen und Annahmen dienen dazu,das Berechnungsmodell noch handhabbar zu machen. Sowird angenommen, dass der Betongurt eine konstante Dicke

aufweist und der Verbundträger als Einfeldträger ausge-führt ist. Ein Versagen derVerbundfuge wird ausgeschlossenund ein starrer Verbund angenommen. Auch wenn nicht-lineares Materialverhalten wie das Plastizieren des Stahlsund das Reißen des Betons berücksichtigt wird, wird dieGültigkeit der Bernoulli-Hypothese vorausgesetzt.

Im Verfahren werden Risse im Beton über die Längeder Trägerelemente verschmiert und in eine mittlere Be-tonzugdehnung umgerechnet. Die Mitwirkung des Betonszwischen den Rissen wird durch eine effektive Betonzug-spannung berücksichtigt. Die Betonzugkraft Nct wird mitder mittragenden Breite bm,B des reinen Biegezustands er-mittelt. Der Betondruckkraftanteil Nc,N, der im Gleichge-wicht mit der Zugkraft im Stahlträger steht, wird mit dermittragenden Breite bm,S des reinen Scheibenzustands be-rechnet. Der Betondruckkraftanteil Nc,M, der im Gleich-gewicht mit der Betonzugkraft und Zugkraft der Bewehrungsteht, wird mit der mittragenden Breite bm,B des reinenBiegezustands bestimmt. Die Zunahme der mittragendenBreite bei großen Betondehnungen wird vernachlässigt.Schließlich werden ein Einfluss der Querbiegung auf dasTrag- und Verformungsverhalten sowie die Verteilung derspannungsbezogenen mittragenden Breite vernachlässigtund der Anteil der Durchbiegung des Verbundträgers in-folge Querkraft rein elastisch am Stahlträger bestimmt.

Der Nachweis, dass das entwickelte Berechnungsmo-dell für niedrige Verbundträger wirklichkeitsnahe Verfor-mungen ermittelt, erfolgt durch Vergleich mit vorhande-nen Versuchsergebnissen. In den Bildern 7 bis 9 sind Auf-bau und System der betrachteten Versuchsträger abgebildet.Eine detaillierte Beschreibung der durchgeführten Versucheist in [1], [11] gegeben.

Die Abweichungen der Ergebnisse des analytischenBerechnungsmodells zu den Versuchen betragen im Grenz-zustand der Gebrauchstauglichkeit im Mittel 3,6 % (s. Ta-belle 1). Bild 10 zeigt beispielhaft den Vergleich der rech-nerischen und experimentellen Last-Verformungs-Kurvender Versuchsträger VT 1 und B 4, die sehr gut überein-stimmen. Die etwas größere Abweichung für das Slim-

Bild 6. Schematische Darstellung des allgemeinen Berechnungsmodells [1]Fig. 6. Procedure of the analytical calculation model [1]

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Floor-Profil des Versuchsträgers VT 6 (vgl. [6] und Bild 9)weist daraufhin, dass für diesen Typ von Trägern noch Zu-satzüberlegungen erforderlich sind, vgl. [16].

Der Vergleich der Last-Verformungs-Kurven und derverformungsbezogenen mittragenden Breite der vorliegen-

Bild 10. Vergleich der rechnerischen und experimentellenLast-Verformungs-Kurven [1]Fig. 10. Comparison of the experimental load-deflection cur-ves and the calculated results of the analytical model [1]

Bild 7. System und Querschnitt der Versuchsträger VT 1 – VT 6[1]Fig. 7. System and cross section of the test girders VT 1 – VT 6[1]

Bild 8. System und Querschnitt des Versuchsträgers B4 nachAmadio et al. [14]Fig. 8. System and cross-section of test girder B4 acc. toAmadio et. al. [14]

Bild 9. System und Querschnitt des Versuchsträgers VT 6nach Kuhlmann, Fries [6]Fig. 9. System and cross section of test girder VT 6 acc. toKuhlmann, Fries [6]

den experimentellen Untersuchungen mit den Ergebnissendes analytischen Berechnungsmodells zeigen eine guteÜbereinstimmung. Die festgestellten Abweichungen liegenim üblichen Rahmen bei Nachrechnungen von Versuchs-trägern. Es kann daher angenommen werden, dass mit dementwickelten Berechnungsmodell wirklichkeitsnahe Verfor-mungen niedrigerVerbundträger berechnet werden können.

3.3 Einflüsse auf die verformungsbezogene mittragendeBreite

Auf Basis einer umfangreichen Parameterstudie (s. Bild 11)wurden in [1], [11] die verschiedenen Einflüsse auf dieverformungsbezogene mittragende Breite untersucht undbewertet. Die systematische Auswertung der Parameter-studie mündete in einen Berechnungsansatz für die ver-formungsbezogene mittragende Breite. Eine detaillierteBeschreibung der untersuchten Einflüsse ist in [1], [11]gegeben.

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Die wesentlichen Einflüsse auf die verformungsbezo-gene mittragende Breite bm,V sind:

Ausnutzungsgrad des Verbundträgers und Rissbildungim BetongurtBild 12 zeigt den typischen Verlauf der verformungsbezo-genen mittragenden Breite bm,V in Abhängigkeit des Aus-nutzungsgrades M/Mu eines Verbundträgers. Der Ausnut-zungsgrad M/Mu ist dabei als Verhältnis des maximalenFeldmoments M zum Bruchmoment Mu des Verbundquer-schnitts definiert. Rein elastisch ist wegen des positivenEinflusses des Biegezustands die verformungsbezogene mit-tragende Breite deutlich größer als die des reinen Schei-benzustands. Mit zunehmender Belastung des Trägers undfortschreitender Rissbildung im Betongurt geht die Biege-tragwirkung des Betongurts langsam verloren. Dies führtzu einer Abnahme der mittragenden Breite bis auf denWert des reinen Scheibenzustands. Der im Traglastbereich

wieder vergrößernde Einfluss durch die Plastizierung imStahl wird hier nicht dargestellt.

BetonzugfestigkeitDie Betonzugfestigkeit fct steuert die Rissbildung im Be-tongurt und hat daher einen großen Einfluss auf die ver-formungsbezogene mittragende Breite (s. Bild 13a). Mitzunehmender Betonzugfestigkeit wird das Rissmomentdes Trägers größer, und die Rissbildung setzt erst bei höhe-rer Belastung ein. Durch die höhere Betonzugfestigkeit istdie Biegetragwirkung des Betongurts größer als bei klei-ner Betonzugfestigkeit.

Streckgrenze des BaustahlsDas Bruchmoment Mu von Verbundquerschnitten wirdmaßgeblich von der Streckgrenze des Stahlträgers bestimmt.Durch Erhöhung der Streckgrenze nimmt das Bruchmo-ment zu und das bezogene Rissmoment MRiss/Mu des Trä-

Tabelle 1. Vergleich der rechnerischen Verformungen des analytischen Berechnungsmodells mit den experimentellen Verfor-mungen der Versuchsträger im GebrauchszustandTable 1. Comparison of the experimental deflections with results of the analytical model for the calculated serviceability limitstate

Versuchsträger VT 1 VT 2 VT 4 VT 5 VT 6 B 4 VT 6 (Fr)

Beschreibung s. [1] [1] [1] [1] [1] [13] [6]

PGZG1) in kN 298 305 308 493 493 340 900

fexp2) in mm 10,1 8,6 8,9 8,0 8,0 11,7 13,8

frechn – fexp3) in mm 0,29 0,23 0,78 0,12 0,10 0,40 1,72

frechn/fexp – 1 in % 3,0 2,8 9,0 2,0 1,2 3,4 11,0

1) PGZG Last im Grenzzustand der Gebrauchslast 2) fexp Mittendurchbiegung der Versuchsträger3) frechn rechnerische Mittendurchbiegung der Versuchsträger (analytisches Berechnungsmodell)

Bild 11. Umfang der Parameterstudie zur Entwicklung des Berechnungsansatzes für die verformungsbezogene mittragendeBreite bm,VFig. 11. Scope of parameter study for the development of the calculation approach for the effective width relevant for deflections

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gers ab. Dadurch nimmt die verformungsbezogene mittra-gende Breite bm,V bei gleichem Ausnutzungsgrad M/Mudes Trägers ab (s. Bild 13b).

Im Übrigen wird mit zunehmender Dicke hc des Beton-gurts und größerem Seitenverhältnis b/L die verformungs-bezogene mittragende Breite größer. Dagegen schwächtsich bei großen Eigenbiegsteifigkeiten des Stahlquer-schnitts der Einfluss der Biegewirkung des Betongurts ab.

3.4 Berechnungsansatz für die verformungsbezogenemittragende Breite

Durch systematische Auswertung der durchgeführten Pa-rameterstudie konnte ein Berechnungsansatz für die ver-formungsbezogene mittragende Breite entwickelt werden,der eine wirklichkeitsnahe Verformungsberechnung nied-riger Verbundträger ermöglicht (s. Gl. (3)). Er basiert aufden linear-elastischen Werten der mittragenden Breiteund einer Reduktion des Einflusses des Biegezustands umden Faktor b infolge der Rissbildung im Betongurt.

(3)

(4)bm V Mk, = -( ) £1 12

b b b bm V m S m V m S m V, , , , , ,= + -( ) ◊0 b

mitbm,V verformungsbezogene mittragende Breite

M maximales Moment des Verbundträgers in Feld-mitte

MRiss Rissmoment des VerbundträgersMu Bruchmoment des Verbundträgersbm,V,0 elastischer Wert der verformungsbezogenen mittra-

genden Breite

Der vorgeschlagene Berechnungsansatz unterliegt dabeiden gleichen Einschränkungen wie das analytische Berech-nungsverfahren und beschränkt sich auf den durch dieParameterstudie nach Bild 11 abgesteckten Anwendungs-bereich.

Die Abweichungen dieses Berechnungsansatzes imVergleich zur genaueren Berechnung mit dem analytischenBerechnungsmodell betragen im Mittel 8,7 %. Die Stan-dardabweichung beträgt 11,2 %, der Mittelwert 0,9. Somitwird die verformungsbezogene mittragende Breite tenden-ziell etwas unterschätzt und die damit berechneten Ver-formungen folglich eher etwas überschätzt.

kM M

M MMRiss

u Riss= -

-

Bild 12. Typischer Verlauf der verformungsbezogenen mittragenden Breite bm,V in Abhängigkeit des Ausnutzungsgrads M/Mu[1, 11]Fig. 12. Typical behaviour of the effective width relevant for deflections depending on the utilisation of the composite girder[1, 11]

Bild 13. Einflüsse auf die verformungsbezogene mittragende Breite bm,V niedriger Verbundträger [1], [11]Fig. 13. Influences for the effective width of shallow composite girders relevant for deflections [1], [11]

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4 Berechnungsansatz für die quasi-elastische Verformungs-berechnung

4.1 Beschreibung des Berechnungsansatzes

Verbundträger niedriger Bauhöhe weisen bereits unter Ge-brauchslasten eine starke Rissbildung und ein ausgepräg-tes nichtlineares Trag- und Verformungsverhalten auf.Eine rein elastische Verformungsberechnung unterschätztdaher im Allgemeinen die tatsächlichen Verformungenund stellt in vielen Fällen eine unzureichende Näherungdar. Die Verformungsberechnung unter expliziter Berück-sichtigung des nichtlinearen Material- und Tragverhaltensist jedoch auch unter Ansatz der konstanten verformungs-bezogenen mittragenden Breite nach Gleichung (3) nochverhältnismäßig aufwendig. Für eine Berechnung in derPlanungspraxis ist daher ein vereinfachtes Verfahren wün-schenswert.

Dies ist mit der im Folgenden vorgeschlagenen Er-satzsteifigkeit Ii,eff möglich. Sie beruht auf der Abminde-rung der elastischen Steifigkeitsanteile des Betons um einenAbminderungsfaktor ac und stellt eine Modifikation desbekannten Gesamtquerschnittsverfahren dar [1]. Der Ab-minderungsfaktor ac wurde durch systematische Auswer-tung der in Abschnitt 3.4 beschriebenen Parameterstudieabgeleitet. Der Berechnungsansatz für die quasi-elastischeVerformungsberechnung niedriger Verbundträger unter-liegt dabei den gleichen zuvor beschriebenen Vorausset-zungen und Annahmen [1].

Die Ersatzsteifigkeit des Verbundträgers Ii,eff ergibtsich mit den folgenden Gleichungen und unter Beachtungdes Abminderungsfaktors ac nach Gleichung (13):

(5)

(6)

(7)

(8)

(9)

(10)

(11)

(12)

mitIi,eff effektives Trägheitsmoment des Verbundträ-

gersIi,0, Ia, Ic,0 elastische Trägheitsmomente des Verbund-,

Stahl- und BetonquerschnittAi,0, Aa, Ac,0 Querschnittsflächen des Verbund-, Stahl-

und BetonquerschnittsaSt Schwerpunktsabstand zw. Stahl- und Beton-

querschnittn0 Reduktionszahl für den BetonquerschnittEa, Ecm E-Modul des Stahl- und Betonquerschnitts

nE

Ea

cm0 =

Ab h

ncm S c

,,

00

=◊

Ib h

ncm B c

,,

0

3

012=

◊◊

A A Ai a c, ,0 0= +

zA a

Aia St

i,

,0

0= ◊

S A zi c i, , ,0 0 0= ◊

I I I S ai a c i St, , ,0 0 0= + + ◊

I I I S ai eff a c c i St, , ,= + ◊ + ◊( )a 0 0

bm,S, bm,B mittragende Breite des Scheiben- und Biege-zustands nach Abschnitt 2.2

ac Abminderungsfaktor zur Berücksichtigungdes nichtlinearen Material- und Tragverhal-tens niedrigerVerbundträger nach Gleichung(13)

(13)

(14)

(15)

(16)

mitM Moment in TrägermitteMRiss Rissmoment des Verbundträgersfct Betonzugfestigkeitfct,0 = 1,0 N/mm2 Bezugswert der Betonzugfestigkeitfc Betondruckfestigkeitfc,0 = 30 N/mm2 Bezugswert der Betondruckfestigkeitfay Streckgrenze des Stahlträgersfay,0 = 355 N/mm2 Bezugswert der Streckgrenze des Stahl-

trägers

Typische Verläufe des effektiven Trägheitsmoments unddes Abminderungsfaktors in Abhängigkeit des Ausnut-zungsgrads M/Mu des Trägers sind in Bild 14 dargestellt.Die Verläufe lassen sich in drei Bereiche unterteilen:

1) Elastischer BereichDer Träger verhält sich elastisch und ist im Zustand I. DieBelastung ist kleiner als die Risslast (M/Mu < MRiss/Mu).Das effektive Trägheitsmoment Ii,eff ist gleich dem elasti-schen Ii,0, der Abminderungsfaktor ac ist 1.

2) Zustand II und RissbildungDie Belastung ist größer als die Risslast (M/Mu > MRiss/Mu),der Träger ist gerissen und im Zustand II. Die Steifigkeitund das effektive Trägheitsmoment Ii,eff nehmen ab, derAbminderungsfaktor ac wird kleiner 1.

3) Fließen des StahlträgersMit beginnender Plastizierung des Stahlträgers (M/Mu >Mel/Mu) nehmen die Steifigkeit des Trägers und der Ab-minderungsfaktor ac rasch ab. Ein zunehmender Anteilder Verformung resultiert dabei aus dem Fließen desStahlträgers und nicht aus der Rissbildung des Betons.

Ein Vergleich des beschriebenen Berechnungsansatzes fürdie Ersatzsteifigkeit des Verbundträgers Ii,eff mit dem ana-lytischen Berechnungsmodell für die Beispiele der Para-meterstudie zeigt eine gute Übereinstimmung (s. Ta-belle 2). Die Abweichungen der mit Gleichungen (5) und(13) ermittelten Verformungen sind im Vergleich zu einer

aMRissMM

= ◊ -ÊËÁ

ˆ¯̃

-

1 357 10 493

,,

aQSc

i

i St

i

i

St

II

S aI

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ËÁˆ

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◊Ê

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¯̃◊ Ê

ËÁˆ¯̃

-,

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0 15 0 125

aMatct

ct

c

c

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ay

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0

0 152

a a a ac Mat QS M= ◊ ◊

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elastischen Berechnung mit der mittragenden Breite nachEN 1994-1-1 bzw. DIN 1045-1 sehr viel kleiner [1].

Vergleichsberechnungen in [1] haben gezeigt, dassdie Langzeitverformungen infolge Kriechen und Schwin-den des Betons weiterhin rein elastisch ohne den Abmin-derungsfaktor ac bestimmt werden sollten.

4.2 Beispiel4.2.1 System und Querschnitt des Beispielträgers

In Bild 15 sind System und Querschnitt des gewählten Bei-spielträgers dargestellt. Die Materialwerte und die Belas-tung des Trägers sind in Tabelle 3 und 4 zusammengestellt.

Tabelle 2. Abweichungen der berechneten Verformungswerte zur genaueren Berechnung mit analytischem Berechnungsmodellim GZG [1]Table 2. Deviation of the deflection values according to the simplified elastic model compared to the results of the analyticalcalculation model [1]

Berechnungsmethode Vorschlag1) EN 1994-1-12) DIN 1045-13)

dm in % mittlere Abweichung 3,6 13,1 18,1

s in % Standardabweichung 5,3 19,7 23,2

q0,05 – 5 %-Quantil 0,92 0,93 0,73

q0,95 – 95 %-Quantil 1,09 1,45 1,20

1) Berechnung nach Gleichung (5) und (13)2) elastische Berechnung mit der mittragenden Breite nach EN 1994-1-1 [2]3) elastische Berechnung mit der mittragenden Breite nach DIN 1045-1 [4]

Bild 14. Typische Verläufe des effektiven Trägheitsmoments Ii,eff und des Abminderungsfaktors ac in Abhängigkeit des Aus-nutzungsgrads M/MuFig. 14. Typical behaviour of the effective stiffness Ii,eff and the reduction factor ac in dependency on the utilisation

Tabelle 3. MaterialwerteTable 3. Properties of material

Beton Baustahl

Druckfestigkeit: fck = 30 N/mm2 Streckgrenze: fyk = 355 N/mm2

Zugfestigkeit: fctm = 0,29 N/mm2 Zugfestigkeit: fuk = 510 N/mm2

E-Modul: Ecm = 3200 N/mm2 E-Modul: Ea = 210000 N/mm2

Teilsicherheitsbeiwert: gc = 1,5 Teilsicherheitsbeiwert: ga = 1,15

Tabelle 4. BelastungTable 4. Loading

Eigengewicht: g1 = 25 · 0,28 · 1,13 · 7 + 0,9 = 56,3 kN/m (1)

Ausbaulasten: g2 = 1,0 · 1,25 · 7 = 8,7 kN/m (2)

Nutzlasten: p = 3,5 · 1,25 · 7 = 30,6 kN/m (3)

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4.2.2 Verformungen zum Zeitpunkt t = 0

Elastische Querschnittswerte des BetonsMittragende Breite des Betongurts (s. Bild 4):

(17)

(18)

(19)

(20)

(21)

Reduktionszahl der Betonquerschnittswerte zum Zeitpunktt = 0:

(22)

Elastische Querschnittswerte des Verbundquerschnitts

(23)

(24)

(25)

(26)

(27)

Effektives Trägheitsmoment des VerbundträgersDas effektive Trägheitsmoment Ii,eff des Verbundträgers be-rechnet sich nach Gleichung (5). Hierfür müssen zusätz-lich zu den elastischen Querschnittswerten das Rissmo-ment MRiss des Verbundquerschnitts und die Belastung imGrenzzustand der Gebrauchstauglichkeit berechnet wer-den.

(28)

(29)kNcm kNm= =44407 444

Mf I

znRiss

ct i

cu=

◊◊ = ◊ ◊,

,

,,

,0

00

0 29 28151112 06

6 56

z h z cmcu c i, ,/ / , ,0 02 28 2 1 94 12 06= - = - =

cm, 418200 177896 2997 28 5 281511= + + ◊ =

I I I S ai a c i St, , ,0 0 0= + + ◊

S A z cmi c i, , , ,0 0 031545 1 94 2997= ◊ = ◊ =

z A a A cmi a St i, ,/ , / ,0 0 113 28 5 1658 1 94= ◊ = ◊ =

A A A cmi a c, ,0 02113 1545 1658= + = + =

a h h cmSt a c= +( ) = +( ) =/ / ,2 29 28 2 28 5

n E Ea c0 21000 3200 6 56= = =/ / ,

I h b cmc c m B= ◊ ◊ = ◊ ◊ =3 3 42 12 28 2 319 12 1167000, / /

A h b cmc c m S= ◊ ◊ = ◊ ◊ =2 28 2 181 10136 2,

fi =

Æ = ◊ = ◊ =

b b

b b mm B

m B

,

,

/ ,

, , , ,

0 91

0 91 0 91 3 5 3 19

fi =

Æ = ◊ = ◊ =

b b

b b mm S

m S

,

,

/ ,

, , , ,

0 52

0 52 0 52 3 5 1 81

b L/ , / ,= =3 5 9 0 39

(30)

(31)

Zur Berechnung des effektiven Trägheitsmoments Ii,eff mussder Abminderungsfaktor ac bestimmt werden:

(32)mit

(33)

(34)

(35)

Damit kann das effektive Trägheitsmoment Ii,eff berechnetwerden:

(36)

Mittendurchbiegung des Trägers zum Zeitpunkt t = 0Die Mittendurchbiegung des Trägers kann mit Hilfe deseffektiven Trägheitsmoments Ii,eff und den normalen Mit-teln der technischen Biegelehre berechnet werden:

fq LE I

cm

mm L

GZG

a i eff0

4 35384

5384

95 6 9 90021000 171183

2 27

22 7 396

= ◊ ◊◊

= ◊ ◊ ◊◊

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= =,

,,

, /

I I I S a

cm

I

i eff a c c i St

i

, , ,

,

, ,

,

= + ◊ + ◊( )= + ◊ + ◊( ) =

= ◊

a 0 0

4

0

18200 0 581 177896 2997 28 5 171183

0 60

aMRissMM

= ◊ -ÊËÁ

ˆ¯̃

= ◊ -ÊËÁ

ˆ¯̃

=- -

1 357 1 1 357 1 444968

1 8360 493 0 493

, , ,, ,

aQSc

i

i St

i

i

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II

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2 997 28 5281 511

1 9428 5ÁÁ

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¥ÊËÁ

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0

0 152

0 154 0 146 0 1520 290 1

3 03 0

35 535 5

0 849

a a a ac Mat QS M= ◊ ◊ = ◊ ◊ =0 849 0 373 1 836 0 581, , , ,

M q L kNmGZG= ◊ = ◊ =2 28 95 6 9 8 968/ , /

q g p kN mGZG k k= + = +( ) + =56 3 8 7 30 6 95 6, , , , /

Bild 15. System und Querschnitt des BeispielträgersFig. 15. System and cross section of the considered composite girder

(37)

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5 Zusammenfassung und Ausblick

Im Rahmen der vorgestellten Untersuchungen wurde einBerechnungsmodell entwickelt, das sowohl die Biegesteifig-keit als auch die Rissbildung des Betongurts bei der Ermitt-lung der mittragenden Breite und der Trägerverformungberücksichtigt. Durch Vergleich mit den Versuchsergeb-nissen konnte gezeigt werden, dass damit wirklichkeits-nahe Verformungen berechnet werden. Anhand dieses Be-rechnungsmodells wurden eine umfangreiche Parameter-studie durchgeführt und die maßgebenden Einflüsse auf diemittragende Breite niedrigerVerbundträger untersucht. Diesesind: Seitenverhältnis des Betongurts, statisches System derTräger, Rissbildung im Betongurt, Steifigkeitsverhältnisseim Querschnitt, Betonzugfestigkeit. Eine systematische Aus-wertung der Parameterstudie ermöglichte die Entwicklungeines Berechnungsansatzes für die verformungsbezogenemittragende Breite und eines effektiven Trägheitsmomentszur quasi-elastischen Verformungsberechnung niedrigerVerbundträger. Damit sind eine wirklichkeitsnahe Verfor-mungsberechnung der betrachteten Verbundträger undderen wirtschaftliche Dimensionierung möglich.

Im Rahmen eines weiteren Forschungsvorhabens [16]wurden anhand von Slim-Floor-Trägerversuchen das ana-lytische Modell verifiziert und die verformungsbezogenemittragende Breite für diesen Querschnitt weiterentwickelt.Hierbei wurden neben dem Verformungsverhalten vonSlim-Floor-Trägern zudem Untersuchungen im Hinblickauf den Einfluss der Querbiegung durchgeführt. WeitereUntersuchungen zur mittragenden Breite sollen nun imnegativen Momentenbereich, also im Bereich über derStütze, durchgeführt werden, um somit den Einspanngradund die damit zusätzlich mögliche Reduzierung derDurchbiegung berücksichtigen zu können.

DanksagungDie Forschungsarbeiten wurden von der Arbeitsgemein-schaft industrieller Forschungsvereinigungen „Otto vonGuericke“ e. V. (AiF) und dem Deutschen Ausschuss fürStahlbau (DASt) finanziell unterstützt. Die Stahlträger derVersuche wurden von der Payr Industriebau GmbH,Remshalden, gespendet. Für diese Unterstützung sei andieser Stelle recht herzlich gedankt.

Literatur

[1] Rieg,A.: Verformungsbezogene mittragende Betongurtbreiteniedriger Verbundträger. Mitteilungen des Instituts für Kon-struktion und Entwurf, Nr. 2006-2, Dissertation, Institut fürKonstruktion und Entwurf, Universität Stuttgart, 2006.

[2] EN 1994-1-1: Eurocode 4, Teil 1-1: Bemessung und Kon-struktion von Verbundtragwerken aus Stahl und Beton; Allge-

meine Bemessungsregeln, Bemessungsregeln für den Hoch-bau, 3. September 2004.

[3] DIN 1075: Betonbrücken; Bemessung und Ausführung,April 1981.

[4] DIN 1045-1: Tragwerke aus Beton, Stahlbeton und Spann-beton; Teil 1: Bemessung und Konstruktion, Juli 2001.

[5] Kuhlmann, U., Fries, J.: Optimierung der Bemessung vondeckengleichen Verbundträgern in Hutform. Forschungsvor-haben P 389, Forschungsvereinigung Stahlanwendung e. V.FOSTA (Hrsg.), Düsseldorf: Verlag und VertriebsgesellschaftmbH 2004.

[6] Fries, J.: Tragverhalten von Flachdecken mit Hutprofilen.Mitteilungen des Instituts für Konstruktion und Entwurf, Nr.2002-1, Dissertation, Institut für Konstruktion und Entwurf,Universität Stuttgart, 2001.

[7] Bauberatung Stahl: Dokumentation 605: Geschoßbau inStahl, Flachdeckensysteme. 1996.

[8] Muess, H.: Interessante Tragwerkslösung im Verbund. Stahl-bau 65 (1996), S. 349–355.

[9] Baehre, R., Pepin, R.: Flachdecken mit Stahlträgern in Ske-lettbauten. Bauingenieur 70 (1995), S. 65–71.

[10] Lange, J.: Flachdecken in Stahlbauweise – Bemessung vonRandträgern. Stahlbau 74 (2005), S. 580–586.

[11] Kuhlmann, U., Rieg, A.: Mittragende Betongurtbreite nied-rigerVerbundträger. AiF-Forschungsvorhaben Nr. 13460 N/1,Schlussbericht, Nr. 2004-46X Institut für Konstruktion undEntwurf, Universität Stuttgart, 2004.

[12] Haas, U.: Wirtschaftlichkeitsvergleich von Slim-FloorDecken mit konventionellen Flachdecken. Diplomarbeit, Nr.1999-12X, Institut für Konstruktion und Entwurf I, Univer-sität Stuttgart, 1999.

[13] Amadio, C., Fragiacomo, M.: Effective Width Evaluationfor Steel-Concrete Composite Beams. Journal of Constructio-nal Steel Research 58 (2002), pp. 373–388.

[14] Amadio, C., Fedrigo, C., Fragiacomo, M., Macorini, L.: Ex-perimental evaluation of effective width in steel-concretecomposite beams. Journal of Constructional Steel Research60 (2004), pp. 199–220.

[15] Deutsches Institut für Bautechnik: Zulassungsbescheid Z-26.2-48; Slim-Floor Träger mit UPE-Profilen, Peiner TrägerGmbH, 27. Juli 2005.

[16] Kuhlmann, U., Hauf, G., Rieg, A.: Effiziente Dimensionie-rung niedriger Verbundträger. Forschungsvorhaben gefördertdurch Stiftung Industrieforschung, Köln, Forschungsvorha-ben Nr. S 668, Nr. 2006-22X, Institut für Konstruktion undEntwurf, Universität Stuttgart, 2006.

[17] Grasser, E., Thielen, G.: Hilfsmittel zur Berechnung derSchnittgrößen und Formänderungen von Stahlbetontragwer-ken. Deutscher Ausschuss für Stahlbeton, Heft 240, 3. Auf-lage, Berlin: Beuth Verlag 1991.

Autoren dieses Beitrages:Prof. Dr.-Ing. Ulrike Kuhlmann, Institut für Konstruktion und Entwurf, Universität Stuttgart, Pfaffenwaldring 7, 70569 StuttgartDr.-Ing. Andreas Rieg, ehemals Institut für Konstruktion und Entwurf

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