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Dokurnentation und Information XIII. Wiirzburger medizinhistorisches Kolloquium 43 Die Wurzburger medizinhistorische Ge- sellschaft veranstaltete gemeinsam mit dem Institut fur Geschichte der Medizin der Universitat Wurzburg ein wissen- schaftshistorisches Symposium, das am 30. Oktober 1993 stattfand. Zunachst berichtete Christoph Weger (Wurzburg) aus der Geschichte der Frak- turbehandlung, namlich uber ,,Martin Kirschner und den ,Kirschnerdraht' ", wobei einerseits Aspekte der Osteosynt- hese beziehungsweise der Extension mit- tels Draht zur Sprache kamen, anderseits eine der bedeutendsten Chirurgenperson- lichkeiten der ersten Jahrhunderthalfte schlaglichtartig beleuchtet wurde. Uber diese war im Zusammenhang mit der Spinalanaesthesie vor zwei Jahren bereits vorgetragen worden (vgl. Berichte zur Wis- senschaftgeschichte 15 [1992], 54f.). Einer der Hohepunkte mittelalterlicher Alche- mie stand im Zentrum des Vortrages von Bernhard Dietrich Haage (Mannheim), der zum Thema ,,Die KorpuskularTheorie bei Geber Latinus" zunachst neueste Er- gebnisse aus der Geber-Forschung pdsen- tierte, sodann einen kurzen Abrif3 der Atom- und der Korpuskulartheorie bis hin zu Thomas von Aquino bot, um vor diesem Hintergrund die Kor uskular- zu betrachten. ,,Medizinisches, Naturwissenschaftli- ches und Alltagliches aus elsassischen Handschriften" gab Johannes Mayer (Wiirzburg) AnlaB zu enerellen ,,Bemer- hend von verschiedenen Ansatzen zur De- finition von Fachprosa, wies er insbeson- dere auf die Notwendigkeit philologischer Forschung in der Medizingeschichte hin und hielt ein eindringliches Pladoyer fur den kritischen Umgang mit dem bekann- ten artes-Schema von Hugo von St. Victor, das sich bei der Untersuchung der Bildung landessprachiger Textkorpora als Raster hochstens unter groi3en Einschdnkungen verwenden lasse. Theorie bei Pseudo-Geber dif P erenziert kungen zur Fachprosa P orschung". Ausge- Ebenfalls Grundsatzliches erorterte Bernhard Schnell (Wurzburg): ,,Die deut- sche Medizinliteratur des Mittelalters in den ,Geschichten der Medizin': Ein Uber- blick zur Forschungssituation im deutsch- sprachigen Raum". Die Tatsache, daf3 vier in den letzten vier Jahren erschienene ,Me- dizingeschichten' die Existenz deutscher mittelalterlicher Medizinliteratur (abgese- hen von Hieronymus Brunschwigs Destil- lierbuch) so gut wie nicht erwahnten, bot Anlaf3 fur eine Untersuchung der Ursa- chen der offensichtlichen Mii3achtung volkssprachiger Texte. Das Mittelalter werde allzuoft noch von heute aus bewer- tet und damit unhistorisch gesehen, was zwangslaufig zur Abwertung fuhren miisse. Der Aufbau von drei der untersuch- ten Darstellungen der Geschichte der Me- dizin lasse die Anlehnung an die von Julius Page1 1898 getroffene Epochen-Einteilung und deren Bewertung erkennen, der diese offenbar unter dem EinfluB des Kultur- kampfes und der damit verbundenen Ab- wertung des Klerikalen vorgenommen ha- be. In der Wissenschaftsgeschichte sei in- des die Vorstellung vom ,,finsteren Mittel- alter" eigentlich langst uberholt, was zu der Frage fuhre, ob Gesamtdarstellungen der Medizingeschichte kunftig von einem Autor allein geleistet werden konnten. Zwei biographisch ausgerichtete Vor- tdge beschlossen den abwechslungsrei- chen Vormittag: Frank Krogmann (Thiin- gersheim) sprach uber ,,Ignaz Gulz - einen Wiener Augen- und Ohrenarzt vor 150 Jahren auf einer Studienreise durch Europa". Michael Sachs (Frankfurt) stellte einen der Begriinder der neuzeitli- chen Chirurgie in Deutschland vor: ,,Mat- thaus Gottfried Purmann (1649-1711) - ein schlesischer Chirurg auf dem Weg von der mittelalterlichen Volksmedizin zur modernen Chirurgie". Der Nachmittag wurde diesmal nicht mit Vortfigen ausgefullt, sondern diente der Beschaftigung mit der neuesten insti- tutionsbezogenen Wurzburger Medizin- Ber,Wissenschaftsgesch. 18 (1995) 43-44

XIII. Würzburger medizinhistorisches Kolloquium

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Page 1: XIII. Würzburger medizinhistorisches Kolloquium

Dokurnentation und Information

XIII. Wiirzburger medizinhistorisches Kolloquium

43

Die Wurzburger medizinhistorische Ge- sellschaft veranstaltete gemeinsam mit dem Institut fur Geschichte der Medizin der Universitat Wurzburg ein wissen- schaftshistorisches Symposium, das am 30. Oktober 1993 stattfand.

Zunachst berichtete Christoph Weger (Wurzburg) aus der Geschichte der Frak- turbehandlung, namlich uber ,,Martin Kirschner und den ,Kirschnerdraht' ", wobei einerseits Aspekte der Osteosynt- hese beziehungsweise der Extension mit- tels Draht zur Sprache kamen, anderseits eine der bedeutendsten Chirurgenperson- lichkeiten der ersten Jahrhunderthalfte schlaglichtartig beleuchtet wurde. Uber diese war im Zusammenhang mit der Spinalanaesthesie vor zwei Jahren bereits vorgetragen worden (vgl. Berichte zur Wis- senschaftgeschichte 15 [1992], 54f.). Einer der Hohepunkte mittelalterlicher Alche- mie stand im Zentrum des Vortrages von Bernhard Dietrich Haage (Mannheim), der zum Thema ,,Die KorpuskularTheorie bei Geber Latinus" zunachst neueste Er- gebnisse aus der Geber-Forschung pdsen- tierte, sodann einen kurzen Abrif3 der Atom- und der Korpuskulartheorie bis hin zu Thomas von Aquino bot, um vor diesem Hintergrund die Kor uskular-

zu betrachten. ,,Medizinisches, Naturwissenschaftli-

ches und Alltagliches aus elsassischen Handschriften" gab Johannes Mayer (Wiirzburg) AnlaB zu enerellen ,,Bemer-

hend von verschiedenen Ansatzen zur De- finition von Fachprosa, wies er insbeson- dere auf die Notwendigkeit philologischer Forschung in der Medizingeschichte hin und hielt ein eindringliches Pladoyer fur den kritischen Umgang mit dem bekann- ten artes-Schema von Hugo von St. Victor, das sich bei der Untersuchung der Bildung landessprachiger Textkorpora als Raster hochstens unter groi3en Einschdnkungen verwenden lasse.

Theorie bei Pseudo-Geber dif P erenziert

kungen zur Fachprosa P orschung". Ausge-

Ebenfalls Grundsatzliches erorterte Bernhard Schnell (Wurzburg): ,,Die deut- sche Medizinliteratur des Mittelalters in den ,Geschichten der Medizin': Ein Uber- blick zur Forschungssituation im deutsch- sprachigen Raum". Die Tatsache, daf3 vier in den letzten vier Jahren erschienene ,Me- dizingeschichten' die Existenz deutscher mittelalterlicher Medizinliteratur (abgese- hen von Hieronymus Brunschwigs Destil- lierbuch) so gut wie nicht erwahnten, bot Anlaf3 fur eine Untersuchung der Ursa- chen der offensichtlichen Mii3achtung volkssprachiger Texte. Das Mittelalter werde allzuoft noch von heute aus bewer- tet und damit unhistorisch gesehen, was zwangslaufig zur Abwertung fuhren miisse. Der Aufbau von drei der untersuch- ten Darstellungen der Geschichte der Me- dizin lasse die Anlehnung an die von Julius Page1 1898 getroffene Epochen-Einteilung und deren Bewertung erkennen, der diese offenbar unter dem EinfluB des Kultur- kampfes und der damit verbundenen Ab- wertung des Klerikalen vorgenommen ha- be. In der Wissenschaftsgeschichte sei in- des die Vorstellung vom ,,finsteren Mittel- alter" eigentlich langst uberholt, was zu der Frage fuhre, ob Gesamtdarstellungen der Medizingeschichte kunftig von einem Autor allein geleistet werden konnten.

Zwei biographisch ausgerichtete Vor- tdge beschlossen den abwechslungsrei- chen Vormittag: Frank Krogmann (Thiin- gersheim) sprach uber ,,Ignaz Gulz - einen Wiener Augen- und Ohrenarzt vor 150 Jahren auf einer Studienreise durch Europa". Michael Sachs (Frankfurt) stellte einen der Begriinder der neuzeitli- chen Chirurgie in Deutschland vor: ,,Mat- thaus Gottfried Purmann (1649-1711) - ein schlesischer Chirurg auf dem Weg von der mittelalterlichen Volksmedizin zur modernen Chirurgie".

Der Nachmittag wurde diesmal nicht mit Vortfigen ausgefullt, sondern diente der Beschaftigung mit der neuesten insti- tutionsbezogenen Wurzburger Medizin-

Ber,Wissenschaftsgesch. 18 (1995) 43-44

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44 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 18 (1995)

historie, uber die GundolfKeil die Sympo- Die Veroffentlichung der Vortr;dge ist siumsteilnehmer im Rahmen der Besichti- fur Band 12 (1994) der ,Wiirzburger medi- gung des neuen Instituts fur Geschichte zinhistorischen Mitteilungen' vorgesehen. der Medizin am Oberen Neubergweg 10 a ausfuhrlich informierte. Ulrich Stoll

Anschrift des Verfassers: Dr. phil. Ulrich Stoll, Institut fur Geschichte der Pharmazie, Roter Graben 10, D-35032 Marburg/Lahn.

,,Contagion: Perspectives from Pre-Modern Societies"

Bericht iiber eine Tagung am Wellcome Institute, London, 10./11.12.1993

Die von L. I. Conrad und D. Wujastyk or- ganisierte Konferenz behandelte die be- sonders gravierende Forschungslucke bei den ,,vorneuzeitlichen" Konzeptionen von ansteckender Krankheit. In vier Sek- tionen wurden Beitdge zu China, Indien, dem Nahen Osten und Europa vorge- tragen.

Der Chinese Wu Youxing wird wegen seiner ,,Entdeckung" (1642), dai3 eine groi3e Anzahl von Seuchen nicht auf Um- welteinflusse, sondern auf zaqui (verschie- dene Wirkkdfte) zuriickgehe, von westli- chen Medizinhistorikern oft als Vorlaufer in der Geschichte der Bakteriologie be- handelt. Sh. Kuriyamu stellte in ,,The Sig- nificance of the Theory of Contagious Epidemic Fevers (wenyi) in the History of Chinese Medicine" diese ,,Entdeckung" nun in den Gesamtzusammenhang des Werkes und diachron in den chinesischen Kontext. Dabei zeigen sich Ambivalenzen hinsichtlich der Atiologie und ein gering- fiigigeres Abweichen von der Tradition als bisher angenommen. Wie Ch.-E Chung in ,,Dispersing the Heat Toxin of Body: Conceptions of Getting Smallpox in Pre-Modern China" darlegte, steckte man sich nach chinesischen Vorstellungen mit Pocken an, weil man das erbliche Hitze- gift im Korper hatte, das dann allerdings nachrangig durch aui3ere Einflusse, insbe- sondere jahreszeitliche Dampfe, angeregt werden mui3te. Die Heiler entwickelten entsprechend therapeutische Empfehlun- gen zur Vermeidung dieser Ansteckungs- aktivierung, wahrend die meisten Laien

eine Pockenerkrankung wahrend ihres Le- bens fatalistisch als ,,natiirlichen Vorgang" akzeptierten. Christopher Cullen erklarte in ,,The Threatening Stranger: Kewu in Pre-Modern Chinese Paediatrics", dai3 die Ansteckung bei ,,kewu" (Reaktion auf Angst mit Schreien und starken Ma- gen-Darmbeschwerden) auf die Wirkung vielfaltiger Objekte aui3erhalb des Kindes zuriickgefuhrt wurde. Dazu gibt es eine uber tausendjahrige enzyklopadische Tra- dition, die auch in dem.mai3geblichen kin- derheilkundlichen Handbuch von 1750 weiterwirkt. Demgegenuber scheinen Praktiker Therapien eher auf dem Kon- zept der Furcht (jing) (des Kindes) aufge- baut zu haben. Ansteckungsvorstellungen variieren in dem breiten Feld von Mog- lichkeiten zwischen diesen beiden Polen.

Zu Indien beschrieb K. G. zysk in sei- nem Vortrag ,,Some Reflections on the Notion of Contagion in Ancient Indian Medicine" zunachst die Ansteckungsvor- stellungen in der vedischen Tradition. Es wirkten Gotter oder Damonen, angezo- gen vom schlechten Verhalten der Men- schen; Wasser konnte als Mittler dazwi- schentreten, ein Zusammenhang mit der Jahreszeit wurde beobachtet ; spater ka- men Hexen als Akteure hinzu. In der klas- sischen ayurvedischen Lehre von den Krankheitsursachen wurde dann zwischen internen und externen Faktoren - wie Winden, Wasser, Orte, Jahreszeiten und Sternen - unterschieden, die das Gleich- gewicht storten, wobei auch das friihere Leben nachwirken konnte. Ahnlichkeiten

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