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XIX. EMANUELE TESAURO: SKRIPTURALITÄT UND INTERMEDIALITÄT ALS KONSTITUENTEN DER ARGUTEZZA Der einer piemontesischen Adelsfamilie entstammende Emanuele Tesauro (1592- 1675) war als Mitglied des Jesuitenordens (bis 1634) Prediger und Professor für Rhetorik in Cremona und Mailand und wirkte später als Erzieher im Haus der Herzöge von Savoyen. Obwohl er ein umfangreiches schriftstellerisches Werk hinterlassen hat – u. a. Tragödien, historiographische Schriften, Panegyriken, Epigramme und eine Moralphilosophie –, hat er vor allem durch seine stiltheore- tische, auf die dichterische Bildlichkeit zentrierte Abhandlung Il Cannocchiale Aristotelico Berühmtheit erlangt und gilt als „der bedeutendste Theoretiker des literarischen Barock in Italien“. 1 Der ungewöhnliche Titel Das Aristotelische Fernrohr – selbst schon eine Metapher – wird durch eine dem Werk beigegebene Illustration erläutert. 2 Auf ihr reicht Aristoteles einer als Allegorie der Poesie kenntlich gemachten Frauenfigur ein Fernrohr, mit dem sie zur Sonne, im über- tragenen Sinne zum Gott der Künste und Wissenschaften Phoebus Apollon, em- porblickt. Für Tesauro bleibt Aristoteles also auch im 17. Jahrhundert weiterhin die verbindliche Autorität in Fragen der Poetik und Rhetorik, doch sollen seine Erkenntnisse durch moderne Analyseinstrumente ergänzt werden, die es erlauben, auch die Unvollkommenheiten – die auf dem Titelkupfer deutlich sichtbaren Son- nenflecken – kritisch in den Blick zu nehmen. 3 Unter formalem Rückgriff auf die Poetik und die Rhetorik des Aristoteles liefert Tesauro in seiner Schrift eine um- fassende, mit vielen Beispielen versehene Theorie der figürlichen Redeweise, insbesondere der Metapher, die auf den Begriff der argutezza bzw. acutezza 4 fo- kussiert ist. –––––––––––––– 1 BUCK (1968), S. XIV. Il Cannocchiale Aristotelico erschien zum ersten Mal 1654, der genaue Titel der Ausgabe von 1670, nach der hier zitiert wird, lautet im barocktypischen rhetorischen Überschwang Il Cannocchiale Aristotelico o sia Idea dell’arguta et ingeniosa elocutione che serve a tutta l’Arte oratoria, lapidaria et simbolica Esaminata co’ Principii del divino Aristote- le. Eine knappe biographische Skizze Tesauros findet sich in LANGE (1968), S. 158-168. 2 Vgl. hierzu FRIEDRICH (1964), S. 623 f., BUCK (1968), S. XV, BERGHOFF (1979), S. 119-122, DONATO (1985), S. 106. 3 Tesauro bezeichnet die poetisch-rhetorischen Schriften des Aristoteles als klarstes Fernrohr, mit dem sich alle Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten der Redekunst untersuchen lassen (TESAURO 1968, S. 2 f.). Zu den macchie del sole, die mit dem Aristotelischen Fernrohr erkannt werden können, vgl. TESAURO (1968), S. 634 und S. 685. Als weitere Erfindung des 17. Jahr- hunderts ist auf dem Stich ein konischer Spiegel zu sehen, ein specchio miraculoso, den Tesauro im Text näher beschreibt (TESAURO 1968, S. 677-679); vgl. hierzu auch MEHNERT (1976), S. 198 f. Zum Fernrohr als signifikantem Rhetorik- und Wissenschaftsemblem im 17. Jahrhundert vgl. WITTHAUS (2005). 4 Argutezza und acutezza lassen sich zusammenfassend als Scharfsinn oder „Geistesschärfe“ (FRIEDRICH 1964, S. 628) übersetzen; dementsprechend versteht man unter den argutezze scharfzüngige, geistreiche Bemerkungen oder Sinnsprüche. Brought to you by | New York University Authenticated | 216.165.126.139 Download Date | 5/31/14 11:06 PM

Von der Antike bis zum Barock () || XIX. EMANUELE TESAURO: SKRIPTURALITÄT UND INTERMEDIALITÄT ALS KONSTITUENTEN DER ARGUTEZZA

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XIX. EMANUELE TESAURO: SKRIPTURALITÄT UND INTERMEDIALITÄT ALS

KONSTITUENTEN DER ARGUTEZZA

Der einer piemontesischen Adelsfamilie entstammende Emanuele Tesauro (1592-1675) war als Mitglied des Jesuitenordens (bis 1634) Prediger und Professor für Rhetorik in Cremona und Mailand und wirkte später als Erzieher im Haus der Herzöge von Savoyen. Obwohl er ein umfangreiches schriftstellerisches Werk hinterlassen hat – u. a. Tragödien, historiographische Schriften, Panegyriken, Epigramme und eine Moralphilosophie –, hat er vor allem durch seine stiltheore-tische, auf die dichterische Bildlichkeit zentrierte Abhandlung Il Cannocchiale Aristotelico Berühmtheit erlangt und gilt als „der bedeutendste Theoretiker des literarischen Barock in Italien“.1 Der ungewöhnliche Titel Das Aristotelische Fernrohr – selbst schon eine Metapher – wird durch eine dem Werk beigegebene Illustration erläutert.2 Auf ihr reicht Aristoteles einer als Allegorie der Poesie kenntlich gemachten Frauenfigur ein Fernrohr, mit dem sie zur Sonne, im über-tragenen Sinne zum Gott der Künste und Wissenschaften Phoebus Apollon, em-porblickt. Für Tesauro bleibt Aristoteles also auch im 17. Jahrhundert weiterhin die verbindliche Autorität in Fragen der Poetik und Rhetorik, doch sollen seine Erkenntnisse durch moderne Analyseinstrumente ergänzt werden, die es erlauben, auch die Unvollkommenheiten – die auf dem Titelkupfer deutlich sichtbaren Son-nenflecken – kritisch in den Blick zu nehmen.3 Unter formalem Rückgriff auf die Poetik und die Rhetorik des Aristoteles liefert Tesauro in seiner Schrift eine um-fassende, mit vielen Beispielen versehene Theorie der figürlichen Redeweise, insbesondere der Metapher, die auf den Begriff der argutezza bzw. acutezza4 fo-kussiert ist.

–––––––––––––– 1 BUCK (1968), S. XIV. Il Cannocchiale Aristotelico erschien zum ersten Mal 1654, der genaue

Titel der Ausgabe von 1670, nach der hier zitiert wird, lautet im barocktypischen rhetorischen Überschwang Il Cannocchiale Aristotelico o sia Idea dell’arguta et ingeniosa elocutione che serve a tutta l’Arte oratoria, lapidaria et simbolica Esaminata co’ Principii del divino Aristote-le. Eine knappe biographische Skizze Tesauros findet sich in LANGE (1968), S. 158-168.

2 Vgl. hierzu FRIEDRICH (1964), S. 623 f., BUCK (1968), S. XV, BERGHOFF (1979), S. 119-122, DONATO (1985), S. 106.

3 Tesauro bezeichnet die poetisch-rhetorischen Schriften des Aristoteles als klarstes Fernrohr, mit dem sich alle Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten der Redekunst untersuchen lassen(TESAURO 1968, S. 2 f.). Zu den macchie del sole, die mit dem Aristotelischen Fernrohr erkannt werden können, vgl. TESAURO (1968), S. 634 und S. 685. Als weitere Erfindung des 17. Jahr-hunderts ist auf dem Stich ein konischer Spiegel zu sehen, ein specchio miraculoso, den Tesauro im Text näher beschreibt (TESAURO 1968, S. 677-679); vgl. hierzu auch MEHNERT (1976), S. 198 f. Zum Fernrohr als signifikantem Rhetorik- und Wissenschaftsemblem im 17. Jahrhundert vgl. WITTHAUS (2005).

4 Argutezza und acutezza lassen sich zusammenfassend als Scharfsinn oder „Geistesschärfe“ (FRIEDRICH 1964, S. 628) übersetzen; dementsprechend versteht man unter den argutezzescharfzüngige, geistreiche Bemerkungen oder Sinnsprüche.

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Emanuele Tesauro: Il Cannocchiale Aristotelico. Cap. II: Cagioni instrumentali Delle Argutezze Oratorie, Simboliche & Lapidarie (Auszug). Italienischer Text aus: EMANUELE TESAURO: Il Cannocchiale Aristotelico. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Turin 1670. Hrsg. von AUGUST BUCK. Bad Homburg v. d. H. 1968, S. 20-23.

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Argutezze

Die schriftlichen Argutezze sind Abbilder der gesprochenen Wörter, weil (wie uns unser Autor lehrt)5 die Schrift ein Zeichen der Stimme und das Schreiben ein Aussäen von Wörtern auf einer Seite ist. Aber diese Art und Weise ist viel man-nigfaltiger, scharfsinniger und reicher an ingeniösen Teilen als die gesprochene Art und Weise. Denn ihr entspringen die spitzfindigen Inschriften, die Motti der Imprese, die verkürzten Sinnsprüche, die lakonischen Sendschreiben, die Geheim-zeichen, die Epigramme, die Hierogramme6, die Logogriphen7, die Chiffren und die Sondersprachen, die auf tausend kluge Arten die Concetti enthüllen, indem sie sie verbergen. Du wirst oft unvollendete Worte geschrieben finden, die dich den Rest in der Brust dessen lesen lassen, der sie geschrieben hat, wie das scherzhafte SIC VOS NON VOBIS [= SO IHR, NICHT FÜR EUCH]8 auf den Insignien und über den Türen des Anton di Leva, nachdem der von ihm eingenommene und beanspruchte mailändische Staat an Massimiliano Sforza zurückgegeben war.9 Es genügten diese Überreste eines Vergilschen Verses, um eine Biene darzustellen, die Honig produziert, ohne ihn zu genießen. Eine Argutezza, der vom Herrn viel Lob, aber kein Lohn zuteil wurde.

–––––––––––––– 5 Gemeint ist Aristoteles. 6 Hierogramme: graphisch-bildliche Zeichen mit zumeist sakraler Bedeutung (griech. hiero =

„heilig“). 7 Logogriph (von griech. logos: „Wort“ und gr�phos: „Rätsel“): Buchstabenrätsel, bei dem durch

Hinzufügen, Ersetzen oder Wegnehmen eines Buchstabens neue Wörter gebildet werden. 8 „So [schafft, arbeitet] ihr, [aber] nicht für euch“: Ein von Donatus überlieferter angeblicher

Halbvers des Dichters Vergil (70-19 v. Chr.), mit dem dieser einen Betrüger entlarvte, der sich als Verfasser eines Werkes von Vergil ausgegeben hatte. PUTTENHAM berichtet darüber 1589 in seiner Arte of English Poesie (1869), Kap. XXVII.

9 Massimiliano Sforza (1493-1530) konnte 1512 für kurze Zeit die Herrschaft über das Herzog-tum Mailand zurückgewinnen, das unter seinem Vater Ludovico an die Franzosen gefallen war.

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Ein anderes Mal wirst du Worte finden, die nach den ersten Buchstaben verkürzt sind, wie die Devise der Sabiner S. P. Q. R., was Sabinis Populis Quis Resistet?[= Wer wird den sabinischen Völkern Widerstand leisten?] bedeutet. Als die klu-gen Römer ihnen gegenüberstanden, übernahmen sie die Schrift und erschlugen die Verfasser:10 So löschten sie die Sabiner aus und bewahrten ihre Buchstaben als Trophäe.11 Auf diese Weise fügte Accolti Aretino12 seinem Adler zwei Buch-staben anstatt zweier Wörter hinzu: S. C., das heißt Sic Crede [= So glaube]. Als der Redner Heraklit dem König Ptolemäus einen Panegyrikus mit dem griechi-schen Titel PONU ENCOMION, also Lob der Duldsamkeit, überreichte, schnitt der scharfsinnige König den ersten Buchstaben ab, so daß Onu Encomion übrig-blieb, was Lob des Esels bedeutete. Damit wollte er zeigen, daß die Duldsamkeit eine Tugend der Lasttiere und nicht der Könige ist. In dieser Gattung verdiente sich ein Mann in der Antike größtes Lob, der, als er gefragt wurde, an welchen Zeichen man den wahren Freund vom falschen unterscheidet, auf lateinisch mit diesem anmutigen Echo antwortete:

AMORE, MORE,

ORE, RE.

–––––––––––––– 10 Die rhetorische Stilisierung, die Tesauro hier und an anderen Stellen seines Werks vornimmt,

läßt sich im Deutschen nicht wiedergeben: ripercossero la scrittura, & percossero gli Scrittori. Zum Stil Tesauros vgl. POZZI (1953), BOZZOLA (1997) und SANTINI (1998).

11 Diese Trophäe ist auf dem Titelkupfer des Cannocchiale Aristotelico abgebildet. Die Römer benutzten S. P. Q. R. als Abkürzung für Senatus Populusque Romanus („Volk und Senat von Rom“); vgl. hierzu TESAURO (1968), S. 128. An einer anderen Stelle seiner Schrift zitiert Tesau-ro weitere Auflösungen dieser Initialen als Beispiel dafür, wie viele unterschiedliche Interpreta-tionen einzelne Ziffern oder Buchstaben erfahren können (TESAURO 1968, S. 441). Bereits Ra-belais spielt in Pantagruel (Tiers Livre, Kap. XXXII) mit diesen Initialen, die bei ihm als Si peu que rien aufgelöst werden.

12 Gemeint ist die toskanische Familie der Accolti, aus der Kardinäle, Dichter und Juristen hervor-gingen.

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was bedeutet, den Freund erkennt man an der Liebe, an den Sitten, an den Wortenund an den Taten. Andere, nicht weniger geschickte, fügten die geschriebenen Wörter mit soviel Kunstfertigkeit zusammen, daß sie sich nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts lesen lassen: So wendet sich der Concetto auf den glei-chen Spuren um, auf denen er gekommen war; das Gesagte wird widerrufen, und das Maß an Lob verkehrt sich in das gleiche Maß an Tadel. In diesem Stil wurde an Heinrich VIII., König von England, Gatte der Ehebrecherin, Ehebrecher der Gattin und Abtrünnigen der Kirche,13 geschrieben:

Coniugium tibi Rex fœcundent Numina longo Semine nec sterilis sit tibi progenies.14

Dieses retrograde Distichon, das sich abwärts in ironischem Sinne und aufwärts in eigentlichem Sinne liest, wird von den Dichtern Granchio15 genannt: und so war tatsächlich das Ergebnis jener Hochzeit. Nicht nur mit Wörtern, sondern auch mit einzelnen rückwärts gelesenen Buchstaben sind spitzfindige und anschauliche Acutezze gebildet worden, in der griechischen ebenso wie in der lateinischen Sprache, etwa von Peletarius und Raban. Einige sind recht geistreich auf ich weiß nicht wen verfaßt, der Vergnügen daran fand, seinen Namen rückwärts zu schrei-ben. Zu dieser Art gehören auch die korrelativen Verse, die die Wörter unterein-ander teilen und die Aussagen trennen, wie wenn man z. B. sagt:

pit rem, tem pit lorem. Qui ca Vxo li ca atq; do

ret re, te ret lore.16

–––––––––––––– 13 Heinrich VIII. (1491-1547), seit 1509 König von England, war sechs Mal verheiratet und löste

aus taktisch-dynastischen Gründen die englische von der römischen Kirche; Papst Paul III. sprach 1538 eine Bannbulle gegen ihn aus.

14 Vorwärts gelesen: Möge dir das Schicksal, König, die Ehe fruchtbar machen mit langem [= lange lebendem] Sprößling und möge dir deine Nachkommenschaft nicht unfruchtbar sein. Rückwärts gelesen: Möge deine Nachkommenschaft unfruchtbar sein und das Schicksal, König, dir nicht mit langem [= lange lebendem] Sprößling die Ehe fruchtbar machen.

15 Granchio bedeutet sowohl ‚Krabbe’ als auch ‚Irrtum, Fehler’. 16 Übers.: Wer eine Frau heiratet, heiratet Streit und Schmerz, wer keine Frau hat, hat keinen

Streit und keinen Schmerz.

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Manchmal entstammt die Argutezza eher der Form des Buchstabens als dem Laut der Wörter, wie bei jenem Pariser Doktor, der nach seinem Urteil über ein Buch des Erasmus befragt, dieses Votum abgab:

ER habet Ausonium liber hic: habet ERque Pelasgum: ER habet Hebræum: prætereaque nihil.17

Denn da der Buchstabe R im Lateinischen ER im Griechischen RO im Hebräischen RES

ausgesprochen wird, genügte dies, um zu bedeuten, daß das Buch nur Fehler ent-hielt. Von gleicher Art war die Spöttelei eines italienischen Dichters in diesen geheim-nisvoll bissigen Versen zur Verteidigung Italiens:

Du, der du die neunte Figur verachtest, Und weniger bist als ihre Vorgängerin: Auf, und verdopple ihre Nachfolgerin; Denn zu nichts anderem hat die Natur dich bestimmt.

–––––––––––––– 17 Übers.: ER [Errores = Irrtümer] hat dieses Buch hinsichtlich des Lateinischen: es hat ER hin-

sichtlich des Griechischen, ER hat es bezüglich des Hebräischen, sonst nichts.

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Unter der neunten Figur ist der Buchstabe I zu verstehen, der Iota genannt, nichts zählt; der vorhergehende ist das H und der nachfolgende das K, das verdoppelt werden soll: Diese Verdoppelung nun ist der ganze Stachel. Oft betrachtet man die Figur und nicht den Wert des Buchstabens, wie in diesem Rätsel von Scali-ger:18

Dic mihi quale putes Nomen, quod recta COLVMNA Inchoat: inde TRIDENS FUSCINA nectit: item Flexus vtrinque VNCVS secat: hinc BIVII nota: claudit Idem VNCVS medio qui stetit ante loco.19

Dieses nun ist der Name von IESVS, dessen erster Buchstabe wie eine Säule (Co-lonna) aussieht, der zweite wie ein Dreizack (Tridente), der dritte wie zwei entge-gengesetzte Haken (Uncini contraposti), der vierte wie ein Scheideweg (Bivio) und der fünfte wieder wie ein Haken (UNCINO) nach Art des Mittleren.

Es gibt noch einen anderen Modus, äußerst scharfsinnig zu schreiben, nicht mit gewöhnlichen Buchstaben, sondern solchen, die unter den Gelehrten verein-bart sind, welche man CHIFFREN nennt. Ich sah zwei davon zu Füßen eines ans Kreuz geschlagenen Christus: eines in Form des Buchstabens I mit einem Pinsel-strich am Ende in Form einer umgedrehten Sichel; das andere mit fünf ineinander verschränkten A, die ein Pentalpha20 bildeten; beim ersten Buchstaben stand TVA geschrieben, beim zweiten MEA. Weil das erste Zeichen unter den Eingeweihten MORS (Tod) bedeutet und das zweite VITA (Leben), ergab sich daraus der fromme Sinn Mors tua, Vita mea (= Dein Tod [ist] mein Leben). Einige haben sich auch auf scharfsinnige Weise der astronomischen Zeichen anstelle der Wör-ter bedient wie ein geistvoller Spanier, der auf ein Porträt des ganz in Waffen prangenden Grafen von Olivares eine mit einem Kreis verbundene Pfeilspitze aufprägte, welche eben das Zeichen des dritten Planeten ist, um damit DIES IST MARS anzudeuten.21

–––––––––––––– 18 Das bedeutendste Werk des Humanisten Julius Caesar Scaliger (1484-1558) ist seine 1561

erschienene und für lange Zeit verbindliche Poetik (Poetices libri septem). Im zweiten Buch die-ser Poetik gibt Scaliger übrigens von ihm selbst verfaßte Nachbildungen des berühmten Ei-Gedichtes von Simias; vgl. ADLER und ERNST (1990), S. 73 und 81. Tesauro zählt Scaliger zu den genauesten Wortkünstlern unseres Jahrhunderts (TESAURO 1968, S. 184; vgl. zu Scaliger ferner S. 160-162 und 699).

19 Übers.: Sag mir den Namen, den du meinst, der wie eine aufrechte SÄULE / beginnt: dann fügt sich der DREIZACK an; ferner / teilt ihn ein auf zwei Seiten gebogener HAKEN, dann ist da das Zeichen des ZWEIWEGS: und ihn schließt / derselbe HAKEN, der vorher in der Mitte stand.

20 Pentalpha, auch Pentagramm genannt: fünfeckiger Stern. 21 Gemeint ist wohl ein Porträt, das Diego Velázquez von Gaspar de Guzmán, Graf von Olivares

(1587-1645), anfertigte. Dieser war unter dem spanischen König Philipp IV. (1605-1665) Minis-ter und versuchte mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln, die spanische Großmachtstel-lung zu wahren.

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Hingegen brachte ein spitzzüngiger Geist das Haus einer Dame in Verruf, indem er über der Türe einen an ein Kreuz gehängten Kreis anbrachte, um mit diesem astronomischen Zeichen des fünften Planeten HAUS DER VENUS auszudrücken. Jemand anders benutzte die musikalischen Noten anstelle der Silben und erzielte damit witzigen Sinn, denn über das Buch eines jener Geschichtsschreiber, die nur mit vergoldeter Feder zu schreiben wissen, schrieb er die sechs harmonischen Noten in folgender Ordnung nieder: SOL DO MI FA LA RE, wobei er der fünften Note die Silbe PAR voranstellte. Den Rest magst du selbst erraten.22 Ein anderer verfaßte ein Distichon, indem er die beiden astronomischen Zeichen von Mars und Venus zusammen mit einem Kreuz und den drei musikali-schen Zeichen für Brevis, Dur und Maxima niederschrieb. Zusammen mit einigen dazwischen eingeschobenen herkömmlichen Buchstaben ergab sich daraus fol-gender Sinn:

–––––––––––––– 22 Soldo mi fa parlare = Geld macht mich sprechen.

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In MARTIS VENERISQ. acie, BREVIS esse voluptas Fertur: CRVX MAIOR: MAXIMA pauperies.23

Höchst scharfsinnig sind ferner die arithmetischen Zeichen in ähnlichen Scherzen. Ihrer bediente sich ein von seiner Angebeteten namens CELIA SANTA wenig

begünstigter Liebhaber, der ihr diesen kurzen Sinnspruch auf ein großes Blatt Papier schrieb:

66, perche mi uccidi?24

Und mit einem ähnlichen Rätsel legte der Teufel mit der Wahrheit seinen jungen Kameraden, einen Lügner, herein. Dabei handelte es sich um Nero, der das Ora-

kel von Delphi befragte und die schriftliche Antwort erhielt, daß er sich nur vor dem Jahr 63 hüten solle. So versprach sich dieser Narr einen langen Lebensfaden, der ihm von Galba abgeschnitten wurde, der gerade sein dreiundsechzigstes Le-

bensjahr vollendet hatte.25

Aber noch edlere und scharfsinnigere Geisteskraft zeigt sich darin, den Laut der Wörter mit einem Bild auszudrücken, das mit mehrdeutiger Aussage die stummen Buchstaben sprechen macht. Antike Spitzfindigkeit gewahrt man bei Batraco und Saura, den hochberühmten Architekten, die für den erhabenen Bau des der Ottavia geweihten Tempels von Griechenland nach Rom gerufen wurden.

–––––––––––––– 23 Übers.: Man sagt, daß in der Schlachtreihe des Mars und der Venus die Lust kurz, das Kreuz

größer und die Armut am größten ist. 24 66 = sessantasei, daraus ergibt sich: Se santa sei, perche m’uccidi? / Wenn du Santa/heilig bist,

warum tötest du mich? 25 Nero (37-68, ursprünglich Lucius Domitius Ahenobarbus), römischer Kaiser seit 54. Servius

Sulpicius Galba (ca. 3 v. Chr.-69 n. Chr.) beteiligte sich an einem Aufstand gegen Nero und wurde nach dessen erzwungenem Selbstmord vom römischen Senat als Kaiser ausgerufen.

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Sie vollbrachten ihr Werk ohne jedwede Belohnung und verlangten nur, daß sie ihre Namen dort einmeißeln könnten. Als sie dies nicht von der hochmütigen Römerin erlangen konnten, erreichten sie es durch ihren eigenen Ingegno auf andere Weise. Denn auf jedem Sockel und jedem Fries des Tempels brachten sie (wie ich oben erwähnt habe) einen Frosch und eine Eidechse an, die auf Grie-chisch BATRACHOS und SAURA genannt werden.26 Nicht weniger kapriziös sind die modernen Ingegni dieser Art. Der Sizilianer Marin Delfino, heftig ent-brannt für eine Dame aus der edlen Familie der Verme, gab ihr seine Leidenschaft in einem sprechenden Brief ohne Worte zu verstehen: dort war ein Delphin (DELFINO) in den Meereswellen (MARINE) und auf einem Felsen (SCOGLIO) ein König (Re) mit einem Angelhaken (AMO) zu sehen, an dem als Köder ein Wurm (VERME) hing, was besagen sollte: Grausame Liebe zu einem Wurm kö-dert Delfin Marino (Duro AmoRE col Verme adesca Delfin Marino). Alles in allem ist es ein großer Vorteil, sprechend schreiben und schreibend sprechen zu können. So können es alle lesen, aber nur wenige verstehen, und der Concetto27, obwohl er bisweilen kindisch ist, wird kostbar, wenn er gesucht wird.

–––––––––––––– 26 Diese Anekdote um die beiden im 2. Jh. v. Chr. tätigen Bildhauer wird von Plinius dem Älteren

überliefert. 27 Das Metzler Literatur Lexikon (19902) definiert Concetto als „geistreich pointierte Sinnfigur“:

„Ziel ist ein absichtsvolles Verbergen der unmittelbar natürlichen Bezüge, eine Verrätselung der Aussage, eine Chiffrierung, die sich nur dem scharfsinnigen Leser erschließt“. Insbesondere in der Literatur des Barock und des Manierismus spielt der Begriff des Concetto eine große Rolle. Zum Concetto im allgemeinen und bei Tesauro vgl. HOCKE (1959), FRIEDRICH (1964), S. 636-647, BERGHOFF (1979), S. 101-117 und BLANCO (1999).

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Emanuele Tesauro: Il Cannocchiale Aristotelico, Cap. VII: Tratta della Metafora (Auszug). Italienischer Text aus: EMANUELE TESAURO. Il Cannocchiale Aristote-lico. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Turin 1670. Hrsg. von AUGUST BUCK. Bad Homburg v. d. H. 1968, S. 292-294.

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METAPHERN

Ich komme nun zur OPPOSITIONSmetapher28, die mehr als alle anderen von unserem Autor geschätzt wird. Denn der Gegensatz29 besitzt eine gewisse enthy-mematische30 Kraft, die, geschweige, daß sie den Verstand zufriedenstellt, ihm sogar Gewalt antut. Du müßtest dich erinnern, daß für den Gegensatz zwei Dinge wichtig sind, nämlich die angemessene Anordnung der Wörter und die scharfsin-nige Bedeutung des Concetto. Wegen des ersteren wird sie eine harmonische Fi-gur genannt, wegen des zweiten eine ingeniöse, denn die gegensätzlichen Dinge, die einander direkt gegenübergestellt sind, wie er es empfiehlt, treten deutlicher hervor und erstrahlen stärker im Geist.

Eine äußerst schöne Form der Opposition ist insbesondere diejenige, die den gleichen Ausdruck zwei Mal erklingen läßt, wie in diesem von Aristoteles ge-nannten Beispiel: Non oportet PEREGRINVM semper esse PEREGRINVM (= Nicht muß ein FREMDER immer ein UNWISSENDER sein). Hier widerspricht sich eine Aussage selbst, denn an der ersten Stelle bedeutet PEREGRINVM Fremder, an der zweiten Unwissender.31 Bei diesem Beispiel siehst du die Oppo-sition mit dem Doppelsinn verbunden, die Anmut zu Anmut fügt, wie wir bald ausführen werden. Diesen ähneln einige andere, die zwei beinahe doppeldeutige Ausdrücke gegenüberstellen wie die Anagramme, Alliterationen und die Echo-wortspiele, so wie dieses: LAVDATOR est ADVLATOR (= Der LOBREDNER ist ein SPEICHELLECKER). Oder jenes von Seneca von dem hochherzigen Ca-nius überlieferte, der, während er spielte, die traurige Ankündigung des Todes erhielt und

–––––––––––––– 28 Tesauro unterscheidet acht Arten der Metapher: Proportions- oder auch Ähnlichkeits-, Attribu-

tions-, Äquivok-, Hypotyposis-, Hyperbel-, Lakonismus-, Oppositions- und Täuschungsmeta-pher.

29 Zum Verhältnis von antithetischer und metaphorischer Ausdrucksweise in der Poetik des Ba-rock, insbesondere bei Tesauro, vgl. FRARE (1992).

30 Enthymem: Begriff aus der Rhetorik des Aristoteles. Man versteht hierunter einen verkürzten logischen Schluß, bei dem die fehlende Prämisse oder Konklusion gedanklich ergänzt werden muß; vgl. FRIEDRICH (1964), S. 644.

31 Dieses Beispiel und zahlreiche weitere in diesem Kapitel entnimmt Tesauro der Rhetorik des Aristoteles.

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gleichsam unbekümmert das Spiel fortsetzte: LVSISSE illum putas, an ILLVSIS-SE? (= Glaubst du, daß jener GESPIELT oder GESPOTTET hat?).32 Und ein Dichterling, der seine Verse einem Herrn dargebracht und als Lohn dafür nur Lobesworte erhalten hatte, sagte: Costui sa LODARE, non DARE (= Dieser weiß zu LOBEN, aber nicht zu GEBEN). Über einen Soldaten, der ein Spieler war: Egli sa meglio lanciare il DADO, che il DARDO. (= Er versteht besser den WÜRFEL zu werfen als den SPEER). Über eine freizügige Dame, die sich an Miniaturmalerei erfreute: RVBESCIT, non ERUBESCIT (= Sie ERRÖTETE, SCHÄMTE sich aber nicht). Und noch viele andere, von denen wir genügend Beispiele angeführt haben, als wir über die harmonischen Figuren sprachen. Un-ser Autor schließt nun daraus, daß dies das Verdienst der Metapher sei, denn der gleiche Concetto mit anderen Worten ausgedrückt, würde seinen Wert und seine Schönheit verlieren. Wie diese äußerst scharfsinnige Vergleichung: Dignum estMORI antequam sis dignus MORI (= Es ist würdig zu STERBEN, bevor du wür-dig bist zu STERBEN). Wenn man sie so ausdrückt: Dignum est MORI dum in-nocens es (= Es ist würdig zu STERBEN, solange du unschuldig bist), würde sie nicht ihre Wirkung verlieren, aber ihre Anmut.33 Ebenso wäre es, wenn man die italienischen Motti ins Lateinische oder die lateinischen ins Italienische überset-zen würde: Sie wären meistens ohne Salz. Wollte man das von Canius etwa fol-gendermaßen italianisieren: Parti egli questo giocare ò schernire? (= Glaubst du, daß er gespielt oder gespottet habe?) Oder das von dem Soldaten so latinisieren: Aptior est Alea quàm telo (= Er ist geeigneter für den Würfel als für den Speer).

Unser Autor lehrt uns eine weitere schöne metaphorische Opposition, wobei zum Positiven entweder das Negative oder ein damit unvereinbares Positives hin-zugefügt wird, so daß der eine Teil den anderen zerstört und beide zusammen eine monströse Kombination bilden, die aufgrund ihrer Neuheit Erstaunen und dieses wiederum Vergnügen erweckt.34 Die erste Art (sagt er) besteht darin, die Trink-schale SCHILD NICHT DES MARS zu nennen.35 Und den Bogen: LEIER OH-NE SAITEN. Ähnlich nannte jemand die Nachtigall: ORGEL OHNE PFEIFEN.

–––––––––––––– 32 Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr.-65 n. Chr.): römischer Staatsmann, Schriftsteller und Philo-

soph. An anderen Stellen seines Cannocchiale nennt Tesauro Seneca argutissimo und lobt sei-nen Stil als kraftvoll und metaphorisch; vgl. TESAURO (1968), S. 426 und 579. Die Episode um den nicht weiter bekannten Canus Julius erzählt Seneca in seiner Schrift Von der Seelenruhe.

33 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, Buch III, 11. Kapitel. 34 Tesauro nennt hier die Schlüsselbegriffe der barocken Poetik: Neben der novità, der Wertschät-

zung des Neuen, zählen in rezeptionsästhetischer Hinsicht vor allem meraviglia und diletto, also Verwunderung und Vergnügen, die die Leser aufgrund der ungewöhnlichen Wortkombinationen und witzigen Einfälle empfinden sollen; vgl. FRIEDRICH (1964), S. 539, 546-549 und 669-671, LANGE (1968), S. 88-93, und KELLY (1984) und S. 94-97.

35 Einige Seiten zuvor hatte Tesauro Scudo di Bacco („Schild des Bacchus“, in der Bedeutung von Becher) und Tazza di Marte („Becher des Mars“, in der Bedeutung von Schild) als Beispiele für Ähnlichkeitsmetaphern angeführt; das Schild und Becher verbindende Merkmal liegt für ihn in der Rundheit (TESAURO 1968, S. 281); vgl. hierzu auch DONATO (1963), S. 21 und LANGE(1968), S. 97 f. Entnommen sind die Beispiele wiederum der Rhetorik des Aristoteles (Buch III, 11. Kapitel).

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Und die Orgel: NACHTIGALL OHNE FEDERN. Und hier verbinden sich jene negativen Gegensätze: MENS AMENS [= SINN, DER VON SINNEN IST] und MUSA AMUSA [DIE UNMUSISCHE MUSE], d. h. Inelegans, so als ob man Versi riversi und Componimenti scomposti36 sagen würde. Die andere Art ist, wenn man das Meer mit Lukrez CAMPOS NATANTES [= SCHWIMMENDE FELDER] oder bescheidener mit Vergil CAMPOS LIQUENTES [= FLÜSSIGE FELDER] nennt. Und folglich hat Nonnius die Steuermänner PFLÜGER DER WELLEN genannt, wobei zwei positive unvereinbare Aussagen zu bemerken sind.37 So werden die klaren Wasser LIQUIDI CRISTALLI [= FLÜSSIGE KRI-STALLE] genannt, und im Gegensatz dazu nennt der Dichter den Kristall AC-QUE CONGELATE [= GEFRORENES WASSER] Et congelata plus meruistis Aqua [= Ihr habt mehr verdient als gefrorenes Wasser]. Augustus nannte aus Spott seinen Maecenas38 (wie wir sagen werden) EBUR ex Hetruria [= ELFEN-BEIN aus Hetrurien], denn jener rühmte sich, von den toskanischen Königen abzustammen, aber im geheimen wollte er ihn Schweinezahn nennen, denn an jenem Elfenbein herrschte damals Überfluß im Lande. Außerdem noch IASPIS figulorum, um zu sagen Jaspis aus Ton und Cirneorum SMARAGDUS, also Sma-ragd aus Faßholz. Und auf diese beiden Weisen werden geistvolle und wunderba-re Rätsel gebildet, wie jenes von der Hand, die auf dem Tisch mit Würfeln spielt:Vidi carnem humanam ossibus ludentem campo ligneo [=Ich habe gesehen, wie menschliches Fleisch auf hölzernem Feld mit Knochen spielt].

–––––––––––––– 36 Übers.: Umgedrehte Verse und Zerlegte Kompositionen. 37 Lukrez (94-55 v. Chr.): römischer Dichter und Philosoph; sein berühmtestes Werk ist das Lehr-

gedicht De rerum natura. Vergil (70-19 v. Chr.): bedeutendster Dichter der augusteischen Zeit. Der aus Nordafrika stammende Nonius Marcellus (Anfang des 4. Jhs. n. Chr.) verfaßte einen Abriß der Gelehrsamkeit (De compendiosa doctrina).

38 Augustus (63 v. Chr.-14 n. Chr.), erster römischer Kaiser, war eng mit Maecenas (ca. 70 v. Chr.-8 v. Chr.) befreundet, der viele Dichter seiner Zeit, u. a. Vergil, förderte und sich auch selbst in der Dichtung versuchte.

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Aber diese Aussagen gehen schon fast aus der Sphäre der einfachen Metaphern in die zweite über. Diesem Ort angemessener sind daher gewisse Oppositionen, die in einem Wort beschlossen liegen und zwei gegensätzliche Concetti enthalten wie die Antiphrasis,39 eine Figur, die desto scharfsinniger ist, je kürzer sie ist und die wir eine Medaille mit zwei Seiten nennen können. Solcherart waren anfangs die Ausdrücke mit gegensätzlicher Bedeutung: LVCVS, quia minimè lucet40: & PARCA, quia non parcit:41 & MANES, quia non sunt Manes.42 Denn für die Al-ten bedeutete MANVM dasselbe wie BONVM: Vielleicht ist es vom syrischen Manù abgeleitet, von dem auch das Manna stammt. Ebenso legt man manchmal Personen aus Scherz einen widersprechenden Namen bei, so etwa, wenn man einem Mohrensklaven den Namen Gelsimino43 oder einem Pygmäen den Namen Goliath gibt. So wurden zwei Riesen die ZWERGE und der Zwerg von Palagio wurde ATLAS44 genannt, was den Satiriker lachen machte. Und hiervon stammt auch der anmutige Witz der ironischen Aussagen, die eine Sache durch ihr Ge-genteil ausdrücken, wie in diesem italienischen Beispiel: Du bist wirklich klug gewesen, ein so schönes Glück zu verlieren, um damit eigentlich zu sagen, Du bist ein Dummkopf gewesen. Und bei Vergil heißt es verächtlich über die trojanischen Ritter: O veræ PHRIGIAE: neque enim Phryges [= O, ihr wahren Phrygierinnen, nicht nämlich seid ihr Phrygier].45

–––––––––––––– 39 Antiphrasis: Redefigur, bei der das Gegenteil des eigentlich Gesagten gemeint ist. 40 Übers.: Die Lichtung heißt so, weil es dort keineswegs licht ist (lucus bedeutet ursprünglich

Lichtung, meint aber im übertragenen Sinne den ganzen Wald). 41 Übers.: Die Parze heißt so, weil sie niemanden schont (parcit). 42 Übers.: Die Manen heißen so, weil sie nicht gut (manes) sind. 43 Gelsomino (ital.) bedeutet Jasmin, der bekanntlich weiße Blüten trägt. 44 Atlas: einer der Titanen aus der griechischen Mythologie. 45 Phrygien: Landschaft in Zentral-Kleinasien, weshalb ‚Phrygier’ synonym zu ‚Trojaner’ benutzt

werden kann.

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Emanuele Tesauro: Il Cannocchiale Aristotelica. Cap. II: Caioni instrumentali Delle Argutezze Oratorie, Simboliche & Lapidarie (Auszug). Italienischer Text aus: EMANUELE TESAURO: Il Cannocchiale Aristotelico. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Turin 1670. Hrsg. von AUGUST BUCK. Bad Homburg v. d. H. 1968, S. 378-38.

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Anagramme

Dies nun also sind die Scharfsinnigkeiten der Äquivokien, die durch Kürzen, Hin-zufügen, Teilen und Verbinden entstehen. Aber sehr schöne und ingeniöse Äqui-vokien entstehen auch durch das Vertauschen, wie es vor allem bei den Ana-grammen geschieht, die nichts anderes sind als ungewohnte Bedeutungen, die auf der Vertauschung der Buchstaben eines Eigennamens beruhen wie etwa ROMA – AMOR. Zu den wahren Anagrammen gehören daher notwendigerweise zwei Tu-genden. Die eine ist die Angemessenheit der Bedeutung: Sie soll der Person ent-sprechen und wie durch ein schicksalhaftes Geheimnis in dem natürlichen Wort eingehüllt und verborgen sein. Die andere ist die Vollständigkeit: Nur aus der bloßen Vertauschung der Stellung der Buchstaben ohne jede Hinzufügung, Weg-lassung oder Austausch eines Buchstabens gegen einen anderen soll der unge-wöhnliche Concetto entstehen. Diese Anagramme, in denen der menschliche Verstand etwas irgendwie Göttliches entdeckt, werden fatale Anagramme ge-nannt; die anderen sind eher Bisticci und Paronomasien46 als wirkliche Ana-gramme. Diesen Ruhm erlangten bei den Griechen die Anagramme des Königs Ptolemäus und seiner Gattin Arsinoe; der eine wurde wegen der Süße seiner lieb-lichen Rede gerühmt, die andere wegen der Blüte ihrer jugendlichen Schönheit. PTOLEMAIOS Anagr. APO MELITOS, welches Süß wie der Honig bedeutet. ARSINOI Anagr. IRAS ION, welches den Griechen als edelste und schönste Frühlingsblu-me bekannt war, auch genannt das Veilchen der Juno. Diese Anagramme verdie-nen außer der Vollständigkeit und der Angemessenheit auch noch dieses andere Lob, daß ihr Gegenstand nur ein Eigenname ist, wo jener poetische Scharfsinn in höherem Maße erscheint und dem einfachen Volk wie eine geheimnisvolle Fatali-tät vorkommt. Dort wo der Gegenstand viele Wörter enthält, ist es zu einfach, daraus willkürlich irgendeinen Concetto zu erlangen.

–––––––––––––– 46 Bisticcio: Wortspiel auf der Basis gleicher Konsonanten und unterschiedlicher Vokale; Parono-

masie (auch Annomination genannt): rhetorische Figur, die auf der Zusammenstellung lautlich ähnlicher Wörter beruht.

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Während der ersten Fortschritte des Königs von Schweden, der leidenschaftlich die kaiserliche Krone begehrte, wurde diesem Anagramm auf seinen Namen höchster Beifall gespendet. Da es prophetischen Charakter zu haben scheint, flöß-te es den Seinen großen Mut ein: GVSTAVVS Anagramm AVGVSTVS. Aber die Schlacht von Lützen zeigte klar, daß solche Prophetien Poesien sind.47

Berühmt durch Drucke ist dieses andere von Francesco Benci:48

GREGORIVS DECIMVSQVARTVS [= Gregor XIV.] Anagramm MVRVS CVSTODIAQVE GREGIS [= MAUER UND SCHUTZ

DER HERDE], ein wirklich passendes Sinnbild für einen Papst. Aber es fehlt vor allem die Voll-ständigkeit, denn das dritte R des Gegenstands ist nicht im Anagramm enthalten. Außerdem wäre es prophetischer erschienen, wenn diese Weissagung aus seinem Geburtsnamen, NICOLAVS SFONDRATVS, abgeleitet worden wäre.

Vollständig und fatal trat dieses andere in Erscheinung: Ein beinahe göttliches Orakel sagte die Wunden voraus, die die Heilige Mutter Kirche von Martin Lu-ther erhalten würde, durch die Schriften, durch die Zunge und durch die Ketzer-kriege: MARTINVS LVTERVS Anagramm TER MATRIS VVLNVS [= DREIFACHE WUNDE DER MUTTER], glücklich erklärt mit diesem Distichon:

Et Ferro, & Linguâ, & Calamo, fera Vipera Luter; Ecclesiæ MATRIS TER graue VVLNVS eris.49

Und dieses andere über seinen Kollegen, das auf die Geschwüre anspielt, die ihm in jenem Teil des Körpers gewachsen sind, wo sie auch bei den Philistern wuch-sen, nachdem sie den Schrein Gottes entweiht hatten. CALVINVS Anagramma ANI VLCVS [= GESCHWÜR AM AFTER]. Woran du siehst, daß dies eine göttliche Strafe gewesen ist, denn er schändete die Heilige Kirche. Ein mühevolleres und bewunderungswürdigeres Werk sind die Zahlenanagramme, die eine kabbalistische Fatalität zu enthalten scheinen. Denn jeder Buchstabe des Alphabets wird als Ziffer gezählt, von A bis I in einfachen Ziffern, also A = 1, B = 2, C = 3 usw., von K bis S in Zehnern, also K = 10, L = 20, M = 30 usw. und von T bis Z in Hundertern, also T = 100, V = 200, X = 300 usw.;

–––––––––––––– 47 Gemeint ist der schwedische König Gustav II. Adolf (1594-1632, König seit 1611), der 1632 bei

Lützen im Kampf gegen die kaiserlich-katholischen Truppen fiel. 48 Francesco Benci (1542-1594): humanistischer Autor und Rhetoriklehrer, seit 1570 Mitglied des

Jesuitenordens. Gregor XIV. war von 1590-1591 Papst. 49 Übers.: Sowohl durch das Eisen als auch durch die Zunge und den Griffel, wilde Viper Luther,

wirst du eine schwere DREIFACHE WUNDE der MUTTER Kirche sein.

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Menschen von Geist haben ihren Verstand geschärft, um Concetti zu finden, die der Zahl der Buchstaben des Gegenstands entsprachen, den sie sich erwählt hat-ten, woraus bisweilen aufs Geratewohl scharfsinnige und wunderbare Aussprüche folgten. Besonders geistreich war einer über jene junge Norbergerin namens MARIA, die am Tag der Hochzeit durch eine seltsame Mehrdeutigkeit als Mann entdeckt wurde. Denn ein flinker Geist fand durch das Anagramm dieses Namens heraus, daß sie ein Mann war, indem er die Zahlen aller Buchstaben des Gegens-tands und des Anagramms auf diese Weise zusammenzählte:

M 30 M 30 A 1 A 1 R 80 S 90 I 9 A 1 _________ __________

121 121 _________ __________

Es ist wahr, daß du auf diesen Namen viele andere, unterschiedliche Anagramme machen kannst, indem du dieselbe Zahl aus anderen Buchstaben zusammensetzt, aber wenn du dir eine ganze Nacht lang das Hirn zermartert hast, wirst du doch nur selten solche finden, die das Lob der Angemessenheit und Vollständigkeitverdienen. Angemessen und vollständig gelang das folgende einem ingeniösen Ritter, der einem edlen Fräulein mit Namen MARIA AMODEA diente. Im Na-men selbst fand er den Zunamen und nahm als seine Devise ihr Anagramm, AMO DEAM [= ICH LIEBE EINE GÖTTIN], dessen Zahl so mit dem Gegenstandübereinstimmt:

M 30 A 1 A 1 M 30 R 80 O 50 I 9 D 4 A 1 E 5 A 1 M 30 _________ __________

121 121 __________ __________

Im Gegenteil höchst angemessen und ingeniös ist dieses Anagramm auf densel-ben Namen MARIA, das sich in heiliger Weise auf die Mutter Gottes bezieht:

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MARIA Anagramm DEI REGIA [= PALAST GOTTES]. Aber wegen eines Punktes verliert dieses so angemessene Anagramm den höch-sten Ruhm der Vollständigkeit, denn MARIA ergibt die Zahl 121 und DEI RE-GIA die Zahl 120. Wenn man sagen würde, A DEI REGIA, wäre es hinsichtlich der Vollständigkeit wirklich makellos, nicht aber hinsichtlich des Concettos, denn diese Aussage scheint eher eine Wortverdrehung zu sein. Aber ich glaube nicht, daß in dieser Gattung irgendein menschlicher Geist denjenigen von Gianni Ostul-fo in seinem Zahlenanagramm auf Luther besiegen könnte. Denn wer diese dunk-le Prophezeiung der Apokalypse klar auslegen konnte, die da lautet: Ein ungeheu-res Tier wird die Kirche verderben, und dieses Tier wird ein Mann sein, dessen Name die Zahl 666 zählt, und wer Verstand hat, der wird diese Zahl zu zählen wissen,50 das war er. Er hatte nämlich scharfsinnig bemerkt, daß der Name Lu-thers, geschrieben in seiner Sprache, diese Zahl 666 enthält, indem er sie genau so berechnete:

M 30 A 1 R 80 T 100 I 9 N 40 L 20 A 1 V 200 T 100 E 5 R 80 __________

666

Daraus schließt er, daß Martin Luther dieses große, häßliche Tier war, das Johan-nes vorhergesagt hatte. Aber von den Anagrammen wird an anderer Stelle noch die Rede sein: Hier möge es genügen, dir die Quelle gezeigt zu haben, der sie entspringen, denn sie alle sind Argutezze, die dem Äquivoken entstammen.

–––––––––––––– 50 Vgl. Apc 13, 18.

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Resümee

Die einschlägige Forschung hat bisher vielfach verkannt, in welchem Maß die Argutezza-Theorie des Jesuiten Emanuele Tesauro außer dem durch den Namen Galilei und das Bild des Fernrohrs aufgerufenen astronomischen Diskurs und der stark ausdifferenzierten Theorie der Metapher durch Konzepte von Skripturalität und Intermedialität bestimmt wird. So erklärt Tesauro programmatisch, daß die Schriftsprache viel mannigfaltiger, scharfsinniger und reicher an ingeniösen Tei-len als die gesprochene Art und Weise ist. Damit wird die Argutezza aus der Rhe-torik herausgelöst und der Visuellen Poesie zugeordnet, deren Spiel von Verhül-len und Offenbaren das neue ästhetische Konzept übernimmt. Tesauro aber adaptiert nicht nur die Kryptopoetik der Visualpoesie, sondern weitet seinen An-satz auch auf pikturale Darstellungen und musikalische Notationen aus, die in ihrer Interferenz mit skripturalen Verschlüsselungen betrachtet werden. Er er-wähnt die Epigramme, die, als Gattung in der Frühen Neuzeit boomend, wegen der Materialität der Zeichen der Ars lapidaria zugeordnet werden, sodann die Impresen, die pikturale Symbole mit lingualen Motti verknüpfen, weiterhin die Chiffren, die in den kryptologischen Traktaten der Zeit bereits theoretisch behan-delt und systematisiert werden, und schließlich die Hierogramme, die vielleicht auch die Renaissance-Hieroglyphen mit einbegreifen, die man im Barock teilwei-se mit den jeweils aus Motto, Pictura und Subscriptio bestehenden Emblemen identifiziert hat.

Formen scharfsinniger Verschlüsselung im Bereich der skripturalen Sprache sind die Abbreviatur als Methode der Geheimschrift, das Schwindeschema mit Echo-Effekt, das Palindrom in Gestalt eines wortweise rückwärts zu lesenden Distichons mit invertiertem Sinn, der buchstabenweise retrograd zu lesende Krebsvers, für den Hrabanus Maurus (XXVIII. Gedicht) herbeizitiert wird, und die Versus correlativi, deren Entzifferung ein ständiges Hin- und Herspringen von Zeile zu Zeile erfordert. Wie stark das Zeichenrepertoire in diesem ästhetischen Konzept ausgeweitet wird, demonstrieren weitere Argutezze: das Spiel mit der graphischen Form der Buchstaben, der Gebrauch magischer Zeichen wie des Pentalphas, die Verwendung astronomischer Symbole wie der Planetenzeichen, der Einsatz von visueller Musik und die Umkodierung von Lautwerten in Bildzei-chen nach dem Rebus-Prinzip. Zu den arguten Manierismen gehören schließlich noch das für die literarische Onomastik des Personenlobs bedeutsame Namen-Anagramm, das einerseits streng puristisch zu handhaben ist, wenn es für ein ar-tistisch-exzeptionelles Concetto taugen soll, zum andern möglichst ein in dem Namen beschlossenes Geheimnis orakelhaft an das Licht zu bringen hat, und schließlich, die Grenze zur Mathematik transzendierend, die Gematrie und die Isopsephie als Generatoren für einen geistvoll pointierten Hinter- bzw. Tiefen-sinn.

Insgesamt bleibt zu statuieren, daß das Zeicheninventar der Visuellen Poesie, die, auf schriftlicher Grundlage fußend, ein systemisches Gegenstück zu der auf

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Mündlichkeit basierenden Rhetorik bildet, gezielt umkonzipiert bzw. in einen neuen poetologischen Theorierahmen integriert wird, der, da interartistisch ange-legt, fast eine holistische Methode ästhetischer Kodierung darstellt. Solche con-cettistische Devianz-Ästhetik, die ein elitäres höfisches Publikum anvisiert, lebt von exorbitante Analogien stiftenden Gedanken-Blitzen des jeweiligen Autors und beschert dem lesenden Betrachter bzw. betrachtenden Leser Aha-Erlebnisse, sofern es diesem gelingt, die wegen Vernetzung des Disparaten seine Kombinati-onsgabe besonders fordernde Änigmatik zu entschlüsseln.

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Literaturhinweise

Ausgaben

EMANUELE TESAURO. Il Cannocchiale Aristotelico. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Turin 1670. Hrsg. von AUGUST BUCK. Bad Homburg v. d. H. 1968 (Ars poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Texte, Band 5).

Referenztexte

ARISTOTELES: Rhetorik. Hrsg. von WILLIAM DAVID ROSS. Oxford 1975.GEORGE PUTTENHAM: The Arte of English Poesie. 1589. Hrsg. von EDWARD ARBER.

London 1869. FRANÇOIS RABELAIS: Le tiers Livre. Hrsg. von MICHAEL ANDREW SCREECH. Paris 1974. IULIUS CAESAR SCALIGER: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, Bd.

I. Hrsg., übers. und erl. von LUC DEITZ. Stuttgart 1994. SENECA: Von der Seelenruhe. Schriften und philosophische Briefe. Hrsg. und übers. von

HEINZ BERTHOLD. Frankfurt am Main 2002.

Forschungsliteratur

JEREMY ADLER und ULRICH ERNST: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 31990.

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