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- 1 - VERGLEICH DER „PHÄNOMENOLOGISCHEN GRUNDHALTUNG“ DER EXISTENZANALYSE MIT „ACHTSAMKEIT UND RESPEKT“ IN DER ALTERNATIVPÄDAGOGIK VON REBECA UND MAURICIO WILD Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse und Logotherapie Eingereicht am: 9. Juli 2007 Eingereicht von: Mag. Judith Aepli-Berger Eingereicht bei: DDr. Alfried Längle Angenommen am: 16. Juli 2007 von: DDr. Alfried Längle Dr. Christine Orgler

VERGLEICH DER „PHÄNOMENOLOGISCHEN ......- 3 - Vergleich der „phänomenologischen Grundhaltung“ der Existenzanalyse mit „Achtsamkeit und Respekt“ in der Alternativpädagogik

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VERGLEICH DER

„PHÄNOMENOLOGISCHEN GRUNDHALTUNG“

DER EXISTENZANALYSE MIT

„ACHTSAMKEIT UND RESPEKT“

IN DER ALTERNATIVPÄDAGOGIK

VON REBECA UND MAURICIO WILD

Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse

und Logotherapie

Eingereicht am: 9. Juli 2007

Eingereicht von: Mag. Judith Aepli-Berger

Eingereicht bei: DDr. Alfried Längle

Angenommen am: 16. Juli 2007 von: DDr. Alfried Längle

Dr. Christine Orgler

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Zusammenfassung

In dieser Arbeit geht es um die aufmerksame Grundhaltung des erziehenden Erwachsenen.

Wichtig war dabei der Aufweis, dass sich diese Grundhaltung auf praktisch alle

Lebensbereiche eines Menschen auswirkt. Beispielhaft werden zwei Bereiche konkret

beleuchtet, nämlich die Auswirkungen einer aufmerksamen Grundhaltung des erziehenden

Menschen auf die Beziehung und auf das Gehirn bzw. die Intelligenz.

Stichworte: Pädagogik, Montessori, Rebeca und Mauricio Wild, Aufmerksamkeit,

phänomenologische Grundhaltung, Respekt, Selbsterziehung

The point of this work is a phenomenological basic attitude of the educational adult.

Moreover it was essential to show, that this basic attitude has an effect on all domains of the

human being. Exemplary there are two concrete spheres to illustrate, namely the effect of an

attentive basic attitude on the domain of relationship and the effect on brain and intelligence.

Catchwords: education, Montessori, Rebeca and Mauricio Wild, attention, phenomenological

basic attitude, respect, self-education

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Vergleich der „phänomenologischen Grundhaltung“ der Existenzanalyse mit „Achtsamkeit

und Respekt“ in der Alternativpädagogik von Rebeca und Mauricio Wild

1. Einleitung

2. Grundlagen der Existenzanalyse und Logotherapie

2.1. Menschenbild in der Existenzanalyse V. Frankls

2.2. Die Existenzanalyse V. Frankls als Grundlage einer neuen Pädagogik

2.3. Die vier Grundmotivationen A. Längles als Vertiefung und

Grundlagenschaffung für die Anthropologie V. Frankls

3. Die Phänomenologische Grundhaltung in der Existenzanalyse und ihr Äquivalent in

der alternativen Pädagogik

3.1. Die Phänomenologie M. Schelers

3.2. Versuch einer Gegenüberstellung der phänomenologischen Grundhaltung in der

Existenzanalyse und Achtsamkeit und Respekt in der Pädagogik von Rebeca und

Mauricio Wild

3.3. Auswirkungen von Achtsamkeit und Respekt auf der Beziehungsebene

3.3.1. Selbsterziehung

3.3.2. Aufbau von Beziehung bei Säuglingen und Kleinkindern

3.3.2.1. Die vorbereitete Umgebung

3.4. Auswirkungen einer respektvollen (phänomenologischen) Grundhaltung auf das

kindliche Gehirn

3.4.1. Die Funktion des Gehirns

3.4.2. Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes

3.4.3. Emotionale Intelligenz

4. Schlusswort

5. Literaturliste

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1. Einleitung

Die Auseinandersetzung mit dem „Vergleich der Phänomenologischen Grundhaltung der

Existenzanalyse mit Achtsamkeit und Respekt in der Alternativpädagogik von Rebeca und

Mauricio Wild“ ist das Ergebnis der Abschlussarbeit im Rahmen des Fachspezifikums.

Auf dieses Thema stieß ich durch persönliche Erfahrung, durch meine eigenen Kinder und

aufgrund von Gesprächen mit anderen (betroffenen) Menschen, die leidvolle Erfahrungen

machten und keinen Ausweg fanden; ich traf aber auch solche, die versuchten, neue Wege zu

gehen, mit allen Risken, Ausgrenzungen und Abwertungen, die damit verbunden waren.

Konkrete Impulse bekam ich durch die Veröffentlichungen von Dr. Emmi Pikler (Säuglinge

und Kleinkinder), Maria Montessori, Rebeca und Mauricio Wild (Kindergarten und Schule)

und Lienhard Valentin. Die Werke dieser Autoren/innen bilden auch die Grundlage des

pädagogischen Teils meiner Arbeit.

Beim Studium der alternativen Ansätze drängte sich der Vergleich mit der Existenzanalyse

auf, sind doch die Überlegungen V. Frankls und vor allem A. Längles in ihrem Grundmuster

identisch mit den Aussagen der oben genannten Pädagogen/innen. Es liegt dasselbe

Menschenbild zugrunde. Der Unterschied besteht aber vor allem darin, dass sich

Logotherapie und Existenzanalyse mit Jugendlichen und Erwachsenen beschäftigen, während

es in der Pädagogik um die Würde des Kindes von Anfang an geht.

Bei M. Montessori steht in erster Linie das Kind als eigenständige Person im Mittelpunkt.

Die Freiheit des Kindes wird zum großen Postulat für ihr pädagogisches Wirken. Ein Kind,

das in Freiheit das Lernen lernt, lernt in diesem Freisein das Verantwortlichsein.

Das Kind ist Person von Anfang an. „Das Kind trägt nicht die verkleinerten Merkmale des

Erwachsenen in sich, sondern in ihm wächst sein eigenes Leben, das seinen Sinn in sich

selber hat.“ (Montessori 1983, 27)

R. und M. Wild nahmen die Impulse von M. Montessori auf und entwickeln sie aufgrund

eigener Erfahrungen weiter. Ihr großes Werk bestand in der Gründung einer eigenen Schule in

Ecuador, Pesta(lozzi) genannt. R. und M. Wild betrieben nicht antiautoritäre Erziehung,

sondern pflegten „aktive Erziehung“.

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„Vielleicht gelingt es mir (…) klarzumachen, dass zwischen der traditionellen, von der

Autorität bestimmten Erziehung und ihrem Gegenstück, in dem Autorität strikt verworfen

wird, ein weites Land unzähliger Möglichkeiten liegt. Es ist ein Land, in dem der Erwachsene

lernt, die Lebensqualität, die Denk- und Gefühlsstrukturen des Kindes in jedem seiner

Wachstumsstadien zu respektieren, wo das Kind am eigenen Körper spürt, was Respekt ist,

und aus dieser Erfahrung lernt, sich selbst und andere, einschließlich die Erwachsenen, zu

respektieren. (…) wie können wir es erreichen, unseren Kindern ihre Umgebung so zu

gestalten, dass sie voller Neugierde bleiben, voll Vertrauen in sich selbst und ihre Welt (…);

dass es ihnen erlaubt ist, ihre Welt so zu erleben und zu verwandeln, dass sie sinnvoll für sie

wird, ohne dass wir als Erwachsene aus dieser Welt verschwinden müssen, damit sich die

neue Generation darin wohlfühlt.“ (Wild 1991, 20)

L. Valentin wurde wesentlich von M. Montessori und R. und M. Wild beeinflusst. Er

gründete in Deutschland den Freundeskreis „Mit Kindern wachsen“ und ist seit seinem

Aufenthalt „im Pesta“ als Referent, Elternberater und Autor zu dieser Thematik tätig. In

seinem Buch „Mit Kindern neue Wege gehen“ gibt er viele praktische Anleitungen und

erzählt Konkretes aus dem Erziehungsalltag.

„Schon bald musste ich feststellen, dass es alles andere als leicht war, das zu leben, was ich

aus tiefster Überzeugung als richtig und wichtig ansah. (…) Vor kurzem fragte mich eine

Bekannte, was sich meiner Meinung nach in meiner Arbeit mit Eltern vor allem geändert

habe, seit ich selbst Vater sei. Nach kurzem Überlegen sagte ich: `Mein Mitgefühl für

Eltern.´ Vorher sah ich die ganze Thematik vor allem aus der Sicht des Kindes, und die

Schwierigkeiten der Eltern erschienen mir im Vergleich dazu oft einfach als Bequemlichkeit

oder Nachlässigkeit.“ (Valentin 2000, 19)

Es folgen nun einige Zitate zur Einstimmung in die Thematik:

„Es gilt der eindrucksvollsten Tatsache ins Auge zu sehen, dass das Kind ein Seelenleben hat,

dessen zarte Ausdrucksformen unbemerkt bleiben, und dass der Erwachsene, ohne es zu

wollen, den Aufbauplan der Kinderseele zunichte machen kann.

Die Umgebung des Erwachsenen ist keine lebenbringende Umwelt für das Kind, sondern eher

eine Anhäufung von Hindernissen, zwischen denen das Kind Abwehrkräfte entwickelt, zu

verbildenden Anpassungen genötigt wird und allerlei Suggestionseinflüssen unterliegt. Von

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dieser äußeren Wirklichkeit her ist bis heute die kindliche Psyche studiert worden, und von da

her hat man seine Eigenschaften abgeleitet, die zur Basis der Erziehung gemacht wurden. (…)

Soviel haben wir bereits erkannt: Hinter jeder überraschenden Antwort eines Kindes verbirgt

sich ein Geheimnis, und jede kindliche Laune ist Ausdruck einer tiefsitzenden Ursache, die

nicht bloß als oberflächlicher Zusammenstoß kindlicher Abwehrkräfte mit einer ungeeigneten

Umwelt gedeutet werden darf. Hier gibt sich vielmehr ein höherer, wesentlicher Charakterzug

des Kindes kund, der um seine Ausdrucksform ringt. Es ist, als ob ein Unwetter die Seele des

Kindes hindere, aus ihrem verborgenen Zufluchtsort hervorzutreten und sich nach außen zu

zeigen.“ (Montessori 2004, 115)

„Mit jedem Kind wird die Möglichkeit einer neuen Welt geboren. Wenn wir aufhören

könnten, es in die uns vertrauten Formen hineinzudrängen, die uns selbst aufgenötigt wurden

oder die wir aus Hilflosigkeit und Unwissenheit gebildet haben – wenn wir aufhören könnten,

Kinder zu erziehen, könnte diese jeweils neue Welt erstehen. Gefangen in unserer

gewordenen Struktur, verschütten wir jedoch immer wieder selbst die Quelle, die Leben

bringt.

Wenn wir dem innewohnenden, grundsätzlich Guten Raum geben würden, könnte es sich in

jedem Menschen manifestieren – unsere Persönlichkeit könnte sich um diesen Kern herum

angliedern und wäre getragen von der Kraft aus dem inneren Selbst.

Das Rettende, das zur Wendung des Schicksals unseres Planeten dringend gebraucht wird,

wäre dann da.“ (Valentin 2000, 9)

„In seinem Buch ′Schulen helfen nicht′ spricht Ivan Illich von einem Erziehungsmythos, dem

wir seit zweihundert Jahren wie einer heiligen Kuh dienen (…)

Der Glaube an die Macht der institutionalisierten Erziehung ist bei den Erwachsenen fast

unerschütterlich und überträgt sich systematisch auf die neue Generation. Sollten sich doch

einmal Zweifel anmelden, ist das folgende Argument unvermeidlich: `Ich kann es ja an mir

selbst sehen, wie gut mir die Schule getan hat. Schauen Sie doch, aus mir ist ja auch etwas

Rechtes geworden.`

Was steckt aber bei genauerem Hinsehen hinter diesem Mythos? Was ist das wirkliche Ziel,

das sich hinter dem Drang zu höherem Wissen, hoher Moral und Kultur verbirgt?

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Der versteckte Lehrplan bleibt unversehrt. Er ist dreifach und duldet keinen Widerspruch: Die

Schule erzieht unsere Kinder zum Gehorsam (du musst wissen, dass jemand besser weiß als

du, was, wie und wann und auch wie viel du lernen musst); sie erzieht zur Pünktlichkeit und

zur Routinearbeit. Für Wissenslücken können Auswege gefunden werden:

Nachhilfeunterricht, oder vielleicht die Möglichkeit, eine schlechte schriftliche Note mit einer

mündlichen aufzubessern. Doch wer nicht durch sein Benehmen beweist, dass er zur

Anpassung bereit ist, hat bald seinen Platz an einer ecuadorianischen (oder anderen?) Schule

verspielt.

Was sind sichtbare Folgen dieser Zustände? (…) Die Schlauen lernen alle Tricks, die ihnen

dienlich sind, um den Erwachsenen – Lehrer und Eltern – den Anschein eines

Erziehungserfolges zu geben.

In „Erinnerungen, Träume und Gedanken“ beurteilt C.G. Jung unsere Situation mit den

Worten:

Das Individuum ist aber in der Regel dermaßen unbewusst, dass es seine eigenen

Entscheidungsmöglichkeiten überhaupt nicht kennt und aus diesem Grunde sich immer

wieder ängstlich nach äußeren Regeln und Gesetzen umsieht, an die es sich in seiner

Ratlosigkeit halten könnte. Abgesehen von der allgemein menschlichen Unzulänglichkeit,

liegt ein gutes Stück Schuld an der Erziehung, die sich ausschließlich nach dem ausrichtet,

was man allgemein weiß, nicht aber von dem spricht, was persönliche Erfahrung des

Einzelnen ist. So werden Idealismen gelehrt, von denen man meist mit Sicherheit weiß, dass

man sie nie wird erfüllen können, und sie werden von Amts wegen von denen gepredigt, die

wissen, dass sie selber sie nie erfüllt haben, noch je erfüllen werden. Diese Lage wird

unbesehen hingenommen.“ (Wild 1991, 27ff)

„Was sind Kinder?

Eine dauernde Störung für den von immer schwereren Sorgen und Beschäftigungen in

Anspruch genommenen Erwachsenen. Es ist kein Platz für sie in den engen Häusern der

modernen Stadt. (…) Es ist kein Platz für sie auf den Strassen, denn die Fahrzeuge

beanspruchen immer mehr Raum, und die Gehsteige sind voll von eiligen Menschen. Die

Erwachsenen haben keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, denn auf ihnen lasten

dringende Pflichten. Vater und Mutter sind beide gezwungen zu arbeiten, und wo die Arbeit

fehlt, da bedrückt und schädigt die Not erst recht Kinder wie Erwachsene. Es gibt kaum einen

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Zufluchtsort, wo das Kind das Gefühl haben kann, dass sein Seelenzustand Verständnis

findet, wo es die ihm angemessenen Betätigungen ausüben darf. Es muss brav sein, sich ruhig

verhalten, es darf nichts berühren, was ihm nicht gehört. Alles ist unantastbares,

ausschließliches Eigentum des Erwachsenen und für die Kinder verboten. Was gehört ihm?

Nichts. (…)

Das ist die Situation des Kindes, das in der Umwelt der Erwachsenen lebt: ein Störenfried, der

etwas für sich sucht und nichts findet, der eintritt und sogleich fortgewiesen wird. (…)

Es ist ein an den Rand der Gesellschaft verwiesenes Wesen, das jedermann ohne Respekt

behandeln, beschimpfen und strafen darf, dank einem von der Natur verliehenen Recht: dem

Recht des Erwachsenen.

Ein seltsames seelisches Phänomen bewirkt, dass der Erwachsene sich scheut, eine passende

Welt für sein Kind zu schaffen. Auch im sozialen Organismus hat es keinen Platz, denn so

wie der Mensch seine Gesetze ausarbeitet, hat er die eigenen Erben ohne Gesetze und somit

außerhalb des Gesetzes gelassen. Schutzlos überlässt er sie dem tyrannischen Instinkt, der im

Herzen eines jeden Erwachsenen in Bereitschaft liegt. So ist es in der Tat, obgleich gerade das

Kind bei seinem Eintritt in die Welt neue Energien mitbringt, deren regenerierender Hauch

die stickigen Gase verjagen sollte, die sich von Generation zu Generation jeweils im Laufe

eines Menschenlebens voller Irrtümer immer wieder angesammelt haben.

(Montessori 2004, 7f)

2. Grundlagen der Existenzanalyse und Logotherapie

Im nun folgenden Kapitel beziehe ich mich auf Rolf Zimmermanns Arbeit „Erziehung zu

Freiheit und Verantwortung“.

2.1. Das Menschenbild bei Viktor Frankl

Der Kern der Anthropologie V. Frankls liegt in seiner Lehre von den drei Dimensionen der

menschlichen Existenz. Durch V. Frankl erhält die traditionelle Gliederung des Menschen in

Leib, Seele und Geist eine neue Bedeutung.

Für V. Frankl sind es nicht drei unterschiedliche Substanzen, aus denen der Mensch besteht,

sondern drei untrennbare Dimensionen des einen Menschen.

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• Die somatische Dimension:

Der Mensch als körperliches Wesen bildet die physische Voraussetzung menschlicher

Existenz. Sie ist Trägerin aller Vitalprozesse und der elementaren Bedürfnisse des Menschen

nach Ernährung, Schlaf und Reproduktion.

• Die psychische Dimension:

Zum Menschen als psychischem Wesen gehören die Triebe, die Affekte und die angeborenen

Begabungen. Die psychische Dimension ist verantwortlich für das Streben nach

Wohlbefinden und Lust, für das Vermeiden von Unlust und Frustration, für die

Verwirklichung von Neigungen und Vorlieben.

• Die noetische Dimension:

Das ist die spezifisch menschliche Dimension, die den Menschen als geistiges Wesen

ausweist. Erst durch sie wird es dem Menschen möglich, in seinem Leben einen Sinn zu

finden, sein Leben in Freiheit und Verantwortung zu gestalten und Menschen in Liebe und

Freundschaft zu begegnen. Sie ist nicht zu verwechseln mit dem Intellekt, der ein Werkzeug

des Geistes wie auch des intentionalen Fühlens ist. Die noetische Dimension ermöglicht dem

Menschen das Erfassen der geistigen Inhalte, wie Werte, Sinn, Wahrheit, Gerechtigkeit usw.

Ein wesentlicher Bereich dieser Dimension ist die Fähigkeit des Wertefühlens. (Frankl 1981)

Obwohl alle diese Dimensionen Voraussetzung für die menschliche Existenz sind, stehen sie

einander nicht gleichwertig gegenüber. Die somatische und psychische Dimension sind eng

miteinander verknüpft, während sich die noetische Dimension von den beiden anderen

distanzieren kann. Als Grundlage seiner Existenz benötigt der Mensch unbedingt die

physischen und seelischen Voraussetzungen. Er ist aber in der Lage, zu diesen persönlich

Stellung zu beziehen, sie zu formen und zu gestalten.

Je reifer eine Persönlichkeit entwickelt ist, umso mehr ist sie zur individuellen Stellungnahme

in der Lage. Hier kann sie ihre Freiheit verwirklichen.

Der Mensch als geistiges Wesen gewinnt die Freiheit (nach V. Frankl) in zweifacher Hinsicht:

• Durch Selbstdistanzierung kann er sich innerlich von seinen Trieben und Erbanlagen

emanzipieren. Dabei hilft ihm der Blick auf ein sinnvolles Tun. Um eines größeren

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Ziels willen kann er die Kraft gewinnen, die Triebkräfte zu überwinden, die diesem

Ziel entgegenstehen.

• Die Selbsttranszendenz ermöglicht ihm eine Öffnung gegenüber seiner Umwelt. Die

Bedürfnisse seiner Umgebung rufen ihn dazu auf, nicht in seinen Affekten oder seinen

bisherigen Wertvorstellungen gebunden zu bleiben. Der Mensch kann dazu Abstand

gewinnen und einen weiteren Horizont, der das Leben als Ganzes sieht und diesem

dienlich ist, gewinnen.

So kann er sowohl mit sich selbst, als auch mit der Welt in einen dialogischen Austausch

treten. (Frankl 1975) Es entsteht eine positive Dynamik, die mehr Leben, mehr Gemeinschaft

und eine grössere Freiheit ermöglicht.

Nach V. Frankl ist jedem Menschen ein grundlegendes Streben eigen:

Das Streben nach Sinn. Sinnvolles Leben ist sich des Zusammenhanges allen Lebens

bewusst. Es will sich so verhalten, dass nicht nur die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden,

sondern dass es darüber hinaus am Netzwerk arbeiten kann, das die Menschen, die

verschiedenen Kulturen und die Natur untereinander verbindet. Sinnvolles Leben hat diese

größeren Lebenszusammenhänge im Blick und handelt im Bewusstsein, dass der Einzelne ein

Teil des Ganzen ist.

Wenn der Mensch dieses Bewusstsein nicht erreicht, weicht er auf andere scheinbare

Möglichkeiten seiner Existenzverwirklichung aus, wie Luststreben (Freud) oder Machtstreben

(Adler).

Echter Sinn kann nicht verordnet werden, sondern muss von jeder Person in jeder Situation je

neu gefunden und verwirklicht werden.

Um Sinn finden zu können, sind zwei Fähigkeiten notwendig:

• Ein Gespür für die Wahrnehmung dessen, was für ihn selber einen Wert darstellt.

Sinnvoll leben heißt, Werte zu fühlen und zu verwirklichen. Durch das Gewissen

ist der Mensch in der Lage, seine eigenen Werte zu erfassen, den Sinn des

Augenblicks zu begreifen und die Anforderungen der Welt zu verstehen.

• Die Offenheit, auf das zu hören, was die Situation fordert, welche Frage das

Leben an ihn stellt. V. Frankl spricht hier von der Existenziellen Wende. Nicht

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der Mensch stellt Fragen an das Leben, an die Welt und erhebt Forderungen,

sondern er erwartet Anfragen vom Leben und ist bereit, darauf zu antworten.

Durch diese Haltung erreicht der Mensch höchste Freiheit in der Welt, die mit der Forderung

zur Übernahme von Verantwortung gekoppelt ist. Für V. Frankl bedeutet dies den höchsten

Reifegrad einer Person.

V. Frankl unterscheidet drei Wege zum Sinn:

1. Schöpferische Werte: Der Mensch wirkt gestaltend in die Welt hinein und verwirklicht

sich in ihr durch sein Tun.

2. Erlebniswerte: Durch sie nimmt der Mensch vielfältigen Anteil an den Qualitäten der

Welt und ist in der Lage, seinen Mitmenschen in Zuneigung und Anteilnahme zu

begegnen.

3. Einstellungswerte: Durch sie kann der Mensch schließlich auch dann noch einen Sinn

im Leben finden, wenn durch Schicksalsschläge die beiden anderen Wege versperrt

sind.

V. Frankl zeichnet so ein neues Bild des Menschen, der sich in Freiheit selber bestimmt, sein

Tun frei verantwortet und ein sinnvolles Leben gestalten kann. (Längle 1994)

2.2. Existenzanalyse als Grundlage einer „neuen“ Pädagogik

Das Erziehungsziel einer existenzanalytisch begründeten Pädagogik – ebenso der alternativen

Pädagogik – ist identisch mit dem Leitbild der franklschen Anthropologie: sie postuliert den

Menschen, der sein Leben in Freiheit selbst verantwortet, in den Anfragen des Lebens einen

Sinn zu erkennen und diesen auch zu verwirklichen vermag.

Dieses Menschenbild ist für unsere Zeit eine große Herausforderung und Anfrage, da sie dem

momentanen „Weltkurs“ völlig widerspricht.

Freiheit und Verantwortung sind wichtige Aussagen bei V. Frankl und auch in der

Pädagogik von R. und M. Wild. Ihre Pädagogik fördert individuelle Menschenbildung und

übernimmt dadurch auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung.

Diese alternative Pädagogik unterscheidet sich sowohl von autoritären, als auch von

antiautoritären Schul(versuch)en. Freiheit im Sinne von V. Frankl hat nichts zu tun mit

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„egozentrischer“ Selbstverwirklichung, und Verantwortung nichts mit einer anerzogenen

Moral.

Eine (existenzanalytische) Alternativpädagogik schafft Bedingungen zur Grundlegung von

Freiheit und Verantwortung und sorgt für die notwendigen Voraussetzungen, die zu ihrer

Entfaltung benötigt werden.

Freiheit und Verantwortung können nicht „beigebracht“ werden, sie können nur in eine

Richtung gewiesen werden. (Zimmermann 1997)

2.3. Die vier Grundmotivationen A. Längles als Vertiefung und Grundlagenschaffung

für die Anthropologie V. Frankls

A. Längle schuf mit den Grundmotivationen den „Unterbau“ zu V. Frankls „Willen zum

Sinn“. Für A. Längle gibt es drei basale Voraussetzungen zur Sinnmotivation: die drei

personalen Grundmotivationen. Fehlen diese, so kann auch das Sinnstreben nicht verwirklicht

werden.

1. Grundmotivation: Dasein-Können

Sie hat die Sicherung der eigenen Existenz zum Ziel.

„Ich bin da – kann ich sein?“

Erlebt der Mensch den notwendigen Raum, den erforderlichen Schutz und den gesicherten

Halt?

Sind Möglichkeiten und Bedingungen zum Leben vorhanden, oder erlebt er sie als

Bedrohung, als Verunsicherung?

Fühlt er sich von seinen Mitmenschen angenommen oder erfährt er Ablehnung?

Ermöglichen sie ihm Orte der Geborgenheit und Sicherheit?

Wird diese Grundmotivation erfüllt, dann ist der Seinsgrund der menschlichen Existenz, das

Grundvertrauen, das Ja zur Welt, vorhanden. Fehlt dieser „Nährboden“, wird die Angst

zum Grunderleben des Daseins.

2. Grundmotivation: Wertsein-Mögen

Sie richtet sich an das Leben und an die daraus erwachsene Gefühls- und Wertewelt.

„Ich lebe – mag ich leben?“

Hat der Mensch Wärme, Nähe, Zuwendung und Berührung erfahren?

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Kann er diese Erfahrungen auch weitergeben?

Besteht die Möglichkeit, ein ausgeprägtes Gefühlsleben zu entwickeln mit Liebe, Freude,

Trauer und Genuss, oder erlebt er sich verstoßen, entwertet? Verfällt er in illusionäre

Sehnsüchte?

Gelingt die Umsetzung dieser Grundmotivation, entwickelt sich der Grundwert des

menschlichen Lebens, das Ja zum Leben, an dem sich alles weitere Werterleben orientiert.

Wenn sie nicht erfüllt wird, verfällt der Mensch in Werteverarmung, Werteverlust und

schließlich in Depression.

3. Grundmotivation: Selbstsein-Dürfen

Dies bezieht sich auf die Person des Menschen selber, ihre Wertschätzung, Würde und

Autorität.

„Ich bin ich – darf ich so sein?“

Ist es dem Menschen möglich, eine Beziehung in Achtung und Wertschätzung zu sich selber

aufzubauen, kann er anderen Menschen in Anerkennung und Respekt begegnen? Hat er

diese Qualitäten selbst erfahren, oder wurde er stets nicht ernst genommen und verachtet,

lebte er in Verletztheit, Einsamkeit und Scham? Musste er „Theater spielen“, um sich zu

behaupten? (Längle 1993, 18)

Wenn diese Grundmotivation erfüllt ist, dann erwächst daraus der Selbstwert des Menschen,

das Ja zur Person. Bei Misslingen beginnt der Mensch unter Einsamkeit und

Selbstentwertung zu leiden. Dies kann schließlich zur Entwicklung einer Hysterie oder einer

narzisstischen Störung führen.

Diese drei personalen Grundmotivationen bilden also das Fundament, auf dem sich ein

sinnerfülltes Leben gestalten lässt.

4. Grundmotivation: Sinnvolles Wollen

Dieses Wollen hört auf den Anruf der Welt, auf das, was in der Situation gefordert ist. Es

versteht die Notwendigkeit des Augenblicks, die ihn auf allen Ebenen des Menschseins

handeln lässt, die ihn zum existenziellen Vollzug führt.

„Ich bin da – wofür bin ich da?“

Kann der Mensch die Anforderungen der Welt erleben und in ihr Erfüllung erfahren?

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Der Mensch antwortet auf die Bedürfnisse des Körpers (Hunger, Müdigkeit, Lust zur

Bewegung). Er lebt sein affektives Leben, in dem er sich mit andern austauscht über Freuden

und Leiden des Alltags, über die Schönheit und Vergänglichkeit der Welt. Und dann stellt

sich die Frage: Gibt es ein Ziel, eine Aufgabe, ein Ideal, dem er sich hingeben kann, oder lebt

er in einer inneren Leere, in Verzweiflung und in existenzieller Frustration? Gibt es eine

Aufgabe, für die es sich lohnt, mehr aufzuwenden als das, was zum Überleben nötig ist. Wie

kann ich in der Welt leben, ohne an der Grenze des eigenen Ich stehen zu bleiben, das mich in

seiner Enge gefangen halten will? Das Leben strebt nach außen, es will den Zusammenhang

allen Seins wahrnehmen, daran teilhaben und da hinein wirken.

Wenn diese vierte Grundmotivation nicht verwirklicht werden kann, verliert der Mensch

seinen Lebenswert, er befindet sich in einem existenziellen Vakuum. Es fehlt ihm etwas

Grundsätzliches, auch wenn er alle materiellen und sozialen Bedürfnisse erfüllen kann.

Die vier Grundmotivationen bieten jedem Menschen einen nachvollziehbaren Aufbau zu

einem sinnvollen Leben an. (Zimmermann 1997)

3. Die phänomenologische Grundhaltung in der Existenzanalyse

und ihr Äquivalent in der alternativen Pädagogik

3.1. Die Phänomenologie M. Schelers

Die Phänomenologie M. Schelers ist primär eine Einstellung des geistigen Schauens, die

durch liebende Hingabe, Offenheit, Vorurteilslosigkeit und ehrliches Hinnehmen des

unmittelbar Gegebenen charakterisiert ist. Die Gesetze der Logik sind nicht identisch mit

den Vorgängen im denkenden Bewusstsein. Es sind zeit- und raumlose Wahrheiten an sich.

Auf diese ideellen Wesenheiten richtet die Phänomenologie ihren Blick. Sie ist eine

Philosophie des Wesens – im Gegensatz zur rationalen Erkenntnis, die versucht, diese

Wesenheiten unmittelbar durch die „Wesensschau“ zu erfassen.

Scheler war als Mensch dem Mitmenschen in besonderer Weise existentiell zugewandt. Für

ihn stand die „liebende Teilnahme des innersten Personkernes am Wesen der Dinge“ (Störig

1987, 613) im Vordergrund.

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M. Schelers Phänomenologie ist im Hinblick auf V. Frankl von Bedeutung:

1. V. Frankl wehrt sich gegen alle Formen von Reduktionismen und setzt sich dafür ein,

das schlicht und evident Gegebene hinzunehmen und das Dasein und Leben des

Menschen in dessen Vielfalt gelten zu lassen.

2. In seiner therapeutischen Arbeit geht es V. Frankl darum, von eigenen Bedürfnissen

und Vorurteilen abzusehen und dadurch zur Existenzweise und zur Personalität des

Klienten zu gelangen, d. h. zu seinem individuellen Wesen Zugang zu finden.

Der Phänomenologe versetzt sich nämlich „in“ die existentielle Bewegung des Ich, d.h. in

sein Bezogen-sein-auf und Empfänglich-sein-für ein Universum von Personen, Lebewesen

und Dingen. In dieser echt phänomenologischen Haltung erscheint uns die Welt nicht mehr

als ein Komplex objekiver Daten, sondern als „Sinngebilde“, das im Laufe einer existentiellen

Zuwendung entsteht und bedeutungsvoll wird. (Wicki 1991, 14f)

In der Phänomenologie geht es primär um das Verstehen, nicht um das Deuten, das Erklären

oder das Interpretieren. Wichtig ist es, das Wesentliche der Situation zu erkennen und selbst

wesentlich zu werden (Selbsterziehung). (Längle, Vorlesungsmitschrift 2001)

Thema der Phänomenologie ist die Wahrnehmung, das Erkennenkönnen der Sache selbst,

der Dinge in ihrer Gegebenheit. Sie beschäftigt sich mit den Gegebenheiten im Kontext ihrer

Zusammenhänge, um so zu ihrem Wesen zu kommen. Die Phänomenologie will zu dem

vorstoßen, was diese Gegebenheiten im Grunde sind und welchen Sinn sie haben.

Phänomenologie ist ein Bemühen, Erkenntnis zu gewinnen, sie ist ein Werkzeug für die

Frage, was und wie weit ich erkennen kann. Es geht darum, vom Schein zum Sein

vorzustoßen, von der Oberfläche in die Tiefenwahrnehmung zu kommen. Die

Phänomenologie schaut auf beides und stößt so vom Schein hindurch in die Tiefe.

Phänomenologie ist darauf ausgerichtet, was in der Wahrnehmung enthalten ist und wie das

Wahrgenommene beschaffen ist. Es geht um das Eigentliche, die Essentia. Das Eigentliche

ist, wie wir unsere Welt verstehen. Die Phänomenologie differenziert zwischen der

Erscheinung und dem Wesen und setzt sich ab von einer naiven Alltagswahrnehmung. Sie

nimmt das als gegeben, was sich zeigt und ergänzt dieses mit Erfahrung. Phänomenologische

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Wahrnehmung bedarf der Übung und der beständigen Arbeit an sich selbst. Die

Phänomenologische Wahrnehmung versucht das zu verstehen, was tatsächlich ist.

Phänomenologie schaut auf das, was sich uns zeigt und versucht, das Wesen

zu erkennen. Die „phänomenologische Grundhaltung“ ermöglicht die Erkenntnis um die

Einzigartigkeit und Einmaligkeit des Menschen. Im Vergleich kann ich die Einmaligkeit eines

Menschen nicht wahrnehmen.

Voraussetzungen für die Wesensschau:

• Wir brauchen Sinneseindrücke mit detaillierter Ausgestaltung (Sinnesfetzchen), auf

die sich die Wahrnehmung stützt. Die Sinnesfetzchen sind deshalb bedeutsam, weil sie

einen Gehalt aufweisen: was nehme ich wahr, was tut sich in mir, was ist mein Gefühl

(Phänomenologie auch nach innen).

• Wir brauchen einen subjektiven Eindruck und ein subjektives Erleben.

• Es braucht die Einklammerung allen Vorwissens (Epochè). Als Gegenüber mache ich

mich leer. Alles was ich an Diagnosen weiß und meine eigenen Gedanken klammere

ich aus. Was sagt dieser Mensch mit seinem Blick, mit seiner Gestik,… Was teilen mir

die Augen mit? Was bewegt diesen Menschen? Das ist Intuition, das Eintauchen in

den anderen Menschen, das sich Hineinversetzen in ihn. Wenn ich sehen kann, was

einen Menschen bewegt, dann kann ich ihn verstehen.

Der phänomenologische Ansatz kann zwar erschüttern, aber er verletzt nicht.

Phänomenologie bedeutet Umlernen, es ist wie beim Lernen einer neuen Sprache. Dabei

bedarf es sehr vieler Übung und Zeit.

Der Begriff steht für eine Einstellung, für eine Grundhaltung, nämlich die des

geistigen Schauens. Man könnte auch sagen: des Schauens mit dem Herzen.

Alles, was ich anschaue, ist berechtigt, Erkenntnis zu liefern. Alles, was ich intuitiv

erfasse, nehme ich auf.

In dieser Grundhaltung bemühe ich mich, eine Sache aus ihr selbst heraus zu verstehen,

und nicht aus meinen Vorstellungen oder aus dem Zeitgeist heraus.

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Elemente des phänomenologischen Schauens:

• Im Vorfeld geht es darum, sich mit sich selbst zu beschäftigen, sich daraufhin

auszurichten, was nun geschehen wird.

• Der Prozess selbst gliedert sich in sieben Punkte:

1. Verschmelzungseffekt: Die Grenze zwischen Subjekt und Objekt hebt sich auf,

wir erleben eine Verbundenheit und Gemeinsamkeit. Statt Ich und Du entsteht ein

Wir.

2. Kommunikation: Es entsteht ein fließendes Miteinander anstelle eines statischen

Nebeneinanders. Man merkt plötzlich, worum es dem Gegenüber geht, und ist nun

in der Lage, in einen Dialog einzutreten.

3. Überraschung: Durch das Zurückstellen der Erwartung, des vorgefertigten Bildes

und des Öffnens kommt Unerwartetes herein. Wir können Erfahrungen machen,

mit denen wir nicht gerechnet haben.

4. Radikale Subjektivität: Ich beziehe mich nur auf das, was ich erlebe. Nur an mir

selbst kann ich erleben, was auf mich wirkt. Der Maßstab der phänomenologischen

Schau ist das eigene Wesen, somit die radikale Subjektivität.

5. Intimität: Durch die Öffnung für den Anderen bin ich intim zugänglich und

erfasse damit die Intimität des Anderen.

6. Selbstwahrnehmung: Jede phänomenologische Wahrnehmung ist auch eine

Wahrnehmung seiner selbst.

7. Ausschnitthaftigkeit: Die phänomenologische Wahrnehmung geschieht durch

eine Perspektive, durch die auf das Wesen geschaut wird. Diese Perspektive bin

ich selber als Wahrnehmender. Darum ist das Wahrgenommene nie das Ganze,

auch wenn es das Wesen ist. Aber es ist jetzt Realität.

• Nach einer phänomenologischen Schau bin ich verändert. Anderes ist in mich

eingegangen. (Längle, Vorlesungsmitschrift 2001)

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3.2. Versuch einer Gegenüberstellung der „phänomenologischen Grundhaltung“ in der

Existenzanalyse mit „Respekt und Achtsamkeit“ in der Alternativpädagogik bei

R. und M. Wild

Liebe, sei sie auch noch so tief empfunden und selbstlos, kann versauern, wenn es an dem

nötigen Respekt fehlt. (Wild 2003, 105)

Es ist eine große Gefahr unserer Zeit, lebende Organismen ähnlich zu behandeln wie

unbelebte Gegenstände. Unsere westliche, auf Nutzen und Ausnutzen gerichtete Zivilisation

hat das Empfindungsvermögen und Verständnis für die Zusammenhänge der Natur verloren.

Keine Wunder, dass wir ständig an Grenzen stoßen.

Wir leben in einem „morphogenetischen Feld“ mangelnden Respekts, von dem gerade Kinder

besonders betroffen sind. Sie sind besonders empfindsam, wenn wir sie nicht als Subjekte,

sondern als Objekte behandeln.

Traurige, lustlose, an uns klebende, ängstliche, hyperaktive, aggressive, übergescheite und

angespannte Kinder geben uns Alarmsignale. Diese „deformierten Kinder“ werden durch

medizinische und psychologische Behandlungen an unsere respektlose Gesellschaft

angepasst.

Die Alternativpädagogik von R. und M. Wild entscheidet sich, Lebensprozesse zu

respektieren und einen Lern- und Wachstumsprozess zu befürworten, der Erwachsene und

Kinder gleichermaßen einschließt.

Inmitten einer respektlosen Umwelt kann jede/jeder von uns im Umgang mit sich selbst und

seinem „Nächsten“ ein neues „morphogenetisches Feld“ schaffen, das sich dem Kraftfeld

einer weitestgehend lebensfeindlichen und fatalistischen Umwelt entzieht und nicht dem

Trend einer kollektivistischen Haltung blind folgt. (Fatalismus bei V. Frankl in: Wille zum

Sinn: Es kommt sowieso wie es kommt , ich kann nichts machen und nichts aufhalten;

kollektivistische Haltung bei V. Frankl in: Der Wille zum Sinn: So, wie es läuft, ist es ja ganz

gut, alle anderen machen es auch so, also kann es nicht ganz falsch sein. Warum sollte ich

mich anders verhalten, selber denken, Eigenverantwortung übernehmen und mich dadurch

aussetzen und verletzlicher machen?).

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Da dieses Kraftfeld wie ein magnetisches Feld unsichtbar wirkt, benötigen wir einen hohen

Grad an Gegenwärtigsein und Aufmerksamkeit selbst in den unscheinbarsten Situationen,

so, als müssten wir uns im Dunkeln orientieren. Die verbreitete Haltung, was „man

normalerweise tut“, ist charakterisiert durch Direktivität, d.h. das ständige Wirken von außen

nach innen. Probleme werden gelöst, indem der von außen Wirkende seinen Willen mittels

verschiedenster Techniken durchsetzt.

Darum erlangen pädagogische Umgangsformen ständig zunehmende Bedeutung. Je ernster

die Aufgabe der Erziehung genommen wird, desto attraktiver werden die Methoden zur

Stimulierung und Motivierung, zum Führen und Leiten.

Janusz Korczak hat dieses Hinbiegen der Kinder erkannt und auf die Wichtigkeit der

Erziehung der Erzieher hingewiesen. (J. Korczak ist ein polnischer Pädagoge, Mediziner und

Schriftsteller. 1942 wurde er zusammen mit den Kindern aus dem Waisenhaus in der

Warschauer Krochmalna 92 ermordet.)

Er empfindet die pädagogische Praxis seiner Zeit als etwas, bei dem es konsequent darum

geht, „alles einzuschläfern, zu unterdrücken und auszumerzen, was Willen und Freiheit des

Kindes ausmacht, seine Seelenstärke, die Kraft seines Verlangens und seiner Absichten.“

(Korczak 1998, 61)

Die Erziehung ist für ihn ein kreativer Prozess, ein suchendes Fragen und grenzenloses,

liebevolles Interesse. Unter Erziehung versteht er den Einfluss der Eltern, der Umgebung, der

Welt, der Literatur, des Lebens.

Korczak geht sogar so weit, dass er das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen als

einen Krieg mit ungleichen Gegnern bezeichnet. Er ruft zur Verteidigung der Kinder auf, zur

Verteidigung gegen Erwachsene, die den Kindern ihre Kindheit stehlen, die keine Antworten

auf die Fragen des Lebens wissen und keine Fragen an das Leben zulassen.

Er fragt nach der Erzieherpersönlichkeit, die durch die Anstrengungen der Reflexion und der

Selbstbeobachtung einen eigenständigen Beitrag zur Selbstachtung leisten und die ein guter

Beobachter des Kinderlebens sein soll. Der Erzieher sollte sich lebenslang und existentiell mit

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der Frage auseinandersetzen, wie er das Kind lieben, verstehen und achten kann. (Korczak

1998)

Was könnte uns helfen, allen diesen negativen und unbewussten Einflüssen zu entkommen?

Wir müssen diesen Einflüssen Grenzen setzen, d.h., dass wir dem Trägheitsgesetz, durch das

wir immer wieder in den Strom des „Normalseins“ gezogen werden, der uns dann

unweigerlich mitreißt, etwas Eigenes entgegenstellen. Dieses Eigene darf keine Idee sein, die

wir von jemandem übernehmen, sondern muss aus dem eigenen Tun und der daraus

folgenden Erfahrung erst wachsen (Freiheit und Eigenverantwortung in der Existenzanalyse).

Der erste Anhaltspunkt für das eigene Tun kommt aus der einfachen Einsicht, dass jeder

lebende Organismus in seiner Interaktion von innen nach außen einem inneren Plan folgt.

Die grundsätzliche Annahme dieses lebendigen Prinzips ist das Seil, an dem wir uns

festhalten können, wenn eigene Gewohnheiten und der Einfluss der Umwelt uns mitzureißen

drohen. Die Orientierung an diesem inneren Plan ermöglicht weiters, den eigenen Prozess

eines Kindes zu respektieren, indem wir nicht in seine Wahrnehmung eindringen, es

körperlich nicht hierhin und dorthin drehen, es nicht manipulieren wie ein Objekt, halb bei

ihm und halb bei etwas anderem sind, es überreden, ausfragen, unterbrechen, vorgreifen oder

die Probleme lösen, die innerhalb seiner Entwicklungsphase seine eigene Aufgabe wären.

Wenn wir dieser von innen her geleiteten Interaktion Aufmerksamkeit schenken könnten, sie

respektierten und mit ihr kooperierten, statt sie umzuleiten, zu blockieren oder ihr

entgegenzuarbeiten, würde sich das in vieler Hinsicht lohnen.

Ein in seinem inneren Programm respektierter Organismus strahlt vor Lebensfreude, ist

interessiert, konzentriert, harmonisch und bereit, sich mit Grenzen auf konstruktive Weise

auseinanderzusetzen. Er fühlt sich kompetent und voller Vertrauen, dass er Hindernisse

überwinden wird und nimmt Unterstützung von außen nur dann in Anspruch, wenn er

wirklich alleine nicht weiter kann.

Diese Interaktion wird von „innen“ angetrieben und ist impulsiv und daher schier

unermüdlich und machtvoll. Mit dieser Energie zu kooperieren, eine geeignete Umgebung für

sie bereitzustellen, ihr mit Achtung und Interesse beizuwohnen und sie als kreative Kraft

hochzuschätzen, das sind die Voraussetzungen dafür, dass die innere Motivation nicht

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geschwächt und mit Stimulierungen negativ von außen beeinträchtigt wird. Nur dann kann

sich der Organismus von innen nach außen formen und strukturieren. (Wild 2003, 105ff).

Die phänomenologische Grundhaltung der Existenzanalyse ist vergleichbar mit der Haltung,

die R. und M. Wild den Kindern gegenüber einnehmen. In ihr geht es darum, Raum, Schutz

und Halt zu bekommen, indem der Mensch sich als der wahrgenommen fühlt, der er ist. In der

Alternativpädagogik zeigt sich dieses Wahrgenommenwerden im Eingehen auf den Säugling,

im Bereitstellen der für ihn passenden Umgebung und Behandlung (z.B. im Abwarten der

Reaktionen des Säuglings, vor allem auch bei pflegerischen Tätigkeiten).

In den nun folgenden Absätzen beziehe ich mich auf die Vorlesungen von DDr. Alfried

Längle aus dem Jahre 1997 – 2001:

In der Existenzanalyse entspricht dies der 1. Grundmotivation. Es geht hier darum, das

Dasein in dieser Welt unter menschlichen Bedingungen zu ermöglichen und sicherzustellen.

Dafür braucht der Mensch „Raum zum Atmen“, der die Voraussetzung schafft, dass er das

Gefühl bekommt, „dasein zu können“ und das Faktische akzeptieren lernt.

Ich bin da in dieser Welt, hineingestellt in bestimmte Gegebenheiten und Bedingungen. Kann

ich sie annehmen, aushalten, so lassen?

Im Wahrnehmen und Betrachten des Faktischen wird das Leben angenommen und die

Belastungen werden ausgehalten.

Weiters geht es hier um die Annahme des Lebens, so wie es ist. Und so zeigen sich schon sehr

früh verschiedene Verhaltensweisen und Bedürfnissse. Es bedarf einer hohen

Aufmerksamkeit, diese feinen Nuancen einer Reaktion wahrzunehmen.

In der Existenzanlyse wird hier die 2. Grundmotivation deutlich. Im Schutz der

Geborgenheit des vom Leben berührten Seins wächst eine innere Beziehung zum Leben

heran. Es findet das Erleben des „Wie“ des Daseins statt. Die Zeit ist jener Bereich, in dem

das Fließen der Lebenskraft spürbar wird und in dem man sich vom Wert des Lebens

innerlich berühren lassen kann. Das wiederum bringt die eigene Lebenskraft in Bewegung.

Dank dieser Lebenskraft werden die Dinge ringsum und das eigene Dasein in ihrer

Werthaftigkeit erlebbar.

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Dazu bedarf es der Tätigkeit des Fühlens, wie etwas ist. Aus dem Anfühlen dessen, was ist,

kann man zur Abstimmung mit dem eigenen Sein kommen und sich dem Wertvollen des

Lebens zuwenden und sich auch seinen Belastungen und Verlusten stellen.

3.3. Auswirkungen von Achtsamkeit und Respekt auf der Beziehungsebene

Das erste Wirkende ist das Sein des Erziehers, das zweite, was er tut, das dritte, was er redet.

(nach Romano Guardini)

Kinder entwickeln sich nicht so sehr durch das, was man ihnen sagt oder ihnen erklärt,

sondern durch ihre konkreten Erlebnisse in der Umgebung, in die sie hineingeboren worden

sind. Hier ist das wichtigste die Atmosphäre, die sie umgibt: Strahlen die Erwachsenen vor

allem Unruhe, Ungeduld und Unachtsamkeit aus oder überwiegen Ruhe, Mitgefühl und

Einfühlsamkeit?

Ist die Umgebung unberechenbar (Fehlen von Raum, Schutz und Halt)?

Wird das Kind wie ein Objekt behandelt oder fühlt es sich willkommen und respektiert ?

Merkt es das Angenommensein und die Liebe, nur weil es da ist?

Sind die Eltern wirklich für das Kind anwesend, fühlt es sich von ihnen gesehen und

verstanden?

Tatsache ist, dass die Weise, wie wir sind (Authentizität) der Nährboden ist, auf dem das

Kind wachsen kann.

Für das Kind bedeutet das, von möglichst „ursprünglich-sich-selbst-seienden-Menschen“

Beziehung zu erfahren, d.h., sich im Schutze der Geborgenheit vom Leben berühren zu lassen

(2.GM) und eine innere Beziehung zum Leben zu finden.

3.3.1. Selbsterziehung

Die Qualität der Beziehung und die Art und Weise, wie wir unsere Kinder sehen, ist der

wesentlichste Faktor für ihre Entwicklung. Das ist auch der Grund, warum die Entwicklung

von Achtsamkeit so wertvoll und hilfreich ist. Wenn wir die Kinder wirklich so wahrnehmen

möchten, wie sie sind, und nicht automatisch, gewohnheitsmäßig und unbewusst auf sie

reagieren und so den Kontakt zu ihnen und ihrer inneren Wirklichkeit verlieren wollen, so es

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unerlässlich, unsere Aufmerksamkeit auch nach innen auf uns selbst und unsere eigene innere

Wirklichkeit zu richten, - im Dialog mit sich selbst sein.

Hier möchte ich speziell auf die PEA (Personale Existenzanalyse) in der Existenzanalyse

verweisen, die es möglich macht, mit uns selbst in Kontakt zu bleiben oder zu kommen. Die

PEA stellt eine Anleitung für den Prozess der Entwicklung einer autonomen, authentischen,

emotional erfüllten, sinnvollen und personal verantworteten Existenz dar. Die Person

vollzieht ihr Sein im dialogischen Austausch mit der Welt und sich selbst in vier Schritten:

• PEA 0: Hier handelt es sich um das Beschreiben von Fakten, Problemen und die

Beziehungsaufnahme zu diesen.

• PEA 1: Heben des Eindrucks, der primären Emotion und des phänomenologischen

Gehalts

• PEA 2: Der gewonnene Eindruck muss in das bestehende Wertsystem eingearbeitet

werden (verstehen – entscheiden – entschließen). Es kommt hier zu einer inneren

Stellungnahme, wodurch die Emotion integriert wird.

• PEA 3: Zuletzt findet die Selbstaktualisierung statt, in der der Mensch einen

adäquaten Ausdruck für seine gewonnene „Einsicht“ findet, eine sogenannte

handelnde Antwort. (Lexikon der EA 2000, 32)

Bei einem Forschungsprojekt wurde untersucht, welchen Einfluss das Bild des Lehrers von

seinen Schülern hat. Der Lehrer wurde auf neue Klassen vorbereitet, indem man ihm

willkürliche Mitteilungen über die einzelnen Schüler gab. Das Ergebnis war frappant:

Diejenigen Schüler, die als begabt vorgestellt wurden, entwickelten sich gut, die schwierigen

entwickelten sich langsam oder wurden sogar wirklich schwierig.

Aus diesem Versuch lässt sich ableiten, wie wichtig die Art und Weise des Gesehenwerdens

für das Selbstbild und das Selbstwertgefühl eines Kindes ist.

Unser innerer Zustand und die Art und Weise der Begegnung prägen die Kinder

außerordentlich stark.

Hier wäre auch der Ansatzpunkt zu Therapie und/oder Begleitung von Eltern. Es geht bei

jeder Erziehung des Kindes auch um die Selbsterziehung (Authentizität), die aber ohne Hilfe

von außen schwierig ist.

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Unter Authentizität wird in der Existenzanalyse eine personale Ursprünglichkeit verstanden.

In ihr kommt die Einmaligkeit und die wesensmäßige Einzigartigkeit der Person zum

Ausdruck, die sie in allen existentiellen Belangen unersetzlich macht.

Authentisches Handeln ist ein selbstvollzogener Akt, der subjektiv als ichhaft empfunden

wird. Authentizität lässt sich auch übersetzen mit „ursprünglich sich selbst sein“. (S. und A.

Längle 2000, 5)

Dieses „ursprünglich sich selbst sein“ ist nicht gegeben, sondern bedarf der permanenten

Arbeit an sich selbst, um grundlegende Dinge wie Raum, Schutz, Halt, Beziehung und

Respekt überhaupt weitergeben zu können.

Das Bewusstsein von Eigenerziehung (innerer Dialog/Selbstannahme) fehlt oft, die

Problematik wird beim Kind gesucht.

Es wird nicht erwartet, dass wir alles richtig machen müssten, wichtig ist die Entwicklung

einer inneren Haltung (phänomenologische Grundhaltung), die von Liebe, Achtsamkeit und

Respekt geprägt ist.

Wenn wir herauszufinden versuchen, wer das Kind in seinem Wesen wirklich ist, geben wir

diesem inneren Wesen die Nahrung, die es braucht, um sich entfalten zu können. Sehen wir

das Kind jedoch als schwierig, minderbemittelt, inkompetent oder in einer anderen Weise als

minderwertig an, so wird es in seinem Selbstwertgefühl stark beeinträchtigt sein und sein

eigentliches Potential nur schwer entfalten können.

Daraus darf nicht geschlossen werden, dass man Kindern keine Grenzen setzen soll – im

Gegenteil. Die Grenzen sollen aber nicht als Selbstverteidigung mit einer inneren Haltung der

Ablehnung und Bewertung gezogen werden, sondern sie sollen mitfühlend und fest gesetzt

werden.

Neben der Art, wie wir unsere Kinder sehen, spielt auch unser alltägliches Leben eine große

Rolle. Die Kinder erfahren dabei, wie wir unser Leben leben (Authentizität, Freiheit und

Verantwortung), mit anderen Menschen und Dingen umgehen, was wir tun, fühlen und

denken.

Wichtig ist es, sich dieser inneren Vorgänge und Prozesse, der „Introjektionen“ (Fritz Perls),

bewusst zu werden und mit ihnen authentisch umzugehen. Keine Hilfe gibt es, wenn wir uns

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den Anschein eines guten Modells geben und alle inneren und äußeren Konflikte zu verbergen

versuchen. Unser innerer Zustand wirkt in jedem Fall, und so ist die innere Arbeit an sich

selbst unerlässlich, will man mit Kindern neue Wege gehen.

Voraussetzung für diese innere Arbeit ist die Selbstannahme (PEA), mit all unseren Fehlern

und Schwächen. Sonst endet die innere Arbeit in einer Art Selbstmanipulation und

Selbstkonditionierung. Auch die Arbeit an uns selber muss von Liebe und Mitgefühl getragen

sein, wenn sie zu einer wirklichen Veränderung führen soll. Und echte Entfaltung ist ein

langsamer, organischer Prozess.

Welche Bedingungen sind nun notwendig, damit echte Entwicklungsprozesse stattfinden

können?

Die innere Gesetzmäßigkeit will beachtet werden. Der Respekt vor dieser ist so groß, dass die

Entwicklungsprozesse der Kinder (bei R. und M. Wild) gegen alle anderen „äußeren“

Erwägungen vorrangig berücksichtigt werden.

Echte Entwicklungsprozesse und Lenkung von außen müssen klar erkenntlich sein. Nur dann

ist es möglich, auf geeignete Weise mit Kindern umzugehen.

Um diese Unterscheidung treffen zu können, ist es hilfreich, sich auf die Gesetzmäßigkeiten

des biologischen Reifens zu besinnen. Die spezifischen Strukturen jedes lebenden

Organismus bestimmen, was für ihn Freiheit und was Grenzen sind (dank seiner Fischstruktur

bewegt sich der Fisch frei im Wasser).

Umgelegt auf Kinder bedeutet es, dass wir die Umgebung des Kindes als Grundbedingung für

geeignete Entwicklungsprozesse genauer betrachten müssen. In jungen Jahren befinden sich

die Kinder in der Entwicklung ihrer biologischen Strukturen. Das Kind ist nicht nur auf eine

natürliche Umwelt angewiesen, sondern auch auf eine Betreuung durch Menschen, welche die

Wachstumsprozesse der Heranwachsenden erkennen und respektieren. Sie sollen das

Bedürfnis nach einer begrenzten Umgebung wahrnehmen und gleichzeitig die notwendigen

Impulse zur Entwicklung geben.

3.3.2. Aufbau einer Beziehung bei Säuglingen und Kleinkindern

Anna Tardos (Tochter von Dr. Emmi Pikler und Leiterin der Lozy in Budapest) betont immer

wieder, dass das Bild, das wir von einem Kind haben, unseren Umgang mit ihm prägt. Es

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macht einen großen Unterschied, ob wir in einem Säugling bei seiner Geburt einen Menschen

erkennen, den wir als verständig und empfindsam betrachten, oder ob wir ihn als „noch nicht

fertigen Menschen“ ansehen. Dementsprechend werden wir ihn auch behandeln und nur seine

Grundbedürfnisse abdecken.

Was wir nicht wahrnehmen ist, dass alles, was wir mit einem Kind machen, unvorbereitet

geschieht, wenn wir ihm keine Möglichkeiten geben, sich darauf einzustellen. Orientierende

Worte wiederum richten wir nur an Menschen, von denen wir annehmen, dass sie uns auch

verstehen. Die gängige Haltung ist , dass Säuglinge und Kinder den Erwachsenen ja nicht

verstehen. Würden wir die Kinder aber genau beobachten, könnten wir feststellen, wie sie

unseren Worten lauschen, Interesse an der Unterhaltung zeigen und signalisieren: ich habe

diese Worte verstanden; sie sind an mich gerichtet und haben mit meiner Person zu tun. Ein

Säugling fühlt sich angesprochen, wenn er merkt, dass uns seine Reaktion wichtig ist. Und

dafür braucht es Zeit und Achtsamkeit.

Viele kleine Zeichen, die nur bei einem hohen Ausmaß an Achtsamkeit wahrgenommen

werden können, ermöglichen den Aufbau einer Beziehung und stellen die Grundlage für

Vertrauen dar.

Durch die Bereitschaft des Erwachsenen, die Reaktionen des Kindes abzuwarten, fühlt sich

das Kind von Anfang an als Person ernst genommen. Es erfährt sich als jemand, der anderen

ein wertvoller Mensch ist und an der Interaktion mitwirken kann. Erste Erfahrungen von

sozialer Kompetenz finden schon im Kleinkindesalter statt (z.B.: wir ziehen dem Kind eine

Jacke an und warten, bis es uns seine Ärmchen entgegenstreckt).

Für die Reifung ist es wesentlich, wie sich der Mensch in Verbindung mit seinem in sich

tragenden Potenzial an Fähigkeiten erlebt. Die Forschungsergebnisse bestätigen, dass jeder

Mensch mit einem Entwicklungspotenzial zur Welt kommt, für das geeignete Bedingungen zu

dessen Entfaltung geschaffen werden müssen, damit selbstbestimmtes Lernen möglich

werden kann.

Damit Kinder Vertrauen ins Leben entwickeln können, braucht es vor allem die Möglichkeit

zur Entwicklung von Selbstvertrauen, das im Zusammenhang mit Selbstgefühl nur da

entstehen kann, wo meine Person die Verbindung zu dem bewahren kann, was die innere

Stimme ihr immer wieder mitteilt, was sozusagen vom Herz zum Gehirn gesendet wird,

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sodass ich damit in Kontakt bleiben kann, weil mir nicht von außen Dinge eingeredet,

aufgezwungen oder angetragen werden.

Wenn ich ein Kind erlebe, das in sich ursprüngliches Interesse zum Tätigwerden trägt, dann

werde ich ihm dafür Möglichkeiten anbieten. Ich werde dafür sorgen, dass es Bedingungen

vorfindet, die ihm Wohlbefinden bescheren, sodass es die Aktivitäten setzen kann, für die es

bereit ist.

Das Fehlermachen ist nach wie vor negativ besetzt. Kinder, die etwas Neues kennen lernen

und sich daran erproben, gehen noch nicht so an die Dinge heran wie Erwachsene. Sie

probieren, und im Probieren entdecken sie, wie etwas wirklich zustande kommt. Der

Begabungsforscher Heinrich Jacoby spricht von „Erarbeiten“ und davon, dass Erarbeiten

bedeutet, immer am Falschen erfahren, entdecken, erarbeiten, was weniger falsch ist, und

dadurch nicht nur zu erkennen, was richtig ist, sondern vor allem auch, wie das Richtige

zustande kommt und warum gerade dieses das Richtige ist. (Jacoby 2004)

Solche Erfahrung ist jedoch nur dann möglich, wenn die gestellte Aufgabe bewältigbar

ist, bzw. eine, die der Initiative des Kindes entspricht. Wenn dies nicht gegeben ist, dann lässt

natürlich auch sehr bald das Interesse nach. Das Verständnis, mit dem an einer Aufgabe

gearbeitet wird, kann nie die Qualität haben wie jenes für eine Aufgabe, die ich mir selbst

gestellt habe und für die ich bereit bin, Mühe auf mich zu nehmen, um zu einem Ergebnis zu

gelangen. (Pichler-Bogner 2006)

Der Beziehungsaspekt ist der zweiten Grundmotivation zugeordnet. Hier ist vor allem

wichtig, dass der Mensch Beziehung, Wärme und Geborgenheit erfährt. Diese erfährt er

allerdings nur dann, wenn es nicht um Erziehung im klassischen Sinne geht, d.h. wenn die

Hauptaufgabe nicht darin besteht, „alles einzuschläfern, zu unterdrücken und auszumerzen,

was Willen und Freiheit des Kindes ausmachen“ (Korczak 1998, 61) , sondern wenn es um

echte Beziehung geht, die den Menschen vor Augen hat. Das bedeutet ein Einfühlen in den

Menschen, in seine gegenwärtige Situation und seine Bedürfnisse und ein Wahrnehmen der

Lebensprozesse.

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3.3.2.1. Die vorbereitete Umgebung

• Kinder brauchen eine vorbereitete Umgebung, Freiheit und Grenzen.

• Grenzen gehören zum Leben.

• Ohne geeignete Grenzen können wir nicht in Frieden zusammenleben.

• Ohne geeignete Grenzen lassen sich Liebe und Respekt nicht in die Praxis umsetzen.

Jedes organische Leben entwickelt sich als Interaktion zwischen einem lebendigen

Organismus und seiner Umgebung. Jedes Lebewesen enthält in sich sein eigenes

artspezifisches Entwicklungsprogramm einschließlich der Möglichkeit zu einer neuartigen

Interaktion mit seiner Umgebung. Allerdings kann diese Entfaltung nur in einer seinen

Entwicklungsbedürfnissen entsprechenden Umgebung stattfinden. Für den Menschen

bedeutet das, dass sich auch Entscheidungsfähigkeit, Kreativität, Intelligenz, soziales und

ethisches Verhalten ganz natürlich entwickeln, wenn die Umgebung dies zulässt. Es wäre die

Aufgabe der Erwachsenen, Kindern in ihrer Entwicklungszeit immer wieder eine Umgebung

zu schaffen, die es ihnen erlaubt, ihren echten Bedürfnissen gemäß zu leben. (Valentin 2000,

51ff)

Wenn wir uns auf eine Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen einlassen, dann

können wir Wege zu neuen menschlichen Beziehungen beschreiten. Wir sind es inzwischen

gewohnt, uns an Vorschriften und Ratschlägen von Experten zu orientieren. Deshalb halten

wir es nur schwer aus, die Antworten auf unsere Fragen immer mehr aus unserer eigenen

Erfahrung abzuleiten. Wenn wir aus dem Gewohnten ausbrechen, stellen sich viele Fragen:

• Wie können wir erkennen, ob die Qualität der Umgebung und der Beziehungen in

Einklang mit den Entwicklungsbedürfnissen steht?

• Welche Merkmale zeigen sich, wenn Entwicklungsprozesse dem inneren Plan

entsprechen, und welche, wenn sie ihn behindern?

• Genügt es, dass wir dank unserer Veränderungen im Zusammenleben mit Kindern

weniger gestresst sind, oder müssten wir uns Gedanken über die Richtung machen, in

die wir uns zusammen mit den Kindern entwickeln möchten?

Grenzen, die wir setzen, hängen davon ab, auf welche Prozesse wir uns selber einlassen und

welche wir ausklammern. Die „aktive Erziehung“, wie R. und M. Wild ihre Pädagogik

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nennen, musste sich von den gewohnten Begründungen für Regeln und Grenzen lösen, die

davon ausgehen, dass Kinder sich anpassen müssen und dass man ihnen Respekt für andere

Menschen und die Natur beibringen müsse.

Es ist wichtig, dass geeignete Grenzen (Grenzen geben Halt, nehmen das Kind ernst) nicht die

Funktion erfüllen, bestimmte Ziele zu erreichen, sondern ihren Sinn auf einer anderen Ebene

haben. Menschen, die traditionelle Grenzsetzung und Regeln gewohnt sind, haben viel Mühe,

diese andere Ebene zu betrachten.

Grenzen in der „aktiven Erziehung“ dienen dazu, die Umgebung entspannt zu halten, denn

echte Entwicklung ist nur in einem entspannten Umfeld möglich.

Um die Bedeutung von Zuwendung, Liebe, Achtsamkeit und Respekt für die harmonische

Entfaltung von Kindern zu verdeutlichen, kann es hilfreich sein, sich die Grundbedingungen

für echte Entwicklungsprozesse zu verdeutlichen.

• Wenn das Kind geboren wird, hat seine innerste neurologische Struktur bereits einen

Entwicklungsstand erreicht, der ausreicht, um das Überleben seines Organismus von

innen her zu steuern. Dazu ist natürlich eine vorbereitete Umgebung Voraussetzung.

• Von der Geburt bis etwa zum achten Lebensjahr ist es das Hauptanliegen der

Natur, das limbische System zu entwickeln, das für die Koordinierung des

Gefühlslebens, der Motorik und der Sinne verantwortlich ist.

• Vom achten Lebensjahr bis zum einsetzen der Pubertät geht es um die

Ausbildung der Hirnrinde. Nur wenn sie voll operativ ist, dient sie als zuverlässiges

Instrument für analytisches Denken, sinnvolle Symbolik und wirklichkeitsbezogene

Abstraktion. Dies geschieht vor allem durch den Umgang mit konkreten Gegenständen

und durch die Interaktion mit einfachen sozialen Situationen. In der Pubertät verlagert

sie sich auf immer komplexere Interaktionen im sozialen Bereich. Wenn dieses

Bedürfnis nach reicher, verschiedenartiger Interaktion erfüllt wird (statt dass die

Jugendzeit mit streng fachgebundenem Unterricht angefüllt wird), kann sich die

Fähigkeit zu vernetztem Denken entwickeln.

• Nach dem zwanzigsten Lebensjahr ist unsere Entwicklung nicht abgeschlossen,

allerdings geht es jetzt mehr um eine innere Bewusstseinsbildung, mit der wir oft

unsere Schwierigkeiten haben, da wir gelernt hatten, von außen programmiert zu

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werden. Wachstum und Entwicklung sind jedoch spontane Prozesse. (Wild 1998 und

2003)

3.4. Auswirkungen einer respektvollen Grundhaltung auf das kindliche Gehirn

Der Mensch kommt mit einem „einzigartigen“ Gehirn in diese Welt. Sein Gehirn ist einmalig

in seiner Offenheit, Lernfähigkeit und wie bei keiner anderen Art durch eigene Erfahrungen in

seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung formbar. Der Mensch ist, um zu

überleben, über einen langen Zeitraum auf Fürsorge, Schutz, Unterstützung und Lenkung

durch Erwachsene angewiesen. Außerdem ist bei keiner anderen Art ein solch hohes Ausmaß

an emotionaler, sozialer und intellektueller Kompetenz erforderlich wie für die

Hirnentwicklung beim Menschen. Da diese Fähigkeiten bei den Erwachsenen, die für die

Gestaltung der Entwicklungsbedingungen eines Kindes ja maßgeblich sind, unterschiedlich

entwickelt sind, können die Kinder die hochkomplexen Verschaltungen im Gehirn nicht

immer entwickeln. (Hüther 2006, 20) Auch hier zeigt sich wieder die Notwendigkeit der

Selbsterziehung der Erwachsenen, ohne die es kein Fortschreiten in der Entwicklung gibt.

Die Grundvoraussetzungen einer „Vorbereiteten Umgebung“ wirken sich positiv oder

negativ auf das Gehirn aus.

Unser Erziehungs- und Schulsystem geht weitgehend davon aus, dass Kinder „Begabungen

und Minderbegabungen“ mitbringen. Schon früh beginnt die differenzierte Förderung der

Kinder. Schulen werden zu Dienstleistungsbetrieben, Eltern geraten in die Rolle zu

reklamieren, wenn das „Produkt“ nicht entspricht.

Was auf diesem „gängigen“ Boden nicht wachsen kann, sind enge menschliche Beziehungen

zu sich selbst und zu anderen. Und ohne diese gelingt das Ziel der Bildungseinrichtungen

nicht.

3.4.1. Die Funktion des Gehirns

Arthur Koestler (kommunistischer Journalist, der mit dem Kommunismus brach und sich mit

Hirnforschung beschäftigte) kam bei seinen Forschungen zu erstaunlichen Ergebnissen. Er

baute auf den Thesen des Neurologen MacLean auf, der die dreiteilige Strukturierung unseres

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Gehirns und deren Bedeutung als erster Wissenschaftler beschrieb. Er nannte diese drei

Strukturen, in der Reihenfolge ihres evolutionären Erscheinens und ihrer Anordnung in

unserem Kopf, das Retikulär-System, das Limbische System und den Neocortex.

Vereinfachend sprach er vom Reptilienhirn, vom Säugetierhirn und vom höheren

Säugetierhirn, dem Großhirn, das es uns Menschen ermöglicht, zu denken und einen freien

Willen zu entwickeln.

Koestler ging davon aus, dass der Mensch ein Irrläufer der Evolution sei. Die drei

Gehirnstrukturen wären in seiner Evolution zu schnell übereinander gestülpt worden, würden

nicht integriert arbeiten und daher sei es unvermeidbar, dass seine ganze Intelligenz immer

wieder von den niederen Trieben beherrscht würde.

Im Gegensatz dazu gibt es andere Forscher, die sich ebenfalls mit dem destruktiven

beziehungsweise anderweitig gestörten Verhalten des Menschen befassten. Auch hier war das

Ergebnis, dass das Fehlverhalten aus der mangelnden Integration der drei Gehirnstrukturen

herkommt. Allerdings unterscheiden sie sich wesentlich in ihrer Ansicht über die Ursache für

diese mangelnde Integration. Diese sei keine evolutionäre Fehlentwicklung, sondern die Folge

von ungeeigneten Erfahrungen in der Entwicklungszeit, die nicht verarbeitet werden konnten

und so zu Blockierungen in der Zusammenarbeit der verschiedenen Strukturen führten.

An diesem Punkt zeigt sich deutlich, wie wichtig für eine harmonische Integration ihrer

Gehirnstrukturen die Art ist, wie Kinder aufwachsen. Außerdem wurde noch deutlich, dass

sich bei entsprechenden Bedingungen bestehende Blockierungen auch wieder lösen können.

So kann die Beschäftigung mit der Gehirnforschung zu einem tieferen Verständnis für

menschliche Entwicklungsprozesse und therapeutische Heilprozesse führen.

3.4.2. Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes

M. Montessori sprach vom inneren Bauplan des Kindes, der sich erfüllen möchte. Diese

Sichtweise wird durch die neurologische und neurobiologische Forschung bestätigt und liefert

uns die Erklärungen für die Folgen, wenn wir die inneren Gesetzmäßigkeiten für eine

harmonische Entfaltung des Menschen nicht beachten.

Ein Großteil des Verlustes an Kreativität geht auf das Konto der üblichen Schulbildung, die

hauptsächlich auf Wissensvermittlung beruht. Wie Joseph Chilton Pearce anhand

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verschiedener neurobiologischer und entwicklungspsychologischer Studien aufgezeigt hat,

kann eine solche Form der Wissensvermittlung nicht zu wirklichem Verständnis führen. Was

erreicht wird, ist Konditionierung und ein Sammelsurium von unverdauter Information.

Wirkliches Verständnis und damit die Fähigkeit, Situationen in ihrer Gesamtheit

wahrzunehmen und so zu einer angemessenen Lösung zu kommen, kann sich nur entfalten,

wenn Kinder aus ihren eigenen Erfahrungen lernen dürfen. Nur wenn sie die Möglichkeit

haben, ohne Druck oder Führung von außen, in einer ihren jeweiligen Bedürfnissen

entsprechend vorbereiteten Umgebung ihre eigenen Erfahrungen zu machen, lernen sie die

Welt nicht „auswendig“, sondern „inwendig“ kennen. Sie sind dann in wirklichem Kontakt

mit der Welt gegenwärtig und lernen aus ihren Erfahrungen.

Wirkliche Kreativität kann sich nur entwickeln, wenn wir mit einer Situation voll in Kontakt

stehen, wenn wir alle Aspekte in Betracht ziehen und den inneren Raum haben, für eine neue

Lösung offen zu sein.

Wenn die jungen Menschen vollgestopft sind mit vorgekautem Wissen und

Konditionierungen, können sie diese Art von Kreativität kaum noch aufbringen. Der einseitig

geschulte Intellekt hat den Bezug zur Wirklichkeit verloren und kann Situationen, die nicht in

eine „erkannte Form“ passen, nicht mehr erkennen und somit die Folgen des Tuns nicht mehr

abschätzen.

Bei dieser Art von Belehrtwerden von außen schwindet neben der Kreativität auch die

Lebensfreude, echtes Interesse und der Mut, sich auf offene Situationen einzulassen und aus

ihnen zu lernen.

Um Kinder in ihrem Forschergeist und in ihrer Phantasie anzusprechen, müssen wir ihnen

eine ihren Entwicklungsbedürfnissen entsprechend vorbereitete Umgebung (1. GM) zur

Verfügung stellen und uns ihnen ganz zuwenden (2. GM). Indem wir uns auf achtsame und

aufmerksame Weise diesem kindlichen, noch pulsierendem Leben zuwenden und ihm Raum

geben, sich zu entfalten, können auch wir unserer ursprünglichen Lebensfreude, unserer

Kreativität und unserer wahren Identität näher kommen.

Der Weg ist nicht leicht, da wir bereit sein müssen, uns verändern zu lassen und unsere

inneren Grenzen zu erweitern, aber er wird für die Kinder und für die Erwachsenen von

unbezahlbarem Wert sein. (Valentin 2000)

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3.4.3. Emotionale Intelligenz

Rechte Erziehung beginnt mit dem Erzieher, der sich selbst verstehen und sich von

schematischem Denken befreien muss – denn was er ist, überträgt er auf andere. Wenn wir

uns selbst nicht verstehen, wenn wir unsere Beziehung zum Kinde nicht erfassen – wie

können wir dann überhaupt eine neue Art von Erziehung einführen? (Jiddu Krishnamurti)

Emotionale Intelligenz kann man niemandem beibringen. Menschliche Werte, wie Mitgefühl,

Empathie, Eigenständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, ein gesundes Selbstwertgefühl und

Respekt gegenüber anderen Menschen und der Natur, entwickeln sich im Kinde ganz

natürlich, wenn es diesen Qualitäten in seinem Umfeld begegnet, wenn es selbst mit Respekt

und Einfühlsamkeit behandelt wird.

Unter diesem Aspekt können wir Kinder nicht als ein Objekt der Erziehung betrachten. Es ist

nicht wichtig, ob ein Kind „richtig erzogen“ ist. Bedeutsam ist, wie wir unserem Kind

begegnen, was wir ihm durch unser Sein vermitteln, es ist also die Beziehungsqualität, die den

Alltag mit unseren Kindern bestimmt. (Valentin 2000)

Die emotionale Erfahrung der Kinder – wie sie sich fühlen – hat eine ungeheure Auswirkung

auf ihr Wachstum und auf ihre Entwicklung. Es ist die Grundlage, auf der das Lernen, das

Erinnerungsvermögen, die Gesundheit und das Wachstum basieren. Deswegen ist es

notwendig, dass Kinder positive emotionale Erfahrungen machen. Das beginnt damit, dass

Kinder bedingungslos gewollt sind, akzeptiert und geliebt werden.

J. Pearce kennt bei der Erziehung nur zwei Arten von Lernen. Die eine ist das wahre Lernen

und die andere ist Konditionierung. Konditionierung ist eine von Angst geprägte Reaktion des

älteren Gehirns (Hinterhirn, Reptiliengehirn). Dieser Teil des Gehirns ist auf das Überleben

und auf die Arterhaltung ausgerichtet, er reagiert auf Bedrohung. Hier findet zwar auch

Lernen statt, aber eben nur konditioniertes Lernen, das eng mit emotionalen Zuständen wie

Feindseligkeit, Wut, Angst und Sorge verbunden ist.

Echtes Lernen hingegen findet nur in einer positiven, unterstützenden emotionalen Umgebung

statt (höhere Stirnlappen, kreatives Gehirn). Der Grund dafür liegt darin, dass das Gehirn

beim ersten Anzeichen einer wahrgenommenen Bedrohung seine Funktionen aus dem hohen,

vorderen Stirnlappenbereich in die alten Abwehrmechanismen des Reptiliengehirns verlagert.

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Von Bedeutung ist, ob sich ein Kind sicher und geliebt fühlt, oder ob es das Gefühl hat, sich

gegen eine feindselige Welt schützen zu müssen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die

Intelligenz des Kindes.

Das Kind soll nicht nur auf das Leben vorbereitet werden, sondern es sollte ihm erlaubt sein,

in der Phase, in der es sich gerade befindet, in Fülle zu leben. (Pearce)

Um einem Kind dies zu ermöglichen, bedarf es wiederum der Achtsamkeit des Erwachsenen.

Jon Kabat-Zinn definiert das so: „Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Weise

aufmerksam zu sein: absichtlich, im gegenwärtigen Moment und nicht urteilend.“ (Goleman

1995, 68)

Achtsamkeit ist ein Bewusstseinszustand, der sich nicht von Emotionen fortreißen lässt, der

auf Wahrgenommenes nicht überreagiert und es nicht noch verstärkt. Sie ist eine neutrale

Einstellung, die auch in turbulenten Situationen die Selbstreflexion bewahrt.

Viele Untersuchungen bestätigen die Wichtigkeit der Art, wie Eltern ihre Kinder behandeln.

Für das Gefühlsleben hat es weitreichende Folgen, ob dem jungen Menschen mit strenger

Disziplin, mit empathischem Verständnis, mit Gleichgültigkeit oder mit Wärme begegnet

wird. Inzwischen ist auch bewiesen, dass schon die Tatsache, emotional intelligente Eltern zu

haben, für ein Kind ein großer Vorteil ist.

Forscher der Universität Washington stellten fest, dass Kinder von emotional klugen Eltern

ein besseres Verhältnis zu ihren Eltern haben, ihnen größere Zuneigung entgegenzubringen

und weniger Spannungen mit ihnen haben als Kinder, deren Eltern mit Gefühlen nicht

zurechtkommen.

Die ersten Lebensjahre bieten die beste Gelegenheit, die emotionale Intelligenz zu formen.

Doch auch in den weiteren Lebensphasen ist dies noch möglich. Allerdings bauen die später

erworbenen emotionalen Fähigkeiten auf denen auf, die in der ersten Zeit erworben wurden.

Diese Fähigkeiten sind die Grundlage für das gesamte Lernen.

In einem Bericht des National Center for Clinical Infant Programs kann man lesen, dass der

Schulerfolg weniger vom Faktenwissen oder einer vorzeitigen Lesefähigkeit abhängt, sondern

vielmehr von emotionalen und sozialen Messgrößen. Ein Kind muss selbstsicher und

aufgeweckt sein, es muss wissen, welches Verhalten erwartet wird, damit es den Impuls zu

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schlechtem Betragen zügeln kann. Es muss warten können, Anweisungen befolgen, es muss

in der Lage sein, sich um Hilfe an Erwachsene zu wenden. Schließlich muss es fähig sein,

seine Bedürfnisse zu äußern und mit anderen Kindern zu kooperieren.

In diesem Bericht werden sieben wichtige Bausteine für das Lernenkönnen (emotionale

Intelligenz) genannt:

1. Selbstvertrauen: Ein Gefühl, seinen Körper, sein Verhalten und die Welt kontrollieren

und meistern zu können; das Kind hat das Gefühl, dass das, was es unternimmt, in der

Regel gelingen wird und dass Erwachsene ihm helfen werden.

2. Neugier: Das Gefühl, dass es positiv ist und Freude bringt, etwas herauszufinden.

3. Intentionalität: Der Wunsch und die Fähigkeit, eine Wirkung zu erzielen und

beharrlich an ihr zu arbeiten. Dies hängt eindeutig zusammen mit einem Gefühl der

Kompetenz, dem Gefühl, etwas zu können.

4. Selbstbeherrschung: Die Fähigkeit, das eigene Handeln altersgemäß zu regulieren und

zu kontrollieren; ein Gefühl innerer Kontrolle.

5. Verbundenheit: Die Fähigkeit, sich auf andere einzulassen, basiert auf dem Gefühl,

von anderen verstanden zu werden und andere zu verstehen.

6. Kommunikationsfähigkeit: Der Wunsch und die Fähigkeit, sich über Ideen, Gefühle

und Vorstellungen verbal mit anderen auszutauschen. Dies hängt zusammen mit einem

Gefühl des Vertrauens zu anderen und der Freude, sich mit anderen, darunter auch

Erwachsenen, einzulassen.

7. Kooperationsbereitschaft: Die Fähigkeit, in gemeinsamer Aktivität die eigenen

Bedürfnisse mit denen anderer abzustimmen. (Goleman 1995)

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4. Schlusswort

Mit meiner Arbeit habe ich versucht, dem Phänomen der Achtsamkeit/Aufmerksamkeit der

phänomenologischen Grundhaltung nachzuspüren und ihre Bedeutung für die Entwicklung

des Menschen bewusst zu machen.

Sowohl beruflich als auch in großem Eigeninteresse befasste ich mich intensiv mit der

Existenzanalyse und Logotherapie. Diese eingehende Beschäftigung mit dem genannten

Thema führte mich zu den erstaunlichen Ergebnissen und Erfahrungen, welche R. und M.

Wild in der Pädagogik mit ihrer Grundeinstellung der Achtsamkeit machten.

So begegnete ich, wechselseitig in der Existenzanalyse und in der Reformpädagogik diesem

grundsätzlichen, respektvollen Umgang mit den Menschen.

Von zwei unabhängigen Erkenntniswegen her kommen Existenzanalyse und

Reformpädagogik zum selben Ergebnis. Ihre Grundmotivation ist es, jedes Individuum unter

dem Aspekt von Sinn und Wertbezügen zu betrachten und die Denk- und Gefühlsstrukturen in

jeder Phase der Entwicklung zu respektieren.

Dabei kommt man nicht umhin, sich vor allem und als erstes mit sich selber

auseinanderzusetzen, um positiv in die Welt hineinzuwirken. Diesen Ansatz vertritt in der

Existenzanalyse vor allem A. Längle, der die Notwendigkeit der eigenen Auseinandersetzung

erkannte. Ohne sie kann Sinn nicht erreicht werden, und ohne sie kann sich im Dialog mit den

Kindern, mit den Menschen, mit der Welt nichts verändern.

Persönlich hat mich die Beschäftigung mit der Existenzanalyse und mit der Reformpädagogik

von R. und M. Wild sehr bereichert, wofür ich dankbar bin.

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5. Literaturliste

Frankl V (1981) Der Wille zum Sinn. Wien: Piper

Frankl V (1975) Ärztliche Seelsorge. Wien: Kindler

Goleman D (1995) Emotionale Intelligenz. München: Carl Hanser Verlag

Hüther G (2006) Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck

& Ruprecht

Hüther G (2006) Bedingungen für die Strukturierung des kindlichen Gehirns. IN: Mit Kindern

wachsen, Jänner, 20 - 21

Jacoby H (2004) Jenseits von Begabt und Unbegabt. Hamburg: Christians

Korczak J (2001) Kinder achten und lieben. Wien: Herder

Korczak J (2002) Das Recht des Kindes auf Achtung. Gütersloh: GTB

Längle A (1994) Sinnvoll leben. Wien: NP

Längle A (1993) Modell einer existenzanalytischen Gruppentherapie für die

Suchtbehandlung. IN: Süchtig sein. Erweiterter Tagungsbericht 1/1993 der GLE, Wien

Längle A (1993) Das ja zum Leben finden. IN: Süchtig sein. Erweiterter Tagungsbericht

1/1993 der GLE, Wien

Lexikon der Existenzanalyse und Logotherapie (2000). Wien

Montessori M (2004) Kinder sind anders. München: dtv

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Montessori M (1983) Grundgedanken der Montessori-Pädagogik (Hg. Oswald P./Schultz-

Benesch, G.), Freiburg

Pearce J, Emotionale Erfahrung und Intelligenzentwicklung. In: Mit Kindern wachsen,

Special, 27 -32.

Pichler-Bogner D (2006) Aus Erziehung wird Beziehung. In: Mit Kindern wachsen, Juli, 16 -

21

Störig H (1987) Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Frankfurt am Main: Fischer

Valentin L (2000) Mit Kindern neue Wege gehen. Reinbek bei Hamburg: rororo

Wicki B (1991) Die Existenzanalyse von Viktor E. Frankl. Stuttgart: Haupt

Wild R (1991) Erziehung zum Sein. Heidelberg: Arbor

Wild R (1998) Sein zum Erziehen. Freiamt im Schwarzwald: Arbor

Wild R (2003) Freiheit und Grenzen – Liebe und Respekt. Berlin: Beltz

Zimmermann R (1997) Erziehung zu Freiheit und Verantwortung. Wien

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