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VON SACERDOTIUM UND RE GNUM Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Franz-Reiner Erkens und Hartmut Wolff 2002 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN vvr 1ýý, q

VON SACERDOTIUM UND RE GNUM - mgh … · EWIG, Die fränkischen Königskataloge und der Aufstieg der Karolinger, in: DA 51, 1995, S. 1-28. KARL HEINZ HAAR, Studien zur Entstehungs-

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VON SACERDOTIUM UND RE GNUM

Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter

Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Franz-Reiner Erkens und Hartmut Wolff

2002

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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ULRICH NONN

Beobachtungen zur �Herrschaft" der fränkischen

Hausmeier

Als Einhard wohl in den 20er Jahren des 9. Jahrhunderts' zu Beginn seiner Karlsvita den Aufstieg der arnulfingischen Familie zum Königtum beschrieb, mußte er seinen Lesern das Amt des Hausmeiers erläutern, das es schließlich seit mehr als 70 Jahren nicht mehr gab. Ihm war der offizielle Amtstitel maior domus noch ein Begriff - aber konnte er ihn bei seinen Lesern voraussetzen? Wohl kaum. Nach seiner geradezu klassisch gewordenen Beschreibung hatte das merowingische Königsgeschlecht in seinem letzten Vertreter, Childerich III., seinen absoluten Tiefpunkt erreicht, �war aber schon länger ohne jegliche Kraft und besaß nichts Rühmliches mehr außer dem leeren Königstitel"2. Die" wirklichen Machthaber aber waren die palatii praefecti, qui maiores domus dicebantur, denen die ganze Regierung oblag3. Es folgt die geradezu karikie rende Darstellung des jämmerlichen Königs, dem der Hausmeier nach Gut- dünken den Lebensunterhalt zumaß4; folgerichtig schließt das erste Kapitel mit der Umschreibung der hausmeierlichen Regierungsgewalt: At regni admi- nistrationem et omnia quae vel domi vel foris agenda ac disponenda erant praefectus aulae proc7urabat5. Das zweite Kapitel widmet Einhard Karls' Vorfahren, bei denen das Hausmeieramt erblich geworden war: Karls Urgroß- vater Pippin der Mittlere hatte es angeblich seinem Sohn Karl Martell überlas- sen (die Nachfolgekrise nach Pippins Tod übergeht Einhard geflissentlich6), von dem es wiederum auf dessen Söhne Pippin und Karlmann überging; nach Karlmanns Rückzug von der Welt 747 verwaltete Pippin es alleine, bis er schließlich 751 - damit setzt Einhards drittes Kapitel ein - den Königsthron

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Die Diskussion um die Datierung der Karlsvita ist ein Thema ohne Ende. Vgl. dazu HEINzLOwE, Die Entstehungszeit der Vita Karoli Einhards, in: DA 39,1983, S. 85- 103; J. FLECKENSTEIN, Einhard, in: LMA 3,1986, Sp. 1737-1739 (Literatur). Einhardi Vita Karoli Magni c. 1, ed. 0 HOLDER-EGGER, MGH SS rer. Germ. in us. schol. [25], Hannover 1911, S. 3: ... tamer iam dudum nullius vigoris erat, nec quic- quam in se clarum praeter inane regis vocabulum praeferebat. Ebd. S. 3: Nam ei open et potentia regni penes palatii praefectos, qui maiores domus dicebantur, et ad quos summa imperii pertinebat, tenebantur. Ebd. S. 3: ... etprecarium vitae stipendium, quod ei praefectos aulae prout videbatur exhibebat ... Ebd. S. 3 f. Vgl. dazu jetzt ausführlich WALTRAUD JOCH, Legitimität und Integration. Untersu- chungen zu den Anfängen Karl Martells (= Historische Studien Bd. 456), Husum 1999.

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gewann: Pippinus autem per auctoritatem `Romani pontiftcis ex praefecto palatii rex constitutus7. Variierend gebraucht Einhard die Titel praefectus palatii und praefectus aulae, um seinen Lesern das Hausmeieramt zu erklären. Die Wahl des römischen praefectus-Titels hat man auf Einhards im Rahmen der sog. karolingischen Renaissance wiedergewonnene Kenntnis der Antike

zurückführen wollen8; dazu paßt auch der magistratus Karl Martells9. Gleich-

zeitig ist aber zu betonen, daß Praefekt auch in der Zeit Karls des Großen noch ein aktuell gebräuchlicher Titel war: Nach Tassilos Absetzung und der Auflösung des bayerischen Herzogtums setzte Karl seinen Schwager Gerold dort als königlichen Statthalter mit dem Titel praefectus ein; anläßlich seines Schlachtentodes im Kampf mit den Awaren 799 bezeichnet auch Einhard ihn

als Geroldus Baioariae praefectus10. Nach Einhard wurde das Hausmeieramt vom Volk vergeben; in Frage ka-

men dafür nur Männer von hoher Geburt und ansehnlichem Vermögen: Qui honor non aliis a populo darf consueverat quam his qui et claritate generis et opum amplitudine ceteris eminebantll. Trotz allen Spotts über den macht-, losen merowingischen König angesichts der Macht der Hausmeier - �das Zerrbild einer Marionette an den Fäden des eigentlichen Gebieters"12 - gibt Einhard dennoch korrekt die Stellung des Hausmeiers als Amtsträger unter dem König wieder. So schreibt er, daß Pippin der Jüngere dieses Amt aliquot annis vehit sub rege memorato tenuisset13; der kleine Zusatz velut `gleich-

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8 Einhard (wie Anm. 2) S. 5. So etwa INGRID HEIDRICH, Titulatur und Urkunden der arnulfingischen Hausmeier, in: Archiv für Diplomatik 11/12,1965/66, S. 71-279, hier S. 101. Allgemein zum praefecius-Titel vgl. KARL AUGUSTECKHARDT, Präfekt und Burggraf, in: ZRG GA 46, 1926, S. 163-205, bes. S. 167 f, und - z. T. mit Korrekturen seiner älteren Auffas- sungen - DERS., Lex Ribvaria I. Austrasisches Recht im 7. Jahrhundert, Göttingen u. a. 1959, S. 57 f. Einhard (wie Anm. 2) S. 4: Nam pater eins Karolas ... eundem magistratum a patre Pippino sibi dimissum

... Einhard c. 13 (wie Anm. 2) S. 16. Vgl. schon Annales regni Francorum a. ý 799, ed. FRIEDRICH KURZE, MGH SS rer. Germ. in us. schol. [6], Hannover 1895, S. 108:

... et Geroldus comes, Baioariae praefectus, commisso contra Avares proelio cecidit. Zu Gerold vgl. W. STÖRHER in: LMA 1, Sp. 1350 f. - Einhard hatte im gleichen Kapitel schon vorher über die Awarenkriege berichtet, daß Karl den ersten Feldzug in Pan- nonien selber leitete, die übrigen aber filio suo Pippino ac praefectis provinciarum übertrug (S. 15). Einhard c. 2 (wie Anm. 2) S. 4. Diese treffende Charakterisierung bei RUDOLF SCHIEFFER, Die Karolinger, Stuttgart u. a. 1992, S. 58 f. Einhard c. 2 (wie Anm. 2) S. 4.

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sam, 'sozusagen' schränkt allerdings wieder etwas ein und deutet wiederum auf die der Norm widersprechende reale Situation hin14.

Einhards Bild vom dekadenten spätmerowingischen Königtum und der starken Rolle der Hausmeier steht natürlich klar in der Tendenz seines Buches, auch schon die Vorfahren seines Helden in ihrer Bedeutung hervorzuheben und ihr überragendes hausmeierliches Wirken zu würdigen. Das hat bis in die neueste Forschung nachgewirkt: Die arnulfingischen Hausmeier, ihre politi- sche Bedeutung und ihr Bild in den Quellen standen und stehen im Mittelpunkt des Interesses15. Das liegt natürlich auch an ihrer relativ ausführlichen Be- handlung in den Quellen, die ja zum nicht geringen Teil die Herrschaft des neuen, karolingischen Königtums zu legitimieren suchen. Es erscheint aber sinnvoll, den Blick auszuweiten auf alle bezeugten Hausmeier und nach ihrer

�Herrschaft" - unter, neben, gegen den König - zu fragen und der Darstellung dieser

�Herrschaft" in den Quellen nachzuspüren. Das kann umfassend natür-

lich in einem kurzen Festschrift-Beitrag nicht geleistet werden; aber einige Beobachtungen hierzu sollen hier mitgeteilt werden.

Es fehlt durchaus nicht an Vorarbeiten dazu. Für die Entstehung und frühe Entwicklung des Hausmeieramtes ist immer noch grundlegend (und wird im- mer zitiert) die Heidelberger Dissertation von Karl-Heinz Haar16. Große Hilfe bedeuten die - wenn auch in einzelnen Fällen ergänzungsbedürftigen - proso- pographischen Aufarbeitungen von Karin Selle-Hosbach für das 6. und von Horst Ebling für das 7. und frühe B. Jahrhundert, wobei Ebling bewußt die Arnulfmger ausklammert'7. An lexikographischen Artikeln über das Amt seien

14 Die Übersetzung von EVELYN SCHERABON FIRCHOW in der Reclam Ausagbe (Univer- sal-Bibliothek Nr. 1996, Stuttgart 1981) S. 11:

�und zwar angeblich unter der Lei- tung von König Hilderich" geht allerdings zu weit und wird m. E. - wie leider an manchen anderen Stellen auch - dem Originaltext nicht gerecht. - In einer der älte- sten Hss. -A1,9. Jh., aus St. Eucharius / Trier - fehlt velut. Stellvertretend für viele Arbeiten seien hier nur genannt HEIDRICH, Titulatur (wie Arun. 8); IRENE HASELBACH, Aufstieg und Herrschaft der Karlinger in der Darstel- lung der sogenannten Annales Mettenses priores (= Historische Studien Bd. 412), Lübeck / Hamburg 1970; ULRICH NoNN, Das Bild Karl Martells in den lateinischen Quellen vornehmlich des B. und 9. Jahrhunderts, in: FmSt 4,1970, S. 70-137; RICHARD A GERBERDING, The Rise of the Carolingians and the Liber historiae Fran- corum, Oxford 1987; Karl Martell in seiner Zeit, hg. von JÖRG JARNUT, ULRICH NoNN und MICHAEL RICHTER (= Beihefte der Francia Bd. 37), Sigmaringen 1994; EUGEN EWIG, Die fränkischen Königskataloge und der Aufstieg der Karolinger, in: DA 51, 1995, S. 1-28. KARL HEINZ HAAR, Studien zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des fränki- schen maior domus-Amts, Phil. Diss Heidelberg 1968. KARIN SELLE HOSBACH, Prosopographie merowingischer Amtsträger in der Zeit von 511 bis 613, Phil. Diss. Bonn 1974; HORST EBLING, Prosopographie der Amtsträger

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genannt die sehr knappe Darstellung im Lexikon des Mittelalters, die ausführ- lichere rechts- und verfassungsgeschichtliche Würdigung von - Elmar Wadle und jüngst der den neuesten Forschungsstand spiegelnde Artikel von Georg Scheibelreiter'8. Für die neustrischen Hausmeier seit der Mitte des 7. Jahrhun- derts ist die Studie von Ingrid Heidrich hervorzuheben'9. Daß auch in allge- meinen Darstellungen wie spezielleren Untersuchungen zum merowingischen Frankenreich immer wieder das Hausmeieramt wie auch einzelne Vertreter behandelt werden, versteht sich von selbst.

Die bedeutende Rolle der Hausmeier müßte - so möchte man meinen - deutliche Spuren in den Urkunden der merowingischen Könige hinterlassen haben; aber das ist erstaunlicher Weise nicht der Fall. Von den 33 einiger- maßen sicher nachzuweisenden fränkischen Hausmeiern finden sich - soweit ich sehe - lediglich elf in echten Merowingerdiplomen; vier weitere sind-nur in Fälschungen belegt20. Auch die Verteilung auf die, Urkunden ist aufschluß- reich: Von den auch in der Neuedition noch (oder wieder) als echt geltenden 67 Diplomen bieten nur vierzehn Hausmeier-Nennungen (von den 129 ge- fälschten oder interpolierten Stücken nur zwölf)21. Unter den vierzehn echten Stücken sind vier Fälle mitgezählt, bei denen sich der Name des Hausmeiers (einmal Pippin der Mittlere, dreimal Raganfred) lediglich in den nicht zwei- felsfrei aufzulösenden tironischen Noten findet, mit denen das Rekognitions- zeichen belegt iSt22.

Der älteste zweifelsfreie Beleg stellt gleich einen Sonderfall dar. Die Gründungsurkunde Sigiberts III. für das Kloster Cugnon-sur-Semois richtet

des Merowingerreiches von Chlothar H. (613) bis Karl Martell (741) (= Beihefte der Framcia Bd. 2), München 1974. J. FLECKENSTEIN, Hausmeier, in: LMA 4,1989, Sp.. 1974 f.; E. WADLE, Hausmeier, in: HRG 1,1971, Sp. 2035-2040; G. SCHEIBELREITER, Hausmeier, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde, 2. A. Bd. 14,1999, S. 70-74. ' INGRID HEIDRICH, Les maires du palais neustriens du milieu du VII` au milieu du VIII` siecle, in: La Neustrie. Les pays du nord de la Loire de 650 ä 850, hg. von Hartmut Atsma (= Beihefte der Francia Bd. 16), Sigmaringen 1989, S. 217-229. Die genannte Zahl der Hausmeier beruht auf den Arbeiten von SELLE HOSBACH und EBLING (wie Anm. 17) und eigenen Belegsammlungen. Für die urkundlichen Belege standen mir die Umbruchfahnen der neuen MGH-Edition zur Verfügung, wofür dem Herausgeber, Herrn Kollegen Theo Kölzer, Bonn, herzlich gedankt sei: MGH Di-

plomats regum Francorum e stirpe Merovingica - Die Urkunden der Merowinger, nach Vorarbeiten von CARLRICHARD BROm. (t) hg. von THEO KÖLZER, Hannover 2001; im Folgenden zitiert DM mit Nr. und S. (in Klammern die Nummern der alten Edition von PERTZ. Zum Anteil der Spuria vgl. KOLZER in der Einleitung seiner Edition S. XII. DM 150, S. 378 (PERTZ nr. 71) von 697; DM 166, S. 414 (PERTZ nr. 81) von 716; DM 168, S. 418 (PERTZ nr. 84) von 716; DM 170, S. 423 (PERTZ nr. 82) von 716.

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sich an } Grimoald I.: Sigibertus rex Francorum viro inlustri Grimoaldo maiori domus23 und ist damit

�neben D t192 das einzige Königspräzept, das

alleine an den Hausmeier adressiert ist", worin sich auch Grimoald als �die treibende Kraft" bei der Gründung zeigt24. Besagtes D j'192, eine Bestätigung Childerichs III. für Stablo und Malmedy zwischen 743 und 747, wurde bisher als die letzte echte Urkunde eines Merowingerkönigs angesehen, in deren Adresse der. Schattenkönig in geradezu sich selbst erniedrigender Weise seine Abhängigkeit vom Hausmeier Karlmann ausdrückt: Hildricus rex Francorum viro inclito Karlomano maiore domus, rectori palatio nostro, qui nobis in solium, regni instituit ...

25. Theo Kölzer hat in einer dezidierten Analyse zahl- reiche Anomalien der Urkunde aufgewiesen und sehr wahrscheinlich gemacht, daß das Stück

�seiner unbeholfenen Machart nach ... eine mit Hilfe Marculfs erstellte Fälschung sein" dürfte26. Unter anderem weist er auf die Besonderheit einer ausschließlich an den Hausmeier gerichteten Urkunde-hin, was aber nicht auf Fälschung deuten muß (s. o. ). Aber es kommt etwas hinzu: Auffallend ist doch die geänderte Titulatur für den höchsten Amtsträger: Statt des üblichen viro inlustri (wie auch in DM 80) steht viro inclito, und zusätzlich wird der Amtstitel noch erläutert als rector palatii. Soweit ich sehe, wird in keiner Merowingerurkunde für den Hausmeier. ein anderes Prädikat als vir inluster verwandt = auch in den Fälschungen! Das ursprünglich kaiserliche Prädikat inclitus, auch für merowingische Könige nachzuweisen, wird �erst

in Quellen des beginnenden B. Jahrhunderts auf Personen ausgedehnt, die nicht der stirps regia angehören"27, aber nur in literarischen Quellen28. Die Umschreibung des Amtstitels mit rector palatii ist in den Königsurkunden ebenso ein Unifaun (auch in den Spuria ist sie unbekannt); in literarischen Quellen kommt sie ver- einzelt vor29.

Der nächste zweifelsfreie Beleg entstammt ebenfalls einem Sonderfall: Die Privilegienbestätigung Chlodwigs II. für St. Denis von 654 weist - für eine Königsurkunde ganz ungewöhnlich - 48 Unterschriften von Konsentienten

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DM 80, S. 204 (PERTZ nr. 21) zwischen 643 und 647/48. KÖLZER in seinen Vorbemerkungen zu DM 80, S. 203, mit Verweis auf MATTHIAS WERNER, Der, Lütticher Raum in frühkarolingischer Zeit. Untersuchungen zur Ge- schichte einer karolingischen Stammlandschaft (= Veröffentlichungen des Max- Planck-Instituts für Geschichte 62), Göttingen 1980, S. 354 f DM 192, S. 478 (PERTZ nr. 97). THEO KÖLZER, Merowingerstudien I (= MGH Studien und Texte Bd. 21), Hannover 1998, S. 75-90; Zitat S. 89. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 102. Einzige Ausnahme: Marculf Supplementum 3 (wie Anm. 67). Vgl. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 98 f. mit Belegen.

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auf30. An fünfter Stelle, nach vier Bischöfen, folgt Signum viro inlustri Ra- doberto maiore domus: Nur aus dieser Urkunde kennen wir diesen Haus- meier, der wohl für Burgund zuständig war, während Erchinoald den neustri- sehen Maiordomat innehatte31. Ob der an fünftletzter Stelle unterschreibende Ebroin (Ebroinus subscripsi) so ohne weiteres mit dem späteren berühmt-be- rüchtigten Hausmeier zu identifizieren ist und �seine

Unterschrift bedeutet, daß Ebroin 654 bereits zum neustrischen palatium und in Königsnähe ge- hört"32, bleibt dahingestellt.

Aus einem Diplom Theuderichs III. von 690 erfahren wir schlaglichtartig etwas über �die allmähliche Besitznahme von Königsgut durch den mächtigen Hausmeier"33, in diesem Fall das Dienstgut des neustrischen Hausmeiers. Der König schenkt die Villa Lagny-le-Sec in der Nähe von Paris an St. Denis; sie war vorher nacheinander im Besitz der Hausmeier Ebroin, Waratto und Gis- lemar gewesen, dann aber vom König eingezogen worden34. Die Schenkung erfolgt ad suggestionem precelse regine nostre Chrodochilde seo et inlustro viro Berchario maiorem domos nostri; und daß dabei Theuderichs Hausmeier Bercharius, übrigens der Schwiegersohn Warattos,

�als Drahtzieher gelten

darf135, spiegelt sich auch in den tironischen Noten36. Die Mehrzahl der Belege für Hausmeier findet sich in Placita. Das stark

beschädigte Original einer wohl von Chlothar III. stammenden Gerichtsur- kunde - zeitlich nur einzugrenzen auf 657-673 - unterrichtet über eine Schen- kung des verstorbenen Hausmeiers Erchinoald und seines Sohnes Leudesius37. In der nicht mehr vollständigen Liste der Beisitzer wird unter den grafiones Waratto genannt, möglicherweise identisch mit dem später als Nachfolger

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31 DM 85, S. 219 f. (PERTZnr. 19); vgl. dazu die Vorbemerkungen KOLZERS S. 216 f. Vgl. EBLING, Prosopographie (wie Anm. 17), nr. 259, S. 202 f. Eine in diesem Arti- kel erwogene Identität mit einem 663 in einem Brief des Attoarierdux Sichelm er- wähnten maiordontus sacri palatii Radobertus

�scheidet wohl aus", wie EBLING gleich anschließend zu nr. 260, S. 203 schreibt. EBLING, Prosopographie (wie Anm. 17), nr. 149, S. 132. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 154. DM 131, S. 333 (PERTZ nr. 57):

... qui fttit inlustrebus viris Arboino, Uuarattune et Ghislentaro quondam maiores domos nostros et post discessum ipsius Uuarattune in fisco nostro fuerat revocala. So KOLIER in den Vorbemerkungen S. 332. Die tironischen Noten beim Rekognitionszeichen (S. 333 mit Anm. 2) sind unter- schiedlich aufgelöst worden, aber unstrittig scheint die Nennung des maior domus. - Zu Bercharius vgl. EBLING, Prosopographie (wie Anm. 17), nr. 69, S. 77 f. DM 88, S. 228 f. (PERTZ nr. 37). Zu Erchinoald und Leudesius vgl. EBLING, Prosopo- graphie (wie Anm. 17), nr. 156, S. 137 ff. und nr. 226, S. 181 und HEIDRICH, Les maires du palais (wie Anm. 19), S. 218 ff.

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Ebroins amtierenden Hausmeier38. Ein 697 in Compiegne erfolgtes Placitum Childeberts III. nennt unter den Beisitzern nach den Bischöfen als ersten der weltlichen Großen necnon et inlustro viro Pippino maiore domus nostro. Pi- kant an der Sache ist, daß hier unter dem Beisitz des Hausmeiers gegen wider- rechtlichen Besitz seines Sohnes Drogo entschieden wird39. Grimoald II. er- scheint zweimal als Beisitzer auf Placita Childeberts III. 702 und 70940; im zweiten Fall ist Grimoald in einem Scheinprozeß selbst Partei: Die agentes inlustri viro maiorem domus nostri stehen den agentes von St. Denis gegen- über41. Ebenfalls um einen Scheinprozeß geht es in Childerichs III. Urkunde vom folgenden Tag: Das Urteil des Hausmeiers Grimoald in einem Rechts- streit zwischen seinen agentes und St. Denis um den Besitz einer Mühle wird bestätigt42. Die verlorene Urkunde Grimoalds hatte dort vorgelegen: ... in- specto illo iudicio ipsius viro Grimoaldo maiorem domus nostri...; das De- perditum ist

�die früheste Spur einer Hausmeiergerichtsurkunde"43. Und noch

eine Besonderheit: Sie wird ausdrücklich bezeugt als de anolo ipsitus Gri- moaldo maiorem domus nostri sigillatum und stellt damit den ersten Beleg für ein Hausmeiersiegel dar44. Dazu würde es gut passen, wenn die von Jusselin und Mentz vorgeschlagene Auflösung der tironischen Noten beim Rekogniti- onszeichen der vorhergehenden Urkunde (DM 156) zuträfe: Per anolo Gri- moaldi majore domus45. Unsicher bleibt auch der Beleg für ein Siegel Ragan- freds in Chilperichs II. Diplom von 716, ebenfalls in den tironischen Noteng.

Nicht nur die (verlorene) Urkunde Grimoalds spielt bei dem Verfahren eine Rolle; auch eine Schenkung des früheren Hausmeiers Ebroin wird von den Vetretern des Klosters ins Feld geführt - zumindest ein indirektes Zeugnis für eine weitere hausmeierliche Urkunde47.

Als letztes ist noch eine Schenkung Chilperichs II. an St. Denis von 717 zu nennen, das jüngste überlieferte Original überhaupt. Der Hausmeier Ragan- fred wird ausdrücklich als Petent genannt:... ad peticione inlustri viro Ragan-

38 EBLING, Prosopographie (wie Anm. 17), nr. 308, S. 234, und HEIDRICH, Les maires du palais (wie Anm. 19), S. 223, gehen von gesicherter Identität aus. DM 149, S. 375 f. (PERTz nr. 70). Zur Sache vgl. KÖLZER in den Vorbemerkungen S. 374. DM 153, S. 383 (PERTZ nr. 73) und DM 156, S. 389 f. (PERTZ nr. 77) Vgl. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 108 f. DM 157, S. 392 f. (PERTZ nr. 78). HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 111 f. und Deperditum nr. 26, S. 270. Vgl. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 160 und KÖLZER in den Vorbemerkungen S. 392. DM 156, S. 391, Anm. 6. DM 166, S. 414, Anm. 7: Per anolo Raga fridi. DM 157, S. 392 mit Anm. 1.

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fredo maiorim domus nostro ... 48. In der Unterfertigung begegnet nochmals

ein Raganfred: Raganfridus optolit ro (von KÖLZER überzeugend zu rogatus ergänzt): Sind beide identisch? Heidrich und Ebling sprechen sich dafür aus; Kölzer möchte - auch wegen Fehlens jeglicher Parallele - eher verschiedene Personen annehmen49. Die Urkunde ist die letzte in einer Reihe von fünf origi- nal erhaltenen Diplomen Chilperichs II. für St. Denis aus dem Zeitraum Fe- bruar 716 bis Februar 717, alle in Compiegne ausgestellt; die ersten'vier sind vom selben Schreiber mundiert; die Referendare wechseln50. Die Urkunden

spielen eine zentrale Rolle bei Josef Semmlers Versuch, die Ausdehnung der

politischen Einflußbereiche Raganfreds und seiner Parteigänger aus der insge-

samt dürftigen Überlieferung zu erschließen51. Kölzer schließt sich mit Ver-

weis auf Semmler dieser Einschätzung an und sieht in den Urkunden �Privile-

gierungen des Klosters für die Unterstützung der Partei des Hausmeiers Raganfred"52. Schlägt man unvoreingenommen bei Semmler nach, so liest man zu DM 166:

�... wobei Raganfrid persönlich zugunsten der Abtei interve-

nierte", zu DM 168: �Wieder verwandte sich Raganfrid persönlich für Saint-

Denis", zu DM 170: �... wiederum auf Veranlassung Raganfrids

... " und zu

DM 173. �... auf Raganfrids Bitte hin

... "; mit Ausnahme des letzten Belegs

wird in den Fußnoten jeweils nicht auf die Edition, sondern auf Mentz' Arbeit über die tironischen Noten verwiesen53 - aus gutem Grund, denn nur DM 173

nennt im Kontext ausdrücklich Raganfred als Petenten (s. o. ), während in den

anderen drei Fällen der Name Raganfreds - wenn überhaupt - nur jeweils in den tironischen Noten beim Rekognitionszeichen zu finden ist. Ein Blick in Kölzers Edition mit den verschiedenen Vorschlägen zur Auflösung (Tardif, Jusselin, Mentz) führt einem die große Unsicherheit vor Augen 54. Um Mißver-

ständnissen vorzubeugen: Es soll hier nicht die im Ganzen konkludente und

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DM 173, S. 431 (PERTZ nr. 87). HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 154 mit Anm. 383; EBLING, Prosopographie (wie Anm. 17), S. 206; KÖLZER in den Vorbemerkungen S. 430 f. DM 166,167,168,170,173 (PERTZ nr. 81,83,84,82,87). Nur DM 166 und 168 sind vom selben Referendar, Actulius, unterfertigt. JOSEF SENU. ER, Zur pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise 714-723, in: DA 33,1977, S. 1-36, bes. S. 12 ff. Kölzer in den Vorbemerkungen zu DM 167, S. 415; ähnlich zu DM 166, S. 413, zu DM 168, S. 417, zu DM 170, S. 422 und zu DM 173, S. 430, das er geradezu als

�die letzte Urkunde in der vom Hausmeier Raganfred initiierten Reihe" bezeichnet.

SENILER, Suk zessionskrise (wie Anm. 51), S. 12-14. S. 414 Anm. 7, S. 418 Anm. 9, S. 423 Anm. 7, S. 431 Anm. 2. Insbesondere das von SENILER in Anm. 87 ausdrücklich zitierte decretante Ragmrfredo maiore domus steht auf äußerst wackligen Füßen. - Im Gespräch bestätigte mir Herr Kölzer noch einmal diese große Unsicherheit.

Beobachtungen zur �Herrschaft" der fränkischen Hausmeier 35

überzeugende Sicht Semmlers von" der Entwicklung der' Jahre 716/717 in Frage gestellt werden, sondern lediglich etwas mehr Vorsicht bei angeblich sicheren Zeugnissen über Handlungen und Handlungsweisen angemahnt wer-. den.

Insgesamt also eine nicht sehr reiche Ausbeute für unsere Fragestellung. Es gilt nach weiteren Quellen dokumentarischen Charakters Ausschau zu halten; ' wir wenden uns den Formulae zu. In den fränkischen Formelsammlungen55 finden sich nur wenige Belege. Die umfangreichste und bedeutendste Samm- lung, die Formulae Marculfr, deren Entstehung wohl am ehesten gegen Ende des 7. Jahrhunderts anzusetzen ist56, bietet immerhin vier Nennungen. I, 24 liefert ein Formular für eine Carta de mundeburde regis etprincipis, also eine königliche Schutzurkunde für ein Kloster oder eine Kirche57. Der König nimmt 'den Bittsteller sub sermonem tuicionis nostre; ý für die konkrete Schutzausübung soll aber der Hausmeier zuständig sein: ... zit sub munde- burde vel defensione inlustris vero illius, maiores domi nostri ...

dibeat re- sedere. Hier

�spiegelt sich eine Situation, die der ausgehenden Merowinger- zeit eigen ist: Dem König gebührt der sermo, der Hausmeier hat die Schutzge- walt"58. In der Dispositio wird diese

�Rollenverteilung" noch einmal klar be- tont: ... ut memoratuspontifex, auf abba, sub nostro sermone et mundeburde antedicti viri quietus resedeat. Auffällig ist die Bezeichnung des Hausmeiers als princeps in der Überschrift: Ein frühes Beispiel für die princeps-Titulatur in urkundlichen Quellen, die sich auch noch in anderen Formularen findet59. So spiegelt das alternative Formular für eine Schutzurkunde (Additamentum 2) - wohl aus der Mitte des B. Jahrhunderts - die ÜbergangszeitGO: Im Titel Carta de mundeburde regis et principis ist der Hausmeier noch mitgenannt, im Text nimmt' nur noch der rex den Abt sub nostro mundeburde vel defensione. In der Sammlung aus Tours, die ebenfalls der Mitte des B. Jahrhunderts zuge- schrieben wird und z. T. Marculf ausschreibt, begegnet eine Bestätigungsur- kunde, in der der König einem durch Feuer Geschädigten die Rechtstitel aus

55 Formulae Merowingici et Karolini aevi, ed. KARL, ZEUMER, MGH Leges sect. V, Hannover 1882-1886. Vgl. U. Nom, Formel, -sammlungen, -bücher. A Ul. Frühmittelalter, in: LMA 4, Sp. 648 f. (mit Literatur). Neuausgabe mit französischer Übersetzung von ALF UDHOLM, Marculfi Formularum libri duo, Uppsala 1962. Formulae (wie Anm. 55) S. 58 bzw. UDDHOLM (wie Anm. 56) S. 98 f Vgl. dazu HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 123. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 123. Vgl. auch DIES., Die Verbindung von Schutz und Immunität. Beobachtungen zu den merowingischen und frtthkarolingi- schen Schutzurkunden für St. Calais, in: ZRG GA 90,1973, S. 10-30, bes. S. 12 ff. Bei HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 78-86 offenbar übersehen. Additamenta e codicibus Marculfi nr. 2: Formulae (wie Anm. 55) S. 111.

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verbrannten Urkunden sichert; in der Überschrift geistert aber auch noch der Hausmeier herum: Confirmatio regis vel, inspecta ista, cuiuscumque princi- pis in eo, qui ab hostibus est depredatus vel ab igne concrematus61. Ebenfalls um die Erneuerung verlorener oder zerstörter Urkunden geht es in dem appen- nis-Formular, das mit der Bestimmung schließt, die neue Urkunde sei - falls nötig - in presentia regis auf principis loci vorzulegen62. Schließlich zeigt ein Freilassungs-Formular aus Bourges - wohl noch aus der ersten Hälfte des B. Jahrhunderts - die Anfangsdatierung in anno illo, sub illo principe63

Zurück zu Marculf. In I, 25, dem Formular für den Prolog einer königli- chen Gerichtsurkunde, wird der Hausmeier unter den Beisitzern genannt; er führt nach den Bischöfen die Reihe der weltlichen Großen an: ... cum plures oblimatibtts nostris, illis episcopis, illi maiorem domus, illis ducibus

... 64. I,

34, eine laut Überschrift an den König gerichtete Bittschrift der Gaugenossen (Relatione paginsium ad rege direcia) wendet sich im Text an domno illo rege et maiorem domus illo65. Interessant ist der Überlieferungsbefund bei I, 39, einer königlichen Anordnung, anläßlich der Geburt seines Sohnes Sklaven auf den königlichen Gütern freizulassen: Sie ist an den Grafen gerichtet; aber eine Handschrift (A 3 aus dem 9. Jahrhundert) ersetzt illo comite durch ill. maiorem domus66 und macht damit eine gewisse Unsicherheit über die Kom- petenzen der königlichen Amtsträger deutlich. Die wohl aus spätmerowingi- scher Zeit stammenden Ergänzungen zu Marculf enthalten unter nr. 3 einen Ergebenheitsbrief eines Bischofs an den Hausmeier, der in der überschweng- lichen Adresse als Zierde des königlichen Palastes wie als treuer Sohn der Kirche apostrophiert wird: Domino inclyto procerumque palatii regalis or- natum atquae catholicae universalis ecclesiae in Christo filio illo maiorem domus

... 67. Ein aus dem salfränkischen Bereich stammendes, vor 774 entstan-

denes Formular für eine Carta tracturia, eine Art Beherbergungsschreiben, ist das einzige Beispiel, das den Hausmeier klar als alleinigen Aussteller nennt:... ego in Dei nomen illi maiorem domus68. Die vor der Kaiserkrönung Karls des Großen erfolgte Umarbeitung und Ergänzung der Marculf-Sammlung bietet manche Stücke fast unverändert, führt aber korrekt den nicht mehr existenten

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Formulae Turonenses nr. 27: Formulae (wie Anm. 55) S. 150. Formulae Turonenses nr. 28: Formulae (wie Anm. 55) S. 151. Formulae Bituricenses nr. 9: Formulae (wie Anm. 55) S. 172. Formulae (wie Anm. 55) S. 59 bzw. UDDHOLM (wie Anm. 56) S. 102. Formulae (wie Anm. 55) S. 64 bzw. UDDHOLM (wie Anm. 56) S. 128. Formulae (wie Anm. 55) S. 68 mit Anm. c bzw. UDDHOLM (wie Anm. 56) S. 150 mit Anm. 3. Supplementum Formularum Marculfi: Formulae (wie Anm. 55) S. 108 bzw. UDDHOLM (wie Anm. 56) S. 340. Formulae Salicae Bignonianae nr. 16: Formulae (wie Anm. 55) S. 234.

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Beobachtungen zur �Herrschaft" der fränkischen Hausmeier 37

Hausmeier nicht mehr an. So lautet die Adresse der fast wörtlich aus Marculf I, 34 übernommenen Bittschrift der Gaugenossen (s. o. ) an den König - die Überschrift ist identisch! - jetzt domno illo regi, vel principi illo69; wer der princeps sein soll, bleibt dahingestellt.

Aufschlußreich für die zeitgenössische Sicht auf die Stellung der Haus- meier ist auch die Datierung der nichtköniglichen Urkunden. Generell gilt, wie Ingrid Heidrich festgestellt hat:

�Die Jahresangabe erfolgt in Arnul finger- und Privaturkunden inuner nach dem Regierungsjahr des Königs"70. Vereinzelt tritt allerdings die Nennung des Hausmeiers hinzu. So datiert eine - in der Ab- schrift des 9. Jahrhunderts allerdings fehlerhafte - Weißenburger Schenkung, die wegen der ausgefallenen Regierungs-Jahreszahl-nur auf den Zeitraum 727- 736 einzugrenzen ist: anno regnanti domino nostro Theudericus regis ei Ca- rolo patritio maiorem domus palatio regis71. Eine St. Galler Urkunde von 735 nennt das Regierungsjahr Theuderichs IV.

�über" dem Hausmeier: in anno quinto X' regnante domno nostro Teoderico rege, supra Car: dum majorem domus72. Als Karl Martell nach dem Tod Theuderichs IV. den Thron unbesetzt ließ, war eine völlig neue Lage gegeben. Die aus den folgenden Jahren erhal- tenen Urkunden spiegeln in ihren Datierungen die Unsicherheit wider. Der Hausmeier selbst zählt ganz korrekt die Jahre nach dem Tod des Königs: an- num quinium post defunctum Theodericwnn regem73. Bis zum Tod Karl Mar- tells folgen die Privaturkunden weitgehend diesem Vorbild, wobei zunächst noch vereinzelt der Hausmeier mitgenamit wird. So datiert von den acht Weißenburger Urkunden dieses Zeitraums nur die früheste vom 18. Juni 737 in anno primo post transitum Theoderici regis, Carolo maiore clomo74. Die Schenkung einer Ermenoara an St. Benigne in Dijon sieht gar nach denn Tod des Königs einen �erwählten"

Hausmeier Karl Martell: defimcto domno

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Formulae Marculfmae aevi Karolini nr. 19: Formulae (wie Anm. 55) S. 234. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 156. Heidrichs nach wie vor einschlägige Un- tersuchungen sind im folgenden nur in einigen Punkten zu ergänzen bzw. zu präzi- sieren. Traditiones Wizenburgenses - Die Urkunden des Klosters Weißenburg 661-864, eingel. und aus dem Nachlaß von KARL GLÖCKNER hg. Von ANTON DOLL, Darmstadt 1979, nr. 247, S. 489. Zu den Fehlern des Abschreibers vgl. IIEIDRICII, Titulatur (wie Anm. 8), S. 97; ihm legt sie wohl zurecht auch den völlig ungewöhnlichen patricius- Titel zur Last. Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, bearb. von HERMANN WARTIvIANN, Tlleil I, Zürich 1863, nr. 5, S. 5. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 156. Es ist allerdings die einzige erhaltene Urkunde Karl Martells aus der Zeit des Interregnums. Tradit. Wizenburg. (wie Awn. 71) nr. 241, S. 476.

38 111. UlrichNonn

Theoderico, et electo Karolo majore-domus75. Und ein Beispiel'läßt sich auch' für eine Datierung ausschließlich nach dem Hausmeier finden: 739 erstellt der Patricius der Provence, Abbo, sein Testament anno vigesimo primo guber- nante inhustrissimo nostro Karolo regna Francorum76; die alleinige Lenkung der Gesamtheit der fränkischen Teilreiche durch den

�Herrscher" Karl wird

hervorgehoben. Nach dem Tod Karl Martells - in der noch königslosen Zeit - wird Theuderich IV. in keiner Datierung mehr genannt. Die einzige Haus- meierurkunde dieses Zeitraums, eine Immunitätsbestätigung Pippins des Jün- geren für die Kirche von Mäcon vom Januar 743, datiert selbstbewußt in anno secundo principatus eiusdem Pippini77. Auch die Privaturkunden zählen jetzt die Jahre der neuen Machthaber Karlmann und/oder Pippin, wobei nun sogar zuweilen der eigentlich für die Königsherrschaft spezifische Terminus regnare verwandt wird. Das früheste und von dort einzige Beispiel ist eine St. Galler Schenkung vom November 741, die - ohne die Jahre zu zählen - nach der

�Herrschaft" des Hausmeiers und des zuständigen Grafen datiert: regnante

Carlomanno duce et Pebone comite78. Die reichere Weißenburger Überliefe-

rung zeigt interessante Sonderformen. In drei von sieben Stücken der königslo- sen Zeit (seit Karl Martells Tod) tauchen nun wieder post obilum-Jahre auf - aber nicht auf Theuderichs IV., sondern auf Karl Martells Tod bezogen! Das erste Beispiel vom 1. Dezember 741 scheint mir noch bewußt vorsichtig zu formulieren; an der Spitze steht die eigentliche Herrschaft, nämlich Christi in perpetuum, gefolgt vom ersten Jahr nach Karls Tod, in dem Karlmann

�herrscht": sub die kalendas decembris, regnante domino nostro Jesu Chris- to in perpetuum, anno primo post obitum Carlo majore regnante domno Carlomanno duce Francorum79. Im folgenden Beispiel aus dem Juni 742 steht das Herrschaftsjahr Karlmanns vor dem post obitum-Vermerk:... anno primo regnante domno Carlomanno duce post obitum Carlo principe maiorem dotnus palacio regis80. Im letzten Beispiel vom Januar 743 schließlich wird

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J. M. PARDESSUS, Diplomata, chartae, epistolae, leges aliaque instrumenta ad res gallo-francicas spectantia ...

Bd. 2, Paris 1849, nr. 491, S. 300. Die Urkunde ist nur in der vor 1031 entstandenen Chronik des Klosters überliefert. Der Herausgeber PARDESSUS wollte sie wegen der eigenartigen Datierung dem Jahr 715, also den An- fiingen Karl Martells zuordnen; aber bei dem �verstorbenen"

König kann es sich nur um Theuderich IV. handeln (Theuderich Ill. starb 690). C. CIPOLLA, Monumenta Novaliciensia vetustiora I, Rom 1898, nr. 2, S. 13-38; da- durch ist die Edition bei PARDESSUS (wie Anm. 75) nr. 559, S. 370-378 überholt. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 156-159 hat den Beleg offenbar übersehen. 1-3EIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 157 und S. 243 nr. A 15. UB St. Gallen (wie Anm. 72) nr. 7, S. 7. Tradit. Wizenburg. (wie Alun. 71) nr. 235, S. 466. Tradit. Wizenburg. (wie Anm. 71) nr. 2, S. 171.

Beobachtungen zur �Herrschaft" der fränkischen Hausmeier 39

zuerst das post obitum-Jahr genannt, kombiniert mit der Nachfolge der beiden Söhne Karlmannund Pippin, während' die eigentliche �Herrschaft"

Christi in perpetuum die Datierung abschließt: ... anno secundo post obitum domini nostri' Carloni quando successerunt in regno filii sui Carlömannus et Pip- pinus regnante domino nostro Jesu Christo in perpetuum81. Die übrigen vier, Weißenburger Stücke zählen die Jahre Karlmanns bzw. Karlmanns und Pip- pins. I

Heidrich hat aufgrund ihrer Gesamtuntersuchung der Hausmeierurkunden festgestellt, daß die Jahresangabe bis zu Karl Martell durchgängig in der älte- ren Form anno X regni domni nostri N regis erfolgt, seit Karl Martell sich aber die jüngere Form anno X regnante N rege durchsetzt; auch bei den Pri- vaturkunden kann sie zwischen 720 und 730 diesen Wandel verfolgen. Und

�in den Datierungsformulierungen der für Weißenburg ausgestellten Urkunden.

aus der Zeit der Alleinherrschaft Karlmanns und Pippins des Jüngeren tritt schon die Formel mit regnante für die Regierung Karlmanns auf'82. Ergän-' zend dazu fällt nun für die sieben Weißenburger Datierungen auf, daß regnante nur für die Herrschaft Christi und für die Regierungsjahre Karl- manns, in dessen Teilreich Weißenburg lag, gebraucht wird; werden die Jahre der Brüder Karlmann und Pippin gezählt, so ist von dem principatus die Rede, wie etwa im Mai 742: ... in anno primo principatum Carlomanno et Pippino maiorum domus83. Trotz der geringen Belegzahl scheint mir das kein Zufall: regnare, also herrschen wie ein König, kann im jeweiligen Teilreich nur ein Hausmeier oder dux. Und wenn der königliche Hausmeier selbst urkundet, so datiert er nicht - wie wir oben für Pippin den Jüngeren sahen84 - anno X regnante N, sondern in anno secundo principatus eiusdem Pippini.

Nachdem die Brüder 743 noch einmal einen Merowinger, Childerich III.,

. auf den, Thron gesetzt hatten, wurde auch dieser letzte Schattenkönig korrekt in den Urkundendatierungen der Hausmeier, aber auch der anderen Aussteller berücksichtigt und seine Regierungsjahre gezählt. Nur St. Gallen fällt hier aus dem Rahmen und zeigt ein ganz uneinheitliches Bild. Neben Datierung aus- schließlich nach Königsjahren begegnet im November 744 die Zählung der Königsjahre in Kombination mit Nennung von Hausmeier und zuständigem Graf: anno 111 regnante Hiltrihho rege sub Carlomanno majoredomo et Be- bone comite85, während eine Schenkung vom September 745 die Jahre des Hausmeiers zählt, kombiniert mit der Nennung des Grafen: anno III Carlo-

81 Tradit. Wizenburg. (wie Anm. 71) nr. 5, S. 177. 82 HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 158 f. 83 Tradit. Wizenburg. (wie Anm. 71) nr. 52, S. 241; ähnlich nr. 4, S. 176. 84 Wie Anm. 77. 85 UB St. Gallen (wie Anm. 72) nr. 10, S. 12.

40 Ulrich Nonn

manno majorem domo sub Chanchurone comite86; regnante bleibt dem Kö-

nig vorbehalten (nur in königsloser Zeit wird es für die Hausmeierjahre ge- braucht87)! St. Gallens Ausnahmen erklärt Heidrich überzeugend mit der Lage des Klosters an der Peripherie des Frankenreiches;

�in die Datierungen der für

dieses Kloster bestimmten Urkunden wurden meist die Personen aufgenom- men, deren Macht die Aussteller unmittelbar spürten"88. Insgesamt dürften die oft als �Formelkram" abgetanen Datierungen der Urkunden gezeigt haben, wie viel sich doch aus ihnen über die jeweilige Vorstellung von hausmeierlicher

�Herrschaft" ablesen läßt Ein Blick lohnt sich auch auf die merowingischen Königskataloge, die vor-

rangig im Zusammenhang mit Handschriften der Lex Salica überliefert und von Bruno Krusch ediert worden sind89. Als ältester gilt eine kürzere Liste (I), die wohl noch auf die Königszeit Pippins zurückgeht. Sie setzt ein mit Theude- rich III. (673-690), dem ersten in der Reihe der spätmerowingischen Einheits- könige; mit dem gängigen regnavit wird jeweils die Regierungsdauer angege- ben90. Die königslose Zeit (737-743) nach dem Tod Theuderichs IV. wird ebenfalls - wenn auch ein Jahr zu lang - vermerkt: Anno septimo interim alias rex non rignavit, ohne daß die hausmeierliche

�Ersatzherrschaft" er- wähnt wird. Nach dem letzten Merowinger Childerich III. wird in paralleler Formulierung der erste nicht-merowingische König - wieder mit etwas zu lan- ger Regierungszeit - angeschlossen: Pipinus rex regnavit annus XVIII. Eine längere Liste, offenbar durch Aufstockung der kürzeren entstanden, liegt in drei Fassungen vor. Die älteste (II) stammt aus den 90er Jahren des B. Jahr- hunderts91. Sie schaltet eine bis auf Dagobert I. zurückgehende austrasische Königsliste vor, bietet ansonsten das gleiche Bild: jeweils regnavit mit den Regierungsjahren, wortgleich die Angabe des Interregnums und Abschluß mit König Pippin. Als Nachfolger Sigiberts III. wird Grimoalds Sohn Childebert

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UB St. Gallen (wie Anm. 72) nr. 12, S. 15; ähnlich nr. 11, S. 13. Vgl. Anm. 78 (Karlmann 741). HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 157 f. Ergänzend weist sie darauf hin, daß ein Großteil der in der Königszeit ausgestellten Urkunden St. Gallens in der Datierung neben dem König auch jeweils den Grafen nennen. BRUNO KRUSCH, Chronologica regum Francorum stirpis Merowingicae, catalogi, computationes annorum vetustae cum commentariis, in: MGH SS rer. Merov. 7, Hannover 1919/20, S. 468-484. Zu den Handschriften ergänzend vgl. die Einleitung der Edition von KARL. AUGUST ECKHARDT, Pactus legis Salicae, in: MGH LL nat. Germ. 4,1, Hannover 1962. Jüngste Würdigung bei EWIG, Königskataloge (wie Anm. 15). KRUSCH, Chronologica (wie Anm. 89), S. 479 f. KRUSCH, Chronologica (wie Anm. 89), S. 480.

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Beobachtungen zur �Herrschaft" der fränkischen Hausmeier 41

(der adoptivus) ohne jeden Zusatz aufgenommen92. Die nächstjüngere Fassung III ist in zwei Versionen überliefert93. Version III, 1 dürfte noch aus der Zeit Karls des Großen stammen. Sie setzt ein mit Chlothar II. und fügt die beiden Pippiniden Grimoald und Karl Martell ein - ersteren als herrschenden König Childebertus adoptivusFilius Grimoald regnavit annos VII, letzteren als Re- genten in der königslosen Zeit: Charohus sine alio rege imperavit annos VII. Die rein negative Interregnums-Angabe der früheren Kataloge ist hier ergänzt durch den Vermerk einer �Herrschaft"

Karl Martells, die aber nicht mit dem königlichen regnare - wie bei dem adoptierten Childebert - bezeichnet wird, sondern durch imperare klar als nichtkönigliche Herrschaft charakterisiert wird94.

Die Version III, 2, deren handschriftliche Überlieferung um 900 einsetzt, dürfte noch unter Ludwig dem Frommen entstanden sein. Sie verzichtet gene- rell wie Katalog II auf das Verb regnavit. Als Neuerung fügt sie die nichtkö- niglichen Regenten aus dem arnulfingischen Haus ein: zwischen Theuderich III. (673-690) und Chlodwig III. (690-694) Pippinus, filius Ansegisi, maior domus; zwischen Dagobert III. (711-715) und Chilperich II. (715/16-721) Karlus maior domus, filius Pippini; nach Theuderich 1V. (721-737) Carlo- mannus et Pippinus ann. VII. Auffällig ist die Umplazierung Karl Martells, dessen

�Herrschaft" in königsloser Zeit entfällt. Es entfällt auch Childerich

III. (743-751); auf Karlmann und Pippin (ohne Hausmeiertitel! ) folgt Pippin mit seinen Königsjahren, anschließend Karl (der Große) und Ludwig (der Fromme). Ein unbefangener und nicht näher informierter Leser konnte also den als reine Königsliste (NOMINA REGUM FRANCORUM) konzipierten Katalog durchaus so verstehen, daß mit Ausnahme der als maior domus be- nannten Pippin der Mittlere und Karl Martell alle übrigen Namen Könige be- zeichnen; das aber ergäbe für das Ende der Liste eine Königsreihe Theuderich IV. (dessen Regierungszeit mit ann. XVII fast korrekt angesetzt ist) - Karl- mann und Pippin (gemeinsam) - Pippin - Karl - Ludwig. Damit wäre dann auch die Absetzung eines noch lebenden Merowingers (Childerich III. ) mit Stillschweigen übergangen. Ob dieser Eindruck beabsichtigt war, bleibt da- hingestellt.

Fassung IV schließlich, nur in einer Handschrift des 11. Jahrhunderts überliefert, dürfte dem späten 9. Jahrhundert entstammen95. Sie hat der kürze-

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Auf die in jüngerer Zeit wieder aufgelebte Diskussion um den �Staatsstreich"

Gri- moalds (GERBERDING, BECHER, EWIG) kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu EwIG, Königskataloge (wie Anm. 15). KRusCH, Chronologica (wie Anm. 89), S. 481. Darauf weist schon EWIG, Königskataloge (wie Anm. 15), S. 22 hin. KRUSCH, Chronologica (wie Anm. 89), S. 482.

42 Ulrich Nonn

ren Liste eine neustrische Königsreihe vorgeschaltet, die bis zu Chlodwig, I. zurückgeht, und läßt auf König Pippin noch Karolus Imperator, Hludowicus imp. und Karolus rex (Karl der Kahle) folgen. Die reine Königsliste - nur mit Namen und Herrschaftsjahren96, ohne regnavit o. ä. - hat für Hausmeier und Interregnumsangaben keinen Platz.

Einen weiteren in einer Lex Salica-Handschrift des 10. Jahrhunderts über- lieferten Katalog hat Krusch als Nachtrag bekanntgemacht97. Er bietet eine ganz offensichtlich aus dem Liber historiae Francorum schöpfende - z. T. fehlerhafte - neustrisch geprägte Königsliste, beginnend mit dem sagenhaften Primus rex Francorum Faramundus bis zu König Pippin. Von Faramund bis

zum septimus rex Hilpericus (Chilperich I. ) werden die Herrscher durchge-

zählt, ab Chilperich I. wird jeweils mit regnavit die Regierungsdauer angege- ben. In einer ebenfalls aus dem 10. Jahrhundert stammenden Lex Salica- Handschrift findet sich die gleiche Liste, zusätzlich eine genealogische Aufli- stung der Frankenkönige (wiederum mit Faramundý beginnend), die dann ab Chlothar II. um Nachrichten aus der Fassung B des Liber historiae Francorum

erweitert wird - sozusagen eine Mischung aus Königsliste und Liber-Kurzfas-

sung, wobei sowohl Grammatik wie Sachinformationen teilweise verderbt sind98. Das Grundgerüst - A, ftlius B, regnavit annis X -, ist klar erkennbar; die Erweiterungen beziehen sich zum einen auf die Erhebungen der Könige

oder auch auf deren Tod, zum anderen bieten sie jeweils Nachrichten über Einsetzung und manchmal auch Tod des Hausmeiers. Im Zusammenhang gele- sen, ergibt sich so neben der Königsliste ein Katalog der neustrischen Haus-

meier; die Reihe - Gundoland, Erchinoald, Ebroin, Leudesius, Waratto, Gis- lemar, Berchar, Grimoald, Theudoald, Raganfred, Karl Martell - ist fast kom- plett; es fehlt nur zwischen Gundoland und Erchinoald Aega99. Vergleicht man die Vermerke über die Hausmeier mit denen der Vorlage, so zeigen sich - durch Verkürzungen und offensichtliche Lesefehler bedingt - manche Mißver- ständnisse. So heißt es etwa nach der Erhebung Warattos zum Hausmeier: Brat hisdem temporibus memorato Warratoni filius Gislemarus, et Berthe- rium in maiorem domatum restilttunt. Welchen Reim sollte sich der Leser darauf machen? Daß dieser

�tatkräftige und unternehmungslustige Sohn von

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Nur Chlodwig I. an der Spitze (Hludoveus rex) und Karl der Große am Schluß (Ka- rolas rex) sind mit Königstitel verzeichnet. BRUNOK RuscH, Catalogi regum Francorum praetermissi, in: MGH SS rer. Merov. 7, Hannover 1919/20, S. 850-855, hier S. 853. KRUSCH, Catalogi (wie Anm. 97), S. 854 f. Den hat aber schon die Vorlage, der Liber historiae Francorum, unterschlagen. Zu dem durch Fredegar und den Columban-Biographen Jonas gut bezeugten Aega vgl. EBLING, Prosopographie (wie Anm. 17), nr. 12, S. 38 ff.

Beobachtungen zur �Herrschaft" der fränkischen Hausmeier 43

ungestümer Wesensart und rauhen Sitten" seinen Vater aus dem Amt ver- drängte, in kämpferische Auseinandersetzungen mit Pippin dem Mittleren

verwickelt war und schließlich - von Gott bestraft - �seinen ruchlosen Geist

aufgab", worauf Waratto wieder in sein Amt eingesetzt wurde und erst nach dessen Tod die Franken Berchar zum Hausmeier bestimmten: All das erfährt man nur aus der Vorlage, dem Liber historiae Francorum100. Wenn Pippin der Mittlere gleichzeitig mit einem geheimnisvollen Febroaldus stirbt, so liegt hier

eine groteske Verlesung aus febre valida correptus vorlog. Bezüglich der Titulatur hält sich der Kompilator weitestgehend an seine

Vorlage: Es erscheint der übliche maior domus-Titel, zuweilen erweitert um in aula regis oder in palatio. Von Grimoald II. heißt es nur: Tunc est Gri-

moaldus, Pippini filius iunior, in aula regis constitutus102; der maior domus- Titel der Vorlage ist entfallen, der Sinn aber ist klar. Zweimal wird das Haus-

meieramt wie in der Vorlage als principatus bezeichnet, ohne den Amtsinha- ber selbst als princeps zu titulieren; der Begriff ist - wie Heidrich herausge-

stellt hat103 - umfassender und weniger exklusiv als princeps. Zum Tod Pippins des Mittleren lesen wir über seine Herrschaft: ...

habuitque principa- tum annis XXVll, wobei durch den Wegfall von sub suprascriptos reges der Vorlage der Eindruck einer größeren Selbständigkeit der hausmeierlichen Herrschaft erweckt wird104 (ob beabsichtigt, sei dahingestellt). Und zur Erhe- bung Raganfreds heißt es: ...

Ragenfredum in principatum in maiorem do-

matum elevaverunt. Der Liber hatte noch die Stellung eines weiteren Haus-

meiers als Principat gewürdigt, nämlich Ebroins: ...

ipse principatum sagaci- ter recepit'°s Singulär im Katalog wie in der Vorlage ist die Angabe der Dauer der hausmeierlichen Herrschaft bei Pippin d. M.; hier nähert man sich schon sehr dem für Könige üblichen Schema: N rex mortuus est, regnavit an- nisX- aber das den Königen vorbehaltene, exklusive regnavit wird eben doch

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Liber historiae Francorum c. 47 f., ed. BRUNO KRUSCH, in: MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, S. 321 f. Zu Gislemarus vgl. EBLING, Prosopographie (wie Anm. 17),

nr. 187, S. 159 f. KRUSCH, Catalogi (wie Anm. 97), S. 855: Eo tempore Pippinus et Febroaldus mor- tuus est... aus Liber hist. Fr. c. 51 (wie Anm. 100) S.. 325: Eo tempore Pippinus fe- bre valida correptus, mortuus est... Ähnlich wird aus c. 52 Franci ninrirum Danie- lem quondam clericum ...

im Katalog Franci Memorum quondam clericum ... (wobei der eigentliche Name Daniel ganz wegfällt). Liber hist. Fr. c. 49 (wie Anm. 100) S. 323: Grimoaldus, Pippini principis filius iunior, in aula regis Childeberti maiorum domus effectus est. HEIDRICH, Titulatur (wie Anm. 8), S. 84 f.

Liber hist. Fr. c. 51 (wie Anm. 100) S. 325: ... obtenuitque principatum sub supra- scriptos reges annis 27 et dimidio. Liber hist. Fr. c. 45 (wie Anm. 100) S. 319.

44 Ulrich Nonn

vermieden. So zeigt dieser erweiterte Katalog insgesamt die bedeutende Stel- lung der Hausmeier neben den Königen, deren in formalen Kleinigkeiten sich ausdrückende Exklusivität korrekt gewahrt bleibt.

Auch die spätmerowingische und frühkarolingische Chronistik, deren ge- nauere Analyse einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben muß, zeigt diese Exklusivität des rex regnans, wenn auch die in Zeiten des schwächer werdenden Königtums sich ständig steigernde reale Machtstellung des Haus- meiers deutliche Spuren hinterlassen hat. Dies sei abschließend wenigstens an einigen Beispielen verdeutlicht.

In den zahlreichen maior domus-Nennungen der sog. Fredegar-Chronik begegnet der Hausmeier als königlicher Amtsträger, oft mit wichtigen Funk- tionen betraut, tätig im Auftrag von König oder Königin. Erhebung und Tod werden vermeldet, zuweilen auch datiert; dabei wird - wie in der Chronik ins- gesamt - nur nach Königsjahren gezählt. Besondere Bedeutung erhält der Hausmeier dann, wenn der sterbende König nur minderjährige Thronfolger hinterläßt. So ruft der dem Tod nahe Dagobert I. (j 638/39) seinen Hausmeier Aega zu sich und vertraut ihm seine Gattin Nanthilde und den jüngeren, etwa vierjährigen Sohn Chlodwig (II. ) an, in der festen Zuversicht, quod cum eius instancia regnus strenuae gubernari possit106 - das königliche regnare wird vermieden. Und auch als der Autor wenig später die gemeinsame Regierung der Königswitwe und Aegas charakterisiert, verwendet er wieder gubernare und zählt die Jahre des neuen, unmündigen Königs: Aega vero cum rigina Nantilde, quem Dagoberius reliquerat, anno primo regni Chlodoviae, se- cundo ei inmenente tercio eiusdem regni anno condigne palacio gobernat et regnum107. Als Grimoald I. nach Beseitigung seines Rivalen Otto (durch den Alemannenherzog Leuthari) 642/43 das Hausmeieramt in Austrasien erhält, heißt es über seine starke Stellung: Gradus honoris maiorem domi in pal ado Sigyberto et omnem regnum Austrasiorum in mano Grimoaldo confirmatum est vehementer108. Der

�Staatsstreich" Grimoalds wird später gar nicht er-

wähnt werden109. Auch der Liber historiae Francorum spiegelt die stärker werdende Stellung

der Hausmeier, so die - schon oben erwähnte - Charakterisierung des Amtes als principatus bei Ebroin, Pippin dem Mittleren und Raganfred und die - wenn auch singuläre - Jahresangabe für die Dauer der hausmeierlichen Herr-

106 Chronicarum quac dicuntur Fredegarii scholastici liber IV c. 79, ed. BRUNO KRUSCH, in: MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, S. 161.

107 Fredegar IV, 79 f. (wic Anm. 106) S. 161. 108 Fredegar IV, 88 (wie Anm. 106) S. 165. 109 Vgl. dazu Anm. 92.

Beobachtungen zur �Herrschaft" der fränkischen Hausmeier 45

schalt Pippins d. M. 110. Ansonsten aber werden nur die Herrschaftsjahre der Könige gezählt, und ihnen bleibt das regnare vorbehalten.

Die Fredegar-Fortsetzungen schließlich, die in ihren ersten zehn Kapiteln

weitgehend den Liber historiae Francorum ausschreiben, zeigen auf den ersten Blick das gleiche Bild. Doch bei genauerem Hinsehen weist diese

�Familien- chronik des karolingischen Hauses""' kleine, aber markante Unterschiede auf. So übernimmt c. 2 für Ebroin den principatus, enthält Raganfred diese Be-

zeichnung aber vor: Der Gegner des im Folgenden so gefeierten Karl Martell

wird nur ins �normale"

Hausmeieramt gewählt: Eodem tempore tunc ele- gerunt in honorem maiorum domatum quodam Franco nomine Ragam- fredo

... 112. Bei der Todesnachricht Pippins des Mittleren und der Angabe

seiner Herrschaftsjahre wird zwar der principatus der Vorlage nicht über- nommen, dafür aber der Titel dux hinzugefügt und die selbständige Herrschaft

- ohne Nennung des Königs! - betont: Aus dem obtenuitque principatum sub suprascriptos reges annis ...

der Vorlage wird rexitque populum Francorum

ann.... 113. Aber auch dieser so karolingerfreundliche Text reserviert das ex- klusive regnavit den Königen. Allerdings sind die dem letzten Kapitel des Li- ber historiae Francorum entnommenen Nachrichten über den Tod Chilperichs II. (regnavit ann. 6) und die Erhebung Theuderichs IV. die letzten Erwähnun-

gen eines Königs überhaupt. Im selbständigen Teil ab c. 11 sind die karolingi-

schen Hausmeier die ausschließlichen Akteure, jetzt durchgehend als princeps oder dux tituliert. Immerhin: Solange Karl Martell unter - nicht mehr er- wähnten - Königen amtiert, wird seine Herrschaft als principatus bezeichnet. So kehrt er nach einem Feldzug in Burgund 736 in Francorum regnum ... in

sedem principatus sui zurück; entsprechend heißt es nach dem Sieg über die Sarazenen am Flüßchen Berre bei Narbonne 737:

... salubriter remeavit in regionem suam, in terra Francorum, solium principatus suill4. Kurz vor sei- nem Tode aber kann er königsgleich das Reich unter seine Erben aufteilen:... fills suis regna dividit; seine Herrschaftsjahre werden aber wieder korrekt,

wie schon bei Pippin d. M., mit regere wiedergegeben: Rexit autem utrasque regna an. XXV S. '15. Zu 742/43 datiert der Fredegar-Fortsetzer zum ersten Mal in der königslosen Zeit nach Herrschaftsjahren der Hausmeier-Brüder

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Vgl. Anm. 104,105. So die treffende Charakterisierung WILHELM LEVISONS in: WATTENBACH / LEVISON / LOwE, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, 2. Heft, Weimar 1953, S. 162. Continuationes Fredegarii c. 8 (wie Anm. 106) S. 173. Continuationes Fredegarii c. 8 (wie Anm. 106) S. 173. Continuationes Fredegarii c. 18 und 20 (wie Anm. 106) S. 177 f. Continuationes Fredegarii c. 23 f. (wie Anm. 106) S. 179. Vgl. dazu schon NoNN, Bild Karl Martells (wie Anm. 15), S. 74.

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Karlmann'und Pippin: anno secundo regni eorum116. Die Erhebung des letz- ten Merowingers Childerich III. 743 wird völlig verschwiegen; und daher kann Karlmann 747 vor seiner Abreise nach Rom regnum una cum ftlio suo Drohone seinem Bruder Pippin anvertrauen mit der Folge-. - Qua successione Pippinus roboratur in regno117.751 wird bekanntlich der königsgleiche Hausmeier Pippin zum wirklichen König erhoben; und als er im September 768 stirbt, kann der letzte Fortsetzer endlich auch für einen Karolinger der Todesnachricht die exklusive Herrschaftsangabe hinzufügen: Regnavitque ann. 25118.

Vom rexit zum regnavit: Ein äußerlich geringer, leicht zu überlesender Unterschied, der aber den Zeitgenossen offenbar bedeutsam war. Man konnte Könige verschweigen, aber man wagte es nicht, Nicht-Königen das exklusive regnare zuzuschreiben. Erst 751, mit dem formalen Akt der Königserhebung Pippins, sollte für die neue stirps regia die sedes principatus zum solium regni werden.

116 Continuationes Fredegarii c. 26 (wie Anm. 106) S. 180, 117 Continuationes Fredegarii c. 30'(wieAnm. 106) S. 181. 116 Continuations Fredegarii c. 53 (wie Anm. 106) S. 193.