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VISIONS #196

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Titelstory: Billy Talent

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Der Knoten ist geplatzt,

die jahrelange Arbeit hat sich

ausgezahlt. Mit „Billy Talent II“

avancierten 2006 vier Kanadier

in Deutschland zu einer der

erfolgreichsten Rockbands – und

ließen die kleinen Punkclubs hinter

sich, um zur besten Sendezeit bei

Rock am Ring auf die Bühne zu

kommen. VISIONS hat ihren Weg

von Anfang an begleitet; zuletzt

auf Spurensuche im heimischen

Toronto (Ausgabe 160). Zum

Album „III“ nun stand wieder

eine Stadtrundfahrt an – diesmal

durch Köln, wo Vergangenheit

und Gegenwart von Billy Talent

besonders dicht beisammen liegen.

TexT: jeNS MAyeR

fOTOS: DeNNIS yeNMeZ

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Alexisonfire

Die anderen„Ja, wir haben schon mal bei Rock am Ring gespielt. Zumindest waren wir anwesend“, sagt Sänger George Pettit. Und Dallas Green fügt an: „Seit wir als Band zusammen spielen, war das wohl unser schlechtester Auftritt. Nach gerade drei Songs wussten wir, dass wir aufhören müssen; da war komplett der Wurm drin.“

Mehr im online-Archiv auf visions.de: 2 storys / 5 reviews

rund genug für die beiden Köpfe von Alexisonfire – Grund genug für die ganze Band –, es bei ih-rem morgigen Auftritt besser zu machen. „Ich hoffe es doch“, so

Dallas. „Wir versuchen ein Comeback.“ Heute Abend haben sie zumindest die Gelegenheit, sich im übersichtlichen Rahmen für den gro-ßen Auftritt warm zu spielen. Die Dortmunder Suite 023 ist sehr klein, und nachdem bekannt wurde, dass hier die beliebte Screamoband aus Kanada spielen würde, war sie innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Schon am Nach-mittag stehen die ersten Fans vor dem Club und hoffen darauf, noch Tickets ergattern zu können. Die Band freut sich auf den Auftritt, den ersten in Deutschland nachdem die Band eine längere – und umso wichtigere – Pause eingelegt hatte.

Nach einer zweijährigen Tour zur letzten Veröffentlichung „Crisis“, mussten sie wohl selbst aufpassen, nicht in eine solche zu ge-raten. Gitarrist und Sänger Dallas, der mit seiner Mütze, seinem Bart und der hässli-chen Brille heute etwa so aussieht, wie es

leicht zurückgebliebene Hinterwäldler in amerikanischen Spielfilmen tun, berichtet mitgenommen: „Meine Mutter hat mir einen Brief geschrieben, in dem sie mir traurig mitteilte, dass es auf sie wirke, als sei ich nur ein Freund der Familie, der ab und zu mal vorbeischaut. Nach der Tour zu ‚Watch Out!‘ waren wir gerade zwei Monate in Ontario, um ‚Crisis‘ fertigzustellen – und schon waren wir wieder unterwegs. Im Grunde waren wir dreieinhalb Jahre kaum zu Hause. Ihre Aus-sage hat mich ganz schön getroffen.“ George bestätigt das: „Auch für mich und meine Lady war es eine schwierige Zeit.“ So galt es für die Band, erst mal wieder in ihrer Heimat Fuß zu fassen und mit ihren Familien und Freun-den ins Reine zu kommen. George heiratete Anfang 2009 seine langjährige Freundin, und auch das Verhältnis von Dallas zu seiner Mut-ter scheint sich endlich gebessert zu haben. So wirken Alexisonfire heute wieder frisch und voller Tatendrang.

Man hört es – und man sieht es. In Kana-da veröffentlichen Alexisonfire ihr viertes

Album „Old Crows/Young Cardinals“ erstmals auf dem kleinen Label Dine Alone ihres Managers Joel Carriere, das auch Dallas‘ Soloprojekt City And Colour sowie die Plat-ten von Attack In Black herausbringt. „Wir hatten es satt, dass das Label 85 Prozent der Einnahmen an unseren Alben abkriegt und wir nur 15. Also haben wir uns für diese Vari-ante entschieden“, sagt George. Während sie in den USA weiterhin über Vagrant erschei-nen, haben sie für Europa komplett beim „hauptsächlich Metal“-Label Roadrunner unterschrieben. Dallas erklärt die Entschei-dung: „Wir waren hier auf 15 verschiedenen Labels – Deutschland, Frankreich, England, Skandinavien... Das ist für eine Weile span-nend, aber auch anstrengend, da man immer und überall mit unterschiedlichen Leuten zusammenarbeitet. Einige Dinge bleiben da auf der Strecke, weil man die Übersicht verliert.“ Dass sie auf Roadrunner eher Exotenstatus haben, stört ihn nicht – im Gegenteil: „Ich bin lieber bei einem Label in Sonderstellung als zig Band neben mir zu haben, die genauso klingen.“

Auch wenn Alexisonfire dem Screamo-Genre zugerechnet werden – George ist für die bösen Schreie zuständig, während Dal-las und der zweite Gitarrist Wade Macneil melodiösen Gesang beisteuern –, waren die Kanadier von Beginn an anders. Optisch wie musikalisch. Alexisonfire haben ihren eigenen Charakter, einen immer etwas rum-peligen Sound, doch dafür Songs, die umso inbrünstiger von Herzen kommen. Der bärtige George mit der dezenten Plauze sieht das ähnlich: „Für mich ist das mit der neuen Screamo-Szene ein bisschen wie die Sache mit Pop-Punk in den 90ern. Als ich jung war, habe ich Bands wie Screeching Weasel, Mr. T Experience und die Queers geliebt. Plötzlich kam der Sound ins Fernsehen und es wurden Sum 41 und Blink 182 daraus. Für mich war das wie eine verwässerte, sichere Version davon.“ Dallas sieht das etwas an-ders: „Du sprichst aber nur für das, was du fühlst, was wir fühlen. Man hört eine Band und mag den Sound, wenn man jünger ist, und dann wird man älter und denkt über die

neuen Versionen nicht mehr so. Die Trends, die Frisuren... Solange George mit einer Schreistimme singt und ich mit einer Ge-sangsstimme, wird man uns eine Screamo-Band nennen. Das ist okay. Genres existie-ren, damit Medien der allgemeinen Öffent-lichkeit erklären können, worum es sich handelt. Aber: Wie würdest du uns nennen? Wenn uns ein jemand fragt, welche Art von Musik wir spielen, sage ich immer ‚Heavy Rock‘. Ich würde nicht ‚Screamo‘ sagen; den Ausdruck kennen die meisten Menschen doch gar nicht. Ich beschreibe Musik nicht, ich spiele sie.“

Dabei ist es den beiden wichtig hervorzu-heben, dass sie das neue Album – wie auch jedes davor – als Richtungswechsel empfin-den, auch wenn solche nicht geplant sind. George: „Die meisten der Künstler, die ich bewundere, haben zig unterschiedlich klin-gende Alben. Viele Bands, die ich gehört habe, als ich jung war, haben fünf Mal die gleiche Platte aufgenommen. Irgendwann habe ich daran das Interesse verloren, denn während ich mich weiterentwickelte, schienen sie die

gleichen zu bleiben.“ Dallas übernimmt: „Unser neues Album lässt mehr Raum. Lang-sam aber sicher lernen wir, wie man nicht zu viele Parts in einen Song hineinjammt. Mit ‚Crisis‘ waren wir schon ziemlich am Ziel. Wir hatten die Strophen, den Refrain, all das. Mit dem neuen Album glauben wir mehr denn je an unser Handwerk, wir sind selbstsicherer geworden. Früher dachten wir, wir dürften uns nicht wiederholen. Wir dachten, wenn die zweite Strophe wie die erste klingt, wäre es langweilig. Jetzt denken wir, dass man ei-nen Refrain, der stark genug ist, wiederholen kann, und es reicht, einfach etwas anderes zu singen. Mit unserem zweiten Album ‚Watch Out!‘ haben wir neue Dinge ausprobiert, aber wir wussten noch nicht genau, was wir wollten. Das ist jetzt anders. Auch wenn es vielleicht nicht total bewusst war, hatten wir eine Vision von dem, was wir tun.“ George bringt es auf den Punkt: „Wir wissen mittler-weile, wer Alexisonfire sind.“ jens mayer

»Wir wissen mittlerweile, wer Alexisonfire sind.« George Pettit

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Future OF the LeFt

Schizophrenie und SatanismusKeine zwei Jahre ist es her, dass auf „Curses!“ smarter Noiserock und boshafter Humor eine auf die Weise selten geglückte Liaison eingingen. Nun klopft bereits der Nachfolger an die Tür – besser: rennt sie ein.

ch war besorgt darüber, dass es schwierig werden könnte, einen angemessenen Nachfolger für ‚Curses!‘ zu schreiben“, gesteht Andy „Falco“ Falkous, Charak-terkopf und Wortführer von Future Of

The Left. „Aber wir haben es geschafft – und ich würde meinen Namen nicht aufs Album schreiben, wenn ich anderer Meinung wäre.“ „Travels With Myself And Another“ heißt das zweite Album seiner Band, benannt nach dem gleichnamigen Reisebericht der US-Ameri-kanerin Martha Gellhorn aus dem Jahr 1978. „Sie war sowohl Kriegsreporterin als auch Schriftstellerin, und außerdem kurzzeitig mit dem guten alten Ernest Hemingway verheira-tet. Ich mag ihr Buch, weil es ein Reisebericht aus einem wirklich speziellen Blickwinkel ist. Denn mal ehrlich: Wer interessiert sich schon dafür, wie dein Urlaub in Spanien war? Davon abgesehen gefällt mir die Mehrdeutigkeit des Titels, der vage eine Beziehung andeutet. Nicht eine dieser typischen Beziehungskisten zwischen Männlein und Weiblein. Für mich

geht es vielmehr um Schizophrenie. Eine multiple Persönlichkeitsstörung, die sich auch im Artwork ausdrückt.“

Eine latente Geistesgestörtheit darf man sicher auch dem unvergleichlichen Bandvor-steher und seinen Mitstreitern attestieren: „Travels...“ entpuppt sich als herrlich durch-geknallter Noiserock-Irrsinn. Klang noch so mancher Song auf „Curses!“ mehr bruchstück-haft als ausformuliert, kommen die neuen Stücke nun deutlich fokussierter daher und schneller auf den Punkt. „Auch textlich ist die neue Platte geradliniger und nicht mehr ganz so willkürlich. Es gibt zwar durchaus noch Songs, bei denen die Suche nach ihrem Sinn zur Lebensaufgabe mutieren könnte, aber viele der Stücke erzählen jetzt Geschich-ten und beinhalten wahrhaft aufrichtige und bedeutsame Textzeilen. ‚Yin/Post-Yin‘ handelt zum Beispiel vom Ende einer Beziehung und dem Bedauern und der Bitterkeit, die daraus resultiert. Wenn ich solche Zeilen schreibe, verberge ich sie aber in der Regel hinter aller-lei Müll – zum Beispiel Anspielungen auf Dinosaurier. Zu viel Ernsthaftigkeit auf einmal hat für mich noch nie funktio-niert. Aber etwas Sinnvolles zu sagen und im nächsten Moment totalen Schwachsinn zu plappern, das klappt ganz prächtig.“

Nonsens hin oder her – die vor scharfzüngigem britischem Hu-mor überbordenden Songtexte

liefern erneut allerhand Futter für zukünf-tige T-Shirt-Slogans. Einer davon: „You Need Satan More Than He Needs You“ – ein Song, der den beschwerlichen Tagesablauf eines in die Jahre gekommenen Teufelsanbeters beschreibt, der „die satanische Ideologie mit ganz alltäglichen Dingen unter einen Hut zu bekommen versucht: einen Babysitter zu finden, der während einer Blutorgie auf die Kinder aufpasst. Oder eine Ziege für ein Ritual zu organisieren.“ Auch sonst wimmelt es in Falkous‘ Texten nur so vor bizarren Absurditäten. Ob nun von der Aufrüstung ostafrikanischer Staaten die Rede ist, die gemeine Rundschwanzseekuh endlich ihre sicherlich verdiente Würdigung erfährt oder die Verwendung von Plastikbesteck moniert wird – Andys Lyrik ist ein steter Quell urko-mischer Lebensbetrachtungen.

Bei so viel geistreicher Eloquenz ist es nur folgerichtig, dass der 34-Jährige Pläne schmiedet, sich auch außerhalb des Kontexts einer Rockband kreativ zu verwirklichen. „Ich schreibe momentan an einem Buch, aber das

wird sich wohl noch über Jahre hinzie-hen. Schließlich kann ich mich an kei-nen meiner Lieblingsautoren erinnern, der schon in seinen 30ern gute Werke

verfasst hat. Rockmusik ist so eine Jungmännersache, aber

Schriftstellerei pro-fitiert von Er-

fah-

»Zu viel Ernsthaftigkeit auf einmal hat für mich noch nie funktioniert. Aber etwas Sinnvolles zu sagen und im nächsten Moment

totalen Schwachsinn zu plappern, das klappt prächtig.« Andy Falkous

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rung – sowohl Lebenserfahrung als auch Erfahrung im Umgang mit Worten. In einem Buch musst du über mehrere hundert Seiten eine Erzählung und Charaktere entwickeln. Es ist nicht wie in einem Song, bei dem du einfach irgendetwas von Dinos faselst, wenn dir nichts mehr einfällt.“ Dass sich ein Groß-teil der medialen Berichterstattung über seine Band auf den bissigen Sarkasmus seiner Lyrik konzentriert, sieht Andy durchaus kritisch. „Du läuft so schnell Gefahr, als reine Spaß-band wahrgenommen zu werden. Ich glaube, das rührt daher, dass wenige Bands überhaupt humoristische Elemente in ihrer Musik zulas-sen.“ Frank Zappas rhetorische Frage „Does humor belong in music?“ würde Andy den-noch ganz sicher bejahen. „Denn eigentlich ist es ein Armutszeugnis, wenn Humor bei einer Rockband als etwas Ungewöhnliches erachtet wird.“

Ein Thema, bei dem er weniger Spaß versteht, ist die Internet-Piraterie. Fand „Curses!“ seinerzeit ganze drei Monate vor der offiziellen Veröffentlichung den Weg ins Netz, tauchte „Travels...“ nur unwesentlich später – immerhin acht Wochen vor dem Release – in den Tauschbörsen auf. „Das hat mich stocksauer gemacht und darüber ins Grübeln gebracht, wie wir als Band überhaupt noch überleben sollen. Wir kommen momentan gerade so aus den roten Zahlen heraus; aber ich habe keine Ahnung, wie lange das noch ausreicht, um unsere fortschreitende Existenz im ökonomi-schen Sinne zu recht-fertigen.“ Was dabei

nicht hilft: „Curses!“ hat sich in Deutschland mehr schlecht als recht verkauft – anders als in Frankreich. „Was sehr eigenartig ist, weil wir dort mit Mclusky damals cicra fünf Platten losgeworden sind.“

Bleibt der Absatz auf den Shows? Die berühmt-berüchtigten Bühnenansprachen der Band wurden jedenfalls auf dem Live-album „Last Night I Saved Her From Vampires“ erstmals für die Nachwelt konserviert. „Wir wollten auf unseren Konzerten nicht ir-gendeinen wertlosen Kram verkaufen, auf dem nur unser Name steht. Und da wir nun mal besser darin sind, eine Band zu sein, als ulkige Handtaschen zu entwerfen, bot sich eine Liveplatte an.“ Vor allem in Groß-britannien genießt das Bühnengebaren des bekloppten Trios – besonders Andys harsche Zurechtweisungen vorlauter Fans – mittler-weile einen legendären Ruf. „Die meisten dieser Idioten genießen es offenbar, verbal verdroschen zu werden, weil sie als Kinder zu wenig Aufmerksamkeit abgekriegt haben. Weißt du, ich war in der Schule ein ziem-liches Hemd und musste erst lernen, ein zynischer Bastard zu werden, um über die Runden zu kommen. Von daher ist es mir ein absolutes Vergnügen, solche Wichtigtuer auf unseren Konzerten zum Weinen zu

bringen.“ patrick agis-garcin

Mehr im online-Archiv auf visions.de: 1 Story / 1 ReviewFuture of the Left auf tour – Termine ab Seite 138

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The Mars VolTa

»�Ich�bin�ein��wandelnder�Widerspruch«Puff Daddy steigt bei den Arctic Monkeys ein, und Rock am Ring wird nächstes Jahr ein Jazz-Festival. Ihr glaubt uns kein Wort? Wir haben noch einen: Mars Volta nennen ihr neues Album ihr „Akustik-Album“. Gut, die ersten zwei waren gelogen, aber Nummer drei ist, auch wenn es ähnlich absurd klingt, nichts als die Wahrheit. Omar Rodriguez im Interview.text: nadine lischick | fotos: micah smith

Pferd in jedes seiner Bilder malt und eines Tages entscheidet, eine Serie von Bildern ohne Pferde zu malen.Was antwortest du, wenn Leute sagen, „Octa-hedron“ sei ihnen nicht experimentell genug?Mir ist es egal, ob die Leute meine Alben mögen – weil ich Musik nicht für sie, son-dern für mich mache. Mein größter Albtraum ist es, irgendwann auf mein Leben zurück-zublicken und festzustellen, dass alle meine Platten gleich klingen. Ich kann mir selbst ja sowieso nicht entkommen: Ich schreibe die Musik, ich entwerfe die Strukturen – es klingt so oder so nach mir! Und Cedrics Art, Texte zu schreiben und zu singen, ist auch sehr speziell. Auf eine Weise sind wir bereits in einem gewissen Sound gefangen. Deswegen müssen wir alles tun, damit dieser Sound unterschiedliche Varianten bekommt.Ich glaube, ich kenne keinen, der behaupten würde, The Mars Volta seien in einem gewis-sen Sound gefangen...(lacht) Stimmt! Aber die meisten Leute hän-gen sehr an der Vergangenheit und alten Erinnerungen. Wenn sich jemand in unser erstes Album „De-Loused In The Comatorium“ (2003) verliebt hat, dann will er am liebsten, dass alles so bleibt und jede Platte, die wir danach machen, genauso klingt. Das ist wie auf der Highschool in den Jahrbüchern; jeder schreibt das gleiche rein: „Bleib, wie du bist!“ Das ist doch verrückt! Ich will doch mit 35 nicht dasselbe unreife Arschloch sein wie mit 16! Ich lebe mein Leben im Hier und Jetzt und bin sehr gut darin, die Vergangenheit loszulassen.Du hängst also gar nicht an Dingen oder Erinnerungen?Oh doch! Ich bin ein einziger wandelnder Wider spruch: Ich sammle alles Mögliche. Aber trotzdem laufe ich nicht rum und sage ständig: ‚Weißt du noch, damals...‘ Schau dir das Phänomen der Midlife Crisis doch mal an: Da wird ein Typ 40 und verhält sich plötz-lich, als wäre er wieder 20, kauft sich eine Corvette, pierct sich das Ohr und geht wieder in Clubs. Dieses traurige Verhalten will ich vermeiden. Ich glaube sowieso fest daran, dass wir Menschen unseren kreativen Höhe-

itarrist und Songschreiber Omar Rodriguez-Lopez lacht. „Na ja, es ist unsere Version eines Akustik-Albums. Ich habe mich viel von

Leonard Cohen, Syd Barrett, Nick Drake und so Sachen beeinflussen lassen. Mir war von Anfang an klar, dass ‚Octahedron‘ etwas komplett anderes sein würde.“ Das bedeutet natürlich nicht, das Rodriguez und Sänger Cedric Bixler-Zavala auf ihrem fünften Al-bum Gitarren-Akustik-Pop machen – aber tatsächlich ist „Octahedron“ mit Abstand das zugänglichste und freundlichste Album, das sie je aufgenommen haben; in Mars-Volta-Dimensionen könnte man Songs wie den Opener „Since We’ve Been Wrong“ fast Pop nennen. Statt sich endlosen Instrumental-Parts hinzugeben, jedem Song etliche Ebenen und Overdubs zu verpassen, hielt Rodriguez sich diesmal zurück.

Einigen Songs kann man so bis auf die Knochen sehen: Struktur und Melodien sind klar erkennbar – selbst bei Stücken wie der lauten ersten Single „Cotopaxi“. Um diese neue Einfachheit zu erreichen, dezimierte Rodriguez die „Mars Volta Group“ vom Ok-tett zum Sextett und verschrieb sich selbst einer ganz neuen Strategie: „Selbstauferlegte Limitiertheit! Das war definitiv eine Heraus-forderung für mich. Mir wurde in letzter Zeit in paar Mal gesagt, dass die Leute auf dem neuen Album das Experimentelle vermissen. Aber im Kontext meiner Band und dem, was ich die letzten Jahre an Musik gemacht habe, bedeutete es für mich eine Menge an Expe-rimenten, um an diesen Punkt zu kommen.“ Mit anderen Worten: The Mars Volta sind auf „Octahedron“ genau deshalb experimentell, weil sie nicht experimentell sind.

Omar, je experimenteller die Songs geraten, desto leichter scheinen sie dir zu fallen. Dich selbst zu bremsen, ist das nicht so, als würde ein Maler nur die Hälfte aller Farben auf seiner Palette benutzen?Ein bisschen ja. Oder eher: wie ein Maler, der nicht mit den Farben malt, die er sonst im-mer benutzt; einer, der versucht, sein Schema zu ändern. Stell dir einen Maler vor, der ein

punkt erst erreichen, wenn wir 60 sind.Ist das nicht ein bisschen spät?Einstein, Hitchcock, Sid Arthur – die meisten Leute, zu denen ich aufblicke, waren in der zweiten Hälfte ihres Lebens am besten. Wenn man auf seinen Körper achtet, ihn nicht misshandelt und sich gut ernährt, dann ist das Gehirn mit 60 auf dem kreativen Höhe-punkt.Du erwähntest gerade deinen Sammeltick. Was hortest du denn?Ich habe zum Beispiel eine riesige Sammlung alter Röhrenfernseher – 40 oder 50 Stück.Was willst du denn mit 50 Fernsehern?Ich sammle sie eben einfach: die richtig alten großen aus den 50ern bis in die späten 70er. Also wenn du einen im Keller hast und darü-ber nachdenkst, ihn wegzuschmeißen, dann bring ihn einfach mit zur nächsten Show... Ich habe aber auch eine Menge alter Recei-ver, Tape-Maschinen, natürlich eine große Sammlung Bücher, Filme und Platten; ich sammle Schlüssel, Uhren, Spielzeugpistolen – ich habe viele Sammlungen.Ist das dein Ernst? Deine Garage muss ja voller Müll sein.Nein, kein Müll! Und die Sachen stecken auch nicht in meiner Garage, sondern im ganzen Haus. Ich habe auch eine Sammlung von Pfeifen-Feuerzeugen, alten Taschenrech-nern...Du bist ein echter Messie!Vielleicht. Aber ich habe schon eine gewisse Ordnung darin. Es ist nicht so chaotisch, wie es klingt. Die Sammlungen sind alle sortiert. Mein Opa war genauso und meine Mutter auch. Ich weiß nicht, was es ist, aber es muss ein Gen sein, das man in sich trägt. Ich kann einfach nichts wegschmeißen.Auf dem neuen Album geht es quasi auch um Verlust – allerdings nicht durch Wegschmei-ßen, sondern Verschwinden.Die Themen unserer Alben haben immer da-mit zu tun, was uns in unserem Leben gerade beschäftigt. Bei „De-Loused...“ haben wir viel an unseren Freund Julio gedacht und ihm das Album gewidmet. Als wir „Frances The Mute“ (2005) geschrieben haben, sprachen wir viel über Jeremy (Ward, Ex-„Sound Manipulator“

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Nathan: Ja, wir lieben Zeit! (alle lachen) Wir sind nicht The Fall, wir können nicht so schnell arbeiten. Es brauch immer eine Weile, bis wir genügend Songs geschrieben haben.Beth: Wenn es nach unserem alten Label Kill Rock Stars gegangen wäre, hätten wir wohl längst ein neues Album veröffentlicht. Bereits im Frühjahr 2007 waren wir im Studio und haben neue Demos aufge-nommen....die dann kurze Zeit später durchs Internet geisterten.Nathan: Richtig. Ich hatte sie auf meiner MySpace-Seite hochgeladen. Sie waren nicht zur Veröffentlichung gedacht.Beth: Und ich bin heilfroh, dass das neue Album nicht klingt wie diese Demos.Warum?Beth: Diese Demos waren Schnellschüsse, das waren nicht wir. Wir waren nur auf Anraten unseres Labels in diesem Studio, nicht weil wir uns bereit gefühlt hätten oder so. Ich kann Kill Rock Stars verstehen; sie sind ein kleines Label, und wenn eine ihrer Bands etwas Erfolg hat, sichert das das Einkommen der kompletten Firma. Doch so funktio-nieren wir einfach nicht. (Beth stockt: Nathan ist auf die Idee gekom-men, das mittlerweile geschmolzene Eis aus der muschelförmigen Schokoladenschale zu schlürfen, als esse er eine Auster. Gossip kriegen sich vor Lachen nicht mehr ein)

Planlos in MalibuNun also „Music For Men“ – ein seltsamer Albumtitel für eine Band mit zwei erklärten Feministinnen und Lesben als Mitgliedern. Beth und Hannah lachen: „Denkst du nicht auch, es ist der perfekte Titel für ein Gossip-Album?“, fragen sie und kichern bei dem Gedanken an die dummen Gesichter, die manche Leute machen werden, wenn sie den Titel zum ersten Mal hören. Doch eine leichte Geburt war „Music For Men“ keineswegs. Nach den enttäuschenden Demoaufnahmen ging die Band auf Tour, Beth avancierte zum Neuentwurf eines weiblichen

nd dazu Eis und frische Erdbeeren. Als die Band das Zimmer betritt und die Köstlichkeiten sieht, entfährt Beth ein Freudenschrei. Noch mehr triumphiert sie sich, als sie bemerkt, dass der Kuchen einen heißen, flüssigen

Kern hat. Gitarrist Nathan Howdeshell und Drummerin Hannah Blilie scheinen daran gewöhnt und begnügen sich damit, wissend zu grinsen. Die nächsten Interviewminuten verstreichen, während Beth herauszufinden versucht, welchen Geschmack das in einer kleinen Schokoladenmuschel servierte Eis denn nun hat. Nach einer Weile scheint sie sich auf Cappuccino festgelegt zu haben und grinst eben-falls in die Runde. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, laut Beth Anfang Juni 1999, gründete sie mit Nathan und Kathy Mendonca in der Kleinstadt Searcy in Arkansas die Band, die heute um den Tisch versammelt ist. Kathy verließ vor den Aufnahmen des letzten Albums „Standing In The Way Of Control“ von 2006 die Band, wurde durch Blood Brother Jordans Zwillingsschwester Hannah ersetzt und be-kam die heiße Phase der Band nicht mehr mit, die bis dato immer-hin zwei Studio- und ein Live-Album in den Staaten herausgebracht hatte. Denn erst seither, seit „Standing In The Way Of Control“, hat die Karriere von Gossip Fahrt aufgenommen.

Wenn ihr euren Weg bis hierher mit einem Wort beschreiben müsstet, welches wäre das?Beth Ditto: Surreal! (zustimmendes Nicken der beiden anderen) Vor allem die letzten drei Jahre, es ist so viel passiert...Hat euch der späte Erfolg mit „Standing In The Way Of Control“ über-rascht?Beth: Ein wenig schon. Wir waren lange an den kleinen Rahmen ge-wöhnt, in dem unsere Band bis dahin stattfand.Nathan Howdeshell: Da ist es umso besser, dass wir schon so lange eine Band sind. So konnte uns der Erfolg nicht verderben.Trotzdem habt ihr euch reichlich Zeit gelassen, ein neues Album auf-zunehmen.

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In der Münchener Hotelsuite wird gerade der Nachmittagskaffee serviert, als Gossip unsere Fragen zu ihrem vierten Album „Music For Men“ entgegen-nehmen. Und einiges wäre zu klären, seit Beth Ditto nackt wie Gott sie schuf vom Cover des NME lächelte und ihre Band in die Schlagzeilen brachte – und Karl Lagerfeld sie zu seiner neuen Muse erklärte. Zuerst mal muss Beth sich allerdings beruhigen. Schließlich gibt es Schokoladenkuchen...

text: hauke hackstein | fotos: dennis yenmez

Gut fühlengut klingenheißtGossip

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Gut fühlengut klingenheißt

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Weniger spielen, mehr genießen

Pearl Jam

Seit bald zwei Jahrzehnten machen Pearl Jam Musik. 36 Minuten dauert ihr elf Songs langes neues Album. Produzent Brendan O‘Brien kehrt zurück, Schlagzeuger Matt Cameron ist voll integriert, es gibt kein suchendes Hin und Her mehr zwischen Balladen und Kratzigem, sondern ein kompaktes Miteinander, das obendrein auch noch emotional packt. So viel verrieten uns eine exklusive Hörprobe in Seattle und ein Plausch in der Bandzentrale ebenda. text: jochen schliemann | fotos: Danny clinch

Alben – „Vs.“ und „Vitalogy“. Vielleicht noch „No Code“. Wir mussten das damals tun, um sicherzugehen, dass wir es auch allein schaffen. Inzwischen hat sich das normalisiert. Wählerisch sind wir noch immer, aber bei dieser Platte fiel es uns relativ leicht zu reden, denn wir mögen sie – und das ist keine Floskel – sehr, sehr gern.Wie wichtig ist euch, dass ihr inzwischen fast autark funktioniert? Sicherlich nehmt ihr auch die Hilfe von Plattenfirmen in Anspruch, aber vieles wird doch hier beschlossen – unter eurem Dach.Gossard: Wir mögen es, uns alle Möglichkeiten offenzuhalten. Aber auch davon abgesehen ist es einfach schön, hier zu sein. Du hast die ganzen Bilder ja gesehen, die an diesen Wänden hängen. Oder der Proberaum: Der ist einfach großartig! Er ist riesig und klingt trotzdem gut. Jeff hat eine Skateboard-Rampe gebaut. Das ist momentan die Zeit, in der wir genießen, was wir uns erarbeitet haben.Ältersein klingt bei euch sehr angenehmGossard: Absolut. Ich meine, wir haben rund 120 Songs, die wir allesamt live spielen können. Auch wenn manche ein wenig abgenutzt sind, ist es doch etwas, was nur sehr wenige Bands von sich behaupten können.Jeff Ament: Wir genießen mehr. Ich mache mir viel weniger Gedanken um unsinnige Sachen. Es gibt keinen falschen Stolz mehr. Wir hören einander zu.Geht bei all der Reife und Harmonie nicht auch Spannung verloren?Gossard: Spannung gibt es mehr als genug. Auch weil Brendan O’Brien uns immer wieder unter Druck gesetzt hat. Und Matt. (lacht)Stichwort Matt Cameron: Wie wichtig ist ein Schlagzeuger für eine Band?Gossard: Sehr wichtig. Ich finde es erstaunlich, wie sehr sich unsere Band jedes Mal verändert hat, wenn wir einen neuen Schlagzeuger hatten. Matt empfanden

itizen Dick ist einer der besten Bandnamen der Welt. Er stammt aus dem Film „Singles“, der hier in Seattle gedreht und im Zuge des

musikalischen Hypes um die Stadt zum Erfolg wurde. Citizen Dick war eine erfundene Band, in der allerdings „echte“ Musiker aus Seattle mitspielten – Mitglieder von Pearl Jam. Das Citizen-Dick-Poster hängt im gleichen Raum, ebenso wie Goldene und Platin-Schallplatten aus den letzten zwei Jahrzehnten: Alice In Chains, Mad Season und vor allem viele Auszeichnungen für jedes Album der Band, die hier zu Hause ist. Der mit viel Holz gebaute Bürobereich entspricht dem einer kleinen Firma. Im Flur sind Dokumente der gesamten Welttourneen der Band aufgereiht, durch eine Glastür und eine Treppe hinunter befindet sich der Mailorder, und geht man eine andere Treppe hinunter, durch eine starke Tür, gelangt man in den riesigen Proberaum von Pearl Jam.

Einige ihrer Bühnenbanner hängen hier, der Boden ist mit Teppichen bedeckt, und auf einem Sofa sitzen Gitarrist Mike McCready und Drummer Matt Cameron und geben ein Interview. Oben im „Geschäftsbereich“, hinter einer Bürotür mit Obama-Poster, sitzen Bassist Jeff Ament, Gitarrist Stone Gossard sowie sein Hund, der zwischen den Gesprächspartnern rotiert und sich streicheln lässt. Seit über 20 Jahren machen Stone und Jeff zusammen Musik. „Und das hier ist vorerst das letzte Interview!“, sagt Stone. „Wobei wir echt sauer sein könnten...“, schließt Jeff mit einem grinsenden Blick aus dem Fenster an. „An einem der wenigen schönen Tage sitzen wir drinnen und reden.“

Allerdings seid ihr auch selbst schuld. Ihr habt euch in den vergangenen vier Tagen einem – für eure Verhältnisse – ziemlichen Interviewmarathon ausgesetzt.Stone Gossard: Das stimmt nur zum Teil. Die Phase, in der wir nicht mit der Presse sprachen, erstreckte sich über gerade zwei

wir am Anfang ja eigentlich als viel zu gut für uns. Aber diesmal passt es wirklich großartig. Sein Sound, seine Lockerheit, seine Kraft, seine Stabilität. Ich glaube, er weiß gar nicht, wie man sich verspielt. Du könntest ihm die Augen verbinden und das Schlagzeug umdrehen, er würde bei der Eins rauskommen. Und trotzdem hat er einen eigenen Stil.Habt ihr schon beschlossen, was die erste Single eures neuen Albums wird?Ament: Ich bin ja für „The Fixer“. Die Energie, die Spielfreude des Songs wären schon toll als erstes Signal.Gossard: Wobei... Singles... (schaut Jeff an) konnten wir noch nie gut aussuchen. (lacht) Ich meine, dass „Who You Are“ und „Nothing As It Seems“ gute erste Singles waren, wage ich zu bezweifeln.Ament: Ich habe mir „No Code“ neulich noch einmal angehört und muss sagen, dass dieses World-Music-Image der Platte – dass sie so experimentell geraten sei – es eigentlich nicht trifft. Mindestens die Hälfte sind ganz normale Rocksongs. Da die Leute aber vier Wochen lang im Radio nur „Who You Are“ hören mussten...Gossard: ...hat die Platte viel weniger verkauft, als die Plattenfirma dachte! (lacht)Euer neues Album wirkt fast vorsätzlich fokussiert. Warum ist es so kurz?Gossard: Es ist sehr kurz! Ist das nicht fantastisch? Um ehrlich zu sein, gab es in den letzten zehn Jahren immer wieder Diskussionen um die Länge unserer Alben. Ich denke inzwischen, dass 36 Minuten ideal sind, um sich in einem Album zu verlieren. Wer erträgt eine Platte über 70 Minuten? Jeff, nenn mir das beste Doppelalbum seit Erfindung der CD!Ament: Oh... (zögert) Keine Ahnung. „Use Your Illusion“ von Guns N’Roses? (Stone lacht) Vielleicht doch eher „Mellon Collie And The Infinite Sadness“ von den Smashing Pumpkins? Ich glaube, dass viele lange Alben nur entstanden sind, weil sich Bands

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18 Jahre, 6 Alben, 1 Einheit: Die Geschichte von Incubus ist die Geschichte vierer Schulfreunde, die aus dem Wunsch nach Kreativität, Leidenschaft und musikalischer Finesse eine Einheit formten, in der sie bis heute die Plattform für ihr Schaffen finden. Mit ihrer Musik haben sie sich von Album zu Album weiter entwickelt – die Basis, ihre tiefe gegenseitige Verbundenheit, blieb gleichwohl unverändert. Vieles, so Sänger Brandon Boyd, „hat sich geändert während dieser 18 Jahre. Unser Verhältnis untereinander aber, diese enorme Aufrichtigkeit, mit der wir uns begegnen, ist immer dieselbe geblieben.“

Von Sascha Krüger

We are family

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