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Manuelle Medizin 2010 · 48:279–280 DOI 10.1007/s00337-010-0773-z Online publiziert: 30. Juli 2010 © Springer-Verlag 2010 L. Beyer Ärztehaus Mitte, Jena Zur reflektorischen Kontrolle des Rumpfes bei externen Störungen im aufrechten Stand Für Sie gelesen „Bei einem Teil der Patienten mit chroni- schen Rückenschmerzen liegt nicht einmal ein struktureller Schaden, zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall, vor“, sagt Dr. Chris- tian Puta von der Friedrich-Schiller-Uni- versität Jena. Der Sportwissenschaftler hat im Rahmen seiner Dissertation untersucht, ob stattdessen funktionelle Veränderungen für die Schmerzen verantwortlich sind. Dafür hat ihn der Deutsche Olym- pische Sportbund (DOSB) im Jahr 2009 als dritten Preisträger für den Wissen- schaftspreis des Deutschen Olympischen Sportbundes ausgewählt [1]. Wie sich die Rumpfmuskulatur bei ex- ternen Störungen verhält, war zentrales Thema der mit Prädikat „summa cum laude“ ausgezeichneten Dissertation. Zielstellung Untersucht werden sollte die Auswirkung des chronischen unspezifischen Rücken- schmerzes (CURS) während externer un- vorhersagbarer Haltungsstörungen auf das bei Gesunden beschriebene komplexe pos- turale neuromuskuläre Antwortmuster. Hypothese Es wird angenommen, dass Patienten mit CURS während externer unvorhersag- barer Haltungsstörungen verlängerte Re- aktionszeiten, ein verändertes muskuläres Aktivierungsmuster und eine veränderte zeitliche Dynamik zwischen der EMG- Antwort und der Bewegungsantwort des Rumpfes und der Wirbelsäule aufweisen. Methode Untersucht wurden 12 weibliche gesun- de Kontrollpersonen und 9 Patientinnen mit CURS ohne im MRT nachgewiesene degenerative Bandscheibenerkrankungen der lumbalen Wirbelsäule. Im aufrechten Stand wurde mittels Ser- vomotor über einen in der Hand gehal- tenen Griff unterschiedliche Störungen in randomisierter Reihenfolge in Sagittalebe- ne rechts und links appliziert. Per Oberflächen-EMG wurden 5 Rumpf- muskel, 1 Beckenmuskel und 4 Beinmus- kel untersucht. Die Kinematik des Rump- fes und der Wirbelsäule wurde über Infra- rot reflektierende Marker (Acromia, C7, L1, L5) erfasst. Die Latenzzeit (Reaktionszeit) vom Be- ginn der Störung bis zur EMG-Antwort bzw. der Kinematik wurde analysiert. Ergebnisse Generelle Gesetzmäßigkeit: Wenn eine Per- son die Störungsart und den Zeitpunkt ei- ner externen schnellen Störung nicht vor- hersehen kann, realisiert das ZNS eine dif- ferenzierte bilateral reproduzierbare neu- romuskuläre Kontrolle des Rumpfes und der Beine (komplexes posturales Antwort- muster). Die Patientinnen mit CURS hatten ge- genüber gesunden Kontrollpersonen län- gere Reaktionszeiten der kontralateralen Rumpf-Becken- und der ipsilateralen Bein- muskulatur. Sie wiesen ein durch Kokon- traktion der antagonistischen Muskula- tur gekennzeichnetes muskuläres Aktivie- rungsmuster auf. Die individuellen mus- kulären Reaktionszeiten der Patientinnen zeigten eine größere Variabilität gegenüber den Kontrollpersonen. Die muskuläre Re- aktionszeit des M. erector spinae p. longis- simus und des M. multifidus p. lumborum wurde vor der Bewegung von L1 und L5 ge- funden. Kommentar Bestärkt wird die Teilhypothese, dass die EMG-Antwort nicht nur ein Dehnungsre- flex (Ia-Afferenz) ist, sondern auch durch einen afferenten Input der von der Wirbel- säule entfernten Regionen vermittelt wird (z. B. kutane und propriozeptive IIa-Affe- renz). Bei Patienten mit chronisch unspe- zifischem Rückenschmerz ist die reflekto- rische Kontrolle verändert. Der chronische unspezifische Rücken- schmerz verändert die Strategie, mit der das zentrale Nervensystem komplexe posturale Antwortmuster während exter- ner unvorhersehbarer Störungen generiert (veränderte Muskelkoordination). Die Er- gebnisse weisen daraufhin: CURS ist mit einer generell gestörten reflektorischen Muskelfunktion assoziiert. Es wird ange- nommen, dass höhere Zentren des ZNS an einer durch chronischen Schmerz ver- änderten Perzeption beteiligt sind. F Die Ergebnisse der Arbeit bestär- ken den hypothetischen Ansatz, dass chronische Rückenschmerzen über adaptive Veränderungen der Erreg- barkeit der Motoneurone bzw. reflek- torischer Muster im tonischen mo- torischen System ihre Ursache haben können. Es wird erwartet, dass dieser Originalpublikation Puta C (2009) Zur reflektorischen Kontrolle des Rumpfes bei externen Störungen im auf- rechten Stand. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades "doctor philosophiae" am Lehrstuhl für Sportmedizin der Friedrich- Schiller-Universität Jena 279 Manuelle Medizin 4 · 2010 |  

Zur reflektorischen Kontrolle des Rumpfes bei externen Störungen im aufrechten Stand

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Manuelle Medizin 2010 · 48:279–280DOI 10.1007/s00337-010-0773-zOnline publiziert: 30. Juli 2010© Springer-Verlag 2010

L. BeyerÄrztehaus Mitte, Jena

Zur reflektorischen Kontrolle des Rumpfes bei externen Störungen im aufrechten Stand

Für Sie gelesen

„Bei einem Teil der Patienten mit chroni­schen Rückenschmerzen liegt nicht einmal ein struktureller Schaden, zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall, vor“, sagt Dr. Chris­tian Puta von der Friedrich­Schiller­Uni­versität Jena. Der Sportwissenschaftler hat im Rahmen seiner Dissertation untersucht, ob stattdessen funktionelle Veränderungen für die Schmerzen verantwortlich sind.

Dafür hat ihn der Deutsche Olym­pische Sportbund (DOSB) im Jahr 2009 als dritten Preisträger für den Wissen­schaftspreis des Deutschen Olympischen Sportbundes ausgewählt [1].

Wie sich die Rumpfmuskulatur bei ex­ternen Störungen verhält, war zentrales Thema der mit Prädikat „summa cum laude“ ausgezeichneten Dissertation.

Zielstellung

Untersucht werden sollte die Auswirkung des chronischen unspezifischen Rücken­schmerzes (CURS) während externer un­vorhersagbarer Haltungsstörungen auf das bei Gesunden beschriebene komplexe pos­turale neuromuskuläre Antwortmuster.

Hypothese

Es wird angenommen, dass Patienten mit CURS während externer unvorhersag­barer Haltungsstörungen verlängerte Re­aktionszeiten, ein verändertes muskuläres

Aktivierungsmuster und eine veränderte zeitliche Dynamik zwischen der EMG­Antwort und der Bewegungsantwort des Rumpfes und der Wirbelsäule aufweisen.

Methode

Untersucht wurden 12 weibliche gesun­de Kontrollpersonen und 9 Patientinnen mit CURS ohne im MRT nachgewiesene degenerative Bandscheibenerkrankungen der lumbalen Wirbelsäule.

Im aufrechten Stand wurde mittels Ser­vomotor über einen in der Hand gehal­tenen Griff unterschiedliche Störungen in randomisierter Reihenfolge in Sagittalebe­ne rechts und links appliziert.

Per Oberflächen­EMG wurden 5 Rumpf­muskel, 1 Beckenmuskel und 4 Beinmus­kel untersucht. Die Kinematik des Rump­fes und der Wirbelsäule wurde über Infra­rot reflektierende Marker (Acromia, C7, L1, L5) erfasst.

Die Latenzzeit (Reaktionszeit) vom Be­ginn der Störung bis zur EMG­Antwort bzw. der Kinematik wurde analysiert.

Ergebnisse

Generelle Gesetzmäßigkeit: Wenn eine Per­son die Störungsart und den Zeitpunkt ei­ner externen schnellen Störung nicht vor­hersehen kann, realisiert das ZNS eine dif­ferenzierte bilateral reproduzierbare neu­romuskuläre Kontrolle des Rumpfes und der Beine (komplexes posturales Antwort­muster).

Die Patientinnen mit CURS hatten ge­genüber gesunden Kontrollpersonen län­gere Reaktionszeiten der kontralateralen Rumpf­Becken­ und der ipsilateralen Bein­muskulatur. Sie wiesen ein durch Kokon­

traktion der antagonistischen Muskula­tur gekennzeichnetes muskuläres Aktivie­rungsmuster auf. Die individuellen mus­kulären Reaktionszeiten der Patientinnen zeigten eine größere Variabilität gegenüber den Kontrollpersonen. Die muskuläre Re­aktionszeit des M. erector spinae p. longis­simus und des M. multifidus p. lumborum wurde vor der Bewegung von L1 und L5 ge­funden.

Kommentar

Bestärkt wird die Teilhypothese, dass die EMG­Antwort nicht nur ein Dehnungsre­flex (Ia­Afferenz) ist, sondern auch durch einen afferenten Input der von der Wirbel­säule entfernten Regionen vermittelt wird (z. B. kutane und propriozeptive IIa­Affe­renz). Bei Patienten mit chronisch unspe­zifischem Rückenschmerz ist die reflekto­rische Kontrolle verändert.

Der chronische unspezifische Rücken­schmerz verändert die Strategie, mit der das zentrale Nervensystem komplexe posturale Antwortmuster während exter­ner unvorhersehbarer Störungen generiert (veränderte Muskelkoordination). Die Er­gebnisse weisen daraufhin: CURS ist mit einer generell gestörten reflektorischen Muskelfunktion assoziiert. Es wird ange­nommen, dass höhere Zentren des ZNS an einer durch chronischen Schmerz ver­änderten Perzeption beteiligt sind.FDie Ergebnisse der Arbeit bestär­

ken den hypothetischen Ansatz, dass chronische Rückenschmerzen über adaptive Veränderungen der Erreg­barkeit der Motoneurone bzw. reflek­torischer Muster im tonischen mo­torischen System ihre Ursache haben können. Es wird erwartet, dass dieser

Originalpublikation

Puta C (2009) Zur reflektorischen Kontrolle des Rumpfes bei externen Störungen im auf-rechten Stand. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades "doctor philosophiae" am Lehrstuhl für Sportmedizin der Friedrich-Schiller-Universität Jena

279Manuelle Medizin 4 · 2010  | 

Ursache ein großer Teil der bisher als „unspezifisch“ bezeichneten Rücken­schmerzen zugeordnet werden kann.

FDie hier dargestellten Ergebnisse las­sen noch keine Schlüsse zu, ob die Schmerzen primär das reflektorische Verhalten im posturalen System ver­ändern oder ob sie primär durch Ver­änderungen des reflektorischen Sys­tems und deren Folgen wie Muskel­spannung, Durchblutungsänderung, Beanspruchung des Bindegewebes u. Ä. bedingt sind. Wahrscheinlich ist beides anzunehmen.

FDie eingesetzte Methode und die Er­gebnisse lassen erwarten, dass es möglich ist, mit dem hier gezeigten experimentellen Ansatz Prädiktoren für die Chronifizierung von Rücken­schmerzen zu entwickeln.

KorrespondenzadresseProf. Dr. L. BeyerÄrztehaus Mitte, JenaWestbahnhofstr. 2, 07745 [email protected]

Literatur

1. http://www.curado.de/Bandscheibenvorfall/Der-Qual-staendiger-Rueckenschmerzen-vorbeugen–10718/

Niemier K., Seidel W.Funktionelle Schmerztherapie des BewegungssystemsHeidelberg: Springer Verlag 2009, 269 S., (ISBN 978-3-540-88798-0), 49.00 EUR

Die beiden konserva-

tiven Orthopäden Kay

Niemier und Wolfram

Seidel haben ihre

langjährige Erfahrung

in der Diagnostik und

Therapie von Funk-

tionsstörungen des

Bewegungsapparats

in einem übersichtlichen Buch zusammen-

gefasst. Die Funktionelle Schmerztherapie

des Bewegungssystems ist adressiert an alle

Ärzte, die Patienten mit Schmerzen des Bewe-

gungssystems behandeln.

Den Autoren ist dabei ein guter Kompromiss

in der Abwägung zwischen Praktikabilität

bzw. Übersichtlichkeit und Tiefe gelungen.

Insofern ist das Buch in seiner klaren Darstel-

lung und dem breiten Spektrum ebenso ein

Gewinn für funktionell tätige und erfahrene

Orthopäden wie für Berufsanfänger oder sol-

che Kollegen, die seltener solche Störungen

behandeln.

Indem es viele bedeutsame Funktionsmuster

darstellt und die funktionell bedeutsamen

Aspekte verschiedener Krankheitsbilder illus-

triert, hilft es direkt in der Behandlung und

Information der Patienten. Es hilft, die Lücke

zwischen diagnostischem Nihilismus („fast

alles ist unspezifisch“) und einer Über- und

Fehlbetonung bildgebender Befunde zu ver-

kleinern. „Funktionelle Störung“ ist eben nicht

ein Synonym für „unspezifisch“, quasi nach

Ausschluss struktureller Ursachen, sondern

kann in vielen Fällen positiv definiert werden;

wenn nicht als klare pathogenetische Einheit,

so doch oft als ausreichende Erklärung für

den Patienten und insbesondere als Hand-

lungsanweisung für die Physiotherapie und

die weitere körperliche Aktivierung.

Deshalb wird es einen wichtigen Beitrag in

der verbesserungsfähigen Zusammenarbeit

zwischen Ärzten und Physiotherapeuten

leisten.

Es kann auch als Plädoyer dafür gelten, in der

fachärztlichen Ausbildung der Orthopäden,

aber auch in der Weiterbildung von Schmerz-

therapeuten und anderen Fachrichtungen

den Blick für diese Zusammenhänge zu

schärfen.

Das Buch ist übersichtlich dargestellt, viele

Tabellen erleichtern einen schnellen Über-

blick. Ihm seien viele Leser gewünscht und für

eine zweite Auflage ein sorgfältiges Lektorat,

das die vielen Rechtschreibfehler korrigiert

und auch in der Form dem guten Inhalt des

Buchs entspricht.

Dr. Gerd Müller (Hamburg)

Fachnachricht

280 |  Manuelle Medizin 4 · 2010