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Zur Psychopathologie und Psychotherapie amnestischer Zust~inde. {Auszugsweise vorgetragen im Deutsehen Verein ffir Psychiatrie Jena, 21. IX. 1923.) Von I. II. Schultz. (Aus Dr. Lahmanns Sanatorium, WeiBer Hirseh bei Dresden.) (Eingegangen am 2. Oktober 1923.) Zu dem verwickelten und bedeutsamen Problem der Amnesie sind in den letzten Jahren eine Reihe spezieller BeitrS~ge erschienen. So wurde in Amerika (Diller u. a. 1915) die Frage vom forensisehen Standpunkt erSrtert, Regis besehrieb eine spezielle Amnesie de bataille, die wohl in nahe Beziehung zu den verschiedentlieh in der Kriegsliteratur (Birnbaum) erw~hnten psychologischen Sehutzmeehanismen zu setzen ist, und die nicht seltene Beobachtung, dab Amputierte im Affekte, gleichsam in frfihere Zeit zuriickversetzt, die Amputation vergessen (Dugas 1921), erfuhr besondere Erwi~hnung. Neben diesen mehr aphoristisehen Hinweisen teilte Belitzky 1914 den Fall eines 27ji~hrigen ~annes mit, der yon einer anstrengenden Reise heimkehrend einen Turnunfall ohne kSrperliche Folgen erlitt; es schloB sieh ein Zustand yon Amnesie an. In der bald erfolgenden Erholung stellte sich zuerst friiher Erlebtes, spi~ter erst das jfingst Erlebte wieder ein, i~hnlich wie dies in der Wi~rzburger Dissertation yon Kau/mann im Wider- spruch zu den ~ibotsehen Gesetzen besehrieben worden ist. l~ighetti (1921) beobaehtete, dab eine naeh einer Kopfverletzung einsetzende Erinnerungsliieke sieh ffillte, naehdem der Kranke im Traume das vorher nicht erinnerte Unfallserlebnis wieder erhalten hatte. Righetti weist ausdrficklieh auf die Sehwierigkeit hin, derartige Beobachtungen einem allzu einfaehen Schema einzuordnen, namentlieh sie etwa einer ausschlieBenden Alternative ,,ob organiseh oder affektiv" zu unter- stellen; er betont, dab hier ein komplexer Meehanismus vorliege, der am besten in eine allgemein dynamisehe Auffassung eingeht. Eine in unglficklicher Ehe lebende Patientin Gilberts (1921) fuhr naeh einem Zerwiirfnis fiber See fort und geriet bei Ankunft in einen Zustand yon Totalamnesie, sogar fiir den eigenen Namen. Auf Inserat hin fibernahm

Zur Psychopathologie und Psychotherapie amnestischer Zustände

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Zur Psychopathologie und Psychotherapie amnestischer Zust~inde.

{Auszugsweise vorgetragen im Deutsehen Verein ffir Psychiatrie Jena, 21. IX. 1923.)

Von

I. II. Schultz. (Aus Dr. Lahmanns Sanatorium, WeiBer Hirseh bei Dresden.)

(Eingegangen am 2. Oktober 1923.)

Zu dem verwickelten und bedeutsamen Problem der Amnesie sind in den letzten Jahren eine Reihe spezieller BeitrS~ge erschienen. So wurde in Amerika (Diller u. a. 1915) die Frage vom forensisehen Standpunkt erSrtert, Regis besehrieb eine spezielle Amnesie de bataille, die wohl in nahe Beziehung zu den verschiedentlieh in der Kriegsliteratur (Birnbaum) erw~hnten psychologischen Sehutzmeehanismen zu setzen ist, und die nicht seltene Beobachtung, dab Amputierte im Affekte, gleichsam in frfihere Zeit zuriickversetzt, die Amputation vergessen (Dugas 1921), erfuhr besondere Erwi~hnung. Neben diesen mehr aphoristisehen Hinweisen teilte Belitzky 1914 den Fall eines 27ji~hrigen ~annes mit, der yon einer anstrengenden Reise heimkehrend einen Turnunfall ohne kSrperliche Folgen erlitt; es schloB sieh ein Zustand yon Amnesie an. In der bald erfolgenden Erholung stellte sich zuerst friiher Erlebtes, spi~ter erst das jfingst Erlebte wieder ein, i~hnlich wie dies in der Wi~rzburger Dissertation yon Kau/mann im Wider- spruch zu den ~ibotsehen Gesetzen besehrieben worden ist. l~ighetti (1921) beobaehtete, dab eine naeh einer Kopfverletzung einsetzende Erinnerungsliieke sieh ffillte, naehdem der Kranke im Traume das vorher nicht erinnerte Unfallserlebnis wieder erhalten hatte. Righetti weist ausdrficklieh auf die Sehwierigkeit hin, derartige Beobachtungen einem allzu einfaehen Schema einzuordnen, namentlieh sie etwa einer ausschlieBenden Alternative ,,ob organiseh oder affektiv" zu unter- stellen; er betont, dab hier ein komplexer Meehanismus vorliege, der am besten in eine allgemein dynamisehe Auffassung eingeht. Eine in unglficklicher Ehe lebende Patientin Gilberts (1921) fuhr naeh einem Zerwiirfnis fiber See fort und geriet bei Ankunft in einen Zustand yon Totalamnesie, sogar fiir den eigenen Namen. Auf Inserat hin fibernahm

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sie eine Stelle als Irrenpflegerin, die sic gut ausffillte, und legte ihre Innenerlebnisse tagebuehmagig lest. Sic litt unter dem unbestimmten Geffihl yon etwas Sehreeklichem, das sie qui~lte, aber dessen Kl~rung sie sieh widersetzte. In psychotherapeutiseher Behandlung riefen ein- fallende Einzelheiten yon frfiher Erinnerungsbruehstficke herauf; hypno- tische Behandlung lehnte die Kranke ab, da sie eine l~berw~ltigung durch pl6tzlieh einflutendes Material ffirehtete, analytisehe Behandlung gab einigen Erfolg. In ihrem Verlauf gelang es Gilbert, die anseheinende Erinnerungslosigkeit durch unvermutete schroffe direkte Fragen zu durch- brechen, auf die er Antworten erhielt, so dag der Gedhchtnisbestand sich bis auf einzelne Inseln wieder gewinnen hel~. Gilbert vergleicht den Zustand mit einer selbst induzierten negativen Halluzination. Auf dem schwierigen Gebiete des Kriminellen liegen die Mitteilungen yon Fischer (1922), der besonders bei einer dauernden, in allen Ver- h6ren zur Schau getragenen Entrfistung das Vorliegen echter Amnesic zu erwggen rgt ( ? ). Die 4 yon Fischer mitgeteilten Fglle betreffen eine negative Erinnerungsfttlschung, eine Affektamnesie und 2 Beobach- tungen, die analytisch gedeutet werden. Rorschach (1917) beschrieb einen Soldaten, der 2 Tage vor dem Wiedereinrficken veischwand und erst 6 Tage spgter in einer Wirtschaft wieder aufgefunden wurde. Er war zeitlich im Sinne des Lfickenvergessens desorientiert, gab einen Radelunfall und totale Amnesie ffir die Zeit des Fernbleibens an. Das Verhalten in der Klinik, die Vorgeschichte und das Assoziations- experiment machten Epilepsie wahrscheinlich. Beim /reien Assoziiereu ver/iel der Kranlce in einen ausgesprochenen D~immerzustand mit nach- heriger Amnesic, wobei er cinch Tell des Lfickenerlebens wiedergab, ebenso in Hypnose. In dieser traten charakteristisch epileptische Halluzinationen auf, die von dem Verfasser so aufgefal3t werden, es sei mitten in den eigentlichen Dgmmerzustand ein epileptisches Delir gefallen ( ? ). Optische Erinnerungskomplexe aus der Kinderzeit watch nachweisbar und werden zur Entstehung der Desorientiertheit in Beziehung gesetzt.

Von den sehr zahlreichen Arbeiten, die das Amnesieproblem be- sonders yon der Fragestellung ,,Organisch oder_Funktionell" aus berfihren, sei bier nur an die denkpsycho]ogischen Korsakow-Studien yon Pick (1915) und Steintal (1921) erinnert und an die aui3erordentlich grfind- lichen und feinsinnigen Arbeiten Isserlins und seiner Mitarbeiter, be- sonders fiber das Gedgchtnis Hirnverletzter und die Einstellungs- auffassung des Agrammatismus. Sehwarz untersuchte 1916 einen Fall yon Granatamnesie, der Augenli~hmungen hatte und psychisch das Bild eines Korsakow bot. Die psychologische Leistungsprfifung im Sinne yon Erlernung, Aussage und Trefferverfahren ergab ein organisches Bild und wird yon dem Autor auch zu der diagnostischen Beurteilung

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der Amnesie herangezogen. Wie schwierig allerdings gerade auf dem Gebiete der Amnesie die Entscheidung ist, zeigen sehr deutlich die schSnen Untersuchungen yon Schilder (1923) an Kranken in epileptischen Ausnahmezusti~nden. Trotz der schweren Auffassungsst6rung an- scheinend primi~rer Art und den deutlichen parallel gehenden St6rungen der Begriffsbildung und des Denkens in diesen Zusti~nden haften Er- ]ebnisse, wenn einmal eine Auffassung stattgefunden hat, dauernd im Bewu•tsein. Schilder konnte in etwa 20 Fallen die Spuren yon im Ausnahmezustand dargebotenen Bildern oder erlernten Liedern aus- nahmslos spi~ter nachweisen. Wie er selbst betont, rficken damit die Gedi~chtnisstSrungen des epileptischen Ausnahmezustands in die ni~chste Nii he ,,der gut studierten Hysterischen und Hypnotischen". Es handelte sich um nicht kriminelle Fifile!

Wie unsicher die Beurteilung der Amnesiefrage bei Epilepsie ist, ganz besonders wie sehr es vermieden werden mul~, irgendwie schema- tisch nach anscheinend tieferen epileptischen Bewu•tseinsstSrungen auch ohne weiteres schwerere amnestische Folgezust~nde anzunehmen, hat besonders Ascha//enburg (1915) sehr berechtigterweise mit grol~em Nachdruck hervorgehoben. So bedauerlich dies auch fiir die Sicherheit besonders forensischer Entscheidungen sein mag: es kann wohl kaum zweifelhaft sein, da~ der Mechanismus dcr Amnesie sich gewissermafien als Einzelerscheinung verselbst~indigt und zu einer psychophysischen Reaktion entwickelt, die nicht ohne weiteres an bestimmte klinische Ein- heiten gebunden werden kann.

Damit soll gewil3 in keiner Weise irgendeiner Schematisierung im Sinne eines ,,einheitlichen Mechanismus" das Wort geredet, sondern nur Vorurteilen nach der anderen Seite begegnet werden. Die Psycho- logie der ausgesprochenen hysterischen Ddmmerzustdnde hat Pick ganz neuerdings als eine so weitgehende Einengung des BewuBtseinsblick- feldes gekennzeichnet, dai~ yon der Gesamtheit der Teile eines Ob- jektes nur einer oder wenige zur Wahrnehmung kommen, so dab etwa eine Tasse nicht als Ganzes, sondern nur als Lichtreflex erscheint. Er vergleicht dies Erleben mit dem Herdkranker oder mit der Wahrnehmungs- welt des Sauglings, die nur als gro~es farbiges und summendes Chaos erscheint, eine Auffassung, der sich auf Grund unserer Beobachtungen vielleicht manches entgegenhalten lieBe. Die i~lteren Theorien des hysterischen Di~mmerzustandes seien nur kurz erw~hnt. Janets Auf- fassung steht der Pickschen nahe. ~anschburg wies besonders auf das Vorherrschen eines ,,affektiven Bewul3tseins" hin, in dem egozentrische Materialien fiberwiegen, die mit dem ,,normalhysterischen BewuBtsein" nut in loser Beziehung stehen. Ascha//enburg betont ffir viele Fi~lle autosuggestive Momente.

Der Versuch eines etwas n~heren Verst~indnisse8 des Amnesie-

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mechanismus hat sieh vor allen Dingen an normalpsyehologisehen Gesiehtspunkten zu orientieren, wie sie uns in erster Linie dureh die neueren Arbeiten der Gedi~chtnispsychologie, namentlieh hinsichtlieh des Reproduktionsvorganges, vermittelt werden. An erster Stelle ist die auBerordentliche AbMingigkeit des so gern rein mechaniseh auf. gefaBten Erinnerungsvorganges von anderen psychischen Faktoren zu erw~hnen, so z.B. yon der Art der Darbietung (O'Brien 1921), der Au/merksamkeitseinstellung (Moers 1921), dem Affekt (Peters 1914, Smith 1921), yon der Ubung (Sigmund 1923), vom psychologischen Typus - - dieser wird allerdings anscheinend dureh gewisse allgemeine Gesetzmi~Bigkeiten ausgegliehen, indem z.B. in den Versuchen von O'Brien das vSllige Unterdrfieken spraehmotoriseher Begleitung allen Vp. das Lernen unmSglich machte -- , von Ermiidung, Stimmung, Tempo der Darbietung usw., wobei wahrscheinlieh Einwirkungen yon Au/mer~ainkeitserscheinungen vorliegen (Schorn 1922). AaU konnte sogar 1913 Versuehe mitteilen, bei denen die Gedi~chtnisfunktion ver- sehieden arbeitete, je nachdem nur zu einem Termin oder fiir dauernd gelernt wurde, so dab in gewissem Sinn ein Vorsatz in den Meehanis- mus eingreift.

Stern (1922) beschi~ftigte sich phi~nomenologisch mit der Struktur des Geddchtnisses und stellte namentlich ein der photographisehen I)latte vergleichbar rein bewahrendes statisches Ged~ehtnis in Gegensatz zu einem verarbeitenden, dynamischen Gedi~ehtnis, bei dem ,,der Komplex einer psychisehen Verfassung" hineinwirkt. Im ,,statisehen" Sinne linden sieh z. B. bei abgelaufener Amentia einzelne vSllig gleiehgiiltige, qu~lend fiberklare Eindruckserinnerungen, w~hrend das gegenteilige krankhafte Extrem ffir-Stern in der Pseudologie gegeben ist. Seine Versuche, die sich nur auf versti~ndlieh Aufgenommenes bezogen, also sinnloses Material aussehlossen, ergaben aueh 2 prinzipiell versehiedene Arten des Rfickbesinnens. Einmal erseheint irgendein Element, ein Wort, ein Bild ,,quasi sensoriseh", und im selben Augenbliek meldet sich das Ganze, wi~hrend in anderen Fallen das Vorganghafte die Reproduktion beherrscht; die Versuehsperson geht dem damaligen Verstehen naeh, sie vollzieht das damalige Handeln ,,wie neu" noeh einmal. Das , ,Damal s -Er l ebn i s " steht ganz im I-Iintergrund.

Schon diese wenigen Gesiehtspunkte zeigen die au[3erordentlieh komplexe _~atur des Problems. Erinnern wir uns weiter an Bi~hlers PlatzbewuBtsein, an die Diagrammbildung und das topisehe Lernen yon G.E. Miiller, an die ErSrterung des RichtigkeitsbewuBtseins, bei der G. E. Miiller die ,,Sehwellen der Zulassung, der Sieherheit, der Be- eidbarkeit" seheiden konnte und auf die ganz differente Stellungnahme der GesamtpersSnliehkeit gegenfiber authentischen und nieht authen- tischen Erinnerungen, an St6rrings Darlegung fiber die Erinnerungs-

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gewillheit u. a. m., so ist einleuchtend, wie auBerordentlich weitgehend in fast alle Gedaehtnisvorg~nge ,,komplexe psychisehe Verfassungen" im Sternsehen Sinne eingehen.

Spezielle Bearbeitungen des Vergessens sind weniger hi~ufig angestellt worden. Erfahrungen hierfiber werden meist mehr beilaufig bei all- gemeinen Gedaehtnisuntersuchungen mitgeteilt. Sie ffihrten (Ebbing- haus, Jost, G. E. Miiller-Pilzecker) zu der Feststellung, da$ die relative Menge des Vergessenen etwa dem Logarithmus der Zeit entspricht, was aber in neueren Untersuchungen yon Lech (1922) nieht best~tigt werden konnte. Speziell ffir den vorliegenden Zusammenhang sind experimentell-psyehologische Nebenbeobachtungen yon 0. Lipmann yon Interesse, dab ni~mlieh bei Gedgichtnisliicke~ im Bewufltsein meist mehr vorhanden ist als eine blo[3e Liicke. Sie k6nnen, wie etwa die Erfahrung beim Lautspurentasten (Gie[3ler 1911) zeigt, nicht beliebig ausgeffillt werden, sondern es ergibt sieh eine seelische Situation, die viel Ver- wandtschaft mit hysterischen Erscheinungen hat, ein ,,Wissen und doeh nieht Wissen". Cro[31and (1922) hat zum ersten Male ausgedehnte spezielle Untersuchungen fiber das Vergessen angestellt, die sich his fiber 400 Tage erstrecken und moderne denkpsychologische Gesichts- punkte ausgiebig berficksichtigen. I-her ist vor allen Dingen sein Befund wichtig, daft das erinnernde Zuriickru/en der Lernmethodd au/- /allend gleieht. Nach seinen Untersuchungen entsteht das Vergessen einerseits durch Zerfall und Verlust von Einzelheiten mit Typisierung, andererseits dutch eine subjektive Auswahl und eine langsam vor sich gehende sekundi~r bearbeitende Erg~nzung.

/~ltere experimentell-psychologische und allgemeine Beitr~ge zum Problem des Vergessens linden sich namentlich in l~anschburgs tdeiner Monographie fiber das kranke Gedi~chtnis. Aus neuerer Zeit sind neben den hSehst bemerkenswerten Beobacl~tungen yon Urbantsehisch (1917} fiber Ged~chtnisst6rungen bei Ohierkrankungen besonders die Ver- suche yon P6tzl (1917) zu erwhhnen. P6tzl exponierte seinen Ver- suehspersonen sehr kurze Zeit phantastische Landschaftsbilder und liel3 sich sofort ein eingehendes Protokoll fiber die gemachten Wahr- nehmungen geben. Die Versuchsperson hat dann welter fiber die Einf~lle des folgenden Tages und die Schlaf- und tIalbschlafbilder der n~chsten :Nacht Protokolle und nach MSglichkeit Zeichnungen zu liefern. Dabei ergab sich die sehr wesentliche Erscheinung, dab in den Einf~llen nur solches Material heraufkam, das vorher nicht wahr- nehmungsmi~13ig erlebt, nicht wie der Autor es ausdrfickt, ,,psychisch gestaltet war". Es wurde also ein Teil des Materials direkt bewahrend aufgefal3t, ein anderer Tell sp~ter nachentwickelt; was einmal gestaltet war, wurde nicht mehr nachentwickelt, im physiologisehen Bride ge- sprochen, ,,es wurden nacheinander Teilquanten der Originalerregur~

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ent~iekelt". Es laBt sieh also in der einfachen Wahrnehmung und ihrer psychisehen Gestaltung ein Erledigungsmeehanismus nachweisen.

Endlich sei bier noeh besonders betont, dab die Versuche yon Wiersma (1914) und de Haan (1912) weitgehende psyehologisehe Ex- perimentalanalogien zur retrograden Amnesie lieferten. Sie zeigten, dab ein starker Reiz, der einem sehw~eheren naehfolgt, diesen unter Umst~nden v611ig ausl6scht, ahnlieh wie vSllig gleiehzeitige Reize, wie z.B. eine elektrische tIautreizung und ein Ton, sich gegenseitig hemmen (Heymans). Wiersma deutet im AnsehluB an Heymans seine Beobachtung so, dab eine Reizausl6schung stattfindet, solange der Reiz noeh im ZentralbewuBtsein steht, wahrend er naeh Abwanderung in das periphere BewuBtsein yon dem zweiten Reiz nicht mehr berfihrt wird. Derartige rfiekwirkende tIemmungen hat u. a. aueh K. Groos in der Kinderpsyehologie beobachtet.

Diese ganz skizzenhafte l~bersieht fiber die neueren, ffir die Amnesie- ]rage wesentliehen Arbeiten laBt die hier vorliegenden Schwierigkeiten deutlieh hervortreten. Sie sind besonders deshalb so gro]3, weil ja das Wort Amnesie nur einen negativen Tatbestand lcennzeichnet. Gliedern wir ganz sehematiseh den Ged/~chtnisvorgang in 3 Hauptmeehanismen: Aufnahme, Bewahrung (Verarbeitung) und Wiedergabe, so liegt auf der Hand, dab St6rungen oder Hemmungen in jeder dieser drei Stationen zu dem Ergebnis einer Amnesie ffihren kSnnen. Wie entseheidend flit das Endresultat selbst ganz spezielle Einzelheiten des Aufnahmevor- ganges sind, ist dutch die neueren, in der Selbstbeobaehtung vertieften experimentellen Arbeiten deutlich. ~ber die zweite Frage, die eigentliehe Bewahrung, kSnnen wir uns nur indirekt orientieren, namentlich dutch Wahl- und Wiedererkennungsexperimente sowie dutch das Ersparnis- verfahren. Das greifbare und der Bearbeitung zug~ngliehe Material der Ged/~chtnisversuche wird aber immer nur dureh den Reproduktions- mecttanismus geliefert, und seine Hemmungen sind in der Mehrzahl der F(ille die Grundlage amnestischer St6rungen auch bei ,,organischen" F~illen. Es ware sonst ja aueh unverst~ndlieh, dab ,,organisehe" Amnesien sich im Verlauf der Erholung zurfickbilden.

Bei den Ged~ehtnisst6rungen funktionell NervSser l~Bt sich h~ufig nachweisen, dab derartige ReproduktionsstSrungen Teilerscheinungen all- gemeiner Akthemmungen sind, wie ich z. B. in meinen psychologisehen Leistungspriifungen an nervSsen Kriegsteilnehmern dartun konnte. Der Gegensatz zwischen ,,organisch" und ,,/unktionell" ist eben hinsichtlich des Geddchtnismechanismus und besonders hinsichtlich der Entwicklung yon Amnesien bei genauer Untersuchung in keiner Weise ~grinzipiell zu ge- stalten. Gerade die im Sinne William Sterns so ausgesprochenen Tsycho- physisch-neutralen Ged~htnisvorgdnge sind besonders geeignet darzutun, wie gdnzlich ]alsch und unberechtigt hier ~ede Gegens(itzlichkeit theoretischer

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Au//assung oder methodischer Forschung ist. E8 kann ]a gar nicht anders 8ein, als daft dieselben Pha'nomene und die ihnen zugeordneten Him. apparate und ihre Funlctionen verschiedenen Bedingtheiten des Geschehens und der Er]orschung zug(inglich sind, ohne daft dadurch im mindesten die wirlcliche Einheit des lebendigen Geschehens zer]iele.

Die psychotherapeutische Au/gabe bei amnestischen Zustgnden i s t eine doppe l t e ; es muB e inmal versuch t werden, dem K r a n k e n das ver lorene Mate r ia l wieder zu verschaffen, zum anderen ihn nach Lage des Fal les m6gl ichst vor der Wiede rkeh r der S tSrung zu schtitzen. Der Weg solcher Behand lung l~Bt sich a m bes ten an Beispie len zeigen, von denen hier nur zwei kurz P l a t z f inden sollen.

1. Die 51]~hrige Patientin A. hat Ende der 20er Jahre eine syphilitische Infektion erlitten, die zu 9 Fehlgeburten fiihrte. Aus der ersten Zeit der Ehe vor der Infektion stammen zwei gesunde SShne; im weiteren Verlauf der Ehe traten bei der zwar immer zarten, aber sonst gesunden Patientin eine groi3e Anzahl sicher beobachteter schwerer innerer Erkrankungen auf: Magen-Darmgeschwiire mit starken Blutungen, Nierenbeckenentztindung und ausgedehnte schwere Ekzeme. Die Lues ist verschiedentlich energisch spezlfisch behandelt, der Blur- wassermann war friiher mehrfach positiv, in den letzten Jahren und auch in der hiesigen Beobachtung negativ. Vor 12 Jahren traten starke Kopfschmerzen gelegentlich mit Erbrechen auf, die im Anschlul~ an spezifische Behandlung Besserung zeigteu. Schon wihrend dieser Kopfschmerzzust~nde zcigte sich ge- legentlich eine gewisse Verschleierung des BewuBtseins. 1912 fand deswegen eine Kontrolle des Liquors start, die vollkommen normales Resultat ergab. 1916 meldeten sich plStzlich SprachstSrungen ohne Kopfschmerzen, denen sich bald Bewul]tseinsstSrungen anschlosse~. Diese waren friiher seltener, beherrschen jetzt das Bild und fiihren in unregelm~l]igen, oft recht kurzen Intervallen zu vS]liger Ausschaltung bis zu 8- und 10ti~giger Dauer. Auf kSrperlichem Gebiete machten sich eigenartige Gef~l~krimpfe mit starken Schmerzen namentlich im linken Fu~ bemerkbar, die zur Amputation einiger Zehen fiihrten, und endlich wurde das Krankhoitsbild in den letzten Jahren durch mehrfache Spontanfrak- turen kompliziert. Diese zeigten sich am rechten Oberschenkel, der um 10 cm verkfirzt wurde und erst nach einem Dreivierteljahr heilte, am Mittelful3 und an mehreren Rippen. Die Blutnntersuchung nach Abderhalden ergab einen stark posi- riven Befund fiir Thymus (vom Hausarzt veranlal]t). Die Knochenerkrankung ist wahrscheinlich im Sinne yon Grassheira als isolierbe metatuetische Skeletterkrankung zu deuten. Die erwihnten Bewul~tseinsstSrungen waren so tief, dal~ sie die Aus- fiihrung grSBerer chirurgischer Eingriffe ohne Narkose erlaubten.

Auf Grund der obenstehenden Informationen des Hausarztes und der behan- delnden Spezialisten wurde die Kranke zun~chst beobachtet. Die objektive neurolo- gische UnteIsuchung ergab aui~er den Folgen der Skeletterkrankung und einer an Stirke wcchselnden Differenz der Pupillen vSllig normales Resultat bei mittlerem Allgemeinzustand, psychisch das Bild einer etwas pathetischen, betont moralischen, dem alt]iingferlichen Typus nahestehenden PersSnlichkeit ohne Defekte und Minderwertigkeiten, yon gutem intellektuellem und affektivem Niveau. Die Kranke war auch bei eingehendem Besinnen nicht in der Lage, nur das Geringste aus der Zeit ihrer A.nfil]e anzugeben. Sie fiihlt subjektiv nur eine unwiderstehliche Sehw~che, verliert das Bewul~tsein und ist, wie sie angibt,, nach AufhSren der

Z. f. d. g. Neut. u. Psych. LXXXIX, 8

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eigentlichen Anf~lle fiir einige Zeit stumm und blind. Der erste hier beobachtete Anfall leitete sich mit einer SprachstSrung ein. Die Sprache wurde langsam, monoton und dann zunehmend aueh in der Artikulation gestSrt, so dab ein Bild entst~nd, das t~uschend einer pseudobulb~ren SpraehstSrung glieh. Der Gesichts- ausdruck war verfallen, das rechte Auge blieb geschlossen, doch zeigte hier n~here Untersuchung, dab es sich nicht um eine Ptosis, sondern um einen ganz leichten tonischen AugenschluB handelte. Die Triibung des Bewui~tseins maehte rasche Fortschritte und fiihrte zum ~uBeren Bride einer Benommenheit m~Bigen Grades. Die Kranke mu6te geftittert und zu ihren Entleerungen angehalten werden. Am 4. Tage des 6 Tage lang w~hrenden Anfalles fand eine eingehende Priifung dureh unseren augen~rztliehen Beirat Professor Best.Dresden start, die sinnesphysio- logisch und hinsichtlich der Reflexe usw. normalen Befund ergab und auch keinerlei Zeiehen agnostisch-asymboliseher StSrung nachwies. Gegen Ende des Zustandes hatte Herr Geheimrat Bumke-Leipzig Gelegenheit, die Kranke zu unter- suchen und sich yon dem Eindruek zu iiberzeugen, dab der Verdacht auf eine organische Grundlage naheliegend sei. W~ihrend des Anfalles war die Kranke durch energisehes und wiederholtes Angehen voriibergehend zu fixieren. Die Versti~ndigung war durch AuffassungsstSrungen und die Sprachveranderung erheblieh erschwert. Puls, Temperatur und Blutbild zeigten regelrechtes Veihalten. Die StSrung der Sprache und der Wahrnehmung auf optisehem Gebiet iiber- dauerten die eigentliche Bewul~tseinsst6rung um 1~i~ Tage.

Psychotherapeutisch wurde der Kranken zun~ichst die Erinnerung an die Erlebnisse dieses Anfalles wiedergegeben. Die Bedingungen dieser Arbeit waren die denkbar giinstigsten, da zahlreiche MaBnahmen, insbesondere die fast 2 stiindige augen~trztliche Untersuchung, ohne Zeugen verlaufen waren, so dab die Kranke nicht etwa, um dem Arzte eine Erfolgsfreude zu bereiten, sich bei dem Pflege- personal erkundigen konnte. Frau A. sprach sehr gut und leicht auf Hypnose an, und mit ihrer Hilfe gelang es die vorher auch bei eingehender Bearbeitung und Konzentration im Wachzustande nicht erreichbaren Materialien wieder dar- zustellen. Der Reproduktionsvorgang folgte hierbei dem historischen Ve~lauf, indem erst die Geschehnisse aus dem Anfang des Anfalles, dann fortlaufend die weiteren sich wieder einstellten. Sehr bemerkenswerterweise erfolgte dies nicht in der Art, wie man es nach der erw/~hnten Pickschen Auffassung der hysterischen D~mmerzust~nde erwarten sollte, es traten nicht einzelne elementare Erlebnis- unteile hervor, die dann deutend gefaBt wurden, sondern die Versuchsperson brachte nach I/ingeren Pausen vorbereitender Konzentration vollkommen komplex erfaBte Situationen, z.B.: ,,Jetzt weil~ ich wieder, der Augenarzt hat meinen Farbensinn gepriift, er hat mir erst blaue, dann rote, dann gelbe Farben vorgelegt, hat mich dann Buchstaben und Zahlen lesen lassen und mir Bilder gezeigt,." Wie die Kranke auf Befragen angab, stellte sich auch in der Selbstbeobachtung diese den Tatsachen entsprechende Reproduktion sefort als komplexe Ganzheit ein, nicht irgendwie elementar, so dab jedenfalls in diesem Falle yon einem Auf- nahmevorgang erniedrigter Stufe keine Rede sein kann, sondern ein ausgesprochen verarbeitendes Erinnern im Sinne yon Jaspers und Stern vorlag.

Der Rep roduk t ionsve r l au f im selben zei t l ichen Sinne wie die Auf- nahme scheint mir bei solchem Arbe i t en der h~ufigere, wie dies ja auch nach der exper imente l l -psycholog isch nahen Verwand t scha f t des Auf- nehmens und Wiedergebens zu e rwar t en ist . I ch verffige nur fiber e inen Fa l l aus der Zeit meiner Ti~tigkeit an der J enae r Kl in ik , we jeder Versuch einer R e k o n s t r u k t i o n in der h i s to r i schen Verlaufs-

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Iichtung vergeblieh blieb, wi~hrend die rfieklaufige Reproduktion prompt arbeitete. Es handelte sieh bier um einen affektiv ausgel6sten Dammerzustand mit ziellosen geisen yon 4monatiger Dauer bei einem 30jahrigen Psyehopathen, bei dem bedauerlicherweise die objek- rive Kontrolle des Materials nur sehr unvollstandig mSglieh war.

Die Erfolglosigkeit des Wachsuehens vieler Amnesiekranker und die guten Leistungen gerade der hypnotisehen Hyperamnesie in diesen Fallen soll bier nicht naher erSrtert werden. Die erwahnte Beobaehtung Gilberts fiber die DurchbIechung der Amnesie dureh sehroffen Anruf, der Fall Righetti8, wo das amnestisehe Material zuerst im Naehttraum erschien, und Rorschach8 Beobachtungen vom Eintreten dammerhafter Zustande beim ffeien Assoziieren sind hier kurz zu erinnern. Vor- schnellen Konstruktionen von einem allwissenden Unbewu~tsein gegen- fiber ist ebensoviel Zurfickhaltung am Platze, wie phantastisehen Annahmen fiber hypnotisehe Wunder. Wahrscheinlieh liegt das prinzi- piell Entseheidende nieht so sehr im hypnotisehen Zustande als solehem, sondern, wie bei den meisten ahnlichen Fragen, in der Leistungssteigerung normalpsychologiseher Meehanismen.

/~rztlich sehr wesentlieh ist dagegen da8 Erl6sungserlebnis amnesti- scher Kranker, wenn sie zum ersten Male seheinbar verlorenen seelisehen Besitz wiedererhalten. Dieser Mechanismus ist ja aus der Alltags- beobachtung vom qualenden Verlieren bei Namen u. dgl. einffihlbar. Es ist selbstverstandlich durehaus nicht notwendig, hier in jedem Fal]e irgendwelehe unbewui~te Damonen zu zitieren. Erinnern wir uns z. B. an die schweren Zustande von Ratlosigkeit und Verwirrung Hirnkran~er bei zu schwierigen Aufgaben, die namentlich Isserlin in seinen schSnen Arbeiten fiber die GedaehtnisstSrung Hirnverletzter wieder hervorgehoben hat, so. ergibt sieh ohne weiteres, dab hier ein ganz primares Erlebnis vorliegen kann. Man setzt es wohl am besten als eine ,,inhere Desorientierung" ins Licht. Gerade diese Seite amnesti- scher Symptome, die schwere Beeintraehtigung persSnlieher Sicherheit dureh die innere Desorientierung, la[tt es verstehen, dab es vielen Kranken so sehwer fallt, mit den Symptomen fertig zu werden. Es ist eben hier wieder jener Punkt der PersSnlichkeit gefahrdet, den ieh im Zusammenhang mit dem Hysterieproblem als das ,,geschlossene Selbsterleben" gekennzeiehnet habel).

Erwahnenswert seheint an der Beobachtung noeh die ,,Imitation" organischer Erseheinungen. D a ] e s mir nieht gelungen ist, ffir die SpraehstSrung und die fibrigen ,,organischen" Elemente der Anfalle irgendein Vorbild aus der Umgebung der Kranken naehzuweisen, dfirfte ja nicht viel besagen. Viel wesentlicher ist, dab nach unseren neueren

1) Ergebnisse der gesamten Medizin 4. 1923. ,,Neueres aus dem Hysterie- gebiet."

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Anschauungen derartiges auch gar nicht notwendig ist. Es darf viel- mehr angenommen werden, dab bier ein ausgesprochen ]unlctioneller Mechanismus sozusagen ,,unterschweUige" organische St6rungen alctiviert und ihre Apparate benutzt, ein Vorgang, der fiir die psychologisehe Bearbeitung organiseher StSrungen ebenso prinzipiell bedeutungsvoll ist (P6tzl, P6nitz), wie ffir eine wirklieh biologische Auffassung der Neurosen.

Die ni~here Struktur des zugrunde liegenden psyehoneurotisehen Gesehehens so]] bier nieht er6rtert werden, es bandelte sieh um eine typisehe Konfliktneurose mit Tendenz zum Ausweiehen und auBer- ordentlieh durehsiehtigen psyehogenen AuslSsungen dutch ErlebnJsse, Situationen, Gedenktage usw. Therapeutiseh ist die Kranke inzwischen so wei~ fortgesehritten, dab sie ihr eigenes Ausweichen versteht und es nun sehon mehrfach im Auftreten selbst abgesteilt hat. Se]bst- verst~ndlieh erseheint es wohl m6glieb, dab in] ferneren Verlaufe die bisher ,,untersebwellig" mitklingenden organisehen Erseheinungen pro- zeBhaft in den Vordergrund treten, so dab man sieh prognostiseb grol3e Zurfiekhaltung auferlegen muB.

Wahrseheinlieh ist ftir die innere Verarbeitung amnestiseher Zu- st~nde~ insbesondere fiir die Sti~rke der erfolgenden ,,inneren Des- orientierung", das allgemeine Verhalten der Persgnlichl~eit zur zeitlichen Einordnung des Erlebens von Bedeutung. Systematische Untersuchungen fiber diesen Punkt sind mir nicht bekannt ; naeh meinem bisher kleinen Material babe ich den Eindruck, da~ Mensehen yon sti~rker optisehem Typ in dieser Beziehung empfindlieher sind, doeh sind meine speziell damn gerichteten Untersuchungen noch nieht abgeschlossen. Die Patientin gehSrt in ihrem ganzen Verhalten durehaus zum fiberwiegend optischen Typus. In diesem Punkte s t immt sie mit dem zweiten Falle fiberein, der nun kurz berichtet werden soil.

Es handelt sich um einen k5rperlich gesunden 18j~hrigen Landwirt, der aus nervSser Familie stammt. Die AngehSrigen der v~terlichen Familie sind leicht erregbare Menschen, 2 Brtider des Urgrol3w~ters waren in Irrenanstalten, Vater und Vatersvater dagegen durchaus gesunde Menschen. Die Mutter des Unter- suchten konnte persSnlich examiniert werden, sie stammt angeblich aus nerven- gesunder Familie und bot auBer leiehten Zeiehen vermehrter Sehilddrtisent~tigkcit nichts Auff~lliges. Der Explorant, Oscar B., war nach Angabe der Mutter als Kind viel krank, er machte Lungenentztindung, Diphtheritis und Blinddarm- operation durch und litt im AnschluB an die Impfung an ,,Ausschlagen". Etwa fiinf- j~hrig war er bei einer Mandeloperation sehr abwehrend, str~ubte sich gegen die Narkose, so dab sehr reichlich gegeben werden mui~te; danach war er einige Tage sonderbar, zeigte stieren Blick, blickte an der Mutter vorbei; aus diesem Grunde wurde bei der sp~teren Blinddarmoperation nur Ather benutzt. Er schlief als Kind nieht gem allein, sehrie im Sehlafe auf und kam noeh 11 j~hrig ins Zimmer der Eltern. Irgendwelche Ohnmachten, Krampfe oder ~hnliche Erscheinungen wurden nie beobachtet. Vom 14. Lebensjahre an wurde er kr~ftiger. Da ihm die Sehule sehwer fiel under ,,Schulluft nicht vertragen konnte", wurde er privatim

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unterrichtet, besuchte dann eine Maschinenschule und ist jetzt seiner Neigung entsprechend in der Ausbildung als Landwiit, einem Beruf, in dem er ebenso wie sein Vater leidenschaftlich aufgeht. In der Erziehung war er gut lenksam, zu- verl/issig, often, vielleicht ein wenig kindlicher als es seinen Jahren entsprach. Heim- lichkeiten oder Unehrlichkeiten sind nie beobachtet worden; er beschr~nkte seinen Verkehr nur auf die AngehSrigen und einige, ihm seit Jahren vertraute gute Freunde aus der Nachbarschaft, war rile gern und viel mit anderen Menschen zusammen. Seine eigentliche Freude ist die Betiitigung in der Landwirtschaft, wo er sich in schwierigen Situationen als geistesgegenwi~rtig und mutig bewies; dies zeigte sich namentlieh bei mehreren kleinen Unfiillen mit schwierigen Pferden und Ochsen. Zeichen einer Gehirnersehiitterung traten nie hervor. Neigungen irgendwie be- sonderer Art sind den Eltern nie aufgefallen. In die Tanzstunde war er nur mit Mtihe und Not zu bringen. Mit seiner jetzigen Stellung ist er sehr zufrieden, sein Lehrherr ist ein Freund des Vaters, man nimmt sich dort seiner sehr an und ist sehr zufrieden mit ibm. Die Interessenwelt des B. besehri~nkt sich durchaus auf das Reale und Praktische. Irgendwelche phantastisehen Ztige fehlen; er ist, wie die Mutter und zahlreiche AngehSrige in (Jbereinstimmung mit der persSnlichen Untersuchung bekunden, ein zurtickhaltender, eher etwas scheuer Mensch, dem cs yon jeher widerstrebte, Gegenstand irgendwelcher besonderer Beachtung cder Fiirsorge zu sein. GroBsprecherische oder renommistische Dinge liegen ihm vSllig fern, selbst in der Auswahl seiner Lekttire bevorzugt er troeken Sachliehes yon beruflichem Interesse.

B. wurde mir im Oktober 1922 vorgestellt, da er am Mittwoch den 13. IX. 1922 auf dem Bahnhof in Leipzig die Erinnerung verlor und erst am Freitag hiih in Mainz zwischen zwei fremden Herren vor einem franzSsisehen Korporal wieder zu sich kam. Er fltiehtete durch die Sperre, begab sieh in Schutzhaft und wurde dort yon seinem Vater abgeholt. Dieser land ihn verstSrt und veriindert und konnte keinerlei Angaben yon ihm erhalten. Leider ist damals eine i~rztliche Unter- suchung nicht vorgenommen worden. B. wurde mir vorgestellt, weil die Eltern an ein hypnotisches Verbreehen daehten. Sie wurden yon mir auf die grolle Un- wahrseheinlichkeit eines solehen hingewiesen, doch erkliirte ich reich bereit, einen Versuch zu maehen, die Amnesie psyehotherapeutisch anzugehen.

Die Untersuchung des B. ergab, da6 es sieh um einen infantil aussehenden jungen Mann handelte, der auch in seinem seelischen Verhalten durchaus nieht seiner Jahresklasse entspraeh. Die kSrperliche Untersuehung lieB keine greifbaren Abweiehungen erkennen; in der psychischen Untersuehung zeigte sieh gutes meehanisches Gediichtnis, stark ausgepri~gt optischer Typus im Sinne der eidetisehen Veranlagung, mi~gige Auffassung, langsame und ungewandte Urteilsbildung bei abstrakten Prtifungen, keine Zeichen krankhafter Ermtidbarkeit und ira ganzen das gleichmi~gig primitive Verhalten eines gutartigen 13- bis 14ji~hrigen Jungen mi~giger Begabung. B. wird nur lebhaft, wenn man seine besonderen Interessen- kreise bertihrt, namentlich alles, was mit der Landwirtschaft zusammenhi~ngt. Er kann fiber GrSBe und Eigenart der ibm bekannten Betriebe gute und aus- fiihrliehe Mitteilungen machen, wi~hrend irgendwelche eigentlieh geistigen Interessen fehlen. Die Wiedergabe erziihlter Gesehichten und die Schilderung gezeigter Bilder waren primitiv, aber durchaus sachlich und zutreffend. B. zeigte normale Festigkeit gegen Beeinflussungsversuche durch fi~lsehende Suggestivfragen.

Irgendein Motiv flit das Verschwinden in Leipzig war naeh keiner l~ichtung naehweisbar. B. hatte nur einen Rucksack mit einem relativen geringen Geld- betrage bei sich gehabt, an dem nur soviel feblte, als etwa dem Fahrpreis Leipzig- Mainz entsprach. Was den Eltern und AngehSrigen sehon aufgefallen war, be- sts die persSnliche Unterredung, dab B. n~mlich auBerordentlich unter der

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Tatsaehe der Amnesie litt. Er hatte sich selbst ]~ngere Zeit gequ~lt, die fehlenden Erinnerungen wiederzufinden, aber erfolglos, und fiihlte sich des sonderbaren Erlebnisses wegen beschamt und beunruhigt, so dab die Angeh6rigen es in der letzten Zeit vermieden, das Thema zu bertihren. BewuBte Erinnerungen an die fragliehe Zeit hatte B. nur in ganz geringem MaBe. Er wuBte, dab er Mittwoch, den 13. IX., friih um 9 Uhr, von zu Hause (Urlaub) abgefahren war und wegen Versp/~tung des Zuges in Leipzig Aufenthalt hatte. Er babe hier irgendwo an einem ruhigen Tisch gesessen, eine nach Angabe der Mutter unauff/~llige Karte nach Hause geschickt, zu Mittag gegessen und Zeitschriften gelesen. In Leipzig traf er um 1 Uhr 30 Min. ein; er erinnert sich nech, dab zwei Herren von romani- sehem Aussehen am selben Tische Platz nahmen und hat die dumpfe Vorstellung, seine Zeehe beglichen zu haben. Aus der Zwischenzeit vermag er nur die ganz unklare, traumhafte Erinnerung anzugeben, dab er in einem Eisenbahnwagen sitzt, aufspringen will, aber yon jemand am Arme mit den Worten ,,bleiben Sie sitzen" festgehalten wird. Es ist ihm weiter ganz unklar gegenwartig, dab man in der Bahn yon ihm Geld verlangte. Jede klare Erinnerung fehlt yon etwa 1/2 4 Uhr an in Leipzig. Sie setzt erst wieder in Mainz ein; danach stand er auf dem Bahnsteig neben den erw/ihnten Herren vor einem franzSsischen Korporal. ,,Wie einem Instinkt folgend, dammerte mir blitzartig auf, ich sell verschleppt werden." Er entfloh und begab sich in Schutzhaft. Hier hatte er benommenes Gefiihl und schweren Kopf, keine ~./~belkeit oder Gliederschmerzen. In Mainz wurde B. sogleich polizeilich vernommen. ])as ProtokoU ergab folgendes: ,,Von dem Besuch meiner Eltern reiste ich am Mittwoch, dem 13. IX., nach D. ab. Ich kam am gleichen Tage gegen 1/21 Uhr nachmittags in Leipzig an und wo]lte mit meinem n~ichsten AnschluBzug gegen 5 Uhr abreisen. Ich hielt reich zu diesem Zwecke in dem Wartesaal zweiter Klasse auf. Zu mir gesellten sich zwei Herren, die gut gekleidet und ca. 30 Jahre alt waren. Ich hielt sie fiir Franzosen. Die zwei Herren unterhielten sich zusammen, und ich schenkte ihnen keine Beachtung. Ich kann reich entsinnen, dab ich bis gegen 4 Uhr nachmittags mit den beiden Personen zusammensal~. Sie sahen ab und zu nach mir auf, sonst habe ich Auf- fallendes nicht bemerkt. Was weiter geschah, weil~ ich nicht. Ieh kann mich nur erinnern, dab ich zu einer Zeit, zu der es sehon dunkel war, in einem Abteil drifter Klasse in einem D-Zug saG, der in der Richtung Halle fuhr. Bei mir saBen die zwei Herren, die vordem bei mir im Wartesaal gesessen batten. Ich fiihlte reich beklommen im Kopfe und weiB wirklich nicht, wie ich aus dem Wartesaal und in den D-Zug kam, den ich gar nicht besteigen wollte. Mein Reiseziel lag n~mlich in ganz anderer Richtung, und ich hatte auch Personenzug zu benutzen. Ich fragt~ die zwei M/~nner, we ich mich bef/~nde, und wohin der Zug ginge. Sie sagten mir aber in abweisendem Tone, ich m6chte nur sitzenbleiben, ich wiirde schon sehen, wohin die Reise ginge. Ich habe versucht, yon den beiden loszukommen, allein ich durfte das Abteil nicht verlassen, und yon anderen Fahrgasten wurde es nicht betreten. Die beiden Manner wuBten reich mit Worten und versteckten Drohungen festzuhalten, bis wir in Darmstadt zum erstenmal den D-Zug ver- lieBen. Ich wollte hier ausreiBen, wurde aber am Arm festgehalten und in einen Personenzug geschoben. Mit diesem kam ich mit meinen Begleitern heute vor- mittag um 9 Uhr in Mainz an. Bei unserer Ankunft bier sprachen die beiden Manner einen franz6sischen Korporal an, und diese Gelegenheit benutzte ich, im Gedr~nge zu verschwindcn."

B. erkannte dieses Protokoll nicht vollst~ndig an, sondern meinte, es seien verschiedene Punkte in ihn hineingefragt worden. Er hatte iiberhaupt an die Vernehmung und an das Wiedersehen mit dem Vater keine klare Erinnemng. B. wurde nun zunachst im Wachzustande eingehend exploriert, insbesondere

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dazu angehalten, sich auf eines der Erinnerungsbruchstticke zu konzentrieren und erggnzende Einf~tlle abzuwarten. Er konnte nur noch einige Angaben zu seiner Ankunft in Mainz maehen, namentlich, dab er sich k6rperlich so sehr schlecht befunden babe, er habe sich ,,stark benommen geftihlt und einen sehweren Kepf gehabt"; die Beschwerden hKtten bis zum ngchsten Tage gedauert.

Naeh lsttindiger vergeblieher Untersuchung im Wachzustandc wurde B. mit kurzer Fixation, Strichen und Verba]suggestion hypnctisiert. Erst nach 20 Minuten gelang es, die ersten Materialien zu erhalten; er befindetsichim Warte- saal in Leipzig, an einem Tisch, gegentiber ein grol~er, links ein kleiner Herr, der kleinere liest Zeitung, der gr61]ere hat die H~inde im SehoBe liegeno Sie blicken gelegentlich zu B. hiniiber, sprechen auch miteinander, ohne dab er die Unter- haltung verstehen kann. Trotz ]~ngeren suggestiven Drgngens blieb das Bild unbeweg]ich stehen. B. wurde daher auf die Ankunft in Mainz eingestellt; er hatte auch hier zunKchst Schwierigkeiten; nach einiger Zeit wurde ibm das Bild klar, und auf die wiederholte Anregung, in der Erinnerung riickw~rts zu gehen, folgte nun der erste Zuwachs an Material. Er sieht den ,,KIeinen" (Mann) vet sich und den ,,Gr6Beren" hinter aich und steigt aus dem Abteil, dann umgeben ihn pl6tzlich viele Menschen auf dem Bahnsteig, der sich aber wieder als der Leipziger Bahnhof ergibt. Er steht im Wartesaal Leipzig auf, geht in der Richtung zu seinem Zuge, die beiden Herren folgen, der Bahnhof ist yell Menschen, er setzt sich auf eine Bank. Sieht vor sieh Ba hngleise, die Herren setzen sich neben ihn; auf die Frage ,,warum T" sagt er ,,ich weil~ nicht". Der gr5Bere Herr bleibt neben ihm, der ldeinere geht in der Richtung nach dem Wartesaal. Es gehen viel Menschen vorbei, die tells hersehen, teils nicht. Der Kleinere kommt zuriick, bringt etwas. I)er GreBe sitzt neben B., der Kleine steht und rauch t . . . ,,Mir ist so i ibe l . . , es ist, als wenn sie warten." An diesem Punkte wurde die erste Sitzung abgeschlossen, die Protokolle der folgenden im ganzen etwa 14 Stunden lang dauernden hypnotischen Sitzungen miissen hier im Original folgen, nm einen ]ebendigen Eindruck der Arbeit zu geben.

Protokolle. 2. ,gitzunq, am 2. X . 1922.

Ich sehe die ]etzte Szene, ich sitze auf der Bank in der Halle vor den Bahn- steigen am Leipziger Bahnhof. Der grol3e Franzese riickt neben reich, guckt mir scharf ins Gesicht, der Kleine steht in einiger ]~ntfernung, ich merke l)belkeit, Sehwere im K6rper.

Kopfschmerzen ? - - Ja ! Si'nd die Bilder klar ? - - Nein, die werden schummerig.. . Mul~ sehon d~mmerig

s e i n . . . Sehen Sie Lichter ? - - Kann ieh noeh nicht sehen . . . Bank vet den Bahn-

steigen, B~hnhof wird yeller Menschen, habe Miidigkeit in den Beinen . . . Der eine sitzt neben mir, der andere steht noeh immer seit]ich.. . Mir ist elend, i ibe l . . . Der Kleine n~hert sich dem Grol3en, spricht einige Worte mit ibm, ich achte nicht da rauf . . . (?) ich sitze matt, Kopf vorgebeugt. . , der GreBe guckt auf reich, stehen beide noch vet m i r . . , jetzt stehen die beiden auf und gehen nach den Wartesglen, sie kommen gleich wieder, sie bleiben vor mir stehen, mit dem Gesicht zu mir, sie haben Mantel a n . . .

Bild wird noch nicht k l a r . . , gegen ),bend immer mehr Menschen... der GreBe reieht mir die Hand, hebt reich hoch, der Kleine geht mit dem Gepiick, wir gehen durch die Mensehen nach den unteren Bahnh6fen, vielleicht Yr. 9, 1; ich gehe schlapp, krank. Der GreBe hitlt einen ein biBchen, ich habeihn eingehakt, wir kommen an die Sperre.

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(Erinnern Sie Gesicht des Schaffners ?) - - Nein, guckt reich auch nicht be- senders an. Der Kleine reieht ihm (Schaffner) was hin, der Kleine geht v o r a n . . . J e t z t sehe ich Lichter, Zug hat aueh sehon Lieht, geht neben dem GroBen, Menschen gehen nach Ziigen, Zug muB auf der rechten Seite sein, finks ist keiner zu erkennen, gehen langsamen S c h l J t t . . . (?) gehen am Zug e n t l a n g . . , sehe so was Erleuchtetes, kann aber Uhr nicht erkennen, stehe vor irgend etwas, ist Eisenbahnzug, bin nur mit GroBem und Kleinem wei te rgegangen . . .

Ich hSre so'n paar, die y o n . . . Gera h5re ich so'n W o r t . . . (Was gesehieht weiter ?) - - So dasselbe, so als ob wir stehenblieben, zu z w e i t . . . J e t z t kommt der Kleine zuriiek, wir gehen weiter am Z u g . . . der Kleine

vorneweg, sehe ein Sehild, kann es nicht e r k e n n e n . . . (?) Buehstaben, sehe so 'he S c h r i f t . . . kann nicht zusammenre imen . . . Sehe ein H . . .

(Wieviel Uhr muB es sein ?) - - 6 oder 7 Uhr muB es s e i n . . . (Was sehen Sie auf dem Schild ?) - - Ein paar Worte, 2 Zeilen, 3 grebe Worte,

so ein grebes M oder E mehr unten, so wie Anfangsbuchstaben, es sind so Striche zwischen den W o r t e n . . . Wort mit H ist nicht lang, ungrade Buchstaben, letzter Buchstabe ist k l e i n . . , oben 2 Worte, unten 3 - 4 Worte, Schrift ist unten k l e i n e r . . . (Hinweis auf Schild) . . . erstes Wef t wird klarer, so was wie H a l l e . . . (Hinweis auf Sehild) Je t z t sehe ich einen Buchstaben oben hinter dem Strich wie E, das Wort ist bald doppelt so l a n g . . , es hat gemischte Buehstaben, mug sehr lang s e i n . . , eben war, als h/~tte ieh lesen k S n n e n . . . Es wird schon klarer, es muB so was sein wie Frankfurt, ich will mal s e h e n . . .

Es sind mehrere Ttiren an einem Wagen, es muB Personenzug sein, fast alle Ttiren sind often. Der Kleine kommt wieder (?), muB 2. und 3. Klasse sein. Ich sehe es an den Tiiren, die beiden warren noch auf w a s . . .

(Befinden ?) - - Reeht fibel, schwindel ig . . , je tz t kommt der Kleine zuriick; Worte an den GroBen, wit gehen weiter, der Kleine springt in ein Abteil, winkt uns zu, der eine sttitzt mich am Arm, komme so richtig rein, sitze mit dem Gesicht nach der Lokomotive. Kleine sitzt neben mir, der GreBe steht an geschlossener Tiir, guekt raus, es ist 3. Klasse, kein Mensch ist in dem Abteil, es befindet sich da ein Klosett, ich sitze in der Ecke des Abteils, die von dem Bahnsteig entfernt ist. Der Kleine spricht paar Worte an den GroBen, ich sitze Bank, die beiden geben sich Hand, es wird kein Wort an mich gerichtet, im Abteil ist Lieht, Gel~/ick liegt im Netz. Die beiden haben die M/intel nicht a b g e l e g t . . . Bin reeht m i i d e . . . je tz t Rule drauBen, mir ist, a]s k/~me der Zug ins F a h r e n . . .

Der GreBe setzt sich neben reich, der Kleine gegeniiber, mir wird schl~ferig, je tz t werden meine Vorstellungen d u n k e l . . . (?) mir ist, als ob wir ohne Halten lange gefahren sind, drauBen ist es dunkel, ab und zu Lichter, GreBe und Kleine gucken ab und zu riiber, ab und zu tauschen sie ein Wort, wir sind lange gefahren.

(Wieviel Uhr ?) - - 9 U h r . , . es war real hell am Fenster, vielleicht haben wir g e h a l t e n . . . (?) sie sagen nichts zu m i r . . , es ist als ob noch so r o l l t . . .

(Zustand ?) - - Wird nech schfimmer, es kratzt im Halse, ich mSchte brechen und kann nicht, bitteren Geschmack, benommen, beklommen.

(Haben Sie Schmerzen ?) - - Nein, ich bin dfsig, so wie vorm E insch la fen . . . Ich scheine %eilnahmslos dazusitzen, denke nichts dabei, die scheinen so ans l%nster zu gehen, aber einsteigen rut keiner. Der Zug scheint zu halten, die beiden, der GreBe ri i t telt reich auf, sehe helle Lampen, grSBerer B a h n h o f . . . je tz t dunke] (l~]lm reiBt a b . . . ) , der GreBe ri i t telt (gesprochen?), weiB nicht, mir ist so schli~frig. . , scheinen paar Worte zu wechse ln . . .

Es ist so, als ob die beiden reich herausf i ihren . . , es ist so, als ob sie mich auf eine Bank setzen und auf was warren, ich in der Mitre yon beiden, muB groBer Bahnhof sein, am Bahnhofsgeb~ude, sind durch keinen Tunnel gegangen, veto

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Zug gleich zur B a n k . . , es seheint Mitternacht zu sein, die anderen seheinen zu r a u c h e n . . . (?) langes Geb/iude, nieht sehr hohe Halle, viele Geleise, nieht vieie Menschen. Die Bank ist am Bahnhofsgeb/~ude.. .

(Was fiir Dialekt sprechen die Leute hier ?) - - Es seheint nieht mehr si~ehsiseher Dialekt zu s e i n . . .

Sehe so Schilder h/~ngen, kann nieht l e s e n . . . (Wird energisch auf das Sehi]d h ingewiesen ) . . , es mull so'n langes Wort

sein, rund geschr ieben. . . 3 S i l b e n . . . so was wie C der erste Buchstabe, grolle und ldeine Buchstaben kommen j e t z ~ . . .

(Suggestion) . . . erkenne so'n a drin, auf den allerletzten f~llt nieht genug L i e h t . . .

(Sugg.: Bild heller) dann mug ein o s e i n . . . (Sugg. : 4. Buchstabe sei ein ganz langer, wird nieht angenommen.) Mehrere

Buchstaben nach oben, r, noch hoher Buchstabe . . . . d r i i b e r . . . (Sugg. : lang) dazwischen noeh ein kurzer, siehtaus wiea, nein, dahinter keiner

mehr, es ist noch verschwommen. (Sugg.: es f~llt Lich$ d a r a u f ) . . , mug ein e s e i n . . , l~nger. (Pat. buehstabiert) . . . ah so, C o r b e t h a . . . (Zustand?) - - Ungef~hr wie in der Bahn.

3. Sitzung, am 3. X . 1922.

Alles geht durcheinander. Leipzig, Hauptbahnhof an, gehen am Zug entlang, Corbetha an, seheint es dunkel zu sein, stehen noch auf dem Bahnsteig, jetzt gehen wit nach dem W a r t e r a u m . . . gehen nach einer Ecke zu, scheinen uns hin- setzen zu wollen, (?) das iible Gefiihl ist mir immer n o c h . . , ich sehe reich am Tisch sitzen, die beiden neben mir, Tisch Ecke von W a r t e r a u m . . . jetzt wird mein Befinden besser, l~belkeit 1/~llt naeh, munterer, die beiden bl/~ttern in einem kleinen Buch, der eine geht r a u s . . , je tz t kommt der Grolle wieder, sagt dem anderen was, dieser antwortet, guckt nach mir, beide mustern reich, der Kleine rtickt an reich ran, mustert meinen A n z u g . . . die scheinen was von mir in der Hand zu halten, einen Gegens tand . . . je tz t bekomme ich den Gegenstand wieder, sieht so aus wie meine Br ie f tasche . . . jetzt wird mir s ch l ech t . . , habo niehts gegessen oder g e r a u e h t . . , es scheint draul3en heller zu werden, es kommt mir so vor, als hi~tte ich geschlafen, die anderen saBen so zum Sehlafen (?), es mul~ Sonnenaufgang sein, es ist der Bahnhof yon gestern a b e n d . . . Je tz t stehen beido auf, riitteln an mir, ich kann gar nicht so richtig stehen (?), Brust b e k l o m m e n . . . t i b e l . . . Ha l skr ibbe ln . . . (?) keine S t ichschmerzen . . . der Grolle stii tzt reich, wir gehen raus an den Z u g . . .

(Wie war die Tiir des Warteraums ?) - - Gr6Bere Tiir, Drahtgeflecht von unten bis zu halber HShe, Scheiben, nicht so sehr breit, eckige T i i r . . . Beleuehtung im Wartesaal dunkel, wenig Menschen, Tische haben keine Decken, Holzplatten, Bild an der Wand links (beim Hereingehen) yon der Tiir, bunt, dunkelbrauner R a h m e n . . . Kleine vorneweg zum Sehnellzug, wit gehen in eine Tfir, es sind lange Wagen, wir bleiben vor einer Ttir stehen, ich mull real so spueken, jetz~ gehen wir rein. Es seheint zu regnen. Zug nicht mehr yoU, wir haben ein Abteil. Es ist ein junger Mann drin, er scheint geschlafen zu haben (?), er ha t niehts mi~ den beiden zu t u n . . . Beide sitzen mir gegeni iber . . , draul3en fragt der Grolle so'n Mann auf deutsch n a e h . . . B e r g e n . . .

(Haben Sie einen Stationsnamen geh6rt?) - - Nein, Zug f / i h r t . . . (Was tun Sie ?) - - Ich stehe auf, gehe raus, den Gang lang naeh dem Ab$ritt (?).

Befinden sehlecht, w~re beinahe hingefa]len, mug erbreehen, priekelt auf der Brust (?}, Erbreehen schmeekt s~uerlich (?), kein Stuhl, kein Urin, Riicken kalt,

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gehe zuriick. Auf dem Gang steht schon der Kleine, kauere reich ins A b t e i l . . . der Fremde sieht reich an, er sieht aus w i e . . . Wanderbursche, hellrote Gesichts- farbe, freundlich blaue Augen, sehr klkiner Hut, kleine griine Krempe, sieht so komisch aus (?), einige 20 J a h r e . . .

(Nummer Cout~6tiir? ) - - Nk in . . . Es wird drauBen heller, wir fahren an Schluchten vorbei, es saust ordentl ich. . . (?) sehe so steile Wiinde, an denen die Bahn entlang fiihIt, auf beiden Seiten manchmal, dann dunkle B~iume... sehe eigenartige Ki rchen . . . kann nicht richtig erkennen. . , so weiBe Kirchen, H~user aus rotem Ste inwerk. . . der Zug h~lt (?), 8 Uhr morgens. . . Zug f~hrt schon wieder we i t e r . . . Stationsname nicht l a n g . . , letzte Silbk be ton t . . , kann es nicht so richtig br ingen. . , klingt so wie Mahr, schkint wie Weimar . . . Zug f~hrt we i te r . . . (?) die Begleiter reden mehrmals laut miteinander von Ankommen, reden deutsch, der eine GreBe fremdl~ndisch, der Kleine spricht richtig, ich glaube s~ehsisch, ieh hSre yon Beb ra . . . sind wieder s t i l l . . , haben im Warteraum'beide gesessen. . .

(Haben Sie was gegessen ?) *-- Sie wollen mir was anbieten, konnte nieht, habe reich lieber hinge]egt . . . . Zeit wle vorh in . . . Knattert draul~en (we "!) unter den R~dern . . . Der Zug h i , I t . . , wir stehen auf, gehen r a u s . . , kleiner Bahnhof, direkt am Z u g . . . GreBe fragt Bahnvorsteher nach Ziigen (?), wit stehen weiter ab, jetzt winkt der Kleine dem GroBkn a b . . . Wir gehen weg, sind noch am Bahnhof (?) kS muB kin kleiner Oft sein, es ist viel Bktr ieb. . .

(KSnnen Sle kin Sehild erkennen ?) - - Ja, es steht was kurzes oben . . . Erster Buchstabk R, drei Silben d r i n . . , nech ein b, am Ende ein a . . . jetzt kommt es g le ieh . . . B e b r a . . . (?) Es muB Mittagszeit sein (?), wir sind noch auf dem Bahnste ig . . . (?) ich sehk eine Uhr, aber nieht genau . . , sehe sic nicht m e h r . . . sehe ein Gesicht vor m i r . . , hat eine Brille auf, Mann mit Hornbrille, mug ich schon real gesehen haben, sieht nicht ausl~ndisch aus, sehe Uhr, beide Zeiger dicht oben, gegen 11 oder 12 U h r . . . Befinden etwas besser . . , setzen uns auf eine Bank, der eine gibt mir etwas, ieh greifk danaeh, scheint ein Stiick Brot zu sein (?), es ist nicht trocken, eine S tu l l e . . . babe reingebissen, schmeckt nicht gut, es schmeckt schlecht, als ob was Schlechtes dran w~re, ich lege es w e g . . . (?) Befinden g le ich . . .

(Wieviel haben Sic gegessen ?) N Ein paar Bissen. . . (Was tun die andern?) - - Reden eifrig zusammen, der eine gebrochen, ich

kann nieht verstehen, sie gehen weg, Befinden ist sehlechter. . . Bahnhof wieder l ee re r . . . Ich stehe auf, gehe langsam weg nach rechts, kehre wieder u m . . . (?) stand auf, weil mir besser danach wurde, gehe wieder eine ganze Weile, kommt der Kleine und ruft mir was zu, kann nicht richtig verstehen, sitze wieder, Kleine neben mir (?), Kleine sagte einen kurzen Satz, recht freundlieh. . . Zustand etwas sehl immer. . .

(Was sehen Sie?) - - . . . so'n paar Ziige die wegfahren. . , keine Mensehen mehr d a . . . (?) und Uhr, der GreBe nicht d a . . . GreBe kommt wieder, sagt dem Kleinen was, dieser geh$ weg, der GreBe steht vet mir, sieht reich an und setzt sich nehen m i c h . . . (?) jetzt sehe ich reich im Zug, er ist etwas yell, ieh habe Platz, der eine s t e h t . . .

(Sind Sic veto Bahnsteig direkt in den Zug gestiegen ?) - - Es ist dunke l . . . (Er wird naeh Bebra zum Einsteigen zuriiekgefiihrt.) Ich melke nur, dab wir

fahren (?) es sind einzelne Coup6s, ich gehk 5fters aura Klosett (?) lasse nur Urin und habe Erbreehen, Befinden etwas besskr (?).

(We f~hrt der Zug hin ?) - - Der eine sagt ein ]anges W or t . . . ich glaube Frank- furt; reden, dab ale da jemand erwarten t~ite.

(Wie ist die Spraehe der beiden ?) - - Der GreBe sprieht sehnell eher etwas tier.

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Der Kleine etwas heller, nicht schnell. Ieh halte ihn ffir einen Deutschen, vielleicht Sachsen. Der GroSe sagt: Charles, noch einen Namen, der zu Charles geh6rt, so i~hnlich w i e . . .

Wir fahren, beide sitzen j e t z t . . , fiber eine Brticke, grSllerer Flull, gehe wieder austreten. Der Kleine hi~lt mich zuriick, setzt reich wieder lain. Der Kleine spricht zum Gro$en (?). Die anderen Leute im Coup6 lesen. Es ist ein i~lterer Mann und eine Frau, sie gehSren wohl zusammen, spreehen abet nicht zusa tureen. . . (?) er hat ein glattes Gesieht, BriUe, so wie ein alter Professor, er guekt real auf, als ich hingesetzt wurde . . . Wir fahren fiber eine Brficke.. . wir halten, steigen aueh aus, es wird wieder hel ler . . . (?) Ein Bahnhof wie in Leipzig. . . ieh stehe wieder alleine, die anderen gueken und suchen. . . (?) ich babe nichts gegessen~ noch schlecht, 6 Uhr, Bahnsteig nieht sehr roll, trete so'n bisehen r u m . . , es kommt den beiden einer entgegen.

Wie sieht er aus? - - Kleines Biirtchen, hellbraun, kleiner Kopf, l~ngliches Gesieht, er hat eine Mfitze auf, dicke Augenbrauen, dunkle Augen, er sieht aus- l~ndiseh aus, Miitze ist schwarz-wei$ kariert. Er redet sehr lebhaft mit den anderen, sie stehen weft yon mir. Der Anzug des dritten mit langer brauner Hose, kurzem hellen Jiickehen oder Paletot, er reicht den anderen was, wie einen Brief, lachen alle drei, kommen alle drei zu mir, jetzt reicht mir der Grolle die Hand, freuen sich beide, scheinen franzSsisch zu sprechen.. , gehen paar Schritte weg, der dritte erz~hlt den beiden; der Grolle schreibt in ein Buch, das er in die rechtc ~ullere Jackettasehe s teck t . . . Befinden immer noch so, einer reiSt meinen Kopf nach hinten, als ob die Wirbelsiiule abbreehen sollte, mull reich wieder setzen,... ich gehe rum ohne Gedanken, Befinden schleeht, es ist, als ob mir jemand den Kopf abdrehen sollte, setze reich auf ein kleines KSfferchen... es wird besser. ])as Kopfabdrehen ist wie ein Ziehen, wie ein elektrischer Schlag, jetzt ist mir wieder wie vorher, habe im D-Zug im Abtritt selbst (nicht gereicht) Wasser ge- trunken. Das Kopfabdrehen war wie ein elektrischer Schlag, es ist keiner bei mir, ich sehe die drei, es geht niemand vorbei, der Schlag ist nur einen Augenblick; bin nicht gefallen.. , sitze auf dem K6fferchen, die drei kommen auf reich z u . . . (Weiter!) merke noch n ieh ts . . , die drei stehen da (?) 6---7 Uhr.

(Sehen Sie ein Schild?) - - Nein. (Welter !) . . . (Weiter !) . . . Jetzt gehen wir naeh der Sperre, der Kleine sagt ein paarWorte

zum Bahnmenschen und guckt dabei auf mich. Wir gehen einige Stufen, gehen einen Gang im Geb~ude, gehen in einen yon den beiden Warter~umen.

(Rechts?) - - Gehen auf der linken Seite an einen Tisch an der Tfire; es stehen ein paar Mi~dchen da.

(Was tun sie?) - - S i e laufen immer rum. ( Sehen Sie eine Uhr odeI Sehild ? ) - - Nein (?) im Wal tesaal ist Tagesbeleuchtung,

so schummerig, die Leute schlafen noch. Die anderen scheinen Kognak zu trinken, ich stehe auf, gehe gegenfiber durch die Tiir, den Gang entlang, naeh links. Die anderen scheinen mir nachzugucken.. . (Weiter!) Gehe veto Gang nach einem grollen Raum, auf beiden Seiten ist Billettausgabe, gehe immer weiter, nach der rechten Seite zum Klosett, babe etwas Durchfall, es preBt recht sehr, auch Urin und Erbrechen, gehe zurtick zum Warteraum (?) Befinden etwas besser . . . sie geben mir etwas zu essen, ein Brot, es schmeckt g u t . . .

(Haben Sie sonst etwas zu sieh genommen ?) - - Nein . . . es kommt ein Mann rein, er scheint etwas auszurufen, wir stehen alle auf.

(Wer war der Mann?) - - Pottier, hat eine tiefe Stimme (?) 8 U h r . . . gehen wieder Bahnsteig, sind ein paar Stufen gegangen (?) der Zug ist schon da, wir steigen sehnell ein, in einen Abteitwagen (?) Befinden besser . . . (?) Abteil mehr

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124 I . H . Schultz:

Menschen, Manner odor Arbeiter. Der GroSe und Kleine sind bei mir, der drit to klopft mir derb auf die Schulter, ehe er wegging, und murmelte etwas. Die Arbeiter im Coup6 sind Deutsche, sie haben Tiicher so wie Taschentficher, braune um den Hals, der Zug fghrt, wit fahren fiber cine grol~e Brficke, nachdem wir schon die ganze Zeit g e f a h r e n . . . (?) Die Bificke ist fiber cincn l~ lu6 . . . Die beiden rufen sieh was zu, lachen leise, es wird ganz dunkel, die Bahn fghr$.

(Ist es ein Tunnel ?) - - Es scheint so, wir fahren gleichm/iBig. . , es wird wieder holler, der Zug halt, (weiter !) er h/~lt wiedcr, die Arbeiter steigen aus.

(Haben die Arbeiter nach Ihnen gesehen ?) - - N e i n . . . der Kleine steigt auch aus, ruft dem Grol~en was feixend zu, der GreBe schiebt reich darauf raus, klopft mir auf den Rficken, ruff mir was zu, kann cs nicht vcrstchen, der Bahnsteig ist sehr voll. Die beiden gucken umher, ich stehe neben beiden, es ist t in gzSBerer Bahnhof, es kommen ein paar Offiziere mit rundlichen Miitzen, mit blauen und roten Strcifen, sie gehen weg, jetzt kommt einer an, ruft meinem Begleiter fr6hlich was zu, er hat ein Kipp i auf mit zwei goldencn Streifen, kurzes Gesicht, keinen Bart, blaue Stoppeln.

(Hat er umgeschnallt ? ) - - MuB so was umgeschnallt haben (?), habe nicht mehr L~belkeiten, noch so leicht im Kopf, sie gehen ein paar Schri$te weiter, sprechen mit beiden Offizieren, es ist noch Bin Offizier rangewinkt worden, sie kcmmen wieder, guckcn reich an. Der in der Uniform sagt was zu mir, er spricht wie in der Unterhaltung, er scheint mir mit der Hand was erkl/iren zu wollen, wir gehen vom Bahnsteig nach dcm Tunnel. Es wird mir auf einmal ganz leicht, ich gehe auf die Seite, gucke die Leute an, es kommen Scldaten mit Gewehren.

(Wie schen die Soldaten aus?) - - Dunkle Hautfaibe, kriege Beklemmung, Angstgefiihl, so da$ ich nach den anderen Personen gucke, die mit runter gehen, dann scheine ich reich an einen Mann im Vorfibergehen zu wenden, einem Deutschen mit steifem Hut, er ist alter.

(Sagen Sie was?) - - Nein, wir guckcn uns nur so an, es wird mir desig frisch auf einmal, da range ich an zu laufen.

(Sehen die Offiziere Sie nicht ?) - - Nein, ich bin schon um die Ecke herum, ich scheine so was zu sp rechen . . , es war so was wie Gott verdamm mich, jc tz t a b e r . . .

(An welchem Oft sind Sie jetzt ?) - - Ich gche wiedcr veto Tunnel rauf, sehe F/ihnchen unter einem Schild (?) M a i n z . . . Es f/ingt die letzte Szene an zu d/~mmern, Lente, Tunncl, laufcn yon den vier w e g . . , jetzt kommt das ven gestern Abend (crste Sitznng).

(Weiter!) - - Lief nach der S p e r r e . . . (Weiter!) - - Jetz$ sehe ich alles weiter. IWas denn ?) - - Da suche ich nach der Spcrre, weiter nichts Besonderes, was

nicht schon g e s a g t . . . Wird nach Leipzig zurfickgefiihrt, Guben Abschied yon den Eltern, An-

kunft in Leipzig. Leipziger Bahnhof. Ich gche die Halle entlang an den Bahn- steigen, geht runter in die Halle, erkundige mich nach den Zfigen, gehe wieder rauf in den Wartesaal, Tisch links, an der Wand (hart). Auf der linken Seite die Bank, sechster Tisch yon der Tfir, Tisch ist frei, ich stehe bald wieder auf, um auf der Plattform znm Buehhindler zu gchen (?), 2 Uhr, hole Zeitschrift und Zcitung, gehe wieder an den Tisch, hatte das Gep~ck bci mir, am Tisch sitzt cine junge Dame und ein/ i l terer Herr, sie gehen bald weg, ich bin wieder alleine.

(Ist das Esscn schon da ?) - - Ncin ich bestelle erst, Suppe, Rindfleisch. Habe die Speisekarte in der Hand, der Kellner steht vor mir, er ist lang, mitteldick, Haare dunkel, weiBlichen Schnauzbart, mul~ /ilter sein.

(Hat er eine Glatze ?) - - Nein, einen Seheitel, hohe Stirn mit U-Boothgfen

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Zur Psychopathologie und Psychotherapie amnestischer Zustltnde. 125

d r i n . . . (.9) griinliches Auge, Gesichtsfarbe br~unlich, untert/~niges Gesicht, niehts AuffaUendes, mittlere Nase.

(Welche Nummer .9) __ Glaube, es war 6 . . . Kellner bringt das Essen, es ist niemand am T i s e h . . . Esse mein Gericht, krame in meinen Saehen, lese die Zeit- sehrift, Befinden ist gut, rauehe eine Zigarette (,9), bin noch a l l e i n . . . Schliel]lieh kommen zwei ran, ich sitze an der schmalen Seite, Gesicht nach der Tiir, meine Saehen liegen an der Garderobe zwei Tisehe links vor m i r . . . Die Herren kommen yon hinter mir, gehen nach der Tiir, kommen zurtick, fragen ob Platz frei w~re, der Grofle fragt, Spraehe romanisch, ieh sage nur, dab es frei ist. Der GroBe sitzt gegeniiber mit dem Riicken nach der Tiir, der Kleine mit dem Rueken naeh dem Biifett (.9). FAn Stuhl ist zwischen roar und dem Kleinen, sie rauehen, ieh rauche auch, der Kleine liest Zeitung.

(Eine ausl/~ndische Zeitun.~ ?) - - Ieh weiB nicht (.9) 3--3l/2 Uhr. Schlie61ieh wird mir sehwer im Kopf.

(Sind Sie beriihrt worden .9) - - Iqein, niehts (.9). Es ist, als ob man allm/~hlieh miide wiirde, mattes ttingeben. Paeke meinen Rucksack und gehe raus.

(Von wo bringt der Kellner das Essen,9) - - Von hinter meinem Riicken her (.9), 1 Stunde vor dem die Herren kamen . . . 1/~--a/4 Stunde naeh dem Essen wird mir sch lech t . . . (?) Wartesaal ist dreiviertel besetzt.

(Wie fiihlen Sie sich,9) - - Blutleere, werde matt .

4. Sitzung. Suggestion: Zug f~hrt in die gesuchte Station ein. Ich sehe immer noch nicht

richtig. Ich sehe noch immer die Leipziger B a n k . . . Ich sitze, die anderen stehen in einiger Entfernung.

Alles bekannte Bilder. - - So, jetzt krieg ieh langsam den kleinen Bahnhof w i e d e r . . . J e t z t seh ich reich auf dem Perron stehen - - sind ziemlich viel Men- schen da.

Sind besondere Menschen da ,9 - - Die beiden sehe ich. Es scheint dunkel zu sein. J e t z t wird er dunkel, der ganze Bahnhof.

l~ur abgedunkelt,9 - - Ja , so ganz dunkel. Bahnhof,9 - - So'n langes Geb/~ude und links seheint eine Bude zu sein. Ich stehe mit dem Gesicht naeh dem ]3ahnhof und dana die Bude links. - -

Am Bahnhof stehen so'n paar B~nke. Genau sehen,9 - - Ja. Wieviele? - - Zwei, dunkelbraun. Riehtig mit Riicklehne - - zwei Bretter, Lehne, dann B o d e n b r e t t . . . je tzt

gehe ieh welter nach den B/inken zu. Wie Bahnhof,9 - - Rot, S t e i n . . . Bude aus Holz (.9), Bude ganz zu. Menschen,9 - - W e n i g e (?). Niemand, der auff/~ll t . . . Je tz t geht der Kleine

f o r t . . , geht durch so'ne grofle hohe Tiir, ist hoch, griinliche Farbe. Aus ro t emSte in . . . Bahngeb/~ude (?). Kann Steine genau sehen (.9). Schmutzig

rot. Links davon eine kleine T t i r . . . vor der griinen Tiir Gitter, an der Wand zu beiden Seiten bis BrusthShe (.9). Aus Draht, Netzform, daneben kleine schmale Hiitte.

Wie ist der Boden des Bnhns te iges ,9 - Gepflastert. (N/iheres bleibt unklar.) Ha t Halle Bogen ,9 - - Ieh sehe so eine Reihe Pfeiler (.9). Ieh stehe z~ischen

Pfeilern und Wand, Pfeiler auf erstem ]3ahnsteig. I~mpe ,9 Uhr ? - - Nein. (.9) In der groBen Tiir Beleuchtung. KSnnen Sie etwas hSren ? - - Nein. Gleise sehen,9 - - Ja, d u n k e l . . . 1 und 2 Schienen, so ein Gitter ist d a . . . Sehe noch nichts.

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126 I . H . Schultz:

(Schild?) (auf wiederholte suggestive Fragen). - - Das will nicht so recht kommen.

Der Kleine ist noeh weg, der GreBe ist bei mir, wir gucken nach der groBen Tfir, sehen ein paar Leute.

Spricht der GreBe mit Ihnen ? - - Er liest etwas in so einem kleinen B u c h . . J e t z t kommt der Kleine wieder, jetzt gehen wir dutch die kleine T i i r , . . (?) in den Warteraum. Ieh gehe nach links herunter, wir setzen uns ziemlich in der Ecke an einen T i s c h . . . An der linken Seite Schanktisch, Ecke nach hinten.

Warteraum welcher Klasse? - - Die Tische haben keine Decken. Schanktisch? - - Da l~uft immer einer herum. Wie sieht er aus ? Neger ? - - Ich kann es nicht genau e r k e n n e n . . . Hemds-

~rmel, kleiner Mann, keine Kopfbedeckung. Ttir nach der rechten Seite der Wand. Is t an der Wand etwas zu sehen ? - - Nein! Sind viele Menschen da ? - - Nein. (?) Sitzen a l l e . . . Sehanktisch gro6 ? - - Nimmt die halbe Seite der Wand ein (?). Hinter dem

Sehanktisch ist ein Vorhang. Farbe ? - - Ich kann nichts e r k e n n e n . . , der Vorhang ist dunkel. Farbe der W~nde ? - - Sie seheinen punktier t zu sein, gelblich yon oben bis unten. Fenster? - - Ja , (?) in der Vorderwand, in der Wand, we die Ttir ist. Vorh~tnge ? - - Ieh glaube, es sind keine dran. Was ist an der ]inken Wand zu sehen ? - - Ich sehe nichts. An der vorderen

Ecke des Schanktisches h~ngt etwas . . . . Seheint etwas Buntes zu sein (Suggestion: Licht). Es sind braune Sachen drin und wieder helle Sachen, ich kann es nicht unterscheiden.

Weffir halten Sie es? - - Etwas Grol3es ohne H o l z r a h m e n . . . ich kann es nieht u n t e r s c h e i d e n . . . (?) Die Sache ist ganz platt , mehr fang als breit, vier- eckig, an der Wand fiber der Eeke des Schank t i s ches . . . Ich kann es noch nicht u n t e r s c h e i d e n . . , es ist ein Schild zur l~eklame.

Is t sonst noch etwas an der Wand ? - - Nein. (links oben ?) Ich kann es nieht unterseheiden. Ich gehe so schrag, etwas yon der S e i t e . . . yon der Ttir aus kann ich noch schleehter sehen.

Ha t der Schanktisch noch etwas Besonderes ? - - Vorne ein kleines Sehr~nkehen, blank an den Seiten.

Sind die beiden bei Ihnen ? - - J a . . . (?) Ieh kann nichts hSren. (Die Nscht wird ablaufen gelassen.) (?) D u n k e l . . . Wir stehen je tz t draui3en

uf dem Bahnsteig, nicht sehr e r l e u c h t e t . . . Befinden ? - - l~icht gut. - - Ich stehe neben dem Kleinen, sehe nach den

Sehienen. Sehild ? - - Rechts von mir ist ein Sehild, oben ein kurzes Wef t schwarz auf

hell (?) Richtig erkennen kann ich die Buchstaben n i c h t . . . Der erste Buchstabe ist wie ein grol3er, dann alles k l e i n e . . , es scheint so'n groges C zu s e i n . . , sehe zwei Buchstaben wie so'n kleines s s . . . vor dem s mhI~ o sein. Je tz t sehe ich wie ein n (Steht es hinter dem o ?). Nein, da s teht s. Das andere kann ich nicht erkennen. Nach dem C mnB noch was sein. Es scheint r zu s e i n . . , es fehlt noch ein Buehstabe naeh dem s, es seheint e zu sein (?) J e t z t seheinen es alle Buch- staben zu sein, so was wie Crossen. (bekannt ?) Ja.

Is t ' s lichtig ? - - Ja. Wie sieht das Schild im ganzen aus? - - L~nglich, Licht yon auBen, ganz

grebes Schild. Reise bis ? Ort. Sieht nur FuBboden und W~nde 3. Klasse. Keine Menschen, der Zug h~lt, es wird etwas gerufen, viele Namen (?). Kleiner Ort, f~hrt gleich w e i t e r . . , je tz t h~lt er.

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Zur Psychopathologie und Psychotherapie amnestischer Zustande. 127

KSnnen Sie etwas sehen ? - - Nein. Fahren wieder . . . Jetzt sind wir wieder in Leipzig. Abfahrt yon Leipzig. Schild am Wagen,

sieht aus wie Corbetha, Durchgangswagen, es sieht aus wie ein Personenzug. Wit steigen ein. Der Zug f~hr t . . . Jetzt sind wir wieder in Bebra.

Wir mfissen lange gefahren sein. Zwischen Leipzig und Bebra einmal ausgestiegen. Eine kritische ErSr~erung des Materials soft zungchst zurfiekgestellt werden

und einiges unter der noeh zu diskutierenden Voraussetzung der Verwertbarkeit dazu bemerkt werden. Vor allen Dingen ist es die fiberwiegend ganz primitive, sinneseindruckmgl3ige Gestaltung des Materials. Wenn B, z.B. sagt ,,sehe so etwas Erleuehtetes, kann aber Uhr nicht erkennen. Stehe vor irgend etwas . . . . es ist ein Eisenbahnzug" oder ,,ich hSre so ein paar die v o n . . . Gera hSre ich so ein Wort" oder ,,ich bin recht mi ide . . , jetzt Rufe drauBen, mir ist als kgme der Zug ins Fah ren . . . mir wird schl~frig, ]etzt werden meine Vorstellungen dunke l . . . mir ist, als wenn wir ohne Halten lange gefahren sind, drauBen ist es dunkel, es wird drauf~en hel ler . . , wir fahren an Sehluchten vorbei, es saust ordentlich.. . sehe so steile W/inde, an denen die Bahn entlang f/~hrt, auf beiden Seiten manchmal ganz dunkle Bgume. . . sehe eigenartige Kirchen. . . kann nicht richtig eikennen, so weige Kirchen, H~user aus rotem Steinwerk. . . es knattert draul~en (wo ?) unter den Rgdern, der Zug h~lt". Diese Art der Reproduktion entspricht durcha~ls der yon Pick gekennzeichneten Wahrnehmungsver~nderung.

Sehr auffallend war nun, daB, entgegen der Erwartung des B., der seiner AngehSrigen und meiner eigenen, ohne irgendwelche suggestive Fragen Materialien heraufkamen, die den Verdacht auf eine spezielle Vergiftung nahelegten. Die Angaben fiber ~belkeit und Schwere im KSrper sowie Schl/ifrigkeit und gelegent- liches Schwindelgeffihl sind dabei weniger wesentlich als die in der zweiten Sitzung auftretenden Schilderungen, ,,es wird ncch schlimmer, es kratzt im Halse, ich mOchte brechen und kann nicht, babe bitteren Geschmack, [iihte mich so benommen, so beklommen" (Kcpfschmerzen ?), ,,nein, ich bin d6sig, so wie vorm Einschla[en . . . ich scheine teilnah~nslos dazusitzen, denke nichts dabei, die scheinen so ans Fenster zu gehen, abet einsteigen rut keiner". Oder aus der dritten Sitzung ,,]etzt wird mir schlecht . . . ich kann gar nicht so richti.q stehen, ]etzt 8tehen beide au[ und riitteln an mir, mir ist auf der Brust bek lommen. . , i i be l . . . Ha~kribbeln (Sticht es auf der Brust?), keine Stichschmerzen". Im weiteren Verlaufe wird auch mehrmals Er- brechen angegeben; genaue Nachforschungen bei B. und seinen Angeh6rigen lieBen jede bewuBte Kenntnis einer der in Frage kommenden Vergiftungen, ins- besondere der charakteristischen Empfindungen im Halse, ausschlieBen. Die dritte Sitzung enth/ilt dann noch eine sehr auffallende Angabe: B. schildert hier, daB er sich noch schlecht befinde und auf einen Bahnsteig etwas hin und her gehe. Hierbei hat er plStzlich das Geffihl ,,einer reiBt meinen Kopf nach hinten, als ob die Wirbels~ule abbreehen sol l te . . , ich mul~ mich wieder se tzen. . , gehe rum ohne Gedanken, Befinden schlecht, es ist, als ob mir jemand den Kopf ab- drehen sollte, setze reich auf kleines K6fferchen... es wird besser . . , das Kopf- abdrehen ist wie ein Ziehen, wie ein elektrischer Sch]ag.. . es ist keiner bei mir, ich sehe die drei, es geht niemand vorbei, der Schlag ist nur einen Augenblick, ich bin nicht gefallen.. , sitze auf Kffferchen". Sparer werden auch Darm- beschwerden geschildert. Diese Angaben legen den RfickschluB auf eine Ver- giftung auBerordentlich nahe. An und fiir sich w/~re diese Annahme nicht phan- tastisch, waren doch zu dieser Zeit, wie ich aus dem Ausw~rtigen Amt in Berlin erfuhr, bereits beinahe 200 Verschleppungen junger kr~ftiger Leute in die Fremden- legion, zum Teil unter Anwendung yon narkotischen Mitteln, bekannt. B. wurde selbst von dieser Auffassung zuni~chst nichts mitgeteilt, sondern ohne irgend-

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128 I . H . Schultz:

welchen Hinweis der Aufenthalt im Wartesaal in Leipzig nochmals niiher ein- gestellt. Aueh dieser Un~ersuchung ging eine eingehende Exploration im Wach- zustand voraus, die aber fiber den Aufenthult in Leipzig und seine Einzelheiten nichts N~heres ergab. B. pflegte Leipzig auf seinen Reisen meistens glatt zu passie- ren, was diesmal nur durch Zugversp~tung nicht der Fall war. Der Leipziger ]Mhnhof w~r ihm also keinesfalls n~her bekannt. In erneuter Hypnose konnte B. nun noch cine grolle Anzahl Einzelheiten reprodnzicren, insbesondere eine ein- gehende Schilderung des Kellners, der ihn bedient hatte, des Ortes wo er gesessen hatte, und, mit gewissem Vorbehalt, auch die 5Tummer des Kellners (6). Diese Angaben konnten sofort vSllig best~itigt werden. Die Schilderung des Kellners erschien namentlich deswegen yon Bedeutung, weil er etwa als Komplize in Frage kommen konnte. B. beschrieb den Kellner so eingehend, dab Frau Dr. Reichmann ihn in Leipzig sofort nach der Schilderung erkannte. Er trug aber eine andere Nummer und bediente an anderem Orte. Interessanterweise ergab sich jedech, dab die Kellner im Leipziger Bahnhofe ihre Reviere t~iglich wechseln und dieser Kellner, der einzige mit einem weiltlichen Schnurrbart und dunklen sp~irlichen Haaren, am fraglichen Tage tats~ichlieh in dem l%vier bediente, wo B. sal3, und die yon B. allerdings mit Vorbehalt angegebene Nummer 6 getragen hatte.

Sehr umfangreiche Recherchen durch das Ausw~rtige Amt, wo ein Verwandter yon B. t~tig ist, und durch die Polizei- und Eisenbahndirektionen der in Frage kom- menden St~dte konnten bisher weitere Best~tigungen der Angaben nicht erbringen.

Auch bei B. trat das bei l%au A. geschilderte Erl6sungserlebnis sehr stark in Erscheinung. Je welter er in Besitz der fehlenden Materialien kam, desto freier nnd zug~nglicher wurde er, und desto geringer wurde seine Iqeigung, einer Be- sprechung des Erlebnisses auszuweichen. B. wurde in der ganzen Hypnose so gc- fiihrt, dall Neugewonnenes ohne weiteres in den Wachbesitz iiberging; eine ohne diese Suggestion aus anderen Griinden eingelegte Rechenpriifung in der Hypnose war ihm im Wachzustand nicht erinnerlich.

Es braucht wohl nicht besonders betent zu werden, dal3 der Fall B. nur in sehr geringem Umfange beweisend ist. Rein tutbestandsm~il3ig waren in jener Zeit gerade in Leipzig und Umgebung eine Reihe yon Verschleppungen vorgekommen, die dem Kranken auch zum Teil bekannt wa~en. D~s ganze Wesen des B., seine bestimmte Ablehnung suggestiver Fiilschungsversuche, der Widerspruch zwischen dem vermuteten und dem in der Hypnose produzierten Material, namentlich auch die bis ins kleinste gehende Best~itigung seiner Leipziger Angaben und der Umstand, dalt B. selbst die auffallenden Vergiftungserscheinungen weder im hypnotischen Zustande noch im sp~teren Wachverarbeiten yon selbst als solche deutete, geben dem Material immerhin einen hohen Grad yon Wahrscheinlichkeit, wenn auch selbstverstiindlich eine Tiiuschung durch einen hysterischen D~mmer- zustand mit nachfolgender auffallend glaubhafter Deutung nicht mit mathemati- scher Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Im anderen Falle wiirde ein Ver- schleppungsversuch unter Anwendung von Atropin, Scopolamin oder einer ~ihn- lichen Droge anzunehmen sein, die offenbar dem Essen in Leipzig beigemischt wurde. Da B. mit dem Riicken nach der Speiseausgabe saB, von woher auch die beiden Herren sich ihm nachher niiherten, erscheint dies durchaus mSglich. PolizeL ]iche Ermittlungen unauffiilliger Art fiber den in ]~rage kommenden Kellner lieferten kein belastendes MateriaP).

Wahrscheinlich bleiben entsprechende Versuche hypnotischer Amnesiehebung vielfach ergebnislos, weil nicht die geniigende Zeit zur Verfiigung steht. Im Falle

1) Nachtrag bei der Korrektur XI . 1923: Auch jetzt~ ein Jahr naeh Ablauf der Beobachtung, ist B. stSrungsfrei beruflich t~tig, unauffallig und frei yon irgend- welchen Krankheitserscheinungen.

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Zur Psychopathologie und Psychotherapie amnestischer Zusti~nde. 129

A. wurde 2 Monate lang fast t~iglich 1/2 Stunde, im Falle B. innerhalb 3 Tagen fiber 14 Stunden lang in Hypnose gearbeitet.

Als wesentlichste Ergebnisse der vorstehenden Ausffihrungen sei auf die biologisch-lebendige, besonders das Reproduktionsmoment beriick- sichtigende Auffassun 9 des Amnesiemechanismus hingewiesen, die ihn als ein ]reies psycho-physisches Reagieren ohne bestimmte Bindung an eine klinische Einheit erscheinen l~$t, und hier, wie iiberhaupt besonders an den psycho-physisch neutralen Ged~chtnisvorgangen, die Irrigkeit und Lebensferne einer konstruierten Gegensdtzlichkeit zwischen ,,organisch" und ,,psychisch" klar erkennen l~l~t. Das ,,Erl6sungserlebnis" nach Behebung von Amnesien daft im Sinne einer Befreiung von ,,innerer Desorientierung" (mit entsprechender Ratlosigkeit und Spannung) auf- gefal~t werden und stellt wieder die MSglichkeit zum ,,geschlossenen Selbsterleben" mit der entsprechenden Sicherung der Pers6nlichkeit her, ein Gesichtspunkt, der klinisch-theoretisch ebenso bedeutsam ist wie praktisch-therapeutisch. Hier liegen sicher auch allgemeine Beziehun- gen zu der yon ganz anderen Voraussetzungen und Aufgaben ausgehen- den Psychoanalysel).

1) Erst nach AbschluB dieser Arbeit wird mir eine Mitteilung yon Schilder (Med. Klinik 1923, S. 604) fiber Aufhellung einer Amnesie nach Erh~ngung be- kann% die sich problematisch mit unseren Ausfiihrungen nahe berfihrt.

~. f. cl. g. Neur. u. Psych. L X X X I X . 9