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Unfallchirurg 2012 · 115:608–615 DOI 10.1007/s00113-012-2175-2 Online publiziert: 8. Juli 2012 © Springer-Verlag 2012 E. Kollig · A. Franke Abteilung XIV Unfallchirurgie und Orthopädie, Hand- und  Wiederherstellungschirurgie, Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz Verletzungen durch  Schuss oder Explosion  an der Hand Prinzipien der Versorgung Hochenergieverletzungen der Hand durch Schuss oder Explosion sind in Mitteleuropa eine seltene Ver- letzungsentität. Insbesondere für Explosionstraumata gibt es nur we- nig Literatur oder Erfahrungswerte, meist handelt es sich um Fallbeschrei- bungen von durch Feuerwerkskörper hervorgerufene Handverletzungen. Aktuelle Zahlen aus bewaffneten Kon- flikten zeigen, dass durch den verbesser- ten ballistischen Körperschutz primär le- bensbedrohliche Schuss- und Splitterver- letzungen überlebt werden. Hierdurch resultiert eine im Verhältnis höhere An- zahl an penetrierenden Gliedmaßentrau- mata, insbesondere an der oberen Ext- remität [2, 3]. Dennoch werden direkte Treffer an der Hand auch hier vergleichs- weise weniger häufig beobachtet (≤7%), im zivilen Umfeld stellen sie eine Selten- heit dar. In den Jahren 2005–2011 haben wir 85 Schussverletzungen bei 64 Patien- ten operativ versorgt. In dieser Gruppe war in 25 Fällen (39%) die obere Extre- mität mitbetroffen, davon bei 8 (13%) nur die Hand. Die allgemein geringe Inzidenz dieser Verletzungsentität hat zur Folge, dass erfahrungsbasierte Expertisen in der Handchirurgie vor dem Hintergrund grö- ßerer Fallzahlen nicht vorausgesetzt wer- den können [1, 4, 6]. Im hiesigen Umfeld handelt es sich eher um akzidentelle Traumata beim unsachgemäßen Umgang, wie z. B. Rei- nigen einer versehentlich noch gelade- nen Waffe oder bei einer Abwehrbewe- gung. Die komplexe Anatomie der Hand und die hohen Anforderungen an die Handfunktion im täglichen Leben lassen ein penetrierendes Trauma, insbesonde- re durch Schuss oder Explosion, per se zu einer Gefahr für deren funktionelle Integrität werden. Meist handelt es sich um komplexe Verletzungen, die das gan- ze rekonstruktive Repertoire der Hand- chirurgie fordern. Nachfolgend sollen Besonderheiten von Schuss- und Explosionsverletzungen der Hand hinsichtlich Entstehung, Diag- nostik und Therapie dargestellt und die wesentlichen Versorgungsprinzipien mit eigenen Beispielen erläutert werden. Zum besseren Verständnis der Ausdehnung der Verletzung und der zugrunde liegenden Schädigungsmechanismen werden einfa- che Grundkenntnisse zur Projektil- und Wundballistik vorangestellt. Zur Gewin- nung eines tieferen Verständnisses kann auf die spezielle Literatur zu diesem The- ma verwiesen werden [5, 7]. Grundlagen der Wund- und Geschossballistik Im Gegensatz zu Verletzungen der Kör- perhöhlen lassen sich Erkenntnisse und Wissen aus Beschussversuchen auf Gelatine, Seife oder Plastilin und der theoretischen Ballistik auf die Hand nur partiell übertragen. Grundsätzlich defi- niert am ehesten die tatsächliche Ener- gieabgabe an das Gewebe die pathophy- siologischen Effekte. Es handelt sich da- bei um eine Wechselwirkung von spezifi- schen Projektileigenschaften und dem je- weiligen Gewebetypus. Die Gewebemasse der Hand ist ge- ring und die Passagestrecke von Projekti- len oder Splittern kurz, so dass zum einen ein geringerer Energietransfer stattfinden kann und zum anderen sich die charak- teristischen Änderungen der Geschoss- bahn im Objekt sich nicht manifestieren können. Andererseits können unter Be- rücksichtigung der Dichte funktioneller Strukturen an der Hand auch aus solchen scheinbar einfachen und kurzstreckigen Passagen irreparable Destruktionen ge- neriert werden. Auf keinen Fall kann stets ein gerader Schusskanal zwischen Ein- und Ausschuss angenommen werden. Maßgeblich für die entstehenden Schä- den sind folgenden Faktoren: 1. Typ/Konstruktion des Projektils, 2. Distanz, Auftreffgeschwindigkeit, 3. Taumelneigung/Stabilität der Flugbahn, 4. Kaliber und Geschossgewicht, 5. Beschaffenheit des Treffergewebes, 6. Abbremsverhalten/Energieabgabe im Gewebe. Deformationsgeschosse pilzen beim Auf- treffen auf, vergrößern die Querschnitts- fläche durch kontrollierte Verformung und erreichen so eine höhere Energie- abgabe im Gewebe (.  Abb. 1a). Strö- mungsvorgänge an der Geschossoberflä- che bremsen und stabilisieren die Flug- Leitthema Redaktion M. Schädel-Höpfner, Düsseldorf  J. Windolf, Düsseldorf 608 | Der Unfallchirurg 7 · 2012

Verletzungen durch Schuss oder Explosion an der Hand; Gunshot or blast injuries of the hand;

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Page 1: Verletzungen durch Schuss oder Explosion an der Hand; Gunshot or blast injuries of the hand;

Unfallchirurg 2012 · 115:608–615DOI 10.1007/s00113-012-2175-2Online publiziert: 8. Juli 2012© Springer-Verlag 2012

E. Kollig · A. FrankeAbteilung XIV Unfallchirurgie und Orthopädie, Hand- und 

Wiederherstellungschirurgie, Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz

Verletzungen durch Schuss oder Explosion an der HandPrinzipien der Versorgung

Hochenergieverletzungen der Hand durch Schuss oder Explosion sind in Mitteleuropa eine seltene Ver-letzungsentität. Insbesondere für Explosionstraumata gibt es nur we-nig Literatur oder Erfahrungswerte, meist handelt es sich um Fallbeschrei-bungen von durch Feuerwerkskörper hervorgerufene Handverletzungen.

Aktuelle Zahlen aus bewaffneten Kon-flikten zeigen, dass durch den verbesser-ten ballistischen Körperschutz primär le-bensbedrohliche Schuss- und Splitterver-letzungen überlebt werden. Hierdurch resultiert eine im Verhältnis höhere An-zahl an penetrierenden Gliedmaßentrau-mata, insbesondere an der oberen Ext-remität [2, 3]. Dennoch werden direkte Treffer an der Hand auch hier vergleichs-weise weniger häufig beobachtet (≤7%), im zivilen Umfeld stellen sie eine Selten-heit dar. In den Jahren 2005–2011 haben wir 85 Schussverletzungen bei 64 Patien-ten operativ versorgt. In dieser Gruppe war in 25 Fällen (39%) die obere Extre-mität mitbetroffen, davon bei 8 (13%) nur die Hand. Die allgemein geringe Inzidenz dieser Verletzungsentität hat zur Folge, dass erfahrungsbasierte Expertisen in der Handchirurgie vor dem Hintergrund grö-ßerer Fallzahlen nicht vorausgesetzt wer-den können [1, 4, 6].

Im hiesigen Umfeld handelt es sich eher um akzidentelle Traumata beim unsachgemäßen Umgang, wie z. B. Rei-nigen einer versehentlich noch gelade-

nen Waffe oder bei einer Abwehrbewe-gung.

Die komplexe Anatomie der Hand und die hohen Anforderungen an die Handfunktion im täglichen Leben lassen ein penetrierendes Trauma, insbesonde-re durch Schuss oder Explosion, per se zu einer Gefahr für deren funktionelle Integrität werden. Meist handelt es sich um komplexe Verletzungen, die das gan-ze rekonstruktive Repertoire der Hand-chirurgie fordern.

Nachfolgend sollen Besonderheiten von Schuss- und Explosionsverletzungen der Hand hinsichtlich Entstehung, Diag-nostik und Therapie dargestellt und die wesentlichen Versorgungsprinzipien mit eigenen Beispielen erläutert werden. Zum besseren Verständnis der Ausdehnung der Verletzung und der zugrunde liegenden Schädigungsmechanismen werden einfa-che Grundkenntnisse zur Projektil- und Wundballistik vorangestellt. Zur Gewin-nung eines tieferen Verständnisses kann auf die spezielle Literatur zu diesem The-ma verwiesen werden [5, 7].

Grundlagen der Wund- und Geschossballistik

Im Gegensatz zu Verletzungen der Kör-perhöhlen lassen sich Erkenntnisse und Wissen aus Beschussversuchen auf Gelatine, Seife oder Plastilin und der theoretischen Ballistik auf die Hand nur partiell übertragen. Grundsätzlich defi-niert am ehesten die tatsächliche Ener-

gieabgabe an das Gewebe die pathophy-siologischen Effekte. Es handelt sich da-bei um eine Wechselwirkung von spezifi-schen Projektileigenschaften und dem je-weiligen Gewebetypus.

Die Gewebemasse der Hand ist ge-ring und die Passagestrecke von Projekti-len oder Splittern kurz, so dass zum einen ein geringerer Energietransfer stattfinden kann und zum anderen sich die charak-teristischen Änderungen der Geschoss-bahn im Objekt sich nicht manifestieren können. Andererseits können unter Be-rücksichtigung der Dichte funktioneller Strukturen an der Hand auch aus solchen scheinbar einfachen und kurzstreckigen Passagen irreparable Destruktionen ge-neriert werden. Auf keinen Fall kann stets ein gerader Schusskanal zwischen Ein- und Ausschuss angenommen werden.

Maßgeblich für die entstehenden Schä-den sind folgenden Faktoren:1. Typ/Konstruktion des Projektils,2. Distanz, Auftreffgeschwindigkeit,3. Taumelneigung/Stabilität der Flugbahn,4. Kaliber und Geschossgewicht,5. Beschaffenheit des Treffergewebes,6. Abbremsverhalten/Energieabgabe im

Gewebe.

Deformationsgeschosse pilzen beim Auf-treffen auf, vergrößern die Querschnitts-fläche durch kontrollierte Verformung und erreichen so eine höhere Energie-abgabe im Gewebe (. Abb. 1a). Strö-mungsvorgänge an der Geschossoberflä-che bremsen und stabilisieren die Flug-

Leitthema

RedaktionM. Schädel-Höpfner, Düsseldorf J. Windolf, Düsseldorf

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bahn im Gewebe und es resultiert ein kurzer, meist gerader Schusskanal dessen Austritt größer als der Einschuss ist.

Im Gegensatz dazu erfahren Vollman-telgeschosse aufgrund ihrer primär höhe-ren Stabilität und der kurzen Wegstre-cke durch die Hand keine relevante De-formierung (. Abb. 1b). Sie geben deut-lich weniger kinetische Energie an das Ge-webe ab. Phänomene wie temporäre Ka-vitation, Gieren und Geschossfragmen-tierung finden sich sehr selten. Bei gerin-gen Geschossgeschwindigkeiten (ca. 280–380 m/s) kann der Ausschuss mitunter kleiner erscheinen als die Eintrittsstelle. Diese Morphologie darf aber nicht zu der Fehleinschätzung verleiten, dass weniger Strukturen der Hand geschädigt wurden.

Vollbleigeschosse haben dagegen meist eine niedrigere Geschwindigkeit (. Abb. 1c). Die Energieabgabe ist von der Deformierbarkeit bzw. der Härte der getroffenen Strukturen abhängig. Nicht selten verbleiben die Projektile als sog. Steckschuss nach z. B. Knochenkontakt deformiert im Gewebe.

Beim Zerlegungsgeschoss bewirkt die Konstruktion, dass beim Auftreffen in der Regel der vordere Anteil fragmentiert (. Abb. 1d). Die radial vom Schusskanal weggesprengten Splitter potenzieren den Gewebeschaden und die Energieabgabe.

Die Stabilität einer Geschossflugbahn nimmt mit der Distanz zu. Hierbei wir-ken die Rotationsbewegung des Geschos-ses, das damit verbundene Drehmoment (wie bei einem Kreisel), als auch die Aero-dynamik der Geschossform stabilisierend. Im Umkehrschluss sind Projektile direkt nach Verlassen des Laufs noch nicht voll stabilisiert und neigen beim frühen Wi-derstand zur unkontrollierten Kinetik. Je rasanter das Kaliber, umso ausgepräg-ter ist dieses Phänomen. Dies erklärt, wa-rum bei identischen Waffen und Kalibern auf unterschiedliche Distanzen weit diffe-rierende Wundqualitäten verursacht wer-den können.

Als Hochgeschwindigkeitsgeschosse (HV, „high velocity“) bezeichnete Pro-jektilarten zeichnen sich durch eine rech-nerisch hohe kinetische Energie aus. Sie neigen bei dünnen Mantelkonstruktionen schneller zum Deformieren und Frag-mentieren, insbesondere beim Auftreffen auf stabile Gewebe. Am Knochen kann

Zusammenfassung · Abstract

Unfallchirurg 2012 · 115:608–615   DOI 10.1007/s00113-012-2175-2© Springer-Verlag 2012

E. Kollig · A. FrankeVerletzungen durch Schuss oder Explosion an der Hand. Prinzipien der Versorgung

Zusammenfassung

Schussverletzungen der Hand gelten in  Mitteleuropa als Raritäten. Sie stellen wegen  der speziellen Verletzungsmorphologie eine erhebliche Bedrohung für die funktionelle  Integrität der Hand dar. Häufig resultieren Funktionseinbußen, die mit einer bleibenden Einschränkung der Erwerbsfähigkeit bzw.  Invalidität einhergehen. Explosionsverletzun-gen der Hand werden vergleichsweise häu-figer beobachtet, sie sind hierzulande in der Regel auf den unsachgemäßen Umgang mit Feuerwerkskörpern zurückzuführen. Hinsicht-lich Kinetik und Auswirkungen weist diese Traumaentität Besonderheiten auf, die hin-sichtlich der therapeutischen Konsequenzen eine eigene Betrachtung erfordert. Durch die geringe Inzidenz dieser spezifischen Verlet-zungsformen in Friedenszeiten kann eine  erfahrungsbasierte Expertise kaum voraus-gesetzt werden.

Schussverletzungen der Hand bean- spruchen das handchirurgische Wissen und 

Können in besonderem Maße, um ein best-mögliches Behandlungsresultat zu erzielen. Für Explosionsverletzungen gilt diese For-derung angesichts weit komplexerer Verlet-zungsmuster noch mehr. Das hier obligat  hohe Komplikationspotential verlangt eine rasche Detektion aller Verletzungskompo-nenten und ein konsequentes Management analog zur Infektchirurgie der Hand.

Anhand eigener Fälle sollen Grundlagen zur Verletzungsentstehung und -morpholo-gie sowie die differentialtherapeutischen  Optionen mit den konsekutiven Algorithmen und erreichbare Behandlungsergebnisse vor-gestellt werden.

SchlüsselwörterSchussverletzung · Handverletzung ·  Explosionsverletzung ·  Verletzungsentstehung ·  Verletzungsmorphologie

Gunshot or blast injuries of the hand. Principles of treatment

Abstract

Gunshot injuries to the hand are rare in  Central Europe. As a result of their special trauma morphology they are a serious threat to the functional integrity of the hand and  often lead to a loss of function which can be associated with a permanent unfitness to work or disability. Blast injuries to the hand are more common in this part of the world and are usually caused by the inappropriate use of fireworks. This trauma entity is asso-ciated with a number of special kinetic fea-tures and effects which have therapeutic con-sequences and should therefore be discussed separately. As a result of the low incidence  of these specific types of injuries in times  of peace, experience-based expertise is  unlikely to be available. 

The management of gunshot injuries  to the hand is a particular challenge to hand surgeons who must have specialist knowledge  

and skills in order to achieve an optimum outcome. This applies even more so to the treatment of blast injuries to the hand which are associated with far more complex injury  patterns. As a rule blast injuries are associated  with a high risk of complications and require a rapid assessment and rigorous management  of all damaged structures similar to ap-proaches used for infections of the hand. 

Illustrated by several cases which have been treated at our institution the basic  aspects of the development and morphology  of these injuries are discussed as well as  different treatment options, algorithms and possible treatment outcomes.

KeywordsGunshot injuries · Hand injuries ·  Blast injuries · Mechanisms · Morphology

durch Impulsübertragung und hydrauli-sche Phänomene eine völlige Zertrümme-rung herbeigeführt werden. Organe von hoher Gewebedichte (z. B. Leber, Niere) erfahren zusätzliche Läsionen durch das Abströmen des Gewebes an der Geschoss-flanke.

Gesondert zu erwähnen ist die Schrot-schussverletzung. Auf kurze Distanz bleibt die Schrotgarbe noch dicht bei-einander, so dass schwerste Zerstörun-gen verursacht werden, die den Erhalt der Hand in Frage stellen können. Auch auf eine Entfernung von 15–20 m hinter-

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lässt die Schrotgarbe ein schwer zu be-handelndes Verletzungsmuster. Meist ist die gesamte Hand betroffen. Die multip-len Einzelverletzungen mit Kontusion und Destruktion und die im Gewebe ver-bleibenden Schrotkörner bedingen dann langwierige und im Resultat frustrieren-de Therapieverläufe.

Eine weitere Besonderheit stellt der ab-solute oder aufgesetzte Nahschuss dar. Die Laufmündung wird dabei direkt auf das Gewebe gedrückt, die für die Geschoss-beschleunigung freigesetzten Pulvergase werden explosionsartig mit in den Schuss-kanal gepresst. Es kommt zu einem Gasjet in das Gewebe. Der dadurch hervorgeru-fene Gewebeschaden fällt um ein Vielfa-ches größer aus, als das ballistische Poten-tial der Patrone es erwarten ließe. Im Grunde genommen handelt es sich hier um die Kombination einer Schuss- mit einer Explosionsverletzung (. Abb. 2).

Pathophysiologie der Explosionsverletzung

Grundsätzlich verhalten sich Splitter oder durch Explosion und Verbrennungsgase beschleunigte Fragmente zunächst physi-kalisch wie Geschosse. Es sind Anfangsge-schwindigkeiten von 2000 m/s erreichbar [5]. Bedingt durch einen willkürlich ent-stehenden Schwerpunkt, eine uneinheitli-che Aerodynamik und eine mögliche Ab-lenkung zeichnen sich diese Fragmente durch eine instabilere Flugbahn und einen unkontrollierten weiteren Pfad beim Auf-treffen auf das Gewebe aus.

Gestalt und Ausdehnung der Explo-sionswunde werden von der kinetischen Energie beim Auftreffen, von Form, Schärfe und Material, von der Position der Hand sowie von der Konsistenz des Gewebes bestimmt. Grundsätzlich fin-den sich die folgenden, abweichen-den Schädigungsmuster in unterschied-licher Ausprägung auch an der Hand (s. . Infobox 1):

Abb. 1 9  Verschiedene Geschossarten nach Gewebepassage

Abb. 2 9 Stark unter-schiedliche Weichteil-verletzung nach auf-gesetztem Nahschuss und einem Durch-schuss am Handgelenk

Abb. 3 9 Darstellung der typischen Schädi-gungsmuster nach  Explosionsverletzung der Hand

Infobox 1:  Schädigungsmuster

1.   Verbrennung,2.   Kontusion,3.   Perforation,4.   Dissektion,5.   Denudierung,6.   Deperiostierung.

Leitthema

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Je nach Ausdehnung und Tiefe der Verletzung ergibt sich das weitere Vor-gehen. Wie bei allen Verbrennungs-wunden handelt es sich immer um sog. „ developing wounds“, d. h. diese Wun-den haben ihre eigene Kinetik und Dynamik und die tatsächliche Ausdeh-nung entwickelt sich erst über einen Zeitraum von Tagen.

»  Je nach Ausdehnung und Tiefe der Verletzung ergibt sich das weitere Vorgehen

Daraus ergibt sich zwangsläufig aber auch ein grundsätzliche Problem. Es gilt, die für die Funktion der Hand wichtigen Struktu-ren und hier insbesondere die Hüllgewebe und Gleitschichten aller beweglichen Strukturen und bradytrophen Gewebe vital zu erhalten und andererseits alle sich demarkierenden, avitalen Gewebe-strukturen zu entfernen. Die durch den „blast wind“ erzeugte Denudierung ent-lang von Sehnen, Knochen und Gelenken hat trotz optimaler Behandlungsmaßnah-men regelmäßig katastrophale Folgen, da die schützende und ernährende Weich-gewebeumhüllung zirkulär weggerissen wurde (. Abb. 3).

Kritisch sind deshalb Knochen und Sehnen zu sehen. Am Knochen kann gelegentlich nach Anfrischen ein partiell deperiostierter Teil im Verbund erhalten werden, Sehnen z. B. können mit lokalem Weichteilgewebe oder Lappen gedeckt werden, verkleben aber leicht mit dieser Deckung, da die Verschiebeschicht verlo-ren gegangen ist.

Kontamination von Handverletzungen durch Schuss oder Blast

Schuss- und Explosionsverletzungen an der Hand gelten obligat als kontaminiert. Ein Projektil oder Splitter ist nie „ steril“

und es kommt stets über Einschuss, Ver-brennungsgase und Rückstände oder Fragmente zur Kontamination der Wund-höhle. Das Keimspektrum variiert stark und ist abhängig von den Umfeldbedin-gungen. Die mikrobiologische Diagnos-tik gehört daher obligat in die chirurgi-sche Erstversorgung. Eine Bebrütung von Gewebetrümmern ist hier aussagekräfti-ger als Abstriche. Eine zunächst kalkulier-te Kombinationsantibiose im Rahmen der Primärversorgung ist die logische Konse-quenz, z. B. mit einem Zweitgenerations-cephalosporin in Kombination mit einem Anaerobicum, z. B. Metronidazol. Die-se wird konsequent beibehalten, bis zum sicheren Ausschluss eines Infektgesche-hens, oder aktualisiert bei Vorliegen eines Resistogramms.

Da das nekrotische, irreversibel ge-schädigte Gewebe der ideale Nährboden für eine Infektmanifestation ist, stellt ein mehrzeitiges, umsichtiges Débridement mit anschließend atraumatischer Lavage die beste Infektionsprophylaxe dar.

Versorgung

Erforderliche Diagnostik

Die klinische Untersuchung der durch Schuss oder Explosion verletzten Hand steht am Beginn der Versorgung. Sie um-fasst die in der . Infobox 2 als Synopsis dargestellten Punkte.

Grundsätzlich sind die Prüfung der aktiven und passiven Beweglichkeit und die Erfassung von Sensibilitätsausfäl-len sehr wichtig, aber nur beim wachen, kooperativen Patienten möglich.

»  Grundsätzlich sind die Prüfung der aktiven und passiven Beweglichkeit und die Erfassung von Sensibilitätsausfällen wichtig

Liegen im Sinne des ATLS® („advanced trauma life support“) andere lebensbe-drohliche Verletzungen vor, hat die Sta-bilisierung des Patienten Vorrang, die Prinzipien und Prioritäten des „damage control“ werden angewendet. Es gilt auch hier: „life before limb“. In solchen Situatio-nen hat sich ein einfacher Feuchtverband

mit unmarkierten Kompressen und einer nicht zusätzlich gewebetoxischen, farblo-sen antiseptischen Lösung (s. unten) be-währt. Sofort erkennbaren Instabilitä-ten kann mit einem einfachen Schienen-verband begegnet werden (z. B. SAM-Splint©).

Konventionelle Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen geben einen ersten Über-blick über die vorliegenden Verletzungen, Fremdkörper und die direkt (Perforation → Splitter, Fragmente) und indirekt (Dis-sektion, Denudierung, Deperiostierung → Lufteinschlüsse) betroffenen Kompar-timente.

Ist die Durchblutungssituation un-klar, können mit dem Taschendoppler die Hohlhandbögen und – sofern hin-reichend durchblutet – auch die Digital-arterien beurteilt werden. Bei kritischer/absoluter Ischämie ist eine DSA die Ent-scheidungsgrundlage für eine notwendige operative Revaskularisierung. Im Zweifel kann aber auch eine Punktion der Akren mit einer kleinen Kanüle Hinweise auf die Perfusion liefern.

Bei komplexen Luxationen oder Ver-letzungen z. B. im Carpusbereich ist die Dünnschicht-CT (Computertomogra-phie, 3D-Rekonstruktionen) eine wert-volle Hilfe bei der Planung der rekonst-ruktiven Schritte.

Die Magnetresonanztomographie (MRT) besitzt in der Primärdiagnostik des penetrierenden Traumas der Hand keinen Stellenwert. Eine hochauflösende Technik vorausgesetzt, liefert die MR-An-gio bei der Planung sekundärer Rekons-truktionen Zusatzinformationen. Fakul-tativ können neuroelektrophysiologische Untersuchungen zur Dokumentation der sensomotorischen Funktion, respektive deren Verlaufskontrolle erforderlich sein.

Notfall- und Primärbehandlung –  initiale Wundversorgung

Der Funktionserhalt der Gliedmaße ist das vorrangige Ziel. In der Regel sind bei Ver-letzung durch Schuss oder Explosion al-le Strukturen und Gewebetypen der Hand betroffen.

Für die fachgerechte (Erst-)Versor-gung sind Fertigkeiten und Instrumen-tarien aus den Bereichen Gefäßchirur-gie, Neurochirurgie, plastische Chirurgie,

Infobox 2:  Klinische Untersuchung

1.   Anamnese,2.   Inspektion, Palpation,3.   Aktive und passive Funktion,4.   Fotodokumentation,5.   Röntgen, CT,6.   Ggf. Doppler, DSA.

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Sehnenchirurgie und Knochenchirurgie zeitnah vorzuhalten. Sind diese Voraus-setzungen nicht gegeben, sollte in Mittel-europa nach einer Notfallversorgung die zeitnahe Verlegung in ein entsprechendes Zentrum angestrebt werden.

Bei der Notfallversorgung hat die kritische Ischämie der Hand bzw. Ak-ren höchste Priorität. Die Perfusion ent-scheidet primär über den Erhalt der Ex-tremität. Hierbei sind selten beide zu-führende Gefäße der Hohlhandbögen betroffen. Dann aber ist eine gefäßchi-rurgische Wiederherstellung zumindest eines Hohlhandbogens und seiner Ver-

bindung zu den Digitalgefäßen zwingend erforderlich.

Kompartmentsyndrom: Grundsätzlich sind alle durch Splitter (Röntgenbefund) oder Ischämie gefährdeten Komparti-mente zu explorieren und im Zweifel mit-tels fasziokutaner Inzision zu dekompri-mieren, um einem sekundären ischämi-schen Gewebeschaden vorzubeugen.

Bei allen Erhaltungsversuchen ist früh abzuwägen, welcher funktionelle Wert im Verlauf erwartet werden kann. Eine voll-ständig funktionslose Resthand ist unter speziellen soziokulturellen Bedingungen immer besser als eine fehlende. Anderer-

seits kann es vorkommen, dass ein stark sensibilitätsgestörter Finger mit ausge-dehnten, die Funktion schwer beeinträch-tigenden Vernarbungen oder Deformie-rungen im weiteren Verlauf vom Verletz-ten nicht mehr toleriert wird und letztlich die Amputation erfolgt.

Da es sich um „developing wounds“ handelt, ist das erste Débridement zu-rückhaltend durchzuführen, da das tat-sächliche Ausmaß der Schäden erst im Verlauf sicher beurteilt werden kann. Die Erfahrungen mit Verbrennungsverletzun-gen der Hand zeigen, dass an der Hand häufiger als an anderen Körperpartien mit einer Erholung der Weichteile zu rechnen ist. Sich demarkierende Nekrosen werden dann seriell entfernt. Gesicherte Gewebe-proben für die mikrobiologische Diagnos-tik erlauben die Identifikation von konta-minierenden Keimen.

Eingedrungene Fremdkörper (Projekti-le, Fragmente hiervon, Steinchen, Schrap-nelle etc.) werden besonders bei para- oder intraartikulärer Lage entfernt. Sofern sie den Organerhalt nicht direkt bedro-hen, können die Fremdkörper auch zeit-versetzt entfernt werden. Es ist im Einzel-fall sorgfältig abzuwägen, Projektile oder Fragmente unter Inkaufnahme einer zu-sätzlichen, operativ verursachten Trauma-tisierung zu entfernen oder sie in situ zu belassen, sofern keine mechanische, in-fektiöse oder toxische Nebenwirkung zu erwarten ist. In Leitstrukturen eingedrun-gene Fremdkörper sind ebenfalls frühzei-tig zu entfernen, bevor sie strukturell oder funktionell irreversible Schäden generiert haben.

Liegt eine Schussverletzung mit Blei-schroten vor oder hat sich ein Geschoss mit Bleikern zerlegt, sind intraartikuläre Bleifragmente schnellstmöglich zu besei-tigen, da die Synovialflüssigkeit Blei ar-rodiert und die hierdurch entstehenden toxischen Metabolite eine systemische Intoxikation hervorrufen können.

Umschriebene, sensible Ausfälle sind nach Schuss- und Explosionsverletzun-gen nahezu die Regel. Sie werden doku-mentiert, haben aber im Rahmen der Primärversorgung keine therapeutische Konsequenz. Häufig liegt eine kontu-sionsbedingte Neurapraxie mit günsti-ger Prognose vor. Ausgedehnte Sensibili-tätsverluste kombiniert mit motorischen

Abb. 4 8 Schrittweise Versorgung nach Explosionsverletzung. a, b Initiales Débridement und adap-tierende Nähte nach Teilamputation der Finger 3 und 4. c, d Abschließendes radiologisches Ergebnis. e, f Verlaufsdokumentation der Weichteilheilung

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Leitthema

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Defiziten werden dagegen zumindest ex-ploriert und dargestellte Nervenstümp-fe werden mit Titangefäßclips markiert. Zeitaufwändige, mikrochirurgische Ner-venreparaturen sind bei Primärversor-gung des Komplextraumas nicht sinn-voll.

Die mechanische, atraumatische Reinigung der Wunde beinhaltet die aus-giebige, sorgfältige Spülung. (Cave: keine Hochdrucklavage!). Wird ein antisepti-scher Zusatz verwendet, ist dessen spe-zifische Gewebetoxizität zu berücksich-tigen (Cave: Octenidin-Lösung darf im Gewebe nicht angewendet werden). Es

empfiehlt sich die Spülung mit nicht to-xischen Agentien, wie z. B. Polyhexa-nid 0,02% oder 0,04%. Diese kann und soll in situ verbleiben (Einwirkdauer ca. 30 min), ein Ausspülen ist nicht an-gezeigt. Bei Verwendung potentiell ge-webeschädigenden Antiseptika sollte gründlich inert (Ringer-Lösung) nach-gespült werden.

> Selbst wenn scheinbar kleinkalibrige Ein- oder Aus-schusswunden vorliegen, sollte wegen der obligaten Kontamination keine Primärnaht erfolgen!

Um ein vorzeitiges Verkleben kleiner Wunden an der Oberfläche zu vermeiden sind Drainagen, z. B. aus Silikon material, sinnvoll. Grobe Nähte zum Erzwingen des direkten Wundverschlusses sind nicht ad-äquat, gerade die länger persistieren-den Schwellungen nach Komplexverlet-zung erfordern einen völlig spannungs-freien Wundverschluss. Wenn keine Situ-ationsnähte möglich sind oder große De-fektzonen vorliegen, hat sich die Vakuum-versiegelung über Polyurethanschwäm-men bewährt. Alternativ kann ein aus-reichend dimensionierter, antimikrobiel-ler Feuchtverband angelegt werden. Frei-liegende, sog. Leitstrukturen wie Gefäße, Nerven, Sehnen, Knochen und Gelenke bedürfen der Deckung mit hinreichend vitalem, tragfähigem Gewebe innerhalb der ersten 24–48 h, um Gewebeuntergän-gen vorzubeugen.

Die . Abb. 4 zeigt die Versorgungs-strategie nach einer Explosionsverletzung der Hand.

Immobilisation und Lagerung

Die Ruhigstellung gehört zum initialen Behandlungsregime. Dies gelingt entwe-der mittels palmarer oder dorsaler Schie-ne in Intrinsic-plus-Stellung oder durch einen Fixateur externe. Ist die Durchblu-tung sichergestellt, profitiert die Wund-situation von der konsequenten post-operativen Hochlagerung (Kissen oder Böhler-Schaukel).

Thromboseprophylaxe

Gerade bei Zustand nach einer Gefäß-rekonstruktion oder ausgedehnter kom-promittierter Durchblutung ist eine Thromboseprophylaxe wichtig, um se-kundären Thrombosierungen vorzubeu-gen. Einfach und suffizient ist die Anti-koagulation mit niedermolekularen Heparinen in gewichtsadaptierter Dosie-rung.

Spezielle Verletzungen

Für alle Leitungsstrukturen und Sehnen gilt, dass eine primäre Rekonstruktion nur Sinn macht, wenn sie schnell, spannungs-frei und ohne Transplantation erfolgen kann und die Anastomosen anschließend

Abb. 5 8 Schrittweise Versorgung mit initialer Stabilisierung durch Fixateur externe (a, b) unter diskreter Verkürzung und Achsfehlstellung. Nach erfolgter Konsolidierung der Weichteile definitive Osteosynthese  mit Spongiosaplastik in korrigierter Stellung (c). Ausheilungsergebnis nach Implantatentfernung (d, e)

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mit vitalem Weichteilgewebe gedeckt wer-den können.

GefäßverletzungenBei arteriellen Defektstrecken >10 mm sind autologe Veneninterponate bereits bei der Primärversorgung das Verfah-ren der Wahl. Notfallshunts, z. B. aus Drainagen gefertigt, sind Ausnahme-situationen vorbehalten. Für isolier-te Traumata an den Fingern gelten die Regeln der Replantationschirurgie. Auf die Wiederherstellung eines ausreichen-den venösen Abstroms zur Prophylaxe einer sekundäre Thrombose ist zu ach-ten, da diese bei ausgedehnten Weich-gewebeverletzungen den Heilerfolg be-droht. Wenn keine initiale fasziokutane Spaltung zur Prophylaxe eines Kompart-mentsyndroms durchgeführt wurde, ist dies spätestens nach Wiederherstellung der Reperfusion zu erwägen und bei kli-nischem Verdacht im Zweifel immer durchzuführen.

NervenschädenDem Nervenschaden kommt bei der Pri-märversorgung der Schuss- und Explo-sionsverletzung die niedrigste Priori-tät zu. Einfache und spannungsfrei er-stellbare Nähte, z. B. an den Digital-

nerven, sind möglich. Liegen primä-re Substanzdefekte >5 mm an funktio-nell wichtigen Strukturen vor, sollte eine zweizeitige Wiederherstellung ins Au-ge gefasst werden. Zur Erleichterung der späteren Identifizierung hat sich die Markierung von Nerven enden bei Stre-ckenverlusten bewährt.

SehnenverletzungenPrimäre Sehnenreparaturen sind nur dann zu empfehlen, wenn sie schnell, ein-fach und mit gut durchblutetem, ortsstän-digem Gewebe erfolgen können. Zudem sollte eine frühfunktionelle Nachbehand-lung sichergestellt sein (z. B. nach Kleinert und Washington). Sind Sehnen verloren gegangen und eine Wiederherstellung grundsätzlich in Aussicht, ist das tem-poräre funktionelle Parken des proxima-len Sehnenstumpfes auf einem Synergis-ten zu erwägen, um eine Retraktion und eine fettige Degeneration des Muskels zu vermeiden. Das Einsetzen von Silikonstä-ben für die Sehnenrekonstruktion kann allerdings erst vorgenommen werden, wenn die Weichgewebeläsionen zuverläs-sig verheilt sind, insbesondere das Inte-gument, und damit ein geeignetes Wirts-lager in infizierter, kontaminierter Umge-bung existiert.

Knöcherne VerletzungenKnochenverletzungen sind konsequent zu debridieren. Meist handelt es sich um 2–3° offene Frakturen. Fragmente ohne jeglichen Weichgewebeanschluss bilden Sequester und sind zu entfernen. Anti-biotikumhaltige PMMA-Miniketten ha-ben sich bei Knochendefekten als antimi-krobiell wirkende Platzhalter bewährt.

> In der Primärversorgung sind Fragmente so zu reponieren und zu retinieren, dass keine additive Gewebetraumatisierung eintritt.

Langandauernde Repositionsmanöver i.  S. der anatomischen Wiederherstel-lung des Alignements sind bei obligater Kontamination kontraproduktiv. Platten-osteosynthesen empfehlen sich bei der Erstversorgung nicht. Einfache Techni-ken wie Bohrdrahtung, Transfixation und Fixateur externe sind in dieser Situation vorteilhaft (. Abb. 5).

GelenkeröffnungEin direkter Gelenktreffer an der Hand führt aufgrund der Größenverhältnisse von Projektil zum Treffergewebe und des lokalen Energietransfers häufig zu irrever-sibler Zerstörung des Gelenks. Im Rah-men der Primärversorgung ist eine sub-tile Gelenkrekonstruktion mit Osteosyn-these nicht zielführend. Wenn der Weich-teilmantel es zulässt und die Leitstruktu-ren dahingehend erhalten und funktions-fähig sind, dass eine Nutzung des Gelenks wahrscheinlich ist, sollte die Rekonstruk-tion versucht werden. Ist dies nicht gege-ben, liegt eine schmerzhafte Bewegungs-einschränkung vor oder ist eine kraftvolle Opposition zweier Strahlen als einzige Restfunktion gegeben, stellt die Arthro-dese in Funktionsstellung eine berechtigte Alternative zur Rekonstruktion dar.

WeichteilrekonstruktionDas Weichgewebemanagement ist ein für Erhalt von Form und Funktion entschei-dender Teil der Versorgung. Erst eine suf-fizient und belastbar wiederhergestellte Weichgewebeummantelung erlaubt se-kundäre Rekonstruktionsmaßnahmen der tiefer liegenden Funktionseinhei-ten. Die Deckung ausgedehnter Defekte kann bei der hier behandelten Traumaen-

Abb. 6 8 Initiale „blast injury“ einer Hand streckseitig. a Am 3. Tag nach der Verletzung. b Im Verlauf nach Konsolidierung der Weichteilsituation durch mehrzeitiges Débridement, Niederdruckwundtherapie  und abschließender Spalthautdeckung über einer Kollagenmatrix (52. Tag)

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Leitthema

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tität regelhaft nur durch ortsständige oder freie Lappenplastiken erreicht werden. Spalthautplastiken werden hier wegen der funktionellen Nachteile zurückhaltender eingesetzt. Mit der Einführung von Kol-lagenmembranen unter Spalthauttrans-plantaten konnte sich aber v. a. bei stre-ckseitigen Defekten in jüngerer Zeit eine zusätzliche Möglichkeit einer einfachen plastischen Deckung etablieren, die den funktionellen Erfordernissen der Elastizi-tät und Verschieblichkeit entgegenkommt (. Abb. 6).

Fazit für die Praxis

F  Die Behandlung von Hochenergie-verletzungen an der Hand durch Schuss oder Explosion ist eine  anspruchsvolle Aufgabe, die ein ho-hes Maß an unfall- und handchirurgi-scher Erfahrung erfordert.

F  Für das funktionelle Endergebnis und die rekonstruktiven Möglichkeiten ist das Weichteilmanagement entschei-dend.

F  Die Ziele der Erstversorgung sind die Erkennung und Behandlung einer Ischämie, die schonende Reposi-tion und Retentionen von Fragmen-ten mittels einfachster Verfahren, das sparsame Débridement avita-ler Strukturen und die atraumatische Spülung zur Infektionsprophylaxe. Ein Primärverschluss von Schusswun-den ist obsolet.

F  Unter Immobilisation, systemischer Antibiotikagabe und Thrombosepro-phylaxe kann gegebenenfalls die Ver-legung in ein Zentrum erfolgen.

F  Bei ausgedehnten Verletzungen ist der zu erwartende funktionelle Rest-wert der Hand ausschlaggebend für die weiteren therapeutischen Bemü-hungen.

F  Grundsätzlich steht zunächst die  Rekonstruktion der Weichteile mit tragfähigem Gewebe im Vordergrund, anschließend kann die schrittweise Wiederherstellung der Leitungsstruk-turen und die Versorgung der Fraktu-ren bzw. die Rekonstruktion der knö-chernen Strukturen erfolgen.

Korrespondenzadresse

PD Dr. A. FrankeAbteilung XIV Unfallchirurgie und Orthopädie, Hand- und Wiederherstellungschirurgie,  Bundeswehrzentralkrankenhaus KoblenzRübenacherstraße 170, 56072 [email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt für sich und seinen Koautor an, dass kein Interes-senkonflikt besteht.

Literatur

  1.  Axmann HD, Brenner P, Di Benedetto G, Ber-ger A (1993) Treatment strategy in explosion and gunshot injuries of the upper extremity. Chirurg 64:958–963

  2.  Bahebeck J, Atangana R, Mboudou E et al (2005) Incidence, case-fatality rate and clinical pattern of firearm injuries in two cities where arm owning is forbidden. Injury 36:714–717

  3.  Hofmeister EP, Mazurek M, Ingari J (2007) Injuries sustained to the upper extremity due to modern warfare and the evolution of care. J Hand Surg Am 32:1141–1147

  4.  Iselin F, Audren JL, Hautefort E et al (1991) Ballistic hand trauma. Ann Chir Main Memb Super 10:437–442

  5.  Kneubuehl B, Coupland RM, Rothschild MA, Tha-li MJ (2008) Wundballistik, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 201

  6.  Peleg K, Aharonson-Daniel L, Stein M et al (2004) Gunshot and explosion injuries: characteristics, outcomes, and implications for care of terror-rela-ted injuries in Israel. Ann Surg 239:311–318

  7.  Sellier K (2012) Forensische Ballistik und Wundbal-listik, Bd II. Schmidt-Römhild, Berlin

9. AOTrauma-Seminar GöttingenFrakturversorgung beim SchwerverletztenWo? Wann? Wie?Freitag, 21. September 2012

Das diesjährige 9. Göttinger AO-Seminar 

legt seinen Schwerpunkt auf die Besonder-

heiten der Frakturversorgung beim schwer-

verletzten Patienten. Hier soll es ganz 

konkret praxisnah darum gehen, für jede 

einzelne Fraktur und Weichteilverletzung 

ein stufenweises Behandlungskonzept im 

Rahmen der Gesamtverletzung so früh wie 

möglich festzulegen. Ein großes Thema 

ist dabei die Frage der Primärversorgung. 

Früher wurden sicherlich zu viele Frakturen 

und Gelenkverletzungen primär versorgt, 

heute vielleicht zu wenige? Ein wichtiger 

Punkt ist auch ein klares Konzept für die 

Weichteildeckung.

Wissenschaftliche Leitung:

Prof. Dr. med. Klaus Michael Stürmer

Direktor der Klinik für Unfallchirurgie,

Plastische und Wiederherstellungschirurgie

mit BG-Abteilung des BUKH

Universitätsmedizin Göttingen

Georg-August-Universität

Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

goettingen.de

Veranstaltungsort:

Sartorius College Göttingen

Otto-Brenner-Straße 20, 37079 Göttingen

Phone +49 551 3082101

Weitere Informationen:

Katja Rudolph

Phone +49 551 39-6114

E-Mail [email protected]

goettingen.de

Anmeldung:

http://goettingen1209_sem.aotrauma.org

Fachnachrichten

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