13
Acta Medica Scandinavica. Vol. LXXXIV, fasc. I, 1934. Aus der neurologischen Klinik der Universitat Bukarest. Vorstand: Prof. Dr. 0. Marinesco. Zentrale und periphere Stiirungen des Nerven- systems im Verlaufe der Grippe. Von Doz. Dr. STATE DRAGANESCO u. Doz. Dr. E. FACON. Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat man das Auf- treten von nervosen Storungen als Folge der verschiedenen allge- meinen Infektionen und besonders derjenigen, welche Hautexan- theme aufweisen (Masern, Pocken, Scharlach u. s. w.), verzeichnet. Spater beobachtete man ahnliche Erscheinungen - unter dem klinischen Bilde einer Encephalomyelitis verlaufend - nach der Schutzpockenimpfung und neuerdings sogar nach der Einvcr- leibung verschiedenartiger Vakzine. Zwei Falle von Encephalomyelitiden, die den obenerwahnten nahestehen, wurden kurzlich von Greenfield auch im Verlaufe der Grippe beobachtet - einer Krankheit, die man bisher nur selten im Zusammenhang mit dem Erscheinen nervoser Storungen erwilhnt hatte. Im ersteren handelt es sich um einen Kranken, 37 Jahre alt, der an einer mit Bronchopneumonie komplizierten Grippe erkrankte; nach drei Wochen - als die Grippeerscheinungen fast vollkommen erloschen waren - fiihlte sich der Kranke mude, hatte eine Harn- retention und klagte iiber grosse Schmerzen in den unteren Glied- massen. In drei Tagen bildete sich eine schlaffe Paraplegie mit Sensibiliats- und Sphincterstdrungen aus; im Liquor fand man eine massige Reaktion, aus Hyperglobulinose, Pleocytose (29 Lym- phocyten) und negativem Wassermann bestehend. Der Kranke Bei der Redaktion am 11. Juni 1934 eingegangen.

Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

Acta Medica Scandinavica. Vol. LXXXIV, fasc. I, 1934.

Aus der neurologischen Klinik der Universitat Bukarest. Vorstand: Prof. Dr. 0. Marinesco.

Zentrale und periphere Stiirungen des Nerven- systems im Verlaufe der Grippe.

Von

Doz. Dr. STATE DRAGANESCO u. Doz. Dr. E. FACON.

Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat man das Auf- treten von nervosen Storungen als Folge der verschiedenen allge- meinen Infektionen und besonders derjenigen, welche Hautexan- theme aufweisen (Masern, Pocken, Scharlach u. s. w.), verzeichnet.

Spater beobachtete man ahnliche Erscheinungen - unter dem klinischen Bilde einer Encephalomyelitis verlaufend - nach der Schutzpockenimpfung und neuerdings sogar nach der Einvcr- leibung verschiedenartiger Vakzine.

Zwei Falle von Encephalomyelitiden, die den obenerwahnten nahestehen, wurden kurzlich von Greenfield auch im Verlaufe der Grippe beobachtet - einer Krankheit, die man bisher nur selten im Zusammenhang mit dem Erscheinen nervoser Storungen erwilhnt hatte.

Im ersteren handelt es sich um einen Kranken, 37 Jahre alt, der an einer mit Bronchopneumonie komplizierten Grippe erkrankte; nach drei Wochen - als die Grippeerscheinungen fast vollkommen erloschen waren - fiihlte sich der Kranke mude, hatte eine Harn- retention und klagte iiber grosse Schmerzen in den unteren Glied- massen. In drei Tagen bildete sich eine schlaffe Paraplegie mit Sensibiliats- und Sphincterstdrungen aus; im Liquor fand man eine massige Reaktion, aus Hyperglobulinose, Pleocytose (29 Lym- phocyten) und negativem Wassermann bestehend. Der Kranke

Bei der Redaktion am 11. Juni 1934 eingegangen.

Page 2: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

ZENTRALE U N D PERIPHERE STORUNCEN D E S NERVENSYSTEMS 61

starb nach funf Tagen an den Folgen dieser grippalen Broncho- pneumonie.

Im zweiten Falle handelt es sich wiederum um einen Mann, 32 Jahre alt, der an Grippe erkrankte (Kopfschmerzen, Magen- darmstorungen, Fieber). Nach zwei Tagen tritt eine schlaffe Para- plegie auf, die im Laufe von vier Tagen sich vollstilndig ausbildet.

Es besteht absolute Aniisthesie an den unteren Gliedmassen und Harninkontinenz. Im Liquor findet man 17 Lymphocyten auf 1 mms und einen negativen Wassermann. Exitus nach 7 Tagen infolge einer Sepsis, die aus dem aufgetretenen Dekubitus ausgeht.

Die pathologische Untersuchung ergab in beiden Fallen peri- vaskulilre Entmarkungsherde, sowohl in Ruckenmark, als auch in der Medulla oblongata, in der Pons, im Thalamus und im Mark- weiss der Hirnrinde. Im Ruckenmark waren die Degenerations- vorgiinge uber die ganze Unge verteilt und bildeten sogar kleine Entmarkungsplaques mit einem Gefhss im Zentrum. Gleichzeitig findet Greenfield perivaskulilre, hiilsenformige Zellinfiltrationen.

Die Zellen in den perivaskularen Zonen sind von zwei Typen: Zellen mit semmelfhnigen oder polymorphen Kernen und lympho- cytilre Zellen mit runden oder ovalaren Kernen. Einige dieser letzteren niiherten sich dem Typus der undifferenzierten Plasma- zelle. Besonders im Bereich der Virchow-Robinschen Raume befanden sich zahlreiche rund- und ovalarkernige Zellen nebst spar- lichen polymorphkernigen Leukozyten.

Ausserhalb der Adventitialrhume befanden sich fast ausschliess- lich polymorphkernige Zellen. Aus dem Studium der Liisionen kommt Greenfield zu dem Schluss, dass eine Ahnlichkeit zwischen diesen FIllen und denen von Encephalomyelifiden nach Pocken oder Impfpocken besteht. Betreffs der Atiologie bestreitet der englische Autor den Gedanken, dass die Encephalomyelitis dem Vakzine- oder Pockenvirus zuzuschreiben sei (Mac-Intosh), oder dass dieselbe eine von den erwiihnten Krankheiten bedingte, ana- phylaktische Reaktion darstelle - (Glanzmann).

Greenfield glaubt, dass die akute, disseminierte Encephalo- myelitis eine Krankheit ,per sea sei, deren Ausbruch von einer Reihe von Erregern bewirkt, entfaltet, und begUnstigt wird, unter denen augenblicklich auch der Erreger der Grippe mintinbegriffen sei.

Ebenso behauptet Althaus, dass: ,Influenza is allways a true nervous fever,. Die Forschungen von Revillod, Simons, Kinn,

Page 3: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

62 STATE DRACANESCO und E . FACON.

Parage verzeichnen nervose Storungen im Verlaufe der Grippe- infektion und andere Autoren haben daselbst vegetative und endokrine Liisionen erwiihnt.

Austregesillo beschreibt in der letzten Zeit (1932) das Angreifen des ganzen autonomen Nervensystems, insbesondere des Vagus, im Verlaufe der Grippe.

Im Laufe der letzten zwei Jahre konnten wir eine Reihe von Fallen beobachten, bei denen verschiedenartige nervose Storungen im Verlaufe einer Grippe aufgetreten waren.

Im Folgenden berichten wir die zusammengefasste und aus- fiihrliche Beschreibung dieser Fllle, umsomehr als man - wie es uns scheint - die grippale Etiologie bei diesen nervosen Storungen nicht genug gewiirdigt hat.

A). Falle mit peripheren oder uorwiegend peripheren Erscheinugen. 1. - A. C., 25 Jahre alt, wird am 5. V. 1933 in die Bukarester neurolo-

gische Klinik (Prof. U. Marinescu) wegen einer Tetraparesis aufgenommen. Vor zwei Jahren hatte Patient eine luische Infektion und unterzog

sich durch ein J a b einer unregelmbsigen und unvollstandigen spezitischen Kur. Vor 5 Wochen erkrankte er an einer #Grippe*; nach zwei Wochen traten Schmerzen in den Unterschenkelmuskeln und Mattigkeit in den oberen und unteren Gliedmassen auf.

Der Status prLens zeigt eine beiderseitige mittlere Atrophie der kleinen Handmuskeln, Motilit&tsstl)rungen in den distalen Abschnitten der oberen und unteren Uliedmassen, vorwiegende Paresis der Peroneusmuskelgruppen; Steppergang. Die Achillessehnenreflexe fehlen; Schmerzhaftigkeit bei Druck in den Unterschenkelmuskeln. Herabsetzung der oberflachlichen Sensibilitat im Bereich der oberen und unteren Extremitaten. Die elek- trische Untersuchung (Dr. Iordtinescu) zeigt eine partielle Ea R. im Gebiete des N. peroneus communis. Liquoruntersuchung: Nonne-Appelt- u. Pandy-Reaktion stark positiv, 6-7 ZeIlen auf ein Nageottesches Veld, Benzoe- u. Wassermannreaktion negativ. Die Behandlung bestand in Wissmuth- u. Strychnininjektionen (in steigenden Dosen), in Vaccineurin u. 20 Vierzellenbadern; leichte Besserung nach sechs Wochen.

Pazient wird 6 Monate nach Entlassung wieder untersucht. Die Amyotrophie und Paresis in den unteren Gliedmassen, sowie das Fehlen des Achillesreflexes bestehen noch.

Es handelt sich also urn einen Fall von Polyradiculoneuritis, bei welchem die spontanen Schmerzen und die Liquorveranderun- gen die Beteiligung der Wurzeln zeigten, wahrend die Druck- schmerzhaftigkeit fiir die Lasion der peripheren Nerven sprach.

Page 4: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

Z E N T R A L E U N D PERIPHERE S T O R U N G E N D E S NERVENSYSTEYS. 63

Die anderen Symptome (Amyotrophie, Fehlen der Sehnenreflexe, Sensibilitatsstorungen) gehoren beiden Krankheitsprozessen.

Durch seine Kennzeichen kann dieser Fall in die Gruppe des Syndroms von Guillain und BarrC, der heilbaren akuten Polyradi- culoneuritis, eingereiht werden.

Was die Etiologie anbetrifft, so miissen wir erwiihnen, dass die Krankheit als Folge einer Grippe aufgetreten ist. Die luische Infektion, die der Kranke vor zwei Jahren aufwies, darf nicht als atiologisches Moment in Betracht gezogen werden, da die spezi- fischen Liquorreaktionen negativ ausfielen. Man muss auch an die Tatsache erinnern, dass die Lues im allgemeinen die peripheren Nerven nicht angreift.

2. - Patient G. F., Arzt, 41 Jahre alt, wekt am 18. I. 1933 eine Rekru- deszenz eines chronischen Nasenkatarrhs mit reichem, eitrigem, fdtid- stinkendem Sekret auf. Nach einigen Tagen,. Fieber (38), Kopfschmerzen (im Bereich des 1. Astes des N. trigeminus), diffuse Schmerzen im Gebiet der Occipitalnerven. Nach 6-7 Tagen treten ungewohnlich starke Schmerzen im Bereich des N. ischiadicus und Parastesien in den Handen (vola) und Fersen.

Der Status prbens. Am 29. I: Die o b e n e r w a t e n subjektiven Sto- rungen bestehen; Schmerzhaftigkeit an den Austrittsstellen der ange- griffenen Nerven. Der linke Achillessehnenreflex fehlt; starke Schmerzen bei Druck in den Muskeln und Nerven (N. medianus und ischiadicus).

Abb. 1. Patient G. F. (Fall 2). Stihngen der Thermischen Sensibilitat. Die punktierten Stellen entsprechen der Hypalgesie beim Stechen.

Page 5: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

64 STATE D R A C A N E S C O und E. PASON.

Ziemlich ausgepriigte partielle Empfindungsliihmung. Schmerzempfindung wenig herabgesetzt; Dysestesie und sogar AnLthesie fiir die Warme und Ka te im Bereich von S, - S,, L6 u. C, - C, (Abb. 1). Keine Sphincte- renst6rung; Verminderung der Erektionen.

Die Symptome gingen allmahlich zurilck, nachdem die subjektiven Stbrungen noch anfallsweise aufgetreten waren. Die Behandlung bestand aus Cylotropin- und Septicemin-Einspritzungen; nachher wurde eine, aus dem Nasensekret bereitete Autovakzine, injieiert.

Nach zwei Monaten trat vollsttindige Uenesung ein; nur der rechte Achillesehnenreflex laste sich noch schwach aus.

Dieser Fall kann als eine Septineuritis mit dem vorwiegenden Bild einer Polyradiculoneuritis (unter gleichzeitiger leichter Be- teiligung des Ruckenmarks) aufgefasst werden. Atiologisch kann man zweifellos von nervosen Storungen im Verlaufe einer Grippe sprechen.

B). Fdlle mil zeniralen (Ruckenmark) Erscheinungen. 3. - Patient Uh. P., 40 Jahre alt, weist am 17. 11. 1933 (in voller

Urippeepidemie), grippale Erscheinungen auk Schuttelfrost, Nieder- geschlagenheit, Kopfschmerzen, Fieber (38" 9), leichten Schnupfen. Am nachsten Tage ist der Schnupfen stiirker und ein Husten ist aufgetreten. Am dritten Tage klagt Patient uber leichte Parbthesien (Kribbeln) und Schmerzen in den unteren Uliedmassen, weniger in den oberen. Einen

R

Abb. 2.

SensibilitHt dar, die letzte die taktile Sensib. Patient G. P. (Fall 3). Die Zwei ersten Abb. stellen die thermkche

Page 6: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

ZENTRALE U N D PERIPHERE S T 8 R U N C E N D E S NERVENSYSTEMS 65 Tag spater tritt eine Monoplegie des linken Oberschenkels auf, rnit Mono- paresis des rechten Oberschenkels und Sphincterussttirungen: retentio urinm u. hartnackige Obstipation. Zu dieser Zeit waren die grippalen Rhyno- pharynx-Symptome, sowie die Bronchitis im Ruckgang und die Tempe- ratur war nur noch von 37' 5.

Da der Kranke vor einigen Jahren eine luische infektion aufgewiesen hatte -die er aber intensiv behandelt hatte - lLst man eine Lumbalpunk- tion und eine Wassermann €2. im Blut ausfiihren. Diese letztere war negativ; die Liquoruntersuchung zeigt eine leicht gelbliche (Xanthocromie) Flussigkeit, rnit 3-6 Zellen (Nageotte), mit stark positivem Pandy und Nonne-Appelt, 1.26 Or O/OO Eiweiss (nach Sicard-Cantaloube). Die Zellen bestanden aus Lymphocyten, sparlichen roten Blutktirperchen und sehr splirlichen Monocyten. Die Wa R. (mit 0.8 u. 1 cms) war negativ, wahrend die Quillain-Laroche R. eine partielle Prazipitation aufwies.

Die neurologische Untersuchung zeigt eine schlaffe Paraplegie der unteren Gliedmassen, mit fehlenden Patellar-, Achillessehnen- und Bauch- deckenreflexen, posit. Babinskischem Zeichen beiderseits.

Die Sensibilitat (Abb. 2) weist bedeutende Storungen auf in der Form ei- ner partiellen Empfindungslahmung: es besteht thermische Anesthesie, rnit ausgesprochener Hypalgesie im Bereich von D10-S5. Die taktile Sensi- bilitat ist aufbewahrt, mit Ausnahme von L-5.

Es besteht Retentio urine. Wir stellen die Diagnose einer akuten Myelitis, rnit einer Lbion, die

besonders die letzten Dorsalsegmente betrifft. Was die Atiologie anbetrifft, so dachten wir trotz der friiheren luischen

Infektion (die intensiv behandelt wurde) an eine neurotrope Infektion, die mit der Orippe, welche der Patient beim bankheitsbeginn aufwies, in unmittelbarem Verhiiltnis stand.

Wir verordneten jedoch eine Behandlung, die sowohl auf die Lues, als auch auf die allgemeine Infektion zielte. Man injizierte demnach taglich 0.01 g Quecksilbercyanur und 5 cma. Cylotropin intravenos; man tugte auch Vaccineurininjektionen hinzu. Spater wurde auch Sulfarsenol in Injektionen einverleibt. Das Allgemeinbefinden wurde besser, die Storun- gen der Motilitat gingen allmiihlich zurfick, der Kranke konnte aber noch nicht das Bett verlassen.

Die Patellarreflexe sind leicht gesteigert; die Sphincterensttirungen bestehen noch immer.

Am 7. 111. (d. h. 3 Wochen nach Krankheitsbeginn) zeigte eine neue Liquoruntersuchung: Eiweiss 0.15 yo0, Pandy u. Nonne-Appelt, Wa. und Quillain-Laroche hegativ; 0.6 Zellen. Dieses Ergebnis bekraftigte unsere Vermutung, dqss es sich in diesem Falle nicht um eine luische ditiologie, sondern um eine postgrippale neurotrope Infektion handelte.

4. - R. B., 26 Jahre alt, wird am 5. 111. 1932 von uns wegen Bewe- gungsstorungen in den unteren Gliedmassen untersucht. Etwas schwacher Erntihrungszustand, habitus asthenicus. Stark belastete Anamnese: Lungenentzfindung rnit 7 Jahren, Diphteritis im 6. Lebensjahr, Masern 5 - Ada med. Scandinav. Vol. LXXXN.

Nach 3 Monaten fehlen noch immer die Achillessehnenreflexe.

Page 7: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

66 STATE D R A C A N E S C O und E. FAGON.

u. akuter Gelenkrheumatismus im 4. Lebensjahq im September 1931 luische Infektion der Genitalien. Er unterzieht sich erst einen Monat spater einer spezifischen Kur, im sekundken Stadium: Man injiziert ihm 4.50 g Neosalvarsan und Quecksilbercyanur. Februar 1932 (d. h. zwei Monate spater), neuere Behandlung. Wahrend dieser zweiten Kur - nach 6 Einspritzungen eines Wismuthpraparates und 4 Neosalvarsan- Einspritzungen (1.50 g) - einige Tage nach der letzten Neosalvarsanein- spritzung (6. Mkz), in voller Epidemie, erkrankt Patient an einer Grippe mit Schnupfen, leichter Bronchitis, Fieber (38-39') und hat am vierten Tage demelben eine retentio urine, die den Katheter benotigt. Gleich- zeitig treten Verstopfung, Brechreiz, Erbrechen, vermehrte Schweiss-

A

Abb. 3.

u. Tiefensnnsibilitlit bewahrt.) Patient R. B. (Fall 4). Algo Thermische Aniisthe.de. (Taktile Sensib.

absonderung auf. Zwei Tage nach der retentio urina, empfindet Patient eine leichte Abnahme der aktiven Bewegungen in den unteren Gliedmassen.

Zu diesem Zeitpunkt wird er von uns untersucht. Wir finden eine Paraparesis (der Beine) mit grossen Stbrungen der thermischen Sensibilitat, (abb. 3) positivem Babinskischen Zeichen beiderseits, gesteigerten Seh- nenreflexen. Leichte Leukozytose. Ohne die Liquoruntersuchung vor- zunehmen, verordneten wir eine doppelte Behandlung: fur die Lues (Queck- silbercyanur) und fur die Infektion (Cylotropin); andererseits - um einer aszendenten Infektion der Harnwege vorzubeugen - liessen wir am 13. 11. eine Cystostomie ausfuhren. Drei Tage darauf bildet sich ein akuter Dekubitus des Geshses aus, der sich schnell ausbreitet.

Der Zustand wird allmahlich besser. Am 6. 1V. sind die Bewegungen in den unteren Gliedmassen wieder normal, die Harnentleerung findet wieder

Page 8: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

ZENTRALE U N D PERIPHERE STORLINGEN DES NERVENSYSTEYS 67

statt, die Sensibilitatsstarungen sind zuruckgebildet. Drei Monate nach Krankheitsbeginn war Patient fast vollkommen geheilt. Augenblicklich klagt er noch iiber Sphinkterensttirungen und relative Impotenz. Die Liquoruntersuchung, die jetzt ausgefuhrt wird, ist negativ ausser einer partiellen Lueszacke der Benzoereaktion.

Es handelt sich also um einen jungen Patienten, der eine luische Infektion vor drei Jahren aufwies und welcher in voller Epidemie an einer Grippe erkrankte, wiihrend welcher eine Paraplegie mit partieller Empfindungsliihmung, Sphinkteren- und Genitalstorun- gen einsetzten. Im Blut war die Wassermannsche Reaktion nega- tiv. (Liquoruntersuchung ausgeblieben in akuten Stadium).

C ) . Ein Fall mit zentralen zerebralen Erscheinungen. 5. - Patientin B. B., 24 Jahre alt, wird am 13. IV. 1933 wegen einer

linksseitigen Hemiplegie in die Klinik aufgenommen. Familien- und pers. Anamnese 0. B.

In Februar 1933 erkrankte sie an einer schweren Grippe, die sich bald mit einer Broncho-Pneumonie komplizierte. Einen Monat darauf, erwacht Patientin rnit einer wiihrend des Schlafs eingetretenen linksseitigen Hemi- plegie.

Der Status prbens zeigt nur die linksseitige, totale, spastkche Hemi- plegie (Babinskisches Zeichen positiv links); Liquoruntersuchung: negativ. SensibilitatitsstSrungen fehlen.

Da in diesem Falle die Luesinfektion ausgeschlossen ist, glauben wir, dass die Infektion durch eine Embolie oder durch eine Arte- ritis die plotzliche Hemiplegie verursacht hat.

D). Syndrom einer Ophlalmo-l\leuro-Myelitis. 6. - Patientin L. Z., 30 Jahre ah, erkrankt am 27. I. 1933 an einer

Grippe rnit Fieber (38O), Schnupfen und Tracheitis. Nach drei Tagen ist sie wieder gesund, verliisst das Zimmer und fuhlt sich ganz wohl.

Am 5. Februar-bekommt sie wieder Fieber (37'8) mit Schnupfen, Schuttelfrost, Niedergeschlagenheit und hartnackigen Kopfschmerzen. Einige Tage spater, setzen eine Paraparesis (der Beine) und ein leichtes Zittern der beiden H h d e und der Finger ein.

Wir sehen die Kranke am 12. 11. 1933 und erfahren, dass ihr Vater als Tabiker gestorben ist. Sie selbst wies vor einigen Jahren eine positive Wassermann-R. im Blute auf und unterzog sich einer sehr intensiven spezifischen Kur, wahrend welcher sie an Kopfschmerzen litt, die spater vergingen.

Die neurologische Untersuchung zeigt

Page 9: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

68 STATE DRAGANESCO und E. PACON.

Leichte Ptosis am linken Auge. Parhthesien in den Hiinden. Paraparesis der u. Gliedmassen, mit gesteigerten Sehnenreflexen und

Die objektive Sensibilitiit weist eine thermische Dysesthesie (Kalte

Es bestehen keine Sphinkterenstorungen. Trotz der grippalen Symptome, nach denen die Paraparesis einsetzte,

glauben wir an eine luische hiologie. Die Lumbalpunktion, zeigt eine Mare Flussigkeit, Nonne-Appelt und Pandy stark positiv, Eiweiss ver- mehrt, Pleocytose (26 Zellen), Wassermann stark positiv (im Blute negativ). Wir verordnen eine antiluische (Quecksilbercyanur) und antiinfektiose Behandlung (Cylotropin); nach einigen Quecksilbereinspritzungen fugen wir auch Sullarsenol hinzu (kleine Dosen). Das Allgemeinbefinden wird besser, aber am 16. 11. klagt Patientin uber eine Verminderung der Seh- scharle am linken Auge. Wir unterlassen die Sulfarsenolinjektionen und injizieren nur Queksilber und Cylotropin. Am nachsten Tage vollkommene Amblyopie (linkes Auge). Die Finger konnen in 3 m Entfernung mit dem linken Auge nicht gezahlt werden. Die anderen Symptome sind zuriick- gegangen. Temperatursinn wieder normal, das Uehen moglich; es besteht noch positiv. Bab. Zeichen beiderseits. Die Behandlung wird fortgesetzt, die Sehscharfe ist nach acht Tagen wiederhergestellt; absolute Oenesung tritt nach einem Monat ein.

posit. Babinskischem Zeichen beiderseits.

als sehr warm empfunden), im Bereich von D 1 0 4 3 .

Es handelt sich also um ein voriibergehendes Syndrom von Ophtalmo-Neuro-Myelitis, das im Verlauf einer Grippe auf dem Boden einer luischen Infektion einsetzte.

In allen von uns beobachteten Fiillen besteht also zweifellos eine Influenza, die einige Tage vor dem Auftreten des nervosen Syndroms einsetzt.

Wir glauben aber, dass es angebracht ist, hier noch eine andere Frage zu erllutern. Vier von unseren Kranken (Fall 1, 3, 4 u. 6) hatten friiher eine luische Infektion durchgemacht. Bei drei von ihnen (Fall 1, 3 u. 4) war die Wassermanreaktion im Liquor wiih- rend der jetzigen Krankheit negativ. In dem anderen Fall (6) bestand wiihrend der akuten Periode eine positive Wassermann- reaktion im Liquor, die aber nach kurzer Zeit (zwei Wochen) negativ wurde, und welche - nach unserem Erachten - eine Folge der Hyperalbuminose und Globulinose des Liquors ist, eine haufige Erscheinung auch in Fallen von Riickenmarkskompression mit reicheiweisshaltigem Liquor.

Daraus schliessen wir, dass das neurologische Syndrom nicht der Lues zuzuschreiben ist; die Lues hat vielmehr den Boden dazu

Page 10: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

ZENTRALE U N D PERIPHERE STORUNCEN D E S NERVENSYSTEYS. 69 bereitet und eine Lokalisation des hypothetischen Grippeerregers begiinstigt. Es kommt ja haufig vor - im Verlaufe der neurotro- pen Infektionen -, dass eine banale Krankheit die Entfaltung des neurotropen Virus zulasst, oder dass eine fruher durchgemachte Infektion das Auftreten oder die Lokalisation der neuen Infektion begiinstigt. Diese Fiille miissen natiirlich von denjenigen unter- schieden werden, in welchen es sich um die Aktivierung eines la- tenten Virus handelt und welche von Pette also oBipolarisphBno- men, und von Millian als bbiotropisme indirect* bezeichnet wurden, und von denen wir zwei Falle beschrieben haben, - einen im Ver- lauf einer Lyssaimpfung, den anderen durch eine Gonoccokus- vaccine verursacht.

Die von uns mitgeteilten Falle zeigen also, dass zwischen der Grippeinfektion und dem Auftreten dieser nervosen Storungen ein innerer Zusammenhang besteht. Ausser den obenerwahnten Beobachtungen von Greenfield, finden wir in der Literatur der letzten Jahre noch einige Veroffentlichungen iiber die Lokalisa- tion des Grippeerregers in Nervensystem. So berichtet Bettin uber zwei Falle von Laryngoplegie als Begleiterscheinung einer akuten Neuritis der Hirnnerven, wo die Paralyse den Grippe- erreger zuzuschreiben ist. Natorp veroffentlichte einen Fall von rechtsseitiger Hemiplegie und Aphasie, die durch eine Ence- phalitis verursacht wurde, die im Anschluss an der Grippe- epidemie vom Jahre 1929 auftrat. Eine interessante Beobachtung ist die von Liebers: eine Epileptikerin stirbt nach funf Tagen in- folge einer rechtsseitigen grippalen Pneumonie. Bei der histologi- schen Untersuchung fanden sich im Marke beider Grosshirnhemis- pharen Meine Blutungsherde mit dem bekannten Gliawall; Ftirbung nach Cajal zeigte, dass die gliosen Zellen der Ringwalle nur Oligo- dendro-Gliazellen darstellten. In einem Fall von Influenzaencepha- litis mit Konvulsionen fand Rostan bei der anatomischen Unter- suchung eine Meningoencephalitis der Keilbeingegend, ausserdem Nephritis und Veriinderung der Leberzellen. Ein Fall von Ltih- mung des nervus abducens nach Grippe wird von Mussa-Beili und Uminissa Chanum mitgeteilt. Kiirzlich erwtihnt Wodak das hau- fige Auftreten der Trigeminusneuralse im Verlaufe der Grippe und glaubt, dass das Grippevirus eine besondere Affinitiit zum Nerven- gewebe, insbesondere zum Trigeminus habe.

Page 11: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

70 STATE DRACANESCO u d E. FAGON.

Einer von uns (Draganescu) hat einen Fall von akuter Myelitis im Verlauf einer Grippe beobachtet, bei welchem am zweiten (Tage nach der Einstellung die Lumbalpunktion einen triiben Liquor ergab, mit 3,OOO Leukozyten auf ein Nageottesches Feld, (darunter 80 yo Neutrophile); aus dem Liquor konnte man einen Bazillus isolieren, der dem Pfeifferschen ahnlich sah.

Es ist auch allgemein bekannt, dass viele Encephalomyelitiden mit 8grippeahnlichen Symptomen, einsetzen, deren genaue Diffe- renzierung nicht moglich ist. Stern hat diesen - unter der Bezeich- nung uKopfgrippe, bekannten Symptomenkomplex - in seinen Arbeiten ausfiihrlich beschrieben und gezeigt, dass diese Symptome oft der epidemischen Encephalitis entsprechen.

In den letzten drei Jahren konnten wir auch eine Anzahl von primitiven neurotropen Infektionen beobachten, mit verschieden- artiger Symptomatologie (Polyradikuloneuritiden, Myelitiden, u. s. w.), von denen einige inmitten der Grippeepidemie auftraten, andere nach deren Erloschen, aber all diese Ftille wiesen keine karakteristischen grippalen Symptome auf.

Man muss sich nun die Frage stellen, ob diese Erscheinungen dem Erreger der Grippe selbst zuzuschreiben sind, oder ob dasselbe neurotrope Virus - welches die postvakzinalen und postinfek- tiosen Encephalomyelitiden hervorruft - als auslosender Faktor betrachtet werden muss? In solchem Falle hatte die Grippeinfek- tion als einzige Rolle, die Virulenz jenes hypothetischen neuro- tropen Virus zu entfalten. Greenfield schliesst sich - in der oben- erwiihnten Arbeit - dieser Meinung an.

Was uns anbetrifft, so glauben wir - wenn man auch an die Vielfaltigkeit dieser postgrippalen Erscheinungen denkt (Myeli- tiden, Polyradikuloneuritiden, einfache Neuralgien, u. s. w.), dass es moglich sei, den Grippeerreger allein als auslosenden Faktor anzusehen, ebenso wie die Moglichkeit besteht, dass der Masern- und der Vakzineerreger allein ahnliche Erscheinungen auslosen.

Die pathologische Untersuchung kann nicht - wie es auch Spielmeyer glaubt - an Hand der histologischen Befunde eine Schlussfolgerung auf die Atiologie ziehen.

Diese Frage konnte nur durch experimentelle Arbeiten (Ober- tragung) eine wertvolle Bereicherung erfahren, aber die bisherigen Ergebnisse sind - in dieser Hinsicht - noch recht unbefriedigend.

Page 12: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

Z E N T R A L E U N D P E R I P H E R E S T O R U N G E N DES NERVENSYSTEIS. 71

Zusammenfassung.

Die Verfasser berichten uber eine Reihe von Fallen, bei denen zentrale oder periphere Storungen des Nervensystems unter viel- faltigen klinischen Bildern (Encephalitiden, Myelitiden, Polyradi- kuloneuritiden, einfache Neuralgien, u. s. w.) im Anschluss an einer Grippe auftraten.

Eine friihere Infektion (in einigen dieser Falle die Lues) schien die Lokalisation des neurotropen Virus auf das Nervensystem zu begiinstigen.

Die Autoren sehen sich veranlasst - dadurch, dass sie ihre eige- nen Beobachtungen und die anderer Forscher in Betrachtung ziehen - das eventuelle Einschreiten des grippalen Virus als aus- losender Faktor dieser nervosen Storungen fur moglich zu halten.

Literatur.

1. Austregesilo. Leciones clinica [ 1932). 2. Bettin G., Laringoplegia associate di natura influenzale. Riv. Otol. ecc. 6, 1929. 3. Draganesco, Facon, Iordanesco, Vasilesco, Nouveau cas de syndrome de Guillain et Barre. Rev. Neurol. DBc. 1931. 4. L. van Bogiirt. Les manifestations nerveuses au cours des maladies hruptives. Rev. Neur. Fev. 1933 u. Intern. Kongress Bern 1931. 5. Eckstein. Die postvakzinale Encephalitis 1931. 6. Redlich E. uber abortive Formen der Encephalomyelitis disseminata. Dtsch. Med. Wochenschr. Nr. 14 (1929). 7. Wodak E., Trigeminusneu- ralgie nach Nebenhohlenaffektion - ein Charakteristikum der heurigen Grippeepidemie? Med. Klin. 1933 I, 676-678. 8. Greenfield G. J., Acute Disseminated Encephalomyelitia. as a sequel to ,Influenza,. Journ. of Path. and Bacter. XXXIII, 1930. 9. Guillain et Barre, Sur un syndrome de radiculo-nevrite avec hyper-albuminose du liquide c6phalo-rachidien sans reactions cellulaires. Bull. et MBm. de la SOC. MBd. des Hbp. de Paris, 13 oct. 1916. S. 1462. 10. Liebers M., Zur Histopath. der hamorr. Enceph. bei Grippe mit akuter Hepatitis. Z. f. Neurol. 126, 1930. 11. Margulis, M. S., Klinik der akuten primPen infektiosen Polyneuritiden. Arch. f . Psych. u. Nervenheilk. 95, 1931. 12. Marinesco u. Drfigfinesco, Beitrage zum Studium der primken infektiosen diffusen Neuritiden. Dtsch. Zeit- schr. 1. Nervenheilk., Bd. 112, 1-4, 1930. 13. Marinesco, Sur une forme speciale d’ataxie aigue relevant des lbions des ganglions spinaux usw. Rev. Neurol. 1927, Bd. 2, No. 4. 14. Marinesco, Drfighnesco et Chiser. Myelite suraigue du cbne terminal apparue chez un ancien polyomielitique au cows d’une vaccinotherapie. Bull. et MBm. de la SOC. MBd. des Hbpitaux de Paris, Bd. 31, 1931. 15. Mussa-Beili, Uminissa Chanum. Ein Fall von

Page 13: Zentrale und periphere Störungen des Nerven-systems im Verlaufe der Grippe

72 STATE D R A G A N E S C O md E. FAGON.

Lahmung des n. abd. nach Grippe. Z. Augenheilk. 68 (1929); 16. Natorp, Klinische Beobachtungen am der Grippeepidemie, 1929. Dtsch. Mediz. W.schr. 1929, 11, 1377-80. 17. Pette H., Infektion u. Nervensystem, Dtsche. Ztschr. f. Nervenheilk. 1929. 18. Rostan Alberto, Contributo alla patol. dell’ encefalite influenzale. Riv. Neur., 3, 146-162 (1930). 19. Spielmeyer, Die zentralen Veriinderungen beim Fleckfieber und ihre Bedeutung fur die Histopathologie der Hirnrinde. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, 1919, Bd. 47 u. Wiirzburger Tagung der Ges. d. NervenLzte, 1929. 20. Stern F., Die epidemische Encephalitis, 1928. 21. Wohlwill Fr., Ober Encephalomyelitis bei Masern. Ztschr. fur d. g. Neur. u. Psych., 1928.