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18. Jahrgang 2007, Nummer 4 PSYCHOLOGISCHE MEDIZIN 4 Zusammenfassung Beim Studium neurobiologischer Forschungsergebnisse treten aus der Perspektive einer 33 jährigen körperpsychotherapeutischen Praxis einzelne Aspekte in den Vordergrund, die für die alltägliche Arbeit Konsequenzen haben. Vorläufige Schlussfolgerungen, die sich aus dem interdisziplinären Dialog ergeben, lauten: 1. Die Logik der neurobiologischen Ergebnisse bringt Bestätigung und Anregung für eine methodenintegrative Körperpsychothera- pie. Sie trägt zu einer sinnvollen Reduktion von Komplexität, zu einer besonderen Orientierung und Schwerpunktsetzung im psy- chotherapeutischen Prozess bei. 2. Eine neurobiologisch inspirierte Körperpsychotherapie erlaubt prinzipiell, mit Hilfe eines gegenwartszentrierten, achtsamen und experimentellen Vorgehens die menschliche Körper-Seele-Geist- Einheit und alle Potenziale der TherapeutInnen und der PatientIn- nen ins Spiel zu bringen und bewusst heilsame neue Erfahrungen zu generieren und zu implementieren. 3. Veränderung kommt zu Stande durch Erweiterung oder neue Ver- knüpfung neuronaler Verbindungen im Gehirn. Um das für proble- matische Muster des Erlebens und Verhaltens zu erreichen, sollten sie in der Therapie mit den zugehörigen affektiv-sensomotori- schen Qualitäten aktualisiert und im Therapieraum verkörpert werden. Die daraus resultierenden Anliegen der PatientInnen und die von ihnen erwünschten Muster können dabei entwickelt und so weit verwirklicht werden, wie es im Therapieverlauf möglich ist. 4. Lösungen oder erwünschte Muster ergeben sich aus aufgesuchten und wieder belebten Ressourcen, aus Erfahrungen mit strukturbil- denden und effizienzsteigernden körpertherapeutischen Verfahren, aus einem anderen Umgang mit Bewusstseinsprozessen und insbe- sondere aus Veränderungen der Wahrnehmung und der Aufmerk- samkeitslenkung und aus psychodynamischer eröffnender körper- psychotherapeutischer Arbeit. 5. Geschichtlich bedingt fehlende Erfahrungen können in einer psy- chodynamischen eröffnenden Körperpsychotherapie noch erlebt und behindernde Folgen von Traumatisierungen können angemes- sener begleitet werden. Die Grundlagen dieser Überlegungen sind für PatientInnen und Aus- bildungskandidatInnen in grafischen Darstellungen vereinfacht zu- sammengefasst, die sich als Metaphern zur Information und im Dia- log eignen. Schlüsselwörter Neurobiologie; Bewusstseinszentrierte Körperpsychotherapie; Acht- samkeit; Bewusstseinszentrierung; experimentelles Vorgehen. Abstract Some possible implications of neurobiology for a mindfully based body psychotherapy are discussed. With a mindful awareness, the en- counter with the therapist can be experienced holistically in a senso- motoric-affective manner. Patients and therapists together are able to reconnect resources or create new and healing experiences. The work in mindfulness and a basic experimental attitude helps to modify psy- chodynamic psychotherapy in a meaningful way. In “opening body psychotherapy” the neuronal patterns underlying experience and be- haviour, the psychic structure with its corresponding representations and its history can be recalled, experienced in a differentiated way, and expanded by making new experiences. Key words Neurobiology, consciousness-centered body psychotherapy, atten- tiveness, centering of consciousness, experimental approach. Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie Christian Gottwald Vorbemerkung Der folgende Beitrag entstand aus Vorträgen im Mai 2007 beim 13. Internationalen Seminar für körperbezogene Psycho- therapie, Körpertherapie und Körperkunst in Bad Gleichen- berg und dem interdisziplinären Kongress für Körper- psychotherapie, Psychotraumatologie, Psychoanalyse und angrenzende Fachgebiete in Leipzig. Die hier vorgestellten, bewusst vereinfachenden Grafiken waren zunächst zu Lehr- zwecken entwickelt worden, um für Patienten und Ausbil- dungskandidaten neurobiologische Zusammenhänge und Hin- tergründe einer bewusstseinszentrierten körperpsychothera- peutischen Arbeitsweise möglichst anschaulich zu zeigen und verständlich zu machen. Dabei stellte sich heraus, dass einige der aufgeführten Metaphern offenbar so einleuchtend sind, dass sie sehr gerne als Kurzformeln im therapeutischen Ge- spräch genutzt werden. Anschauliche Bilder scheinen unmit- telbar einleuchtend zu sein. Diese und einige der folgenden In- formationen über die neurobiologischen Forschungen können ein sinnvoller Bestandteil des psychotherapeutischen Prozes- WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG/RESEARCH

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG/RESEARCH Eine ... Sicht12-07.… · psychotherapeutischer Arbeit. 5. Geschichtlich bedingt fehlende Erfahrungen können in einer psy- chodynamischen eröffnenden

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18. Jahrgang 2007, Nummer 4P S Y C H O L O G I S C H E M E D I Z I N 4

Zusammenfassung

Beim Studium neurobiologischer Forschungsergebnisse treten aus derPerspektive einer 33 jährigen körperpsychotherapeutischen Praxiseinzelne Aspekte in den Vordergrund, die für die alltägliche ArbeitKonsequenzen haben. Vorläufige Schlussfolgerungen, die sich ausdem interdisziplinären Dialog ergeben, lauten:1. Die Logik der neurobiologischen Ergebnisse bringt Bestätigung

und Anregung für eine methodenintegrative Körperpsychothera-pie. Sie trägt zu einer sinnvollen Reduktion von Komplexität, zueiner besonderen Orientierung und Schwerpunktsetzung im psy-chotherapeutischen Prozess bei.

2. Eine neurobiologisch inspirierte Körperpsychotherapie erlaubtprinzipiell, mit Hilfe eines gegenwartszentrierten, achtsamen undexperimentellen Vorgehens die menschliche Körper-Seele-Geist-Einheit und alle Potenziale der TherapeutInnen und der PatientIn-nen ins Spiel zu bringen und bewusst heilsame neue Erfahrungenzu generieren und zu implementieren.

3. Veränderung kommt zu Stande durch Erweiterung oder neue Ver-knüpfung neuronaler Verbindungen im Gehirn. Um das für proble-matische Muster des Erlebens und Verhaltens zu erreichen, solltensie in der Therapie mit den zugehörigen affektiv-sensomotori-schen Qualitäten aktualisiert und im Therapieraum verkörpertwerden. Die daraus resultierenden Anliegen der PatientInnen unddie von ihnen erwünschten Muster können dabei entwickelt und soweit verwirklicht werden, wie es im Therapieverlauf möglich ist.

4. Lösungen oder erwünschte Muster ergeben sich aus aufgesuchtenund wieder belebten Ressourcen, aus Erfahrungen mit strukturbil-denden und effizienzsteigernden körpertherapeutischen Verfahren,aus einem anderen Umgang mit Bewusstseinsprozessen und insbe-sondere aus Veränderungen der Wahrnehmung und der Aufmerk-samkeitslenkung und aus psychodynamischer eröffnender körper-psychotherapeutischer Arbeit.

5. Geschichtlich bedingt fehlende Erfahrungen können in einer psy-chodynamischen eröffnenden Körperpsychotherapie noch erlebt

und behindernde Folgen von Traumatisierungen können angemes-sener begleitet werden.

Die Grundlagen dieser Überlegungen sind für PatientInnen und Aus-bildungskandidatInnen in grafischen Darstellungen vereinfacht zu-sammengefasst, die sich als Metaphern zur Information und im Dia-log eignen.

Schlüsselwörter

Neurobiologie; Bewusstseinszentrierte Körperpsychotherapie; Acht-samkeit; Bewusstseinszentrierung; experimentelles Vorgehen.

Abstract

Some possible implications of neurobiology for a mindfully basedbody psychotherapy are discussed. With a mindful awareness, the en-counter with the therapist can be experienced holistically in a senso-motoric-affective manner. Patients and therapists together are able toreconnect resources or create new and healing experiences. The workin mindfulness and a basic experimental attitude helps to modify psy-chodynamic psychotherapy in a meaningful way. In “opening bodypsychotherapy” the neuronal patterns underlying experience and be-haviour, the psychic structure with its corresponding representationsand its history can be recalled, experienced in a differentiated way,and expanded by making new experiences.

Key words

Neurobiology, consciousness-centered body psychotherapy, atten-tiveness, centering of consciousness, experimental approach.

Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die NeurobiologieChristian Gottwald

Vorbemerkung

Der folgende Beitrag entstand aus Vorträgen im Mai 2007beim 13. Internationalen Seminar für körperbezogene Psycho-therapie, Körpertherapie und Körperkunst in Bad Gleichen-berg und dem interdisziplinären Kongress für Körper-psychotherapie, Psychotraumatologie, Psychoanalyse und angrenzende Fachgebiete in Leipzig. Die hier vorgestellten,bewusst vereinfachenden Grafiken waren zunächst zu Lehr-zwecken entwickelt worden, um für Patienten und Ausbil-

dungskandidaten neurobiologische Zusammenhänge und Hin-tergründe einer bewusstseinszentrierten körperpsychothera-peutischen Arbeitsweise möglichst anschaulich zu zeigen undverständlich zu machen. Dabei stellte sich heraus, dass einigeder aufgeführten Metaphern offenbar so einleuchtend sind,dass sie sehr gerne als Kurzformeln im therapeutischen Ge-spräch genutzt werden. Anschauliche Bilder scheinen unmit-telbar einleuchtend zu sein. Diese und einige der folgenden In-formationen über die neurobiologischen Forschungen könnenein sinnvoller Bestandteil des psychotherapeutischen Prozes-

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ses werden. Sie bereichern das psychotherapeutische Hand-werkszeug, sind erfahrungsgemäß aber noch hilfreicher im Be-reich des Coachings und der Persönlichkeitsentwicklung, woalle Anklänge an übliche psychotherapeutische Vorstellungeneher Abwehr erzeugen.Meine Überlegungen werden sich vor allen Dingen darauf be-ziehen, welche neurobiologischen Forschungsergebnisse fürbewusstseinszentrierte körperpsychotherapeutische Praxis be-sonders relevant zu sein scheinen, welche Anregungen sich da-raus ergeben, vor allem aber, welchen praktischen Wert sie fürdie alltägliche Arbeit haben. Ich werde als Psychotherapeutunserer geisteswissenschaftlichen und somit holistischen, sub-jektiven, hermeneutisch verstehenden und deutenden Metho-dologie treu bleiben und in erster Linie auf solche Aussagender Neurobiologie zurückzugreifen, für die bereits ausreichen-de Hinweise und ein großes Einverständnis bestehen. Ich erlebte in den letzten zehn Jahren während meines die Pra-xis begleitenden Studiums von neurobiologischen Forschungs-ergebnissen keine nennenswerten Widersprüche gegen die Er-fahrungen der täglichen Praxis. Ich sah mich im Gegenteil inmeiner Arbeit bestätigt und erhielt neue Anregungen, fühltemich aber veranlasst, manche Gesichtspunkte anders zu ge-wichten. Das Studium half mir, mich einfacher und effektiverim psychotherapeutischen Prozess zu orientieren, Entwicklun-gen in den therapeutischen Prozessen besser zu verstehen undmanche Schwerpunkte anders zu setzen.

Körperpsychotherapie und Neurobiologie

Die Psychotherapie und speziell die Körperpsychotherapie er-fährt durch die Neurobiologie im Augenblick eine eindrucks-volle Bestätigung, dazu potentiell auch verschiedene Anregun-gen. Traditionell gehört die Psychotherapie zu den Geistes-und Sozialwissenschaften. Sie beinhaltet ein am Ganzen aus-gerichtetes, hermeneutisches, also verstehendes und deutendesVorgehen. Die Neurobiologie ihrerseits ist Naturwissenschaft.Ihre Betrachtungs- und Vorgehensweise ist reduktionistisch,um die zu untersuchenden Faktoren überschaubar und kontrol-liert zu halten. Betrachtungsweise und Nomenklatur der beiden Wissenschaftszweige sind nicht deckungsgleich. ImBewusstsein dieses Unterschiedes versuche ich in diesem Bei-trag, einige der wesentlichen Forschungsergebnisse und Hypo-thesen der Neurobiologie zu reflektieren, die aus der Sicht dereigenen körperpsychotherapeutischen Praxis als wesentlich er-scheinen. Es handelt sich bei dieser Art körperpsychotherapeutischenArbeitens um einen methodenintegrativen Ansatz im Rahmeneines erweiterten synoptischen systemisch-biopsychosozialenTheorieverständnisses, das sich besonders durch neurobiologi-sche und entwicklungspsychologische Forschungen gestütztfühlen darf. Die bewusstseinszentrierte Praxis wird darüber hi-naus bestätigt durch die neuere „Achtsamkeitsforschung“,welche als „dritte Welle“ der verhaltenstheoretischen Thera-pieentwicklung zu einer deutlichen Bandbreitenerweiterungtherapeutischer Möglichkeiten beiträgt (Sonntag 05). Durchdie Fundierung der experimentellen und erlebnisbezogenenArbeit in einer Bewusstseinshaltung von Achtsamkeit werdendie PatientInnen zu zentralen MitarbeiterInnen im therapeuti-

schen Geschehen. Die Fülle möglicher Wirkfaktoren und dasganze Instrumentarium therapeutischer Beeinflussung könnenausdrücklich und bewusster in die Therapie einbezogen und sosehr spezifisch die „Notwendigkeiten“ der PatientInnen undeine Vielzahl von relevanten Rahmenbedingungen aufeinanderabgestimmt werden. Die psychotherapeutische Arbeit fügt sichein in ein heilkundliches und selbstverständlich psychosomati-sches Gesamtkonzept, das wahlweise durch die Raster einerkognitiv-behavioralen, systemischen und psychodynamischen,zukünftig vielleicht auch einer neurobiologischen Betrach-tungsweise beschrieben werden kann. In letzter Zeit wird immer häufiger dafür plädiert, dass psycho-dynamische, verhaltenstherapeutische und systemische Ele-mente mit Möglichkeiten aus der humanistischen Psychologieintegrativ verbunden werden, soweit sie die Grundbedin-gungen einer empirischen Stichhaltigkeit und logischen Inte-grationsfähigkeit erfüllen (vergleiche Kanfer et al. 2006). Diefolgenden Überlegungen können sich auch durch metatheoreti-sche Konzeptionen, wie sie besonders von Grawe, Petzold undEgger entwickelt wurden, gestützt fühlen (Zusammenfassungsiehe Egger 2007). Immer häufiger – beispielsweise im Rah-men des Symposions „Gehirn und Körper“ – wird auch disku-tiert, ob eine neurobiologische Betrachtungsweise von thera-peutischen Prozessen die Grundlage für einen sinnvolleninterdisziplinären und schulenübergreifenden Dialog werdenkönnte.

Grundlagen

Freuds Anliegen, seine Methode neurobiologisch zu fundieren,erfüllt sich in einem erstaunlichen Ausmaß. Dass Psychothera-pie wirksam ist, war über die klinische Praxis und die Psycho-therapieforschung längst erwiesen. Psychotherapie als Profes-sion darf sich nun aber auch naturwissenschaftlich bestätigtund gestützt fühlen. Es beeindruckt, dass sie eindeutig einenEinfluss auf die organische Struktur des Gehirns hat und dassein solcher neuroplastischer Einfluss auf die neuronalen Erregungsmuster und Schaltkreise über neue Erfahrungen lebenslang möglich ist. Darüber hinaus aber gibt es eine Reiheweiterer Gesichtspunkte, die sowohl für PatientInnen und The-rapeutInnen von grundlegender Bedeutung sind.So beweisen die Neurowissenschaften sehr eindrucksvoll dieinnige und niemals auflösbare Verschränkung von Körper,Seele und Geist. Sie werfen damit erneut Licht auf uralte phi-losophische Themen. In keinem Moment darf, folgt man denmodernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen, irgendeine die-ser Dimensionen ohne die anderen Elemente unseres affektiv-sensomotorischen Einsseins gedacht oder behandelt werden.Obgleich das inzwischen als Basiswissen anerkannt sein müss-te, fällt auf, wie eingefleischt die Denkweise in der alten carte-sianischen Dualität zwischen Körper und Geistoffenbar ist unddass selbst in wissenschaftlichen Veröffentlichungen Autorenimmer wieder in diese duale Denkweise zurückfallen. Viel-leicht kann das mit den Feststellungen des Teams um AntonioDamasio und seiner Frau erklärt werden, Sie kamen durch denAusguss von menschlichen Schädeln aus der Steinzeit zur An-nahme, dass sich unser Gehirn wahrscheinlich seit dieser Zeitnicht mehr wesentlich in seiner Struktur verändert hat. So ist

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Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie

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die moderne quantenphysikalische Theorie, der zufolge es vielmehr als drei Dimensionen gibt, dem menschlichen Erleben,weil es auf diesen alten Gehirnstrukturen basiert, nicht unmit-telbar zugänglich; das lässt uns aber hoffentlich auch im Alltageine Ahnung bekommen, wie begrenzt wir in unserem übli-chen Bewusstseinszustand sind. Die alte Weisheit, dass die von den Griechen als aletheia be-zeichnete „Wahrheit“ für uns Menschen im wesentlichen ver-borgen bleiben wird, findet Bestätigung in dieser quantenphy-sikalischen Annahme einer vieldimensionalen Welt mitunüberschaubaren Möglichkeiten. Damit trifft sich die abend-ländische Philosophie mit der modernen Naturwissenschaft.Das bedeutet insofern eine Rückendeckung für die Psychothe-rapie soweit sie sich als geisteswissenschaftliche Professionversteht, die eine Fundierung auch in der Philosophie hat. DieArt der Fundierung beeinflusst unser Bewusstsein und unserenBlick auf die Welt und die therapeutische Arbeit. Heideggerbefasste sich mit dieser Thematik und benannte den Doppel-charakter der Wahrheit oder des Seins als Verborgenheit, dieauf ihr Entbergen wartet. Wir Menschen können uns dafür öff-nen. Eine derartige existenziale Perspektive ist grundsätzlichin der Therapie und Persönlichkeitsentwicklung möglich undmeines Erachtens sinnvoll. Nicht von ungefähr werden durchdie neurobiologischen Forschungen alte philosophische The-men neu diskutiert (Prinz 2002, Metzinger 2003). Die Neurowissenschaften haben die Zusammenhänge unsererKörper-Seele-Geist-Einheit in immer neuen Experimenten be-stätigt (Übersicht bei Niedenthal 2005, Carter CS, Harris J,Porges SW 2007). Wir können die wechselseitigen Bezüge inder Praxis nicht genügend berücksichtigen. Einige Beiträgeder Neurobiologie berühren sehr grundsätzliche Fragen.Manche Erkenntnisse werden im interdisziplinären Diskurs zuselten genannt. Zunächst sollen deshalb die folgenden Grund-lagen therapeutischer Arbeit angesprochen werden: Menschensind mit Bewusstsein begabt, aber unweigerlich an ihre mate-rielle Substanz (Materie = Muttersubstanz) gebunden. WirMenschen mit unserem steinzeitlichen Gehirn können nicht an-ders, als uns in den Dimensionen von Raum und Zeit zu erle-ben. Jede der Ebenen der menschlichen Existenz (Körper,Seele, Geist) spielt neurobiologisch nachweisbar eine großeRolle, ist jedoch innig mit den anderen Ebenen und mit den Di-mensionen von Raum und Zeit verquickt. Vereinfacht ausge-drückt: wir beschäftigen uns beispielsweise in der mit der Zeitverbundenen seelischen Ebene mit unsern Erinnerungen, Af-fekten und Gefühlen. Auf der mit dem Raum verbundenen kör-perlichen Ebene werden unsere Sinne, Berührungen und Be-wegungen ins Spiel aufgenommen. Die geistige Ebene findetBerücksichtigung im unterschiedlichen Umgang mit Aufmerk-samkeits- und Bewusstseinsprozessen. Die verschiedenen Ebe-nen werden in den unterschiedlichen Therapieformen sehr un-terschiedlich gewichtet und berücksichtigt. Dabei wird derEinfluss von jeder Ebene auf die menschliche Befindlichkeit,auf das Erleben und Verhalten mehr oder weniger ersichtlich.

Psychotherapie ist Teil der Heilkunde. Es geht darum, systema-tisch Einfluss zu nehmen auf das Erleben und Verhalten vonMenschen. Dabei gibt es zwei thematische Schwerpunkte: Da-sein oder Sosein und Beziehung oder Kontakt. Ein integrativerheilkundlicher Ansatz der Psychotherapie könnte sich meines

Erachtens in einem weiten Spannungsbogen zwischen ihrenschamanistischen Wurzeln und der modernen Naturwissen-schaft verstehen. Beide Enden dieses Spannungsbogens habendabei in meinem Verständnis durchaus Bezüge zueinander. ZurErläuterung letztlich schamanistischer Aspekte möchte ich dieBerührungspunkte von Psychotherapie und Prozessen der Per-sönlichkeitsentwicklung mit den Symbolen von Heilungs- undTransformationsprozessen in verschiedenen Kulturen aufgrei-fen. Die folgenden Symbole beschäftigen sich mit dem themati-schen Schwerpunkt des Daseins und Soseins. Sie erlauben As-soziationen zu den angesprochenen dreidimensionalenZusammenhängen und ein verdichtetes Bewusstsein über diemenschliche Körper-Seele-Geist-Einheit und die komplexenGrundlagen menschlichen Daseins. Diese sollten in Verände-rungsprozessen berücksichtigt werden. Die Symbole sprechenfür sich selbst, so dass sie lediglich knapp umschrieben werden.Im Stab des Äskulap, dem Standessymbol der Ärzte, windetsich eine Schlange gegenläufig (wie in der DNS-Spirale) umeinen in der Senkrechten positionierten Stab (Abb. 1).

Sehr verwandt wirkt der Stab des Gottes Merkur, der so ge-nannte Caduceus. Erneut finden wir die zwei Schlangen. DerStab hat zusätzlich im oberen Teil zwei Flügel. Könnte dasetwas mit der geistigen Dimension zu tun haben? (Abb. 2).

Im nächsten Bild finden wir eine modifizierte Darstellungeiner alten indischen Abbildung der so genannten Kundalini-kraft. Wieder sehen wir diese sich gegenläufig aufwindendenSchlangen, die sich im Bereich der Wirbelsäule als Schlangen-kraft, aufwärts winden können. Diese so genannte Kundaliniruht zunächst in einem im Beckenboden befindlichen Energie-zentrum, im untersten Chakra, und wird in bestimmten Formendes Yoga geweckt und zu der genannten Form der Entfaltunggeführt (Abb. 3).

Mir fiel die Verbindung zum bekannten chinesischen Jin-Yang-Symbol auf, die sich ergibt, wenn wir die zwei Schlangen auseiner senkrechten Aufsicht anschauen. Das Jin-Yang-Symbolerscheint (Abb. 4).

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Christian Gottwald

Abb. 1

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In manchen Darstellungen schlingt sich die Schlange der Ver-suchung ebenfalls in einer merkwürdigen Weise um den Baum(der Erkenntnis). Heißt aus dem Paradies vertrieben sein viel-leicht, die Potenziale seiner Existenz zu ahnen, aber den Zu-gang zu ihnen verloren zu haben? (Abb. 5)

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Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5

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Weitere auffällige Symbole in diesem Zusammenhang sind dasalte ägyptische Lebensymbol, das Ankhzeichen (Abb. 6), das inmanchen Darstellungen ebenfalls mit einer doppelköpfigenSchlange auftaucht.

Der Lebensbaum in seinen drei Dimensionen taucht interes-santerweise in anderen Kulturräumen auf, beispielsweise inden Darstellungen eines Indianerstammes, der Navajo, und imLebensbaum der Kelten, dem Ygdrasil.Könnte das in unserm Kulturraum so zentrale Zeichen desKreuzes ebenfalls als ein ähnlich gearteter dreidimensionalerHinweis einer mehrdimensionalen Wahrheit verstanden wer-den? Um den Bogen noch weiter zu spannen erlaube ich mirnoch einen Ausflug in sprachwissenschaftliche Zusammenhän-ge: Die angesprochene „Ganzheit“ der menschlichen Körper-Seele-Geist-Einheit ist in dem Begriff von „Heilung“ genau soenthalten wie in den Begriffen „heilig“ oder im englischen„health“, die alle den Bedeutungsaspekt „ganz, unversehrt“enthalten. Ein zweiter Wortstamm könnte für unsere Professi-on von Bedeutung sein: Als Mediziner (medicus) könnten wirwissen, dass unsere Berufsbezeichnung mit dem lateinischen„mederi“ (heilen ) und dem griechischen „medomai“ (be-dacht sein) verbunden ist, das in dem Begriff „Meditation“ebenfalls enthalten ist.

Für unsere praktische Arbeit lohnt es sich, einige der obigenZusammenhänge und Bezüge zu eignen. Neurobiologisch un-terstützt ist eines: Von jeder der miteinander verbundenenEbenen der Körper-Seele-Geist-Einheit aus ist ein Einfluss aufalle anderen Dimensionen dieser Ganzheit möglich. Dafür gibtes inzwischen eine ganze Reihe detaillierter Belege (Übersichtbei Gottwald 2005, 2006). Es liegt nahe und ist auf die Dauer

unausweichlich, in der Therapie und in Prozessen von Persön-lichkeitsentwicklung jede dieser Einflussmöglichkeiten zu be-rücksichtigen. Auf die seelische Ebene unter Einbeziehung derGedanken, Überzeugungen und Gefühle und ihrer geschichtli-chen Hintergründe einzuwirken ist inzwischen in allen Psy-chotherapien mit einem psychodynamischen Verständnisselbstverständlich, aber auch in der kognitiv-behavioralenTherapie. Das Erleben und Verhalten über die körperlicheEbene zu beeinflussen, ist weniger Allgemeingut, jedoch sehrleicht und eindrucksvoll zu bewerkstelligen. Bewegung undBerührung sind bisher vor allem in körpertherapeutischen undkörperpsychotherapeutischen Behandlungen selbstverständ-lich. Die geistige und spirituelle Dimension (die vertikaleAchse unseres Menschseins) blieb bisher überwiegend dentranspersonalen Psychotherapien vorbehalten. Sie kann undsollte meiner Meinung nach auch in einer allgemeinen Psycho-therapie und ganzheitlichen Heilkunde berücksichtigt werden.Beispielsweise kann ohne jedes aktive Tun eine Transformati-on des Erlebens aus reiner Präsenz im Dasein entstehen.Die Eignung und Integration eines weiteren, neurobiologischeindeutig bewiesenen Sachverhalts für den psychotherapeuti-schen Prozess kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Erwird jedoch von vielen Therapeuten und erst recht von vielenPatientInnen nicht erkannt, weil er der Wirkungsweise unseresGehirns und unserer Wahrnehmung nicht unmittelbar zugäng-lich und erst recht nicht einfach evident ist. Dieser in der Phi-losophiegeschichte schon lange bedachte und seit einiger Zeitvon der Neurobiologie als Thema aufgenommene Sachverhaltwird meines Erachtens in den meisten interdisziplinären Be-gegnungen zwischen Neurobiologie und Psychotherapie zuwenig in den Mittelpunkt gestellt: Unsere erlebte Wirklichkeitwird von Sekunde zu Sekunde neu kreiert. Die äußere chemi-sche und physikalische Realität wird über Schallwellen, Pho-tonen, Lichtwellen usw. in den Rezeptoren der Sinnesorganein elektrochemische Signale übersetzt, die in den Neuronenweitergeleitet werden. An den Verbindungsstellen, den Synap-sen, wird diese Erregung in die chemischen Signale der Neuro-transmitter übersetzt und in den nachgeschalteten Neuronenerneut elektrochemisch weitergeleitet. Aus dem Gemisch oderauf dem Boden dieser elektrochemischen und chemischen En-titäten, die von äußeren chemischen und physikalischen Quali-täten von Dingen absolut unterschiedlichen sind, entsteht imGehirn in einer letztlich noch nicht geklärten Weise als emer-gente Qualität unser Erleben und Verhalten.Gleichzeitig ist dieses hier und jetzt immer neu generierte Er-leben und Verhalten ganz wesentlich durch gespeicherte Vor-erfahrungen geprägt. Neuronen repräsentieren Erfahrungendurch ihre Verbindungen untereinander und durch die Art undStärke ihrer Verbindung. Das geschieht in Zeiträumen von Mi-nuten, wie beobachtet werden kann, wenn durch zwei mitei-nander verbundene Neuronen in einer Petrischale Strom gelei-tet wird.Alle Erfahrungen, besonders aber die in der frühen Kindheitgemachten (siehe weiter unten), prägen die Form, Größe unddie Anzahl der neuronalen Verbindungen, der so genanntenSynapsen. Veränderungen kommen dabei immer zu Standedurch gegenwärtige neue Erfahrungen. So kann unser Gehirngar nicht anders, als ein Leben lang zu lernen. Entweder wer-den alte Muster von Erfahrungen und Verhaltensweisen wie-

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Christian Gottwald

Abb. 6

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derholt oder neue Erfahrungen gemacht. Beides formt dieStruktur der neuronalen Verbindungen und der im Gehirn ent-stehenden Erregungsmuster. Von der Qualität von Erfahrungen im Kontakt mit Umgebun-gen ist gleichzeitig abhängig, wie sehr unsere Gene in ihrenPotenzialen „angezapft“, oder, wie Neurobiologen sagen, ex-primiert oder unterdrückt werden. Stress und Wohlbefindensorgen für unterschiedliche Genexpression. In nächster Zeitwerden die Forschungen über günstige oder ungünstige Umge-bungskonstellationen ein immer genaueres Wissen über heilsa-me oder Krankheit fördernde Bedingungen bringen (Literatur-zusammenfassung bei Bauer 2002). Gerald Edelman hat deutlich gemacht, wie ein erfahrungsab-hängiger Prozess der Umformung im neuronalen Netzwerk einLeben lang unumkehrbar weiter läuft. Wir kreieren ununter-brochen durch unsere Erfahrungen und durch unser Verhaltendie Qualität unserer erlebten Wirklichkeit und die zu Grundeliegende neuronale Struktur des Gehirns. Nicht genutzte Ver-bindungen schrumpfen oder werden aufgelöst (pruning), starkgenutzte Verbindungen verstärken sich. Dieser Prozess verän-dert die Struktur jedes Gehirns unabhängig von den geneti-schen Grundlagen in höchst individueller Weise. Eine Rück-kehr in den Ausgangszustand des neuronalen Netzwerkes istunmöglich (s. Abbildung). Aufgerufene Erinnerungen werdenerfahrungsabhängig immer weiter verändert. Jede aufgerufeneErinnerung wird in mehr oder weniger veränderter Form wie-der abgespeichert (Loftus 1995, 2001). Gleichzeitig ist vonBedeutung, dass Muster und ihre neuronalen Grundlagenumso stabiler sind, je früher sie, z. B. schon vorgeburtlich, an-gelegt wurden (Abb. 7).

Die genannte Art der Wirklichkeitskonstruktion entzieht sichzunächst unserem spontanen Bewusstsein genauso wie derUmstand, dass wir nicht anders können, als uns und die Weltin den genannten drei Dimensionen zu erleben. Die Einsicht indiesen ewigen hier und jetzt stattfindenden (re-)konstruieren-den Prozess unseres Bewusstseins und unseres Erlebens sensi-

bilisiert (hoffentlich) TherapeutInnen und PatientInnen für diePotenziale dieses ununterbrochenen schöpferischen Prozesses.Wenn beispielsweise körperliche Experimente wie Verände-rungen des Atems und der Haltung erstmals einen Eindruckdavon geben, dass unser gegenwärtiges Erleben und Verhaltenin dieser ewigen Gegenwart in der Verbindung mit und aufdem Boden der Hirnfunktionen immer wieder neu kreiert wird,macht das einen wesentlichen erlebbaren Unterschied und öff-net die Augen dafür, dass wir Menschen mit zunehmender Be-wusstheit in diesem Spiel der Wirklichkeiten Einfluss nehmenkönnen und die erlebte Wirklichkeit mitgestalten können. Dieplastische Qualität unseres Daseins zu begreifen, verändertgrundlegend die Voraussetzungen für therapeutische Wirk-möglichkeiten und macht uns bereiter für neue Wahrneh-mungsweisen. Wir können uns vergegenwärtigen, dass die er-lebte dreidimensionale Wirklichkeit höchst relativ ist und dassjeder Augenblick wesentlich mehr Potenziale enthält als die,die in der automatisch rekreierten subjektiven Wirklichkeit re-präsentiert sind. Derartige Potenziale werden in der therapeuti-schen intersubjektiven Begegnung immer selbstverständlicherzugänglich werden, je öfter verkörperte, sinnenhafte Erfahrun-gen in einem achtsamen Bewusstseinszustand ausgewertet undgleichzeitig die hier vorgestellten Überlegungen und Darstel-lungen, beispielsweise über die Mehrdimensionalität unsererMöglichkeiten, angesprochen werden. Das Gehirn eines Menschen repräsentiert Erfahrungen aus sei-ner Vergangenheit. Darüber soll jetzt nachgedacht werden. Esist umso beeindruckbarer, je jünger Menschen sind, je intensi-ver die Eindrücke sind und je öfter diese wiederholt werden.Der amerikanische Neurobiologe Antonio Damasio nennt diein jungen Jahren abgespeicherten Erfahrungen des Kindes vonsich selbst mit den Eindrücken aus der Umgebung, also beson-ders den Beziehungspersonen, den zugehörigen Gefühlen unddem begleitenden sensorischen Input, dispositionelle Reprä-sentationen. Damit findet die Objektbeziehungstheorie derPsychoanalyse eine naturwissenschaftliche Entsprechung. DasGehirn wird mit seinen Funktionen immer selbstverständlicherals soziales Organ verstanden, das besonders durch zwischen-menschliche Erfahrungen geprägt ist. Die vielen Erfahrungenin der Kindheit werden offenbar zu Mittelwerten verschmol-zen und in den verschiedenen affektiven, sensorischen undmotorischen Karten des Gehirns mehrfach parallel abgespei-chert. Sie bilden die Grundlage dessen, was wir üblicherweiseals psychische Struktur bezeichnen. Daniel Stern spricht indiesem Zusammenhang vom impliziten Beziehungswissenoder von RIGs (Representations of Interactions that have beenGeneralized). Bei jedem äußeren Reiz greift das Gehirn auf dieentsprechenden abgespeicherten Muster oder Schemata desErlebens und Verhaltens zurück, in denen die frühen Erfahrun-gen enthalten sind (Abb. 8).Die frühesten Eindrücke des Fetus, des Säuglings und Klein-kindes bis zum 18. Lebensmonat sind aufgrund der Unreifedes Gehirns nicht mit Worten und Bildern verbunden. Sie sindim so genannten impliziten Gedächtnis verankert. Dieses ent-hält unbewusste Erinnerungsspuren aus abgespeicherten Ele-menten, die den verschiedenen affektiven, sensorischen undmotorischen Karten des Gehirns entstammen. Derartige Ein-drücke prägen unsere elementarsten Eindrücke von uns undder uns umgebenden Welt. Da wir keinerlei Distanz zu ihnen

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Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie

Abb. 7

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haben, sind sie zunächst kaum bewusst. In speziellen be-wusstsseinszentrierten und/oder körperpsychotherapeutischenProzessen kann man diese unser Erleben und Verhalten so prägenden Grundlagen wieder auffinden und allmählich diffe-renzierend erkennen, dass wir auch in ich-syntonen Eindrü-cken, Überzeugungen und Verhaltensweisen durch unsere Ge-schichte geprägt wurden Diese Einsicht kann Veränderungenzur Folge haben, die alle Bereiche des Erlebens und Verhal-tens im wahrsten Sinn des Wortes von Grund auf betreffen.Auch Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsmuster sind er-lernt. Das merkt man deutlich dann, wenn man sich beispiels-weise die bekannten aus Fleckenmustern auftauchenden Bildervon Kühen oder Dalmatinern anschaut, die fast ganz in einementsprechend gefleckten Hintergrund verschwinden. Dochwenn man erst einmal entdeckt hat, dass sich die Flecken zueinem Abbild von Dalmatinern ordnen lassen, fällt es schwer,das Fleckenmuster noch einmal unbefangen anzusehen, ohnesogleich die Gestalt dieser Tiere zu erleben. Dass unsereWahrnehmung höchst subjektiv und geschichtlich geprägt ist,ist für uns nicht unmittelbar einsichtig. Die Informationen da-rüber und entsprechende, Einsicht fördernde Erfahrungenverändern die Bereitschaft, die eigenen Wahrnehmungen ange-messen infrage zu stellen. Das hilft nicht nur in der gemeinsa-men Arbeit von TherapeutInnen und PatientInnen, sondern injeder Art der Kommunikation, zum Beispiel auch in Paarbe-ziehungen. Es kann sehr erleichternd sein, wenn Menschenmerken, dass alles, was sie mit Aufmerksamkeit wahrnehmen,subjektiv „größer und mehr“ wird und dass Inhalte und Erleb-nismuster verblassen, wenn sie ihnen die Aufmerksamkeit ent-ziehen. Aufmerksamkeitsmuster sind erlernt und beeinfluss-bar. Das gilt auch für Verhaltensmuster. Was wir Erinnerungennennen, wird genau genommen in der Gegenwart immer wie-der neu kreiert. Kann man sie unmittelbar mit Worten und Bil-

dern verbinden, werden sie als explizite Erinne-rungen bezeichnet. Der weit größere Teil der ge-speicherten Eindrücke besteht jedoch in implizitenErinnerungen, die unser Erleben und Verhalten be-stimmen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Inder Körperpsychotherapie wird in diesem Kontextvom Körpergedächtnis gesprochen. Implizites Ge-dächtnis dürfte gleichzeitig das neurobiologischePendant des Unbewussten der Psychoanalyse dar-stellen.

Jeder Mensch ist unbewusst von alten Eindrückenumgeben, die permanent durch äußere Reize aufge-rufen werden. Dieses basale Wissen habe ich eben-falls in der unten dargestellten Metapher verdeut-licht, auf die sich PatientInnen sehr leicht beziehen:Ein Mann begegnet einer Frau. Zunächst kann ernicht merken, dass er quasi in einer mehr oder weni-ger durchsichtigen Käseglocke alter Eindrücke ausseiner Vergangenheit steckt. Er ist umgeben vonSchatten oder Geistern seiner Vergangenheit (alsoseinen dispositionellen Repräsentationen), die inder heutigen Zeit und in diesem Fall in der Begeg-nung mit der Frau auftauchen als innere Bewertun-gen oder Stimmen innerer Antreiber oder als ein

dumpfes Gefühl, sich entmutigt zu fühlen. Sie sind Abkömm-linge von Objektrepräsentanzen oder Abkömmling einer frü-hen Selbstrepräsentanz und entsprechender mit solchen Reprä-sentanzen verbundener Gefühle und Sinneserfahrungen. DieMetapher von der „Käseglocke“ umschreibt das dramatischeFaktum, dass jeder von uns in einer solchen Welt aus Eindrü-cken aus der Vergangenheit lebt, ohne es zu merken. DieserUmstand rührt aus dem spontanen, nicht zugänglichen Wesenunserer Gehirnfunktion; er verursacht viele Missverständnissein der Kommunikation. In der Psychoanalyse wird er als Pro-jektion bezeichnet. Er ist gleichzeitig die Grundlage dessen,was Freud Wiederholungszwang nannte (Abb. 9).Schon zu Beginn der Therapie entlastet es manche PatientIn-nen sehr, wenn sie diese genannten neurobiologischen Zusam-menhänge verstehen und merken, dass viele ihrer so schwerverständlichen Eindrücke und „Wahrnehmungen“ permanent

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Christian Gottwald

Abb. 8

Entstehung von Repräsentanzen

Grundmuster desErlebens & Verhaltens

Abb. 9

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in der Gegenwart aufgerufene Wiederholungen der Vergan-genheit sind. Nicht zuletzt in Paarbeziehungen kann es entlas-tend sein, wenn die Partner realisieren, dass ein solcher Aufrufvon alten Eindrücken eine zunächst unvermeidbare Leistungihres Gehirns ist. In einem bewusstseinszentrierten psychody-namischen, die geschichtlichen Hintergründe eröffnenden kör-perpsychotherapeutischen Vorgehen werden die Abkömmlin-ge der gegenwärtigen psychischen Struktur (der Käseglocke)als Signale oder Stimmen im Raum verkörpert und dadurchleichter erfahrbar gemacht. Anschließend tauchen die ur-sprünglichen Repräsentanzen der ursprünglichen Objekte unddie ursprünglichen eigenen Gefühle sehr leicht auf und werdenzugänglich für ein differenzierendes Verständnis und neueheilsame Erfahrungen. Bildhaft für die PatientInnen ausge-drückt: Der Weg, der zur psychischen Struktur der „Käseglo-cke“ geführt hat, wird umgekehrt zum Weg zu einem differen-zierenden Verständnis des eigenen geschichtlich geprägtenErlebens und Verhaltens und führt anschließend zu neuen Er-fahrungen.In einer schematischen Darstellung für PatientInnen versucheich den Beginn dieses Weges darzustellen, wie sich ein Kindmit seiner ganzen Empfindsamkeit in der Welt vorfindet. Diein der Bibel dargestellte Metapher der Vertreibung aus demParadies zeigt auf, wie unausweichlich wir Menschen von An-fang unseres Lebens an Erfahrungen mit mehr oder wenigerMangel oder Traumatisierung machen müssen (erster Ring).Die niemals ideale Umgebung löst im Kind mehr oder wenigerschmerzhafte und gefühlsgeladene Reaktionen aus, die sehrhäufig von den wichtigsten Beziehungspersonen nicht ganzangemessen angenommen werden. Sie müssen deshalb vomKind so gut wie möglich abgewehrt werden. Doch auch dieseAbwehr findet unter Umständen keine rückhaltlose Unterstüt-zung. Das Kind spürt zum Beispiel Hunger oder Schmerz. Esschreit. Es darf aber nicht so lange wütend oder verzweifeltschreien. Deshalb lernt es, auch diese Reaktionen seiner Um-gebung anzupassen oder bestimmte Situationen zu vermeiden.Selbstverständlich hat auch eine derartige Anpassung oderVermeidung wieder erhebliche Auswirkungen (Abb. 10).

Wenn wir uns in der Gegenwart Menschen annähern, sindgleichzeitig alle zugehörigen Muster mit ihren unterliegendenfrüheren Erfahrungen im Gehirn aufgerufen. Das passiert un-weigerlich und unwillkürlich, selbst dann, wenn wir uns alsTherapeutInnen in bester Absicht zur Verfügung stellen möch-ten. Solche Reaktionen entstammen im Wesentlichen dem im-pliziten Gedächtnis, sind also nicht unbedingt mit konkretenErinnerungen, Worten und Bildern aus dem expliziten Ge-dächtnis zu verbinden. Da tauchen hervorgerufen durch einenäußeren Auslöser wie zum Beispiel eine bestimmte Bemer-kung des eigenen Partners ein bewertender Gedanke auf undeine Irritation oder eine Verspannung oder ein Schweißaus-bruch. In der Psychoanalyse wird versucht, die Hintergründevon solchen impliziten Erfahrungen durch freie Assoziationzugänglich zu machen. In einem bewusstseinszentrierten kör-pertherapeutischen Vorgehen können derartige Elemente ausdem impliziten Gedächtnis in der Gegenwart im Raum reprä-sentiert, also verkörpert werden und in einer Bewusstseinshal-tung von Achtsamkeit schrittweise bewusst erlebt werden. An-schließend werden sehr leicht die frühen Gefühle wiederlebendig, in denen diese Erinnerungen entstanden sind. Ineiner solchen Verfassung sind Menschen dann offener für neueheilsame Erfahrungen.Im letzten Abschnitt haben wir überlegt, wie unsere gegenwär-tigen Verhaltensweisen durch die erworbenen Strukturen unse-res Gehirns bestimmt sind. Nun ist zu bedenken, dass dieStruktur unseres Gehirns und dadurch unser Erleben und Ver-halten nicht nur in der frühen Kindheit, sondern ein Leben langdurch Erfahrungen geprägt wird. Dieser Umstand ist inzwi-schen neurobiologisch vielfach belegt. Er wird Neuroplastizi-tät genannt. Jede ganzheitliche, also sensomotorisch-affektiveErfahrung in der Gegenwart bewirkt Lernen und Veränderung.Die Realisation des Wissens vom erfahrungsabhängigenWesen von Veränderungprozessen betont die Verantwortungfür jeden Moment unseres Lebens noch viel drastischer, als esin den östlichen Konzepten von der Gestaltung des zukünfti-gen Lebensschicksals (des so genannten Karmas) durch die ge-genwärtigen Gedanken und Handlungen geschieht. Wenn neuronale Verbindungen nicht genutzt werden,schrumpfen sie (pruning). Nervenzellverbindungen unterlie-gen damit dem bereits von Hepp entdeckten Grundsatz: „use itor lose it“. Dessen sollten wir uns als Menschen in jedem Au-genblick unseres Lebens, besonders aber als Therapeuten sehrbewusst sein. Gerald Hüther erwähnt in seinen Vorträgen alsBeispiel immer wieder, dass Bandwürmer von Bodenwürmernabstammen, die noch ein Gehirn haben. Wenn man hingegenden Kopf eines Bandwurms aufschneidet, findet man kein Ge-hirn mehr. Er findet im Darm für sich selbst offenbar so para-diesische Verhältnisse vor, dass er kein Gehirn mehr braucht.

Soziale Erfahrungen prägen das Gehirn. Das bedeutet, dassneuronale Verbindungen durch jede Wiederholung der Erfah-rung immer weiter ausgebaut werden, während gleichzeitigandere, vielleicht in der Kindheit noch bestehende Möglich-keiten immer weniger zur Verfügung stehen, wenn sie nichtgenutzt werden. Neuronenverbindungen scheinen sich ähnlichzu verhalten wie die Wege und Straßen in einem Wegenetz-werk: kleine, nicht genutzte Wege verschwinden über kurzoder lang und werden von der Natur überwuchert. Das wird

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Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie

Abb. 10

Reaktion auf Repräsentationen

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mit Hilfe einer Straßenkarte für unsere PatientInnen zu einerMetapher für die neuronalen Verbindungen in ihrem Gehirn.Psychotherapie beinhaltet, Lernprozesse zu unterstützen. Ler-nen bedeutet gleichzeitig Erweiterung und Neuverknüpfungvon neuronalen Verbindungen im Gehirn. Die Neurowissenschaften haben nun zahlreiche Belege dafür gelie-fert, wie Lernen durch neue Erfahrungen zu Stande kommtund umso besser funktioniert, je intensiver diese Erfahrungensind und je mehr sie mit intensiven Sinneserfahrungen, Bewe-gungen und möglichst positiven Emotionen verbunden wer-den. Positive Emotionen entstehen besonders leicht in positi-ven, bedeutungsvoll erlebten Beziehungen. Zwar führen auchstressige oder überwältigende Erfahrungen und traumatischeSituationen zu intensivem Lernen. Die entsprechenden Verän-derungen des Erlebens und Verhaltens wirken jedoch auf dieRegelkreise des Organismus und des Gehirns dergestalt, dasswenig flexible und assoziativ eingeengte Muster entstehen.(Zur Neurobiologie des Lernens siehe Spitzer 2002.)

Allgemeine Hinweise und Anregungen zum Verständnis psychotherapeutischer Prozesse

Stress- und Belohnungssystem

Unangemessene, im Gehirn abgespeicherte Erfahrungen ausder Kindheit behindern in einer besonderen Weise eine realis-tische Wahrnehmung und Einschätzung der inneren und äuße-ren Wirkfaktoren in der heutigen Welt. Das bringt Stress indu-zierende Circuli vitiosi in Gang, wie sie auch Gerald Hüther inseinen Vorträgen darstellt. Äußere Herausforderungen werdenals Belastung erfahren. Sie werden nicht gemeistert. Das führtzu Selbstzweifeln und außerdem zu negativen Erwartungen.Anschließende Vermeidungsstrategien haben Ängste zurFolge. Diese Teufelskreise gilt es aufzulösen durch neue Er-fahrungen von zirkulären Prozessen, in denen Erfolgserlebnis-se erlebt und verstärkt werden können.

Das Gesagte gilt besonders für schwere Traumatisierungenoder schwere Mangelerfahrungen, die in den Mandelkernen imGehirn, in der Amygdala, gespeichert werden. Bei PatientIn-nen mit posttraumatischer Belastungsstörung haben dieseüberwältigenden Erfahrungen in besonderer Weise die Regel-kreise im Gehirn verstellt. Die neurobiologische Forschungliefert wertvolle Hinweise zum Verständnis solcher Zusam-menhänge. Sie und die sich daraus ergebenden Konsequenzenfür die Behandlung sollen hier nicht im Detail erörtert werden,das würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

In der Therapie können Herausforderungen wieder als solcheerkannt und erfolgreich bewältigt werden. Dabei steigt dasSelbstvertrauen und es entstehen positive Erwartungen undeine eher lustbetonte Motivation für neue Interaktionen mit derUmwelt. Derartige korrektive und heilsame Neuerfahrungengilt es in der Zusammenarbeit mit den PatientInnen zu entwi-ckeln und auszuprobieren.

Die geschilderten Circuli vitiosi aktivieren das Stresssystemim Organismus. Stress führt zu einer Ausschüttung von Norad-

renalin im locus coeruleus des Stammhirns. In den Kerngebie-ten des Hypothalamus wird CRH (Corticotrophin ReleasingHormon) produziert, was die Ausschüttung von ACTH (adre-nocorticotropes Hormon) in der Hypophyse anregt. Das ge-langt in die Blutbahn und führt zur Ausschüttung von Cortisolin der Nebennierenrinde. Cortisol gilt als das klassische Stress-hormon mit einer Fülle von Auswirkungen im Gefühlsleben,aber auch auf die Funktionsweise des Hippocampus, der fürdie Abspeicherung und den Aufruf von Erinnerungen zustän-dig ist. Auf der anderen Seite führen mit Erfolgserlebnissenverbundene zirkuläre Prozesse zu einer Anregung des „Beloh-nungssystems“. Dessen wichtigster Wirkfaktor ist das HormonDopamin, das in der ventralen tegmentalen Region und imlocus coeruleus des Mittelhirns produziert wird. Es trägt ganzwesentlich zur Motivation von Menschen bei, indem es dieAusschüttung von endogenen Opiaten und von Neurotrophi-nen wie BDNF (Brain Derived Neurotrophic Factor) und NGF(Nerve Growth Factor) anstößt. Letztere unterstützen den Er-halt und die Neuentwicklung von neuronalen Verbindungen,also das Lernen im weitesten Sinne. Die durch das Dopaminangestoßene Ausschüttung von endogenen Opiaten (Encepha-linen, Endorphinen und Dynorphinen) hat Glücksgefühle,Wohlsein und Befriedigung zur Folge. Stärkste Auslösefakto-ren für die Ausschüttung von Dopamin sind gute, emotionalals positiv erlebte Kontakte mit anderen Menschen. JoachimBauer begreift auch das durch Berührungen angeregte HormonOxytocin und seine Wirkungsweisen als wesentlichen Teileines „großen Belohnungssystems“ (Übersicht bei Bauer2002, 2006). Oxytocin fördert nicht nur Wohlbefinden undMotivation, sondern scheint in einer komplexen Weise zurBindung zwischen Menschen beizutragen. Es ist am Geburts-vorgang beteiligt als Wehenauslöser und spielt beim Stilleneine große Rolle (Einschießen der Milch). Oxytocin scheintausgeschüttet zu werden, wenn Menschen angenehm berührtoder massiert werden, besonders aber in der Sexualität undbeim Orgasmus (Uvnäs-Moberg 1997, 1998, 1999). Ent-sprechend wichtig sind diese Themen in der Körperpsychothe-rapie.

Veränderungsmöglichkeiten

So wie unser Gehirn ganz wesentlich in Beziehungen geprägtwird, so geschieht Heilung in therapeutischen Beziehungenmit Beziehungspersonen, die von den PatientInnen als bedeut-sam angesehen werden können. Positive und heilsame Bezie-hungen zu kreieren ist folglich eines der großen Anliegenwirksamer Psychotherapie. Zur Gestaltung solcher Beziehun-gen liefert die Neurobiologie einige Befunde, die die traditio-nelle Redekur durchaus in Frage stellen. Besonders GerhardRoth macht entschieden darauf aufmerksam, dass eine aus-schließliche Redekur nur dann zu positiven Ergebnissen führe,wenn TherapeutInnen und PatientInnen von vornherein ineinem konsensuellen Zustand seien. Veränderungen kämen zuStande durch neue Erfahrungen, nicht so sehr durch Appelleund Worte. Viele Redekuren dürften meines Erachtens vorallen Dingen dadurch wirksam werden, dass PatientInnen an-gestoßen werden, Anschluss an bereits im Gehirn angelegteund abgespeicherte Ressourcen zu finden. Auch der unweiger-

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lich stattfindende wechselseitige Einfluss der später noch genauer beschriebenen Spiegelneuronen könnte eine weitereErklärung für die unzweifelhaften Wirkungen jeder psychothe-rapeutische Methode sein. Hintergrund der Infragestellungen reiner Redekuren sind z. B.die Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Gazzaniga an Pa-tientInnen, denen wegen massiver epileptischer Anfälle dieVerbindung der beiden Hirnhälften, der Balken (corpus callo-sum), durchtrennt wurde. Durch geeignete Versuchsanordnun-gen konnte gezeigt werden, wie willkürlich bei diesen Patien-tInnen das im linken Gehirn beheimatete SprachzentrumErklärungen für Vorgänge abgibt, die in der getrennten rechtenGehirnhälfte über das Sehsystem angestoßen werden (Cooney,J.W. und Gazzaniga, M.S. 2003). Weitere Belege für die Will-kürlichkeit von sprachlichen Erklärungen unseres Ichsystemserarbeitete Itzak Fried 1999, indem er während Operationenam offenen Gehirn bestimmte Regionen im Gehirn reizte, wasdie nicht narkotisierten Personen unwillkürlich zum Lachenbrachte. Wenn sie nach dem Grund ihres Lachens gefragt wur-den, gaben sie regelmäßig völlig willkürliche, aber vernünftigklingende Erklärungen, zum Beispiel, dass der Operateur ir-gendwie komisch sei. Aus Sicht der Neurobiologie bestimmtalso nicht unser im Wesentlichen im Stirnhirn generiertes Ichund das damit verbundene Sprachsystem unser Erleben undVerhalten, sondern in viel höherem Maße das implizite Ge-dächtnis und die im limbischen System generierten Gefühle.Diese wiederum sind wie bereits angeführt in hohem Maßedurch die geschichtlichen Erfahrungen mitbestimmt, die an-lässlich eines gegenwärtigen Reizes aus den Erinnerungsspei-chern aufgerufen werden.Dagegen gibt es eindeutige neurobiologische Nachweise fürdie weit gehenden Veränderungen in den neuronalen Erre-gungsmustern des Gehirns nach erfolgreicher Psychotherapie.Die Veränderbarkeit des Gehirns, seine Neuroplastizität, diedurch Erfahrungen angestoßen wird, ist inzwischen unumstrit-ten (Übersicht bei Gottwald 2005). Aufsehen erregte die sehrmutige Aussage des kanadischen Neurobiologen Richard Da-vidson, Glück sei erlernbar. Er kam zu dieser Aussage, nach-dem er einige in der Meditation sehr erfahrene Mönche desDalai Lama untersucht hatte. Er stellte fest, dass sich fast re-gelhaft während relativ kurzer Meditation in ihren Gehirnenein Gammarhythmus entwickelte und sie sich in dieser Verfas-sung offenbar sehr angenehm fühlten. Dieser Gammarhythmuserstreckte sich über das gesamte Gehirn, was in normalen Po-pulationen ungewöhnlich ist. Selbstverständlich muss bei die-sem Befund in Rechnung gestellt werden, dass diese Mönche10.000 Stunden Übung in der Meditation hinter sich haben.Wir wissen nun auch, nicht zuletzt durch körpertherapeutischeErfahrungen, wie effektiv und sehr schnell sich besonders überEinflussnahme auf die körperliche Verfassung, über Bewegun-gen und Berührungen unserer Erleben und Verhalten verän-dern lässt. Heilsame Berührungen mit ihrem daraus erfolgen-den Ausstoß von Oxytocin sind beispielsweise gerade deshalbein wesentlicher Bestandteil einiger Körpertherapien und derKörperpsychotherapie. Eine Veränderung von Verfassungen(states) ist aus körperpsychotherapeutischer Sicht also nichtschwer. Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, die Zügeunserer Persönlichkeitsstruktur (traits) zu verändern. Weil wiraber in hohem Maß durch frühere Erfahrungen geprägt sind,

ist diese Schwierigkeit groß. Selbstverständlich bezieht sichdas besonders auf die grundlegenden Prägungen in unserenfrühesten Kindheitserfahrungen. Im Kontakt mit unseren Pa-tientInnen würdigen wir diesen Umstand und sprechen davon,dass es kein Wunder ist, wenn bestimmte Muster ihres Erle-bens und Verhaltens immer wieder auftauchen. Wir nutzen alsMetapher das Bild der alten römischen Heerstraßen mit dentief eingefahrenen Fahrspuren, in die man immer wieder zu-rück rutscht, wenn man sich nicht sehr bewusst außerhalb die-ser alten Spuren bewegt. Das aber ist letztlich die entscheiden-de Frage: Wie können tief greifende Veränderungen derpsychischen Struktur, also der Struktur von Persönlichkeit,also der Charakterzüge erreicht werden?

Heilsame Begegnungen

Aus dem bisher Gesagten und auf dem Boden der neurobiolo-gischen Forschung ist klar, dass wir in der Therapie neue,möglichst eindrückliche Erfahrungen brauchen. Derartige Er-fahrungen aber kommen zu Stande in einer möglichst heilsa-men Begegnung mit Menschen, die von ihnen als bedeutsamerlebt werden. TherapeutInnen können diese Rolle hoffentlicheinnehmen. Was aber ist eine heilsame Begegnung? Inzwischen zeigen zahlreiche Studien, dass bestimmte Neuro-nen nicht nur bei eigenen Handlungen angeregt sind, sondernauch, wenn andere Menschen beobachtet werden. Diese zu-nächst im prämotorischen Kortex gefundenen Neuronen wur-den von ihrem Entdecker Rizzolatti als Spiegelneuronen be-zeichnet. Neuere Forschungen zeigen, dass auch bestimmteAffekte wie Ekel oder Schmerzempfindungen völlig unwill-kürlich über Spiegelneuronen in anderen Hirnarealen voneinem Menschen zum anderen übertragen werden. (Bargh etal. 1996, Buccino et al. 2001, Carr et al. 2003, Wicker 2004,Singer et al. 2004 – Überblick bei Bauer 2005). Mit den Spie-gelneuronen könnte man erklären, warum jede Art von Psy-chotherapie unabhängig von der Methode wirksam ist, besseraber noch, warum für die PatientInnen nicht so sehr die Worteder TherapeutInnen wichtig sind, sondern die Qualität ihresDaseins. Denn ihr Dasein reicht aus, dass im Gehirn der Pa-tientInnen unwillkürlich Qualitäten und Muster der Therapeu-tInnen über Spiegelneuronen nachgebildet und auf die Dauerim Gehirn der PatientInnen integriert werden.Wir nähern uns nun den Fragen der konkreten Praxeologie. ImRahmen einer heilsamen Beziehung können wir über die durchSpiegelneuronen evozierten Vorgänge hinaus heilvolle neueErfahrungen anstoßen und anschließend sinnvoll erscheinendeVerhaltensweisen und Bewusstseinszustände einüben und wie-derholen. Und erinnern wir die PatientInnen immer wiedereinmal daran, wie neuronale Verbindungen funktionieren:„use it or lose it“! Was wir im Leben und in der Psychothera-pie inszenieren, was wir also erleben und wie wir uns verhal-ten, verstärkt die entsprechenden Muster oder Schemata undihre neuronalen Grundlagen im Gehirn. Dieser Zusammen-hang verlangt selbstverständlich auch, dass wir uns bewusstsein sollten, welche Erinnerungen wir aufrufen. Erinnerungen,die von sehr charakteristischen Eindrücken und Gefühlen be-gleitet sind, können ja auch als Muster angesehen werden, diedurch den Aufruf der Erinnerung verstärkt werden, die Gefüh-

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Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie

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le wiederum werden durch die Wiederholung der Erinnerungverstärkt. Ein erneuter Aufruf wird immer mehr gebahnt.

Konkrete Vorgehensweisen

Vorbemerkungen

Haltung der TherapeutInnenBevor wir in die konkrete Praxeologie einsteigen, sollten wiruns zur grundsätzlichen Haltung der TherapeutInnen bei ihrerArbeit auch unter neurobiologischen Gesichtspunkten einigeGedanken machen. Wenn die Befunde stimmen, dass unsereBefindlichkeit, unser Erleben und unser Verhalten in jedemMoment in höchstem Maße daraus resultieren, wie unsere frü-hen Erfahrungen Muster bildend unser Gehirn geprägt haben,und wenn es stimmt, dass jeder gegenwärtige Reiz eine unwill-kürliche, unbewusste und spontane Suche des Gehirns nachpassenden Mustern des Erlebens und Verhaltens auslöst, dannist die nächstliegende Haltung gegenüber unseren Mitmen-schen, aber besonders gegenüber unseren PatientInnen, ihnenmit großem Respekt, ja mit Demut und, wenn möglich, mitMitgefühl zu begegnen. Wenn die Muster des Erlebens undVerhaltens sich so automatisch herstellen und wenn dieseMuster eher durch geschichtlich bedingte implizite, also nichtbewusste Erfahrungen und durch Gefühle bestimmt sind, dannleuchtet es ein, dass wir das Bewusstsein für diese Vorgängesteigern sollten. Das wird möglich durch Aufmerksamkeit und,im Falle der Bewusstsseinszentrierten Körperpsychotherapie,durch die besondere Bewusstseinshaltung von Achtsamkeitund Präsenz. Wir wissen, nicht zuletzt durch unsere jährlichenSilvestervorsätze, dass Einflüsse von Seiten des Ich nur be-grenzt wirksam sind, und auch, dass therapeutische Einfluss-nahmen prinzipiell nicht einfach linear wirksam werden, weilwir es mit lebendigen, sich selbst organisierenden Systemen zutun haben. Somit liegt nahe, eine experimentelle, fast wissen-schaftliche Grundhaltung einzunehmen, also jede Situationund jede Intervention prinzipiell als Experiment oder bessergesagt als experimentelle Sonde zu verstehen, auf die der je-weilige Organismus in einer höchst individuellen Weise rea-giert. Daraus können TherapeutInnen wertvolle Informationengewinnen und selbst immer wieder aufs Neue sinnvoll reagie-ren. Diese beiden Elemente, eine immer wieder vertiefendeArbeit in Achtsamkeit und eine experimentelle Grundhaltung,erlauben ein sehr kreatives passgenaues Vorgehen in der The-rapie: Alle bisherigen Erfahrungen der PatientInnen und derTherapeutInnen können im therapeutischen Prozess einge-bracht und in ihren Auswirkungen präsent begleitet werden.Die so gewonnenen Einsichten helfen, das therapeutische Vor-gehen noch genauer abzustimmen. Die Arbeit in Achtsamkeit und eine experimentelle Haltung er-lauben auch die Kombination eines kognitiv-behavioralen miteinem psychodynamischen Vorgehen, die Integration einessystemischen Verständnisses und der vielen körpertherapeuti-schen Wirkfaktoren in die Therapie. TherapeutInnen und Pa-tientInnen können sich je nach Notwendigkeit in verschiede-nen Polaritäten bewegen. Sie werden eher akzeptierend denBoden für Einsichten schaffen oder Veränderungen anstreben,die Progression oder Regression unterstützen, die Vergangen-

heit oder die Zukunft betrachten, unterstützend oder konfron-tierend, nonverbal inszenierend oder verbal durcharbeitend,der Selbstorganisation der PatientInnen vertrauend oder aktivbeeinflussend arbeiten. Sie werden wechseln zwischen „auf-bauender Körpertherapie“ oder „eröffnender Körperpsycho-therapie“. Archetypisch gesehen agieren sie zwischen denPolen männlich/väterlich und weiblich/mütterlich.

Der Wert von Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und PräsenzDie Wahrnehmung kann durch Achtsamkeit sehr verfeinertwerden. Achtsamkeit ist als solche heilsam, wie die Ergebnisseder bereits erwähnten modernen Achtsamkeitsforschung zei-gen. Reine meditative Präsenz (wie sie auch in der spirituellenPraxis geübt wird) eröffnet grundlegend Erfahrungen und Be-findlichkeiten, die sich wie ein Sprung in eine andere Dimensi-on anfühlen können. Dieser Aspekt der Bewusstsseinszentrier-ten Körperpsychotherapie soll anderweitig erörtert werden.Der Wert von Aufmerksamkeit und damit implizit von Acht-samkeit wird durch neurobiologische Studien unterstützt. WolfSinger hat in Tierexperimenten nachgewiesen, wie Aufmerk-samkeit Lernprozesse beeinflusst, begünstigt oder intensiviert.Vielleicht ist Aufmerksamkeit sogar die Vorraussetzung zumErlernen neuer Muster. Das können viele Menschen aus ihrerErfahrung bestätigen, wenn sie sich daran erinnern, wie siebeispielsweise gelernt haben, Fahrrad zu fahren. Darüber hi-naus ermöglichen Präsenz und Aufmerksamkeit, jederzeit angegenwärtigen Prozessen Anteil zu nehmen und auszuwerten,welche Auswirkungen ein bestimmter äußerer oder innererEinfluss auf den Organismus und das gegenwärtige Erlebenund Verhalten hat. Viele PatientInnen nehmen solche Verän-derungen unmittelbar wahr und erleben sie als sehr eindrück-lich. Selbst ganz einfache Berührungen scheinen sie darin zuunterstützen, sich im Leib anwesend zu erleben. Sie fühlensich berührt und dann häufig gerührt und bemerken leichter,was es bedeuten kann, im eigenen Leib präsent zu sein. Dieunmittelbare Erfahrung ersetzt unangemessene Interpretatio-nen und Deutungen von Seiten der TherapeutInnen. Fehler zumachen ist dabei ein wertvoller Weg des Lernens: die entspre-chenden Auswirkungen werden unmittelbar erfahren, sinnvol-le Kurskorrekturen werden angestoßen.

Sprechen in Achtsamkeit Auf diesem therapeutischen Weg lernen die PatientInnen auch,während eines achtsamen und präsenten Bewusstseinszu-stands, von ihrer Erfahrung zu sprechen. Diese in der Hakomi-methode entwickelte und genutzte Fähigkeit muss besondersgeübt werden. Sie lässt die PatientInnen zu kompetenten Mit-arbeitern im therapeutischen Prozess werden. Nebenbei schafftdiese Fähigkeit mit Sicherheit eine Verbindung zwischen Ge-fühlen und dem Sprachzentrum. Das dürfte besonders wertvollsein für die PatientInnen mit traumatischen Erfahrungen, beidenen sich häufig besonders krass das Fehlen genau dieserVerbindung zum Sprachzentrum bemerkbar macht. Schon ein-faches Sprechen über Gefühle hat offenbar auch rückwirkendEinfluss auf die Mandelkerne (Schaefer 2002). Die Verbin-dung von Achtsamkeit und Sprache kann sich im Laufe derZeit immer mehr vertiefen. Vielleicht nähert sich diese Weisedes Sprechens und die Verbindung der Sprache zum gegen-wärtigen Erleben ein wenig Heideggers Gedanken, der schon

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zu seiner Zeit eine unlösbare Verbindung zwischen der Spra-che, dem Verstehen und Begreifen betont hatte. Das wäre einedurchaus erfreuliche Rehabilitation des besonders von GerhardRoth infrage gestellten Sprechens der Therapie.

Richtung des therapeutischen WegsNach welchen Kriterien aber sind die von den PatientInnen inAchtsamkeit mitgeteilten Erfahrungen zu beurteilen? WelcheKonsequenzen ergeben sich für eine weitere Einflussnahme?Als grobe Richtschnur gilt, dass therapeutische Prozesse inRichtung größeren Wohlgefühls und höherer Effektivität derPatientInnen gelenkt werden sollten und zu einem ausgewoge-neren Verhältnis mit ihrer Umgebung und letztlich dem großenkosmischen Ganzen (Holon). Diese Richtung ergibt sich ausder grundsätzlichen Fähigkeit lebender Systeme. Schon dieersten lebenden Zellen lernten, Rückmeldungen aus ihrer Um-gebung aufzunehmen. Sie orientierten sich entlang von Gra-dienten. Sie lernten, ob eine Umgebung für sie Nahrung botoder toxisch war, ob sie zum Überleben geeignet war oder obSterben drohte. Die Zellen bewegten sich zwischen den Polenwarm und kalt, hell und dunkel. Auch Zellformationen undkomplexeren Organismen blieb diese Fähigkeit erhalten. Siedürfte die Grundlage von Affekten, Regungen, aber in hohemMaße auch von Bedürfnissen und Gefühlen sein. In dieserWeise wirken auch die von dem amerikanischen Neurobiolo-gen Antonio Damasio so genannten somatischen Marker. Siesorgen auf der Basis der sensiblen und sensorischen Rezepto-ren der Haut, der Gelenke und inneren Organe, die dem Gehirnständig Signale über den Zustand des Organismus melden, fürein ständiges Feed-back auf jeden äußeren Reiz und auf jedeUmgebungskonstellation. Sie können als Richtungshinweiseverstanden werden, die von der Geschichte geprägt sind, aberaktuell beeinflusst werden können. Ähnlich wie bei den erstenOrientierungssystemen der Zellen dienen diese Signale derEinschätzung, ob ein Einfluss als gut oder schlecht, angenehmoder unangenehm, bekömmlich und unbekömmlich beurteilt,als Belohnung oder Bestrafung erlebt werden soll. Sie führenzu den Verhaltensweisen von Kampf, Fluchtoder Erstarrung, also im weitesten Sinn zurRegulation von Nähe und Distanz. Neuro-biologisch bedeutet das tendenziell, dassentweder unser Belohnungssystem aktiviertwird oder aber unser Stresssystem. Dabeibestehen selbstverständlich entsprechendeBezüge zum sympathischen und parasympa-thischen Nervensystem. Ein achtsames „Monitoring“ derartiger soma-tischer Marker, also die bewusste Teilhabe an körperpsychotherapeutischen Prozessen, erlaubt permanent Kurskorrekturen der mo-mentanen Vorgehensweisen. In jedem Au-genblick kann das angestoßene innere Erle-ben oder die äußere Wirkung von Berührungund Bewegung bemerkt werden. Körperthe-rapeutische Interventionen sind deshalbgleichsam wissenschaftliche Experimente,deren Wirkung durch unmittelbare Rückmel-dungen über „somatische Marker“ erfahrenund die jederzeit korrigiert werden können.

Spontan streben wir Menschen Zustände von Wohlsein an undmöchten Stress vermeiden. Das kann jedoch auch fatal sein.Nicht jedes Wohlsein mit der begleitenden Aktivierung desBelohnungssystems ist sinnvoll. Das wird offensichtlich imSuchtverhalten. Für PatientInnen mit sehr schlechten frühenErfahrungen ist es notwendig, in der Therapie mehr Stress aus-zuhalten als Menschen, die eine glücklichere Kindheit hatten.Leider kann unser Belohnungssystem auch dann aktiviert wer-den, wenn wir offensichtlich sinnvolle Verhaltensweisen ver-meiden, beispielsweise wenn ein phobischer Mensch nichtmehr in die Öffentlichkeit geht. Der Organismus erlebt dieseVermeidung als Erfolg. Schließlich ist die auf dem Boden deralten Erfahrungen imaginierte Gefahr vermieden worden. Wirverweisen in diesem Zusammenhang die PatientInnen auf dieMetapher der Käseglocke. So verstehen sie leichter, dass sieoffenbar durch alte Erfahrungen geprägt derartige Gefahren er-leben, und sind eher bereit, sich diesen unangenehmen Erfah-rungen auszusetzen und eventuell in einer eröffnenden Körper-psychotherapie die alten Erfahrungen und die dahinterliegenden Repräsentanzen zu eröffnen. Außerdem könnenMenschen durch heillosen Erfolg in Schwierigkeiten geraten,wie das am Beispiel mancher erfolgreicher Manager mit psy-chosomatischen Krankheiten besonders gut zu erkennen ist.Sie sind so erfolgreich, dass sie nach und nach viele andereihrer Möglichkeiten außer acht gelassen haben. Auch dieserGruppierung hilft es, sich an den Grundsatz neuronaler Ver-bindungen zu erinnern: use it or lose it. Es kann sehr sinnvollsein, den Stress der eigenen natürlichen Verletzlichkeit undBedürftigkeit auszuhalten (Abb. 11).

Das konkrete Vorgehen

Muster aufrufen und verändernPsychotherapie ausüben heißt, systematisch die Muster des Er-lebens und Verhaltens der PatientInnen zu verändern. Neuro-biologisch gesehen passiert das durch eine Aktualisierung, Er-

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Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie

Abb. 11

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weiterung und neue Verknüpfung von neuronalen Netzwerkenund ihren Erregungsmustern durch neue Erfahrungen. WennVeränderung von Mustern durch neue Erfahrungen geschehensoll, müssen die zu Grunde liegenden Muster im gegenwärti-gen Erleben der PatientInnen aktualisiert werden. Gegenstandder Psychotherapie ist folglich das spontan auftauchende Erle-ben der PatientInnen oder die Vergegenwärtigung jener Pro-blemsituationen, in denen sie eine Veränderung erwünschen. Die bisherigen Muster und Schemata der PatientInnen werdenals Ausdruck ihrer bisherigen Lerngeschichte verstanden. Siesind in der geschichtlich entstandenen Struktur der Persönlich-keit und in der organischen Struktur des Gehirns verankert. FürTherapeutInnen und PatientInnen ist es wertvoll, diese Auswir-kungen der Lebensgeschichte zunächst zu akzeptieren und ge-genwärtig zu erfahren, wie mit jedem Erleben und Verhalten diezu Grunde liegenden neuronalen Muster im Gehirn aktualisiertwerden. Die den PatientInnen spontan zur Verfügung stehendenMuster sollen sich mit allen sensorischen, motorischen und af-fektiven Elementen im Therapieraum entfalten dürfen. Schoneine derartige Erlaubnis ist für viele Menschen ein heilsamerSchritt, obgleich sie im Anfang Erfahrungen mehr oder wenigermit Einschränkungen erleben und einbringen. Im weiteren Ver-lauf der Therapie können dann eindrückliche, heilsame Neuer-fahrungen ermöglicht werden, die schlussendlich immer mehrPotenzial des jeweiligen Menschen ins Spiel bringen. Die zurUnterstützung einer sinnvollen Entwicklung fehlenden Erfah-rungen können im Rahmen der Therapie so weit gehend wieeben möglich miteinander kreiert werden werden. Die von denPatienten vorgetragenen problematischen oder unerwünschtenMuster können in der Gegenwart, beispielsweise im Rollenspieloder quasi offline in der Vorstellung, aktualisiert, also im Raumdargestellt werden. So werden gleichzeitig die zu Grunde lie-genden Erregungsmuster und die entsprechenden neuronalenNetzwerke mit aufgerufen. Sie müssen ja aufgerufen sein, damitsie für eine Veränderung zugänglich sind. Tendenziell geht esalso immer darum, problematische oder unerwünschte Musteraufzurufen und im nächsten Moment erwünschte Muster zu er-möglichen, so dass die entsprechenden neuronalen Erregungs-muster erweitert oder neu verknüpft werden können.

Das Aufsuchen von RessourcenWenn bestimmte Muster des Erlebens und Verhaltens für Pa-tientInnen problematisch sind, ist der einfachste Weg zu Ver-änderungen der, vorhandene Ressourcen aufzusuchen, die aberden PatientInnen offensichtlich spontan nicht zugänglich sind,.Da solche Ressourcen bereits im neuronalen Netzwerk ange-legt sind, ist dieser Schritt mit geringstem Aufwand zu vollzie-hen. Solche Ressourcen werden in einer bewusstsseinszen-trierten Körperpsychotherapie im Hier und Jetzt in zeitlichmöglichst nahem Zusammenhang mit den zu lösenden Mus-tern aktualisiert. Anschließend wird versucht, bewusst zwi-schen dem unerwünschten Muster und den problemlösendenMustern hin- und herzuwechseln. Ein solcher Wechsel ge-schieht beispielsweise im Rollenspiel durch die Einnahmeeiner neuen Haltung, eine neue Art der Bewegung, der At-mung und so weiter. Der Wechsel kann jedoch auch in derVorstellung vollzogen werden (quasi offline). Durch den vor-gestellten oder tatsächlich vollzogenen Wechsel dürfte eineneue Verknüpfung dieser Muster gebahnt werden, so dass sie

anschließend von PatientInnen leichter aufgesucht werdenkönnen. Viele PatientInnen sind überrascht, wie leicht sie Ressourcenaus anderen Lebensbereichen und anderen Kontexten aufsu-chen und unmittelbar in vergegenwärtigte problematischeKontexte einbringen können. Sie fühlen sich sehr erleichtert,wenn sie ihre Potenziale wieder entdecken. Ressourcen kön-nen spontan erinnert oder gezielt angestoßen und anschließendunmittelbar körperlich ausgeübt werden. Wenn das nicht ge-lingt, bedeutet das, dass diesen PatientInnen derartige pro-blemlösende Muster oder Modelle in ihrer Geschichte gefehlthaben. Sie können dann in der Gegenwart neue Kompetenzenerlernen.

Körperliche Ressourcen mobilisierenEine bedeutsame Möglichkeit ist die Mobilisierung körperli-cher Ressourcen. Einflussnahmen über den Körper sind in denverschiedensten körpertherapeutischen und körperpsychothe-rapeutischen Richtungen schon lange bestehendes Erfahrungs-wissen. Es gibt dazu inzwischen eine Fülle von Studien, diederartige Veränderungen der Befindlichkeit über Veränderun-gen im Körper auch wissenschaftlich belegen. Bereits 1968hatte H. Seller die entspannende Wirkung des Ausatems undihren Einfluss auf den Blutdruck untersucht. Er stellte fest,dass die hemmende Wirkung der Barorezeptoren während derExspiration deutlich stärker ist als während der Inspiration unddass gleichzeitig der Muskeltonus reduziert und die Sehnenre-flexe gedämpft werden. 1988 hatten Fritz Strack et al. damitexperimentiert, wie ein zwischen den Zähnen oder den Lippengehaltener Stift die Befindlichkeit von Menschen verändert,weil dadurch die Mimik in Richtung auf einen traurigen oderlächelnden Gesichtsausdruck hin verschoben wird. Die Aus-wirkungen dieses Experiments wurden 2005 von Glenberg etal. in ganz ähnlicher Form bestätigt. Paul Ekman und WallyFriesen hatten 1992 ebenfalls nachgewiesen, wie verdeckt vor-genommene Manipulationen der Gesichtszüge von Probandenderen Stimmung eindeutig in die Richtung des manipuliertenGefühlsausdrucks veränderten. Vissing und Hjortso zeigten auf, wie kräftige Handgriffe, aberauch schon die Imagination davon den Sympathicotonus erhö-hen. John Riskind wies 1982 den Einfluss einer aufgerichtetenim Gegensatz zur gebeugten Haltung auf die Befindlichkeitnach. Experimente von Lewis zur antagonistischen Wirkungvon Lachen und Schamgefühlen und solche von Sauerlandzum Einfluss der Körperhaltung auf Schamgefühle werdenvon Allan Schore zitiert. 2003 berichtete Nouchine Hadjikhaniim Dezemberheft der Current Biology über ihre Untersuchun-gen, wie Körperhaltungen von Beobachtern auch bei abge-deckter Mimik von außen in ihrem Ausdrucksgehalt eindeutigverstanden werden. Ramachandran hatte die entspannendeWirkung des Lachens untersucht. Schon sehr viel früher hatteCarrol Izard den Erholungseffekt von Freude auf die verschie-densten Organsysteme nachgewiesen. (John Riskind 1982,Fritz Strack et al.1988, Paul Ekman und Wally Friesen 1992,Vissing & Hjortso 1996, Friedmann & Förster 2002, A MGlenberg 2005 – Übersicht Gottwald 2007a). Tendenziell sindderartige Einflüsse in der Lage, Wohlbefinden im Dasein undim Kontakt zu unterstützen oder überhaupt erst zu ermögli-chen. Das hängt mit begleitenden physiologischen Verände-

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Christian Gottwald

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rungen auf den verschiedenen Ebenen, besonders aber im Ge-hirn zusammen. Angenehme Berührungen der Haut durchMassagen und Streicheln stimulieren zum Beispiel das Moti-vationssystem und führen, wie schon gesagt, zur Ausschüttungvon Oxytocin, aber auch von Dopamin und körpereigenenOpiaten, den Encephalinen, Endorphinen und Dynorphinen. Alle motorischen, sensorischen oder affektiven Qualitäten vonKörperhaltungen, von Körpergesten und von Bewegungen,insbesondere von Atembewegungen, sind Teile neuronalerMuster, die in unterschiedlichen Modulen im Gehirn abgespei-chert sind. Nicht nur die Großhirnrinde bestimmt das in der as-soziativen Hirnrinde erzeugte Bewusstsein und die Kognition,das Denken, das Verhalten und das Erleben, sondern beson-ders auch die inneren Regelkreise im Stammhirn, Mittelhirn,Zwischenhirn und im limbischen System. Diese wiederum ste-hen in Verbindung mit den Nervenzellen des Darms, dem sogenannten Bauchgehirn. Die Verbindung wird unter anderemüber die Überträgersubstanzen im Gehirn und im Körper, dieNeurotransmitter und die Hormone im Blut hergestellt. Kör-perhaltungen, Körperbewegungen, Berührungen und dieWeise zu atmen beeinflussen aber nicht nur das eigene Erlebenund die eigene Effektivität, sondern auch, wie andere Men-schen und die umgebende Welt wahrgenommen werden. DasGehirn scheint Signale vom vegetativen Nervensystem, vonden Propriorezeptoren (den Rezeptoren, die über die Gelenks-stellung Rückmeldung geben), von den Enterorezeptoren (denRezeptoren aus den Innereien), von den verschiedenen Rezep-toren der Muskeln und von den anderen Sinnesorganen zubrauchen, um Gefühle angemessen generieren zu können.

Der LeibDie genannten neurobiologischen Erkenntnisse beziehen sichauf Veränderungsmöglichkeiten über die körperliche Ebeneunserer Körper-Seele-Geist-Einheit, für die wir im Deutschenden schönen Ausdruck Leib haben. Der Leib ist das möglicheEmpfangsorgan und der Boden für eine ganze Reihe von ele-mentaren Erfahrungen und Auswirkungen. Über ihn könnenam leichtesten Befindlichkeiten verändert werden. Gleichzei-tig bietet er selbstverständlich Zugang zum eigenen Erleben.Unvermeidbar drückt er das Selbst der Persönlichkeit auchnach außen aus. Er kann im Leben eines Menschen wieder alsBoden und als zu Hause erlebt werden, als Gefäß für Selbstzu-friedenheit und Einssein (Abb. 12).Durch die Art unserer Haltung und die Spannungsmuster derwillkürlichen und unwillkürlichen Muskulatur, der Faszienund der Gelenke, durch die Art wie wir atmen und unsereStimmen nutzen wird unsere emotionale Befindlichkeit ge-prägt. Sie bestimmt, wie angemessen wir in der Welt reagierenund effektiv werden. Man kann sich beispielsweise mit hoch-gezogenen Schultern und angehaltenem Atem und verkrampf-ter Gesichtsmuskulatur kaum wirklich wohl fühlen. PatientInnen können durch entsprechende körpertherapeuti-sche Experimente ihre Atemenergie, Stimme und Haltung ver-ändern, indem sie beispielsweise den Zugang zu ihrem Ärgerund ihrer Wut eröffnen und Wut überhaupt erst einmal erlebenund dann lernen, dieses Gefühl zu akzeptieren, zu modulierenund im jeweiligen Kontext situationsgerecht zuzulassen. Letzt-lich handelt es sich bei einem körpertherapeutischen Vorgehenum eine lösungsorientierte, lerntheoretische und verhaltensthe-

rapeutische Arbeitsweise. Neue Möglichkeiten kann man auchzuerst als Behandler den PatientInnen demonstrieren. An-schließend kann man gleich ausprobieren lassen, welchen Ein-fluss beispielsweise eine kollabierte oder verkrampfte Haltunggegenüber einer lockeren und entspannten Aufrichtung hat.Dabei stellen PatientInnen fest, dass sie sich ohne guten Kon-takt zum Boden und ohne Balance und mit kollabiertem Brust-korb kaum vertreten und erst recht nicht aggressiv werdenkönnen. Da können beispielsweise die alten und bewährten Regeln undTechniken aus den Kampfkünsten, besonders aus dem Aikidound dem Tai Chi, sehr nützlich sein. Manchmal noch unmittel-barer als die Stresspositionen der Bioenergetik helfen sie, denKontakt zum Boden (das „Grounding“), die Aufrichtung, Zen-trierung und Balance zu verbessern. Menschen lernen dadurchund zusätzlich durch die Arbeit mit der Atemkraft „Ki“, ihrGrundgefühl und das Gefühl von Sicherheit in der Welt ganzunmittelbar und kurzfristig zu beeinflussen. Ebenso grundle-gend für das Erleben und Verhalten sind die Weisen, wie Pa-tientInnen atmen und mit ihrer Stimme umgehen. (Eine etwasausführlichere Einführung in die körpertherapeutischen Mög-lichkeiten ist anderweitig zu finden – Gottwald 2007b.) Allediese Techniken legen gleichzeitig eine gute Grundlage dafür,sich selbst auch in unterschiedlichen Kontexten behaupten undeffektiv werden zu können. Natürlich müssen derartige Verän-derungen später weiter eingeübt werden. PatientInnen könnenwährend der Therapie zu entsprechenden Erfahrungen angelei-tet werden, sofern die TherapeutInnen entsprechende Grundla-genkenntnisse haben. Sie können aber auch gezielt zu ver-schiedenen Körpertherapeuten geschickt werden, um solcheMusterveränderungen bewusst zu erleben und zu erlernen. Veränderungen auf der körperlichen Ebene wirken auf die ele-mentaren Grundlagen der menschlichen Verfassung, also auchauf die Stimmung und die Grundgefühle. Wenn PatientInnenangeleitet werden, sich gezielt anders zu bewegen und ihreMimik und ihre Gesten zu verändern, können sie entdecken,dass sie unangenehmen Gefühlen nicht unbedingt ausgeliefertsind, sondern dass sie diese Gefühle beeinflussen können.Wenn sie bei unangemessenen Gefühlen von Schwäche die

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Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie

Abb. 12

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Zähne fletschen, den Unterkiefer vorschieben und aggressiveTöne produzieren, bahnen solche Gesten und Haltungen dasZulassen und Spüren von Wut und Ärger. Sie fühlen sich un-mittelbar kräftiger. Mit lächelndem Gesicht kann man Wutund Ärger nur sehr begrenzt erleben. Derartige Gefühle grund-sätzlich zulassen zu können scheint aber grundlegend für einangemessenes Durchsetzungsvermögen zu sein. Das bedeutetselbstverständlich nicht, dass man seine ärgerlichen Gefühleunreflektiert ausagieren muss.Die Wirksamkeit der in der Körpertherapie eingesetzten Mittelwie die Beobachtung und Beeinflussung von Atem und Stim-me, die Veränderung der Körperhaltung, des Kontaktes zumBoden, der Balance, des Tonus der willkürlichen und unwill-kürlichen Muskulatur durch Entspannung oder Massage undandere Arten von Berührung bekommt durch die oben genann-ten neurowissenschaftlichen Untersuchungen eine deutlicheBestätigung. Da nun auch als naturwissenschaftlich belegt gel-ten kann, dass und wie der Körper und die Affekte und dieEmotionen so zentral und miteinander verbunden das Erlebenbestimmen, wird es selbstverständlicher werden, den Leib undsomit alle affektiven, sensorischen und motorischen Kanäleimmer bewusster und differenzierter in die Therapie einzube-ziehen. Alle Möglichkeiten des körperlichen Kanals können invielfältiger Weise genutzt werden, um Menschen zu helfen,sich besser zu spüren und wahrzunehmen, aber auch um he-rausfinden zu können, wie sie sich in ihrem Leibe wohler, zu-friedener, erfüllter oder gar glücklicher fühlen, wie sie effekti-ver in ihrem Leben auftreten und handeln, kurzum: wie siegesünder werden können (siehe auch Gottwald 2007b).

Widerstände und eine Antwort daraufSelbstverständlich haben der Aufruf von Ressourcen und diebeschriebenen körpertherapeutischen Einflüsse natürlicheGrenzen. Wenn beispielsweise aufgrund von getriggerten un-angenehmen Repräsentanzen und geschichtlichen Kontextenmassive Widerstände gegen ein vom Patient, von der Patientinals sinnvoll erkanntes und erwünschtes Muster auftauchenoder wenn zwischenzeitlich erreichte Fortschritte im Erlebenund Verhalten nach kurzer Zeit wieder verschwinden, ist einepsychodynamische, die geschichtlichen Hintergründe einbe-ziehende eröffnende Körperpsychotherapie geboten. Das gilt besonders dann, wenn Menschen in ihrer Geschichtezu massive, ihre Gegenwart prägende Erfahrungen erlebthaben. Veränderungen ihrer Befindlichkeit und ihres Verhal-tens werden dann sehr häufig nur für den Augenblick möglich.Jeder Therapeut kennt kurzfristige Erleichterungen im Lebenvon PatientInnen oder bei sich selbst, nach denen man unmit-telbar in die alten Muster zurückfällt oder im nächsten Mo-ment sogar ganz unangenehme Nebenwirkungen erlebt. Dannkann auf die innere Konfliktdynamik und ihre geschichtlichenHintergründe eingegangen werden.

Eröffnende ArbeitDabei werden entsprechende problematische oder uner-wünschte Muster mit allen damit verbundenen Affekten, Ein-drücken und körperlichen Gewohnheiten in dem Bewusstseinso aufgerufen und im Raum verkörpert und aktualisiert, dass ineiner achtsamen Bewusstseinsverfassung die zu Grunde lie-genden dispositionellen Repräsentationen und anschließend

die dahinterliegenden geschichtlichen Erfahrungen der Patien-tInnen mit ihren frühen Objekten erkennbar werden. Mit ande-ren Worten: der Weg, der schlussendlich zu den Repräsentan-zen und zur psychischen Struktur geführt hat, wird in einerachtsamen Arbeitsweise rückwärts beschritten. Diese Arbeitnenne ich eröffnende Körperpsychotherapie, weil Erinnerun-gen und die damit verbundenen Gefühle in der Therapie wie-der zugänglich werden. Ein solcher Schritt ist Regression imDienst der Progression. Da die PatientInnen in einer Bewusstsseinszentrierten Körper-psychotherapie die hier gezeigten Informationen und Schaubil-der kennen, kann man sie leicht zu dieser Art der Arbeit moti-vieren. Wenn es notwendig wird, in eine psychodynamische,eröffnende Körperpsychotherapie einzumünden, kann an dieMetapher mit der Käseglocke erinnert und etwa gesagt wer-den: „Wir können gemeinsam entdecken, welche Geister oderSchatten der Vergangenheit in diesem problematischen oderunerwünschten Muster angesprochen sind und warum Siediese problematischen Eindrücke haben und warum Sie aufdiese Weise auf die erlebte Welt reagieren. Es ist möglich, dieinneren Reaktionsweisen näher kennen zu lernen und die da-hinterliegenden Figuren der eigenen Geschichte wieder aufzu-finden.“ Den Satz von Milton Erickson, dass es nie zu spät sei,eine glückliche Kindheit zu erleben, modifizieren wir dahinge-hend, dass wir sagen, dass es nie zu spät sei, eine glücklichereKindheit zu erleben. Die PatientInnen werden darauf vorberei-tet, dass jeder Mensch Gefühle aus seiner Kindheit in sich auf-finden und diese Gefühle durch neue, heilsame Erfahrungenerweitern kann.Solche Gefühle aus ihrer Kindheit kennen die meisten Patien-tInnen in sich. Sie tauchen spontan auf und werden häufig ab-gewehrt. Sie entsprechen wieder aufgerufenen ganzheitlichenErinnerungsmustern oder RIGs im Sinne von Daniel Stern. Inder therapeutischen Arbeit werden sie in Achtsamkeit bewusstaufgerufen und zugänglich. Dabei wird ihr Stellenwert häufigunmittelbar evident oder doch in der gemeinsamen Betrach-tung verständlicher. Manchmal treten dabei Gefühle auf, indenen die PatientInnen sich klein und bedürftig oder ähnlicherleben, eben so, wie sie sich in ihrer Kindheit nun einmal ge-fühlt haben. Es entsteht der subjektive Eindruck, innerlichnoch immer das Kind von damals zu sein. Eine Erweiterungdieser Erfahrung findet dann in der Therapie in der neuen ge-genwärtigen Beziehung statt, als würde der Patient, der sichgerade als Kind erlebt, neue Erfahrungen als dieses Kind miteiner neuen Beziehungsperson erleben können. Diese im the-rapeutischen Kontext kreierte neue Beziehungsperson tauchtim Erleben der PatientInnen so auf, als würde sie in ihrerKindheit auftauchen. Das liegt daran, dass im Gehirn die RIGsmit den zu Grunde liegenden Erregungsmustern der entspre-chenden neuronalen Netzwerke aktualisiert und einer neuenErfahrung zugänglich gemacht werden. So können Grunderfahrungen nachgeholt werden, die die Pa-tientInnen in ihrer Kindheit nicht machen konnten. Es gehtdarum, dass PatientInnen leibhaft und mit allen Sinnen erfah-ren, dass ihre Grundbedürfnisse erfüllbar sind, dass sie heutemit diesen kindlichen Gefühlen sicher und beschützt da seindürfen, dass sie anerkannt und gespiegelt werden, dass sie Un-terstützung in ihren Bedürfnissen finden, dass sie liebevollGrenzen erfahren, und so weiter. Das praktische Vorgehen

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dabei ist sehr inspiriert durch die Vorarbeit von Ron Kurtz undAlbert Pesso. Selbstverständlich ist eine solche Arbeit be-sonders erfolgreich, wenn es gelingt, wie oben angeführt Res-sourcen und Erfahrungen zu beleben, die vor einer Problemeerzeugenden Mangelsituation im Leben der Patienten stattge-funden haben, denn die dazu gehörenden Muster und ihre neu-ronalen Grundlagen sind ja ebenfalls ein Teil des implizitenGedächtnisses. Je früher sie im Leben der Patienten angelegtund abgespeichert wurden, desto stabiler sind sie in tieferenRegionen im Stammhirn und im Mittelhirn verankert.

Aufbauende und eröffnende ArbeitAufbauende und eröffnende Körperpsychotherapie stehen ineinem engen ergänzenden Verhältnis zueinander. Es ist mög-lich, inmitten einer im Dienste der Progression stehenden re-gressiven (also eröffnenden) Arbeit aufbauend körperthera-peutisch tätig zu werden und beispielsweise dem „Kindanteil“im Patienten Erfahrungen mit den Übungen aus den Kampf-künsten zu ermöglichen und wie sich dieses Kind in der dama-ligen bedrohlichen Situation hätte besser verteidigen könnenmit einem veränderten Atem, einem besseren Kontakt zumBoden, einer besseren Zentrierung und Aufrichtung. Umge-kehrt kann man eine Zeit lang aufbauend körpertherapeutischtätig sein, bis sich zeigt, dass eine neurotische Angst eine Auf-arbeitung durch „eröffnende Körperpsychotherapie“ braucht.(Abb. 13).

PatientInnen kommen aus guten Gründen so lange mit relevan-ten problematischen oder unerwünschten Mustern in die The-rapie , bis sie sicher genug sind, sich selber angemessener zubegleiten und passende erwünschte Muster kreieren zu kön-nen. Da problematische oder unerwünschte Muster wie mitdem Bild von den Fahrspuren in den römischen Straßen ge-zeigt sehr früh und folglich sehr tief neuronal verankert seinkönnen, fallen Patientinnen besonders unter den Bedingungenvon Stress immer wieder zurück in die anfänglichen problema-tischen oder unerwünschten Muster. Sie partizipieren an denErkenntnissen der Neurobiologie in einer besonderen Weise,wenn sie mit Hilfe der genannten Metapher verstehen, dassdieser Rückfall unwillkürlich passiert und auf dem Boden derfrüheren Verankerung dieser Muster beruht. In einer heilsa-men therapeutischen Begegnung jedoch werden sie immer

wieder Lösungsmuster kennen lernen und heilsame Erfahrun-gen machen und diese immer besser integrieren, so dass siesich auf dem Boden derartiger Internalisierungen immer besserselbst begleiten können. Eine Entwicklungsspirale entsteht.Psychotherapie wird zu einer fundierten professionellen Hilfezur Entwicklung von Selbstregulation und Autonomie der Pa-tientInnen (Abb. 14).

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Eine körperpsychotherapeutische Sicht auf die Neurobiologie

Abb. 13

Abb. 14Aufbauende Körperpsychotherapie

Eröffnende Körperpsychotherapie

Entwicklungsspirale

Problemmuster

Lösungsmuster

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Anschrift des Autors

DR. MED. CHRISTIAN GOTTWALD, Facharzt für psychosomati-sche Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, Facharzt fürNeurologie und Psychiatrie, Supervision, Teamentwicklung,Führungskräftetraining, Eidoshaus, Wehnerstraße 23, D-81243MünchenTel.: 089-89689423, Fax: [email protected]

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