Wolf Kalipp Alexandre Guilmant – ein reaktionärer ... · PDF filenischen Generationsgenossen (wie z. B. Charles-Marie Widor, Louis Vierne, Marcel Dupré) und ihrer Folgegeneration

Embed Size (px)

Citation preview

  • Musik und Gottesdienst 64. Jahrgang 2010

    Wolf Kalipp: Alexandre Guilmant ein reaktionrer Progressiver der Orgelmusik? 17ORGELLITERATUR

    Wolf Kalipp

    Alexandre Guilmant ein reaktionrer Progressiver der Orgel-musik?Die in breiteren Kreisen der Musikinteressierten immer noch nicht genug bekannt gewordenen Orgelkompositionen des Pariser Trinit-Organisten und ersten internatio-nal ttigen Virtuosen bieten gerade Schlern und nebenberufl ich wirkenden Spielern ein reiches Erfahrungsfeld an musikalisch-technischen Grundelementen. Im Gegen-satz zu seinen meisten franzsischen Altersgenossen und Schlern hat Alexandre Guilmant eine Unmenge von Stcken fr den gottesdienstlichen Gebrauch geschrie-ben und auch Bereiche bercksichtigt, welche sonst brachliegen (Bearbeitungen, Duette, Musik fr Orgel und Orchester). Es ist wohl nicht ganz falsch, in ihm einen Johann Gottfried Walther der Romantik zu sehen, also einen Meister, bei dem man immer eine grosse Zahl gut gemachter und schnell zu erlernender Stcke fr mannigfache Gelegenheiten fi ndet. Wenn man seine Musik nur besser kennen wrde!

    Guilmant ldt in seinem vielseitig angelegten Orgeluvre dazu ein, Orgelmusik von einer weniger polyphon-verkopften, sondern mehr von im besten Sinne emotional-geniesserischer Seite kennen zu lernen. Gleichzeitig vermittelt er Schulungswege, das Orgelspiel des anfahenden (Bach, Vorrede zum Orgelbchlein) wie des nebenamtlichen Organisten nach klassischen Kriterien auszurichten (1. barocke

  • 18 Wolf Kalipp: Alexandre Guilmant ein reaktionrer Progressiver der Orgelmusik?ORGELLITERATUR

    Musik und Gottesdienst 64. Jahrgang 2010

    Polyphonie, 2. formale und gestalterische Qualitten der Wiener Klassik, an denen jeder Klavierschler seine Basistechnik ausrichten sollte, und 3. dynamische und agogisch-emotionale Differenzierung im Sinne des romantischen Charakterstcks und des sinfonischen Satzes) und immer wieder zu berprfen. Der bisweilen geusserte Vorwurf, seine Orgelmusik sei zu schlicht, zu einfach gesetzt, sei allzu reaktionr in ihrer Attitde, kann allein schon durch Guilmants orgelpdagogische Bedeutung entkrftet werden. Seine sich in barocken und klassisch-romantischen Bahnen bewegende Tonsprache und Satztechnik nimmt den Impuls des Orgelgerechten aus der Vergangenheit auf, assimiliert diesen mit der Klaviertechnik von Bach, Hndel, Beethoven, Mendelssohn, Chopin und Liszt und vollendet ihn in einer weltweit wirkenden Schlergeneration, die wichtige Positionen innerhalb der Musik des20. Jahrhunderts sowohl als Komponisten als auch als Interpreten besetzt.

    Zweifellos hat Guilmant derzeit an Popularitt zugunsten seiner orgelsympho-nischen Generationsgenossen (wie z. B. Charles-Marie Widor, Louis Vierne, Marcel Dupr) und ihrer Folgegeneration (Alain, Messiaen, Langlais, Litaize, Guillou u. a.) eingebsst. Viele seiner Stcke erscheinen heute nicht mehr spektakulr genug, haben durch die Wiederaufl age einer Flle an europischer Orgelmusik des 19. und frhen 20. Jahrhunderts in den letzten 30 Jahren (scheinbar) an Strahlkraft verloren. Dennoch reprsentieren sie unabhngig von ihrer Bedeutung fr die Entwicklung der franzsischen Orgelmusik des 19. Jahrhunderts einen klassischen Standard in der Kultur des Orgelspiels, der nicht nur auf Cavaill-Coll-Orgeln erfahrbar, sondern auch auf zeittypischen Instrumenten von Walcker, Ladegast, Sauer, Willis und ihren amerikanischen Zeitgenossen und auch auf modernen Orgeln usserst vorteilhaft (und unkompliziert!) darstellbar ist. Guilmant ist in bestem Sinne ein kosmopoli-tischer Orgelkomponist und hat dies durch seine weltweite Ausstrahlung bereits zu Lebzeiten unter Beweis gestellt.

    Die franzsische Orgelschule ist bis heute nicht ohne ihn denkbar, seine Orgel-stilistik beruht auf klassischer Ausgewogenheit in Form und Inhalt und, noch wichtiger, auf vornehmer Zurcknahme eines vordergrndig-romantischen Dranges nach virtuoser Egozentrik. Guilmant ist jedem Orgelmusikfan eine Art treuer und zuverlssiger Guide Michelin auf seinem Wege, Orgelmusik nicht nur puristisch l Franaise, sondern in ihrer gesamten Vielfalt zu erleben.

    Biografi sches zu Guilmant

    1837, 12.3. Flix-Alexandre Guilmant wird in Boulogne-sur-Mer (Frankreich) als Sohn von Jean Baptiste Guilmant (17931890) und Marie-Thrse Poulain (17981867) geboren. In der Familie gab es seit Jahrzehnten Organisten und Orgelbauer. Erster Klavier- und Orgelunterricht beim Vater. Studium u. a. der Orgelbaulehre von Dom Bdos de Celles (17091779) LArt du Facteur dOrgues.

    1849 Erster Organistendienst an der Orgel seines Vaters in St-Nicolas de Boulogne. Ein-tritt in das Collge Communal. Unterricht in Musiktheorie durch Gustave Carulli (18011876), Sohn des Gitarrenvirtuosen Ferdinando Carulli (17701841). Unter-richt in Klavier, Violine und Viola.

    1853 Organist an St-Joseph de Boulogne.

    Impuls des Orgelgerechten aus der Vergan-

    genheit

    klassischer Standard in der

    Kultur des Orgelspiels

  • Musik und Gottesdienst 64. Jahrgang 2010

    Wolf Kalipp: Alexandre Guilmant ein reaktionrer Progressiver der Orgelmusik? 19ORGELLITERATUR

    ab 1850 Enge Beziehungen von Orgel-baumeister Aristide Cavaill-Coll (18111899) zu Jacques-Nicolas Lemmens (18231881), belgischer Orgelvirtuose und Brsseler Konservatoriumspro-fessor (Wiedererweckung des Bach-Spiels im frankophonen Bereich).

    1859 Aristide Cavaill-Coll hrt Guil-mants Orgelspiel in seinem Ate-lier in Paris auf der Orgel fr St-Louis-dAntin und lobt in einem Brief an Guilmants Vater dessen Registrierkunst.

    1860 Fertigstellung einer Hausorgel (4 Register, angehngtes Pedal) zusammen mit seinem Vater, auf der Guilmant spter in Paris bzw. in Meudon unterrichtete. Guilmant schliesst vermutlich Bekanntschaft mit Lemmens. Guilmant geht daraufhin zu einem ca. einmonatigen Studium nach Brssel. Wesentliche Charakteristika von Lemmens Orgeltechnik, Orgelmethodik und Bach-Spiel werden von Guilmant bernommen. Weitere Sch-ler von Lemmens waren in diesen Jahren Charles-Marie Widor (18441937) und Clment Loret (18331909).

    1862, 29. 4. Einweihung der Cavaill-Coll-Orgel in St-Sulpice/Paris durch C. Franck, C. Saint-Sans, G. Schmitt, A. Bazille und Guilmant. Dieser spielt seine Mditation op. 20 No 1 zur Zufriedenheit der Rezensenten.

    2. 5. Solokonzert Guilmants in St-Sulpice.1865 Heirat mit Louise Rosalie Blriot. Aus der Ehe gingen drei Tchter und zwei Shne

    hervor.1865 Erste England-Tournee. Einweihung der neuen Cavaill-Coll-Orgel in der Karme-

    literkirche Kensington zusammen mit Widor. Beginn intensivster internationaler Konzertttigkeit Guilmants in den folgenden Jahrzehnten mit Schwerpunkt in Eng-land.

    1868, 6. 3. Einweihungskonzert der Cavaill-Coll-Orgel in Notre-Dame de Paris. Guilmant spielt eine seiner berhmtesten Kompositionen Marche funbre et Chant sra-phique op. 17. Weitere Teilnehmer: u. a. Franck, Saint-Sans, Loret, Widor.

    1871 Nach dem Tode von Alexis Chauvet (18371871) Titularorganist an der Cavaill-Coll-Orgel (1869) von Ste-Trinit de Paris. bersiedlung von Boulogne nach Paris in die Rue de Clichy Nr. 62 in unmittelbarer Nhe zu Ste-Trinit. Zweimaliger sonn-tglicher Orgeldienst (Hauptmesse und Vesper). Guilmant versieht dieses Amt bis 1901. Unterricht in der Kirche ist ihm nicht erlaubt. In den folgenden Jahrzehnten unterrichtet er an seiner Hausorgel eine wachsende internationale Schlerschar.

    1878, 7. 8. Weltausstellung Paris. Einweihungskonzert der Cavaill-Coll-Orgel in der Salle des Ftes du Palais du Trocadro durch Guilmant.

    um 1880 Umzug in eine Villa im sdlichen Pariser Vorort Meudon (Chemin de la Station Nr. 10, heute nicht mehr existent).

    18791898 Guilmant veranstaltet regelmssige Grands Concerts dOrgue im Trocadro. Schwerpunkte: Hndels Orgelkonzerte und zeitgenssische Komponisten

    und 1901 (u. a. C. Franck, L. Vierne, S. Karg-Elert sowie eigene Werke, auch mit Orches-1906 ter). Grosse Spannweite des Repertoires.

  • 20 Wolf Kalipp: Alexandre Guilmant ein reaktionrer Progressiver der Orgelmusik?ORGELLITERATUR

    Musik und Gottesdienst 64. Jahrgang 2010

    1886 und 1891 Deutschland-Reisen (Frankfurt, Nrnberg, Wrzburg).1886, 1891, 1896 Guilmant besucht Bayreuth.1893 1. Amerika-Tournee (New York, Chicago/Weltausstellung).1894 Grndung des kirchenmusikalischen Instituts Schola Cantorum in Paris (zu-

    sammen mit Charles Bordes und Vincent dIndy).18961911 Professor fr Orgel am Pariser Conservatoire als Nachfolger Widors, dessen

    Klasse er bernimmt.1897/98 2. Amerika-Tournee (Ostkste der USA, New York).18971909 Unter Mitwirkung des Musikwissenschaftlers Andr Pirro (18691943) gibt

    Guilmant die Reihe Les Archives des Matres de lOrgue des XVIe, XVIIe et XVIIIe sicles heraus.

    1899 Bau einer Hausorgel in Meudon (3 Man./Ped., 28 Register) durch Charles Mu-tin, Cavaill Colls Nachfolger. Regelmssige Hauskonzerte.

    1902 Organiste honoraire an Notre-Dame de Paris auf Betreiben von Louis Vierne nach seinem Ausscheiden aus dem Organistenamt an Ste-Trinit.

    1904 3. Amerika-Tournee (St. Louis/Weltausstellung hier gibt Guilmant 40 Kon-zerte innerhalb von sechs Wochen, zahlreiche weitere Konzerte in New York und an der Ostkste).

    1908 Tod der Ehefrau. 1911, 29. 3. Guilmant stirbt in seinem Haus in Meudon.1. 4. Trauerfeier in Meudon und in Ste-Trinit und Beisetzung auf dem Friedhof

    Montparnasse in Paris.1925 Erwerb der Hausorgel von 1899 durch Guilmants Schler Marcel Dupr.1926/27 Aufstellung des Instrumentes in der der Villa Guilmant benachbarten Villa

    Dupr in Meudon, wo es heute noch in vernderter Form erhalten ist.

    Guilmant und die Cavaill-Coll-OrgelLOrgue symphonique, die franzsische romantische Orgel, dient Guilmant als Ausgangspunkt fr seine Kompositionssthetik. Den Zeitraum von 18501920, in dem sich dieser Orgeltyp entwickelt, hat Guilmant weitgehend mitgestalte