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Westfälische Wilhelms- Universität Wintersemester 2015/ 2016 Institut für Politikwissenschaft Veranstaltungstyp: Bachelor-Seminar "Fragen will gelernt sein – Antworten aber auch! Politikwissenschaftliche und politische Fragen im Dialog zwischen Studierenden und WN-LeserInnen" Dozent: Prof´in Dr. Christiane Frantz/ Prof. Dr. Bernd Schlipphak Prüfungszeit: WS 15/16 "Wie erklären die Integrationstheorien den europäischen Einigungsprozess?" Seminararbeit LeserInnen-Frage: „Wer hat eigentlich die EU gegründet und warum?“ Elisabeth Seegers, Teresa Liesenfeld und Frieder Kurbjeweit

Wie erklären die Integrationstheorien den europäischen ... · gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war. Die zentralen ... “Europäischen Union”

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Westfälische Wilhelms-

Universität Wintersemester

2015/ 2016 Institut für

Politikwissenschaft

Veranstaltungstyp: Bachelor-Seminar "Fragen will gelernt sein – Antworten aber

auch! Politikwissenschaftliche und politische Fragen im Dialog zwischen

Studierenden und WN-LeserInnen"

Dozent: Prof´in Dr. Christiane Frantz/ Prof. Dr. Bernd

Schlipphak Prüfungszeit: WS 15/16

"Wie erklären die Integrationstheorien den

europäischen Einigungsprozess?"

Seminararbeit

LeserInnen-Frage: „Wer hat eigentlich die EU gegründet und warum?“

Elisabeth Seegers, Teresa Liesenfeld und Frieder Kurbjeweit

Inhalt 1. Abstract .................................................................................................................. 1

2. Einleitung ............................................................................................................... 2

3. Historische Einordnung .......................................................................................... 2

4. Erklärungsansätze der Integrationstheorie.............................................................. 4

4.1. Intergouvernementalismus .............................................................................. 4

4.2. Neofunktionalismus ......................................................................................... 5

4.3. Die Weiterentwicklung der Theoriestränge ...................................................... 7

5. Fazit ............................................................................................................................8

6. Verweise....................................................................................................................10

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1. Abstract Die Europäische Union ging aus mehreren Vorgängerorganisationen hervor, von denen

die erste die 1952 von Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten

gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war. Die zentralen

Motive waren die Verhinderung eines erneuten Krieges in Europa, sowie Wohlstand durch

Kooperation. Im Laufe der Jahre wurde die EGKS um weitere Organisationen erweitert

und immer mehr Politikbereiche vergemeinschaftet. Dieser Gemeinschaft traten nach und

nach weitere Staaten bei. 1993 wurden mehrere Vorgängerorganisationen unter dem

Begriff „Europäische Union“ zusammengefasst. Zurzeit besteht die EU aus 28

Mitgliedsstaaten. Die Politikwissenschaft liefert zwei Erklärungsansätze für diese

Entwicklung, die uneinig darüber sind, ob die EU lediglich ein Projekt ist, durch das

nationale Regierung ihre Interessen durchzusetzen suchen, oder ob nicht vielmehr

supranationale Organisationen, wie das Europäische Parlament oder die Europäische

Kommission, die Träger des Einigungsprozesses sind. Der erste Theoriezweig stellt

intergouvernementale Verhandlungen auf Grundlage der Interessen von Regierungen in

den Vordergrund, der andere Theoriestrang eine spillover (Überschwapp)-Logik, nach der

einmal vergemeinschaftete Gebiete immer weitere Vergemeinschaftung und

Kompetenzerweiterungen der Europäischen Institutionen nötig machen. Beide Theorien

haben ihre Erklärungsstärken und -Schwächen, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet

ist, dass die EU ein hochkomplexes Gebilde und auf vielen Gebieten tätig ist. Sie nehmen

verschiedene Perspektiven auf dieses Gebilde ein und können jeweils nur bestimmte

Perioden der Entwicklung erklären. Zum einen konnten nationale Regierungen den

Prozess anstoßen und immer wieder unterbrechen, zum anderen haben auch die

europäischen Institutionen, wie die Kommission oder der Europäische Gerichtshof zur

Ausformung der EU in ihrer heutigen Form beigetragen.

2

2. Einleitung Im Rahmen des Bachelor-Seminars "Fragen will gelernt sein – Antworten aber auch!

Politikwissenschaftliche und politische Fragen im Dialog zwischen Studierenden und

WN-LeserInnen" sollen Fragen von Lesern der "Westfälischen Nachrichten" zu

politischen Themen politikwissenschaftlich beantwortet werden. Die hier zu

beantwortende Frage lautet: "Wer hat eigentlich die EU gegründet und warum?"

Die EU als Institution besteht unter diesem Namen erst seit 1993. Vermutlich ist die Frage

in erster Linie auf die Anfänge der Europäischen Einigung in den 50er Jahren bezogen.

Da spätere Entwicklungen aber maßgeblich zur Gestalt der heutigen EU beigetragen

haben sollte die Antwort eine Beleuchtung dieser Entwicklungen nicht auslassen. Somit

wird sich die nachfolgende historische Einordnung zunächst auf die Anfänge der

europäischen Integration1 in den 1950er-Jahren beziehen, um dann spätere Meilensteine

der Entwicklung hin zur EU, wie wir sie heute kennen, darzustellen und anhand der

gängigsten Theoriestränge zu erklären.

In einem abschließenden Fazit werden die wichtigsten Kernpunkte zusammengefasst und

die zu Beginn gestellte Frage beantwortet.

3. Historische Einordnung

Die europäischen Nachkriegsjahre waren geprägt von der Frage, wie ein erneuter Krieg

verhindert werden könne und welche Rolle das aufgeteilte Deutschland künftig spielen

sollte. Mit Blick auf den gerade beendeten Zweiten Weltkrieg bildete sich ein Konsens,

Deutschland politisch so einzubinden, dass es keinen weiteren Krieg gegen andere

europäische Staaten führen könnte (Weidenfeld 2013: 13ff.).

Am 09. Mai 1950 machte der französische Außenminister Robert Schuman den Vorschlag

zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Diese

wurde mit der Unterzeichnung der Pariser Verträge durch Belgien, Deutschland, Italien,

Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden begründet. Die Verträge traten 1952 in

1Der Begriff der Integration wird hier anders verwendet als in der tagespolitischen Debatte. Die Politikwissenschaft versteht darunter „die Herstellung einer staatlichen, politischen oder wirtschaftlichen Einheit“ (Schubert & Klein, 2011).

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Kraft. Neben dem Gedanken der Friedensstiftung verfolgten die sechs

Gründungsmitglieder auch die Stärkung der Wirtschaft durch freien Handel und die

Etablierung neuer Demokratien (Reichstein 2012: 21). Sechs Jahre später, 1957, wurde

die EGKS mit den Römischen Verträgen zur "Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft"

(EWG) umgebaut, außerdem wurde die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) ins

Leben gerufen. Artikel 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen

Wirtschaftsgemeinschaft formuliert als Aufgabe der Wirtschaftsgemeinschaft

“die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der

Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten, [...] und engere Beziehungen zwischen

den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.”

Dieser gemeinsame Wirtschaftsraum beruhte auf vier Grundfreiheiten, namentlich des

freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs (Pollak 2006: 28), die alle

dem Ziel dienen sollten, Abgaben und Zölle, sowie weitere Handelshemmnisse

abzubauen, um so einen gemeinsamen Markt zu schaffen (Brunn 2004: 124). Die

wichtigsten Elemente der heutigen Europäischen Union waren damit vertraglich

festgelegt.

Ein weiterer Meilenstein in der europäischen Integration war die Einheitliche Europäische

Akte (EEA) von 1987 “mit der das institutionelle System reformiert, die Zuständigkeiten

der Gemeinschaft erweitert sowie ein rechtlicher Rahmen für die außenpolitische

Zusammenarbeit geschaffen” wurde (Weidenfeld 2013: 109). Als Gründungsdatum der

“Europäischen Union” mitsamt ihrer Drei- Säulen- Struktur gilt der 07. Februar 1992, an

dem der Vertrag von Maastricht unterzeichnet wurde, der 1993 in Kraft trat.

Vier Jahre später, 1999, wurde die Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt, drei Jahre

später, 2002, kam der Euro als neue Währung in zwölf Mitgliedsstaaten in Umlauf

(Weidenfeld 2015: 100).

Am 01. Mai 2004 wurde dann ein weiteres Groß- Projekt der Europäischen Union

verwirklicht: mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedsstaaten fand die bis heute größte

Erweiterung der EU statt (Weidenfeld 2015: 111).

Nachdem der Versuch, eine gemeinsame Verfassung für die EU zu verabschieden, an

zwei Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 gescheitert war,

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einigte man sich 2007 auf die Verabschiedung des Vertrags von Lissabon, der eine

umfassende institutionelle Reform der EU darstellte (Weidenfeld 2015: 111).

Seit dem Beitritt Kroatiens zur EU im Jahr 2013 (Weidenfeld 2015: 111) besteht die EU

aus 28 Mitgliedsstaaten.

4. Erklärungsansätze der Integrationstheorie

Die Politikwissenschaft bietet zur Erklärung des Wer und Warum des Einigungsprozesses

zwei große Theoriestränge, den des Intergouvernementalismus und den des Neo-

Funktionalismus an.

4.1. Intergouvernementalismus

Im Mittelpunkt des maßgeblich von Stanley Hoffmann entwickelten

Intergouvernementalismus2 stehen „souveräne, rational agierende, einheitliche und

miteinander um Macht und Einfluss rivalisierende Nationalstaaten, die auf der

internationalen Bühne ihre nationalen Interessen verfolgen.“ (Faber 2005: 87) und die

über ihre Regierungen in Erscheinung treten. Der Intergouvernementalismus geht davon

aus, dass Staaten ständig bestrebt sind, die nationale Sicherheit und Souveränität

aufrechtzuerhalten.

Daher wird der Prozess der Übertragung von Kompetenzen auf eine supranationale Ebene

von den nationalen Regierungen kritisch bewertet und nur bewusst herbeigeführt. Sobald

allerdings die nationale Souveränität und Sicherheit bedroht sind, werden

Vergemeinschaftungsprozesse angehalten bzw. nicht eingegangen.

Der europäische Integrationsprozess wird als Ergebnis diplomatischer Verhandlungen und

zwischenstaatlicher Machtpolitik angesehen (Faber 2005: 88ff.). Nach dem Krieg

mussten die Staaten ihre Volkswirtschaften und ökonomischen Strukturen rekonstruieren

(Auth 2015: 148). Gleichzeitig sollte Europa seine Position auf der internationalen Bühne

finden und gestärkt werden (Faber 2005: 88ff.). Die damalige deutsche Regierung musste

die nationale Situation auf Grundlage der historischen Erfahrungen und der

geographischen Lage des Landes stützen, sodass die Situation durch die Integration nur

2intergouvernmental: Zwischen Regierungen

5

verbessert werden konnte. Integration bedeutete für das als “Feindstaat” angesehene

Deutschland, die Anerkennung in der internationalen Staatengemeinschaft und die

Wiedererlangung bestimmter Rechte (Auth 2015: 151 f.). Für den deutschen

Bundeskanzler Konrad Adenauer war die europäische Einigung “eine Notwendigkeit für

uns alle. Sie ist, [...] notwendig für unsere Sicherheit, für unsere Freiheit, für unser Dasein

als Nation und als geistig schöpferische Völkergemeinschaft.“ (ACDP 2013: 12) Auch

Frankreichs Ministerpräsidenten Charles de Gaulle lag die europäische Einigung am

Herzen, jedoch auch vor dem Hintergrund, sich als Großmacht zu re-etablieren und den

Einfluss anderer Staaten, v.a. der USA und der Sowjetunion in Europa zurückzudrängen.

Jegliche Kooperation mit anderen Staaten sollte einen Schritt in Richtung Weltpolitik

darstellen (Auth 2015: 151f.). “Seit jeher bin ich der Auffassung, Frankreich sei durch

seine bloße geographische Lage dazu bestimmt, [...] der Europäischen Union zum

Durchbruch zu verhelfen.“ (Fondation Charles de Gaulles 2012)

Laut Intergouvernementalismus sind nationale Regierungen die „Gründer“ der EU, da sie

den Integrationsprozess bewusst gefördert haben, um den eigenen Nationalstaat zu

erhalten und seine ökonomische Leistungsfähigkeit zu verbessern. (Faber 2005: 104).

Kernpunkte der Theorie sind insofern die Interessen der Regierungen und

zwischenstaatliche Aushandlungsprozesse.

4.2. Neofunktionalismus

Der zweite große Ideenstrang zur Erklärung der europäischen Integration, der

Neofunktionalismus (NF), nahm Ideen des Funktionalismus, einer Theorie aus den 30er

und 40er Jahren, wieder auf. Der Theoretiker David Mitrany erkannte, dass Probleme oft

mehrere Staaten grenzübergreifend betrafen und daher gemeinsam pragmatisch (Gabriel

1996: 1) gelöst werden mussten. Daran mussten alle Beteiligten interessiert sein, da durch

Effizienzsteigerungen in Wirtschaft und Verwaltung der Wohlstand in Europa deutlich

gesteigert und dadurch das Konfliktpotential gemindert werden könne (Rosamond 2005:

239). Dazu sollten Konflikte auf die bürokratische Ebene gehoben und damit

entpolitisiert werden (Weidenfeld 2013: 55). Mitranys Ideen zielten darauf ab, ein Netz

ziviler Beziehungen zu weben, welches die politischen Gräben zwischen Staaten

zunehmend zudecken und Nationalstaaten aus Pragmatismus langfristig überflüssig

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machen sollte (Weidenfeld 2013: 55f.). Die Ideen wurden von dem französischen

Diplomaten Jean Monnet aufgenommen und auf der internationalen Bühne populär

gemacht (Gabriel 1996: 8,13; Schmitter, 2005: 256). Das zentrale Konzept des

Neofunktionalismus ist das des spillovers, des bürokratischen Überschwappens. Nach der

spillover - Theorie macht eine Vergemeinschaftung eines wirtschaftlichen Feldes weitere

Vergemeinschaftungen notwendig. Das beobachtete der deutsch-amerikanische

Politikwissenschaftler Ernst. B. Haas anhand der Entwicklung der Europäischen

Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Schmitter 2005: 256). Die gemeinsame Regelung des

Wirtschaftsfeldes machte weitere Regelungen z.B. beim Warentransport oder dem

Arbeitsschutz von Arbeitern außerhalb des eigenen Staates notwendig (Weidenfeld 2013:

58). Sobald ein gewisses Maß an europäischen Regeln bestünde, so die Theorie, würden

die Regierungen und Verwaltungen aber auch informelle Eliten in Handelskammern,

Gewerkschaften oder Parteien in einer weitergehenden Integration Vorteile für sich

erkennen. Sie würden dann den Prozess der Integration selbst vorantreiben und aus dem

ökonomischen Bereich in andere Bereiche und nach Europa tragen, was sie rasch auch

taten (Weidenfeld 2013: 58; Schmitter 2005: 257). Hier unterscheidet sich der

Neofunktionalismus vom Intergouvernementalismus, weil er auch nicht-

nationalstaatlichen Akteuren, insbesondere supranationalen Institutionen wie EU-

Parlament oder Kommission eine wichtige Rolle zugesteht. Dieser Prozess verlangt bald

nach eben diesen Institutionen, um die Vergemeinschaftung steuern und verwalten zu

können. Von einem “cultivated spillover” spricht die Wissenschaft, wenn Institutionen

beginnen, eingene Interessen zu entwickeln und nicht mehr nur den Willen ihrer Stifter

(der Regierungen der Nationalstaaten) erfüllen. So tut das heute z.B. die europäische

Kommission, die bei ihrer Gründung als Exekutivorgan des Rats geplant war, heute aber

durchaus eigene Interessen verfolgt und die Integration von sich aus voran treibt (Kassim

& Menon 2003: 128). Auch dem Europäischen Gerichtshof gelang es immer wieder die

Kompetenzen der EU gegenüber den Nationalstaaten auszuweiten. Dadurch erhielt der

Integrationsprozess laut NF eine Eigendynamik, die den Prozess von sich aus weiter

treibt. Die Entwicklung der EU wird also auf supranationale Akteure zurückgeführt, die

eigene Interessen verfolgen.

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4.3. Die Weiterentwicklung der Theoriestränge Was der Neofunktionalismus nicht voraussagte, war ein Stopp von spillovers und die

Abkühlung des Integrationsprozesses von Mitte der 60er bis Anfang der 80er Jahre,

sodass bis zum Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte 1986, der

intergouvernementale Ansatz dominierte (Schmitter 2005: 261). Die auf Andrew

Moravcsik zurückgehende Theorie des Liberalen Intergouvernementalismus (LI)

erweitert die Theorie des Intergouvernementalismus. Drei Faktoren sind für den LI

wesentlich, um die Abgabe von Souveränität durch Regierungen zu erklären:

wirtschaftliche Vorteile, relative Verhandlungsmacht der wichtigsten Regierungen und

Anreize, die Vertrauenswürdigkeit zwischenstaatlicher Verhandlungen zu erhöhen

(Moravcsik 1998: 3). In den 80er-Jahren machte eine niedrige Wettbewerbsfähigkeit der

EU wirtschaftlich zu schaffen (Schmitter 2005: 264). Daher war es laut LI in den späten

1980er-Jahren wieder im Interesse der Regierungen Frankreichs, Deutschlands und

Großbritanniens, den drei mächtigsten Staaten mit der größten Autonomie, die Einigung

voranzutreiben, wobei der LI die Impulse dafür dieses Mal innerhalb der Gesellschaften

verortet. Francois Mitterand, das damalige französische Staatsoberhaupt, wollte die

nationale Wirtschaft stärken und befürwortete ein liberales Modell und die Herstellung

eines europäischen Marktes (Auth 2015: 166). In Deutschland machten sich verschiedene

gesellschaftliche Gruppen (Deutscher Industrie- und Handelstag, Bund Deutscher

Industrie, sowie Bauernverbände oder Gewerkschaften) für die Liberalisierung des

europäischen Marktes stark. Die Präferenz der Briten für eine Liberalisierung des Marktes

beruhte auf dem Interesse einflussreicher Banken und Versicherungen, sowie der

Konföderation der Britischen Industrie (KBI), die in einem gemeinsamen europäischen

Markt, Wachstumschancen und erhöhte Wettbewerbsfähigkeit erkannten. Die

maßgeblichen Entwicklungen im Integrationsprozess der 80er- und 90er-Jahre (monetäre

Integration oder Einheitliche Europäische Akte) sind laut LI Ergebnis rationaler und

normaler Überlegungen der Regierungen, bzw. beruhen auf der Übereinstimmung der

nationalen Präferenzen der Mitgliedsstaaten (Schieder 2006: 195). Zusätzlich spielte das

Motiv der Einbindung Deutschlands nach der deutschen Einigung Anfang der 90er Jahre

wieder eine zentrale Rolle, da eine Hegemonialstellung in Europa verhindert werden

sollte (Schmitter 2005: 265).

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Durch erneute integrationsfreundliche Schritte wurden wiederum weitere tiefe

Einigungsprozesse, wie der Vertrag von Maastricht und die Einführung des Euro in Gang

gesetzt, die eine neue Ära der spillovers in vielen Bereichen nach sich zogen und dem

Neofunktionalismus eine Renaissance bescherten.

Die europäischen Institutionen wie Kommission, Gerichtshof und EU-Parlament, die der

Neofunktionalismus hervorhebt, handeln heutzutage wie vorausgesagt

integrationsfreundlich und weitgehend autonom. Andererseits ist es selbst unter

neofunktionalistischen Theoretikern umstritten, ob rationale bürokratische Einigungen,

wie sie der Neofunktionalismus erwartet, unter der Beteiligung von 28 Mitgliedsstaaten

weiterhin möglich sind (Schmitter 2005: 268). Zudem deutet viel darauf hin, dass große

Felder der Integration erschöpft sind und die EU sich zunehmend mit nicht primär

bürokratischen Politikfeldern auseinandersetzen muss, auf die sich die Theorie nicht mehr

anwenden lässt (Schmitter 2005: 268). Das Auftreten nationaler Regierungen in der

Eurokrise, oder bezüglich der Flüchtlingsproblematik kann so gelesen werden, dass

nationale Regierungen den Verlauf der Integration wieder stärker bestimmen und der

liberale Intergouvernementalismus derzeit zumindest auf einigen Feldern ebenfalls hohes

Erklärungspotenzial besitzt.

5. Fazit

In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, den europäischen Integrationsprozess anhand

der wichtigsten Integrationstheorien zu erklären. Auf die zu Beginn gestellte Frage kann

damit geantwortet werden, dass die Gründungsstaaten des europäischen Projekts Belgien,

Deutschland, Italien, Luxemburg, Frankreich und die Niederlande sind. Ihre Motive sind

vor dem Hintergrund des Endes des zweiten Weltkrieges und seinen Folgen zu betrachten

und beruhten hauptsächlich auf wirtschaftlichen Interessen und dem Wunsch nach Frieden

in Europa. Laut Intergouvernementalismus waren die für die Gründung zentralen Akteure

die Regierungen souveräner Staaten, die rational der Verwirklichung ihrer Interessen

nachgingen und aufgrund machtpolitischer Erwägungen jede Entwicklung aushandelten,

immer mit dem Ziel, die nationale Souveränität nicht zu gefährden. Gründung und

Integration waren demnach also das Ergebnis diplomatischer Verhandlungen auf Basis

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nationalstaatlicher Interessen. Im Vergleich dazu erkennt der Neofunktionalismus auch

nicht-staatliche Akteure und supranationale Akteure an, die ein Interesse an Integration

entwickelten und den Prozess vorantrieben. Der Neofunktionalismus geht davon aus, dass

sich durch den spillover-Effekt einmal erzielte Einigungen weiterentwickelten und sich

auf andere Felder ausbreiteten, wobei in erster Linie nicht die Regierungen, sondern

bürokratische, wirtschaftliche und politische Eliten in und um die supranationalen

Akteure den Prozess trugen. Beide dargestellten Theorien zeigen wichtige Aspekte des

Integrationsprozesses auf und bieten wertvolle Erklärungsansätze. Sie gerieten im Laufe

der Jahre immer wieder in die Kritik, jedoch herrscht mittlerweile Konsens (Schmitter

2005: 268) darüber, dass keine Theorie alle Entwicklungen umfassend erklären kann,

sondern sowohl Stärken als auch Schwächen aufweist.

In ihren zeitgenössischen Ausprägungen sind sie daher bis heute zentrale Ausgangspunkte

für die Erklärung des europäischen Integrationsprozesses.

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Tch versichere an Eides statt, dass ich die nachstehende Arbeit eigenständ ig und ohne fremde Hi lfe angefert igt und mich anderer als der in der Arbeit angegebenen Hilfsmittel nicht bedient habe. Alle Stellen, die sinngemäß oder wörtlich aus Veröffentllchungen übernommen wurden, sind als so!ehe kenntlich gemacht.

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