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Vorlesung Grundrechte Priv.-Doz. Dr. Alexander Thiele Ruhr-Universität Bochum WS 2013/2014

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Vorlesung Grundrechte

Priv.-Doz. Dr. Alexander Thiele

Ruhr-Universität Bochum

WS 2013/2014

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Geschichte der Grundrechte„Grundrechte sind nicht vom Wertehimmel gefallen.“Sie wurden über hunderte von Jahren erkämpft; ihre Entwicklung steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Staates, wie er sich spätestens seit Ende des Dreißigjährigen Krieges herausgebildet hat.Denn Grundrechte sind und waren niemals Selbstzweck, sondern entwickelten sich als Reaktion auf bestimmte konkrete Bedrohungslagen, was sich nicht zuletzt an der englischen Entwicklung aufzeigen lässt. Die Entwicklung insgesamt ist daher auch keineswegs geradlinig, wird von zahlreichen Brüchen durchzogen und hängt zwangsläufig von nationalen Besonderheiten ab, die das jeweilige Grundrechtsverständnis zum Teil bis heute prägen.Das heutige Verständnis der Grundrechte als subjektive Ansprüche des Einzelnen als gleich und frei gedachten Individuums gegen die staatliche Hoheitsgewalt ist ein „Phänomen der Neuzeit“ und insbesondere der Aufklärung („Entdeckung des Individuums“).

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Geschichte der Grundrechte

In der griechischen Antike findet sich der den Grundrechten zugrundeliegende Gedanke der Freiheit und Gleichheit aller praktisch nicht (Sklaverei).Gleiches gilt für die Idee einer gegen den Staat gerichteten subjektiven Rechtsstellung.Aber: Die philosophische Lehre der Stoa formulierte den Gedanken der Gleichheit und Freiheit aller machtvoll aus und lieferte damit die Basis moderner Grundrechtslehren.

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Geschichte der GrundrechteAuch das Christentum ist nicht als Ursprung der Menschenrechtsidee anzusehen.Weder die imago-dei-Lehre (Gottesebenbildlichkeit) noch die protestantische Vorstellung vom Priestertum aller Gläubigen geben hierfür etwas her.Denn die Gleichheit vor Gott ist etwas gänzlich anderes als die allgemeine Gleichheit im weltlichen Leben.Geistliches Reich und politische Ordnung waren stets streng voneinander zu unterscheiden. Auch wurde die Sklaverei erst Ende des 19. Jahrhunderts von der katholischen Amtskirche als unvereinbar mit der Brüderlichkeit aller Menschen angesehen. Menschenrechtliche Orientierungen mussten daher nicht selten gegen den Widerstand christlicher Kirchen und Gruppen durchgesetzt werden.Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machte die katholische Kirche ihren Frieden mit den Grundrechten. Auch die Protestanten können mit ihrer Grundgleichgültigkeit gegenüber weltlichen Beschwernissen nicht als Vorläufer moderner Menschenrechtsideen angesehen werden.

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Geschichte der GrundrechteAusgangspunkt bildet vielmehr das rationalistische Naturrecht und das Zeitalter der Aufklärung, in dem erstmals versucht wurde Herrschaft rational zu begründen (zu legitimieren) und damit auch die Grenzen der Herrschaft zu ermitteln.Prägend wurde hier der Gedanke des Gesellschaftsvertrages, den die zunächst einmal gleichen und freien Bürger miteinander schließen, um in Sicherheit leben zu können. Besonders prägend sind die Überlegungen John Locks, wonach der Staat (Herrschaft) nur besteht, um bestimmte, im Naturzustand latent gefährdete Rechte wirksam zu schützen. Dann aber darf der Staat diese Rechte seinerseits nicht durch sein Handeln gefährden.Diese Gedanken werden in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassungsdebatten aufgenommen.Der Einzelne, das Individuum scheint dem Staat damit voraus zu liegen, der nur den Zweck hat, die gleiche Freiheit aller zu gewährleisten.

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Damit sind als eigentliche Fundamente der Grundrechtsentwicklung die Menschenrechtserklärungen der amerikanischen und französischen Revolution anzusehen.

Virginia Bill of Rights war die zeitlich erste (12.6.1776) Erklärung.

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Artikel 1

That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.

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Artikel 2

That all power is vested in, and consequently derived from, the people; that magistrates are their trustees and servants, and at all times amenable to them.

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Artikel 3That government is, or ought to be, instituted for the common benefit, protection, and security of the people, nation or community; of all the various modes and forms of government that is best, which is capable of producing the greatest degree of happiness and safety and is most effectually secured against the danger of maladministration; and that, whenever any government shall be found inadequate or contrary to these purposes, a majority of the community hath an indubitable, unalienable, and indefeasible right to reform, alter or abolish it, in such manner as shall be judged most conducive to the public weal.

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Artikel 8That in all capital or criminal prosecutions a man hath a right to demand the cause and nature of his accusation to be confronted with the accusers and witnesses, to call for evidence in his favor, and to a speedy trial by an impartial jury of his vicinage, without whose unanimous consent he cannot be found guilty, nor can he be compelled to give evidence against himself; that no man be deprived of his liberty except by the law of the land or the judgement of his peers.

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Artikel 12

That the freedom of the press is one of the greatest bulwarks of liberty and can never be restrained but by despotic governments.

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Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung:We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, — That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness.

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Geschichte der GrundrechteDéclaration des Droits de l‘Homme et du citoyen:

Les Représentants du Peuple Français, constitués en Assemblée nationale, considérant que l’ignorance, l’oubli ou le mépris des droits de l’homme sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des Gouvernements, ont résolu d’exposer, dans une Déclaration solennelle, les droits naturels, inaliénables et sacrés de l’homme, afin que cette Déclaration, constamment présente à tous les membres du corps social, leur rappelle sans cesse leurs droits et leurs devoirs ; afin que les actes du pouvoir législatif, et ceux du pouvoir exécutif pouvant être à chaque instant comparés avec le but de toute institution politique, en soient plus respectés ; afin que les réclamations des citoyens, fondées désormais sur des principes simples et incontestables, tournent toujours au maintien de la Constitution, et au bonheur de tous. En conséquence, l’Assemblée nationale reconnaît et déclare, en présence et sous les auspices de l’Être Suprême, les droits suivants de l’homme et du citoyen.

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Artikel premier

Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.

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Article IVLa liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui : ainsi l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres Membres de la Société, la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminées que par la Loi.

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Article V

La loi n’a le droit de défendre que les actions nuisibles à la société. Tout ce qui n’est pas défendu par la loi ne peut être empêché, et nul ne peut être contraint à faire ce qu’elle n’ordonne pas.

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Englische Verfassungsgeschichte hat ebenfalls wichtige Impulse gesetzt.

Es handelte sich aber nicht um allgemeine Menschenrechte, sondern um bestimmte Privilegien, die sich einzelne Stände in Krisenzeiten gegen den König erkämpften.

Es waren also eher Freiheitsgewährleistungen innerhalb eines ständischen Systems.

Beispiele: Magna Charta Libertatum (1215)

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Petition of Right (1628)

Habeas-Corpus-Akte (1679)

Bill of Rights (1689)

Insgesamt ging es nicht – wie in Amerika – um fundamental neue Rechte aller Bürger, sondern um die Aufrechterhaltung oder Begründung spezifischer Standesrechte gegenüber dem König.

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Geschichte der GrundrechteDie Konzeptionen in Amerika und Frankreich unterschieden sich indes.In Frankreich war die Déclaration eher das Gründungsdokument einer neuen Nation, verkörperte ein neues Gesellschaftsverständnis, das sich gegen den Ständestaat richtete. Konsequenz: Die einzelnen Rechte waren weniger Rechte im heutigen Sinne als vielmehr „Programmsätze“ für die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaft (die folgenden Jahre in Frankreich waren aus grundrechtlicher Perspektive denn auch keine Glanzzeit). Anders in Amerika. Hier stand das Individuum im Zentrum, es konnte eine gänzlich neue Herrschaftsordnung entwickelt werden, ohne dass ein Ständestaat überwunden werden mussten. Die Rechte entwickelten sich zu durchsetzbaren Rechten des Einzelnen. Besondere Bedeutung: Eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich in den USA etablierte und für die Durchsetzung der Rechte auch gegenüber der Legislative sorgen konnte (Marbury vs. Madison 1803)Auch in Deutschland besteht ein starkes Verfassungsgericht mit Normenkontrollbefugnis. Zudem kann der Einzelne seine Rechte mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzen.

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Die deutsche Grundrechtsgeschichte wird durch die französische Revolution angestoßen und beginnt mit dem sog. süddeutschen Konstitutionalismus (ab etwa 1814).Es entstehen erste Verfassungen, die zumeist gemeinsam mit dem Monarchen erlassen werden mit einem ausformulierten Grundrechtsteil (Baden, Bayern, Württemberg).Diese Rechte werden aber nur „gewährt“, die Idee allgemeiner Menschenrechte setzt sich noch nicht durch.Es sind also „Untertanenrechte mit starker Betonung des Pflichtgedankens“. Ihre Funktion war insofern eher der der Déclaration zu vergleichen.

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Erster gesamtdeutscher Grundrechtskatalog dann in der Paulskirchenverfassung von 1848/49.Einige dieser Grundrechte haben praktisch unverändert ihren Weg in das heutige Grundgesetz gefunden.Aber: Mit dem Scheitern der Verfassung scheiterte auch dieser erste große deutsche Grundrechtskatalog.

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Geschichte der GrundrechteReichsverfassung von 1871 war praktisch „grundrechtslos“. Grundrechte wurden auf der Ebene der Länder gewährleistet. Den Schutzstandard der Paulskirchenverfassung erreichte diese Verfassung nicht.Die Weimarer Reichsverfassung (1919) dann enthielt erneut einen langen Grundrechtskatalog. Dieser war so umfangreich, dass er als „Zeugnis eines ernsten und sittlich hohen Strebens nach einer gerechten Sozialordnung gelten“ kann.Ihre rechtliche Bindungswirkung war freilich umstritten. Sie wurden bisweilen als bloße „Programmsätze“ angesehen, was auch am Fehlen einer institutionalisierten Verfassungsgerichtsbarkeit gelegen haben mag (Die Paulskirchenverfassung hatte eine solche vorgesehen).Problematisch war zudem, dass der Vorrang der Verfassung nicht anerkannt war. Gesetze, die mit verfassungsändernder Mehrheit zustande kamen, konnten diese also aushöhlen.

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Geschichte der GrundrechteIm Grundgesetz wurden die Grundrechte dann an den Anfang gestellt, um ihre Bedeutung nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu verdeutlichen. Mit Art. 1 Abs. 3 GG wurde auch die Bindungswirkung der Grundrechte klargestellt. Zudem finden sich in Art. 19 GG weitere Schranken für grundrechtseinschränkende Gesetze, die einer Aushöhlung des Grundrechtsschutzes vorbeugen sollen. Der Grundrechtskatalog ist indes nicht änderungsfest und ist auch bereits an zahlreichen Stellen modifiziert und ergänzt worden. Vor allem aber hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung zur Drittwirkung dafür Sorge getragen, dass die Grundrechte mittlerweile alle Bereiche der staatlichen Ordnung maßgeblich beeinflussen. Bisweilen wird auch von einer „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ gesprochen. Die Grundrechte sind wahrlich omnipräsent.

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Die Entwicklung ist dabei keinesfalls abgeschlossen.Neue Bedrohungslagen erfordern neue oder anders ausgerichtete Grundrechte (Datenschutz).Eine weitere Herausforderung bildet zudem die Abstimmung des nationalen mit europäischem und internationalem Grundrechtsschutz.