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ORIENTIERUNGEN 111 ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK Aufschwung in Deutschland: Trotz oder wegen der Politik? 50 Jahre dynamische Rente: Unterschiedliche Bewertungen Ethische Fragen bei Erbschaft und Konsum Energieversorgung: Die Rolle der Steinkohle Deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Ziele, Prioritäten, Bekenntnisse Chinas Rolle in der Welt, in Afrika und in Indien Sozialismus im 21. Jahrhundert: Lateinamerika auf dem Vormarsch LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN März 2007

ZUR WIRTSCHAFTS- UND …...Editorial Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007) 3 Schmutzrechnung zu Marktpreisen In der Debatte über den Schutz der Umwelt

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ORIENTIERUNGEN

111ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK

Aufschwung in Deutschland:Trotz oder wegen der Politik?

50 Jahre dynamische Rente:Unterschiedliche Bewertungen

Ethische Fragenbei Erbschaft und Konsum

Energieversorgung:Die Rolle der Steinkohle

Deutsche EU-Ratspräsidentschaft:Ziele, Prioritäten, Bekenntnisse

Chinas Rollein der Welt, in Afrika und in Indien

Sozialismus im 21. Jahrhundert:Lateinamerika auf dem Vormarsch

LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN

M ä r z 2 0 07

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Ordnungspolitische Positionen � Aufschwung trotz oder wegen des politischen Reformeifers?

Wolfgang Franz Der Aufschwung in Deutschland:Kein Verdienst der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Ludolf von Wartenberg/ Die Sicherung des Aufschwungs erfordertHans-Joachim Haß konsequente marktwirtschaftliche Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Claus Matecki Aufschwung? – Eine gewöhnliche Konjunkturphase! . . . . . . . . . . . . . . . . 12

50 Jahre dynamische Rente � 50 Jahre Erfahrung mit der dynamischen Rente

Manfred Glombik Die große Rentenreform von 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Winfried Schmähl Die Prinzipien von 1957 sind noch immer tragfähig . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Peter Oberender Die dynamische Rente stand von Anbeginn auf tönernen Füßen . . . . . . 20Gerd Hardach Der Generationenvertrag braucht Wachstum und Vollbeschäftigung . . . 21

Vera Bünnagel/ Zahlreiche Korrekturen und Anpassungen, Johann Eekhoff aber keine systematische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Eckart Bomsdorf Viele Detailregelungen sind unzureichend bedacht . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Sorgsamer Umgang mitVermögen und Einkommen �

Jens Beckert Der Diskurs um die Erbschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Tanja Busse Die Entdeckung der Konsumentensouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

Nachhaltiger Einsatzvon Ressourcen �

Claudia Kemfert Die Energieversorgung in Deutschland und die Rolle der Steinkohle . . 37Gerhard Rösl Regionalgeld in Deutschland:

Eine große Idee in kleinräumiger Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Europäische Union �

Marcus Höreth Die Agenda der deutschen EU-Ratspräsidentschaft:Lippenbekenntnisse und tatsächliche Prioritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

Mareike Meyn Wirtschaftspartnerschaften mit den AKP-Ländern:Ein neuer Weg der europäischen Entwicklungspolitik? . . . . . . . . . . . . . . 49

China �

Doris Fischer China als Auslöser weltwirtschaftlicher Turbulenzen . . . . . . . . . . . . . . . 55Helmut Asche/

Susanne Schmutzer Chinas Bedeutung für Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Wolfgang Klenner China und Indien: Zwei Entwicklungswege und ihre Synergieeffekte . . 67

Sozialismus im 21. Jahrhundert �

Hartmut Sangmeister Neue Sozialisten in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73Eric Gujer Deutschlands Familienpolitik auf den Spuren der DDR . . . . . . . . . . . . . 80

In eigener Sache �

Ludwig Erhard kehrt als ordnungspolitischer Mahnerins Wirtschaftsministerium zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

� Inhalt

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Editorial

3Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Schmutzrechnung zu Marktpreisen

In der Debatte über den Schutz der Umwelt konkurrieren zwei Methoden:die anschaulichen und die hilfreichen. Die politische Werbung für den wohn-nahen Urlaub und ein reich bebilderter Fahrradausflug des Umweltministersgehören zu den anschaulichen. Sie bewirken nichts und gehören in die Kate-gorie „Spektakel“. Die Einrichtung eines Marktes für Emissionsrechte gehörtzu den hilfreichen. Damit wurde die Europäische Kommission beauftragt. Ers-te Ergebnisse des Prozesses der Preisbildung für die Verschmutzungsrechte lie-gen nun vor. Die Preiskurve zeigt wilde Ausschläge. Aber daraus lässt sich fürdie nächste Phase des Verfahrens lernen. Insgesamt erweist sich, dass das fürmanchen auf den ersten Blick so merkwürdig anmutende Konzept einerSchmutzrechnung zu Marktpreisen funktioniert.

Die Überlegung, die hinter diesem Ansatz der Umweltpolitik steht, ist einfach.Die Regierung eines Landes oder in diesem Fall die Europäische Kommissiongibt Zertifikate aus, die in ihrer Summe der politisch festgelegten Höchst-menge der Emission eines Schadstoffs, zum Beispiel des Kohlendioxids, ent-sprechen. Die Rechte sind an einer Börse handelbar. Wer weniger Schadstoffeemittiert als vor der Einführung der Zertifikate, der kann einen Teil der ihmzugewiesenen Rechte verkaufen. Wer mehr emittiert, muss Zertifikate zukau-fen. So ergibt sich ein Preis für das Recht des Verschmutzens. Da die Europä-ische Kommission im Jahr 2005 – auch auf Drängen der Kraftwerke und derIndustrie – reichlich Zertifikate zur Verfügung gestellt hat, ist der Preis an derBörse nach dem ersten Hochschnellen rasch gesunken. Für die zweite Phase,die im Jahr 2008 beginnt und bis 2012 reicht, wird die Kommission das Ange-bot an Emissionsrechten wohl knapper halten.

Die Ausgabe der Verschmutzungsrechte wirkt auf den Schutz der Umwelt überdie Menge und über den Preis der Zertifikate. Je weniger Zertifikate als Er-laubnis für eine Emission ausgegeben werden, umso entschlossener packt derUmweltschutz zu. Für den wirtschaftlich und umweltpolitisch wichtigeren As-pekt sorgt dann aber der sich anschließende Handel mit den Zertifikaten. Jehöher der Preis ist, den man für eine bestimmte Mengenerlaubnis an derBörse zu zahlen hat, umso lohnender wird es – zum Beispiel – für einen Strom-anbieter, in neue Techniken zu investieren, mit deren Hilfe die Emissions-mengen kleiner gehalten werden können. Es entscheidet also der Marktpreisfür Verschmutzungsrechte darüber, in welchem Maß und bis zu welchem Auf-wand moderne Technik eingesetzt wird, um schädliche Emissionen gering zuhalten oder zu vermeiden.

In der Investitionsrechnung „Kauf von Emissionsrechten oder Einsatz um-weltschonender Verfahren“ liegt der ökonomische Charme der Ausgabe vonVerschmutzungsrechten. Ein politisch begrenztes und im Marktprozess sichdann selbst bewertendes Recht zur Verschmutzung macht die Welt saubererund die Umwelt gesünder. Politik, die auf den Markt setzt, ist eben auch hierdie bessere Politik.

Hans D. Barbier

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Ordnungspolitische Positionen

4 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Der Aufschwung in Deutschland:Kein Verdienst der BundesregierungProf. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang FranzPräsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim

� „Das ist mein Aufschwung“ ließ sich seinerzeit Bundeskanzler Gerhard Schrö-der vernehmen, wohingegen der sich später einstellende Abschwung auf ande-re Konten verbucht wurde. Der Sieg hat bekanntlich viele Väter, die Niederla-ge bleibt indes ein Waisenknabe. Vor diesem Hintergrund ist die jetzigeBundesregierung gut beraten, wenn sie die derzeitige erfreuliche konjunktu-relle Erholung nicht allzu vollmundig für sich reklamiert, sondern sich in wei-ser Zurückhaltung übt. Denn der nächste Abschwung kommt bestimmt.

Aufschwung trotz oder wegendes politischen Reformeifers?

Der deutsche Konjunkturmotor läuft. Das Wirtschaftswachstum des vergangenen Jahres

betrug 2,7 Prozent. So kräftig ist die deutsche Wirtschaft seit 2000, dem letzten Jahr des

New Economy-Booms, nicht mehr expandiert. Die Schätzungen für das laufende Jahr lie-

gen mit wenigen Ausnahmen zwischen einem und zwei Prozent; im Mittel rechnen Öko-

nomen von Forschungseinrichtungen, Banken und Bundesregierung mit einem Anstieg

des Bruttoinlandsproduktes um 1,6 Prozent. Das Wachstumstempo scheint sich damit zwar

etwas zu verlangsamen, liegt aber weiterhin über dem Durchschnitt der jüngeren Ver-

gangenheit.

Getragen wird der Konjunkturaufschwung vor allem von der weiter starken Nachfrage

nach deutschen Produkten im Ausland. Restrukturierungen in den Unternehmen, die Auf-

spaltung der Wertschöpfungsketten über nationale Grenzen hinweg, eine moderate Lohn-

entwicklung sowie das zum Aufschwung Asiens und Osteuropas passende Sortiment ha-

ben Waren „Made in Germany“ wettbewerbsfähig und attraktiv gemacht. Der wiederholt

errungene Titel des Exportweltmeisters zeigt mittlerweile auch im Inland Konsequenzen:

Die Unternehmen sehen mit mehr Zuversicht in die Zukunft, sie investieren wieder ver-

stärkt und schaffen neue Stellen. Die Zahl der Arbeitslosen fiel unter die Marke von vier

Millionen. Einzig das mäßige Konsumverhalten deutscher Haushalte passt noch nicht so

recht ins Konjunkturbild. Mit mehr Menschen in Lohn und Brot könnte aber auch hier eine

Verbesserung anstehen.

Viele „Auguren“ hatten erwartet, dass die Mehrwertsteuer-Erhöhung der Großen Koalition

zum Jahresbeginn den Aufschwung dämpft. Das ist nicht eingetreten; die Politik hat die

Konjunktur in diesem Fall nicht oder nur unmerklich eingetrübt. Hat sie aber den Auf-

schwung zuvor bewirkt? Welchen Einfluss hat die Politik überhaupt noch auf den Verlauf

des Wirtschaftsgeschehens?

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Aufschwung trotz oder wegen der Politik?

5Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Auf einer ähnlichen Ebene liegen Aussagen der Politik, ihre Leistung an be-stimmten Zielgrößen messen zu lassen, obwohl die Zielerreichung nicht odernur sehr bedingt in der Hand der Regierenden liegt. Das augenfälligste Bei-spiel dafür war die Ankündigung wiederum des Bundeskanzlers Schröder, alsMesslatte seiner Wirtschaftspolitik eine Anzahl von drei Millionen Arbeitslosenzu proklamieren. Wettbewerbsfähige Arbeitsplätze werden im privaten Sektorgeschaffen. Die Politik kann dazu wesentlich beitragen, indem sie für beschäf-tigungsfreundliche Rahmenbedingungen sorgt. Aber eine konkrete Anzahlvon Beschäftigten oder Arbeitslosen zu realisieren, liegt außerhalb ihres Ein-flusses, und bekanntlich war der Zielvorgabe des Bundeskanzlers wenig Erfolgbeschieden. Analoges gilt für die seinerzeitige Botschaft der Bundeskanzlerin,die Gesundheitsreform zum Gradmesser ihrer Regierungsarbeit zu machen,anstatt es bei einer entsprechenden Bemühenszusage zu belassen. Die nun-mehr verabschiedete Gesundheitsreform muss sie jetzt gegen sich (und natür-lich gegen ihre Regierung) gelten lassen.

Von aktiver Wachstumspolitik weit entfernt

Derzeit sprechen mindestens zwei sachliche Gründe dagegen, dass die Bundes-regierung die jetzige Konjunkturerholung ihrer Wirtschaftspolitik gutschreibt.Zum einen sind ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen noch nicht oder erstunlängst in Kraft getreten und können – soweit sie überhaupt in die richtigeRichtung gehen – aufgrund der bekannten zeitlichen Wirkungsverzögerungenschon von daher gesehen kaum eine Konjunkturbelebung entfaltet haben.Außerdem wären dann die Effekte sinnvoller Maßnahmen, wie etwa die be-schleunigte Einführung eines vorgezogenen Renteneintrittsalters oder dieKürzung ungerechtfertigter Steuervergünstigungen, zu saldieren mit Fehlent-scheidungen, wie beispielsweise der „Reichensteuer“ oder dem „AllgemeinenGleichbehandlungsgesetz“, das sich zu einem Beschäftigungsprogramm für dieArbeitsgerichte und einschlägig tätige Rechtsanwälte, ansonsten aber eher zueiner Einstellungsbremse entwickeln dürfte. Erst gar nicht zu reden von dentörichten Absichten, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, sei diesernun flächendeckend oder branchenspezifisch. Er wird zahlreiche Arbeitsplät-ze kosten.

Zum anderen handelt es sich bei der derzeitigen Entwicklung um eine kon-junkturelle Belebung, die sich allmählich auf den Arbeitsmarkt überträgt unddort zu einem Abbau der konjunkturell bedingten Arbeitslosigkeit beiträgt.Diese Komponente der Arbeitslosigkeit macht indes größenordnungsmäßignur rund ein Fünftel der registrierten Arbeitslosigkeit aus. Der weitaus über-wiegende Teil der Beschäftigungslosigkeit ist verfestigter Natur, wie es die bei-den hauptsächlichen Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt sofort verdeut-lichen, nämlich die gering qualifizierten und die langzeitig Arbeitslosen.

Anders formuliert: Deutschlands Problem besteht in erster Linie in einerWachstumsschwäche, weit weniger in einer Konjunkturschwäche. Zur Behe-bung der Wachstumsschwäche sind angebotsseitige Maßnahmen der Wirt-schaftspolitik erforderlich, und hier sieht die Bilanz der Bundesregierung bes-tenfalls durchwachsen aus. Die Unternehmensteuerreform bietet wenigstenseinige positive Ansatzpunkte, während die Gesundheitsreform von der Finan-zierungsseite her gesehen einen Fehlschlag ersten Ranges darstellt. Im Hin-blick auf die dringenden Reformen beim institutionellen Regelwerk auf demArbeitsmarkt muss der Bundesregierung weitestgehend Untätigkeit attestiertwerden. Von einer aktiven Wachstumspolitik kann also nur sehr begrenzt dieRede sein.

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Ordnungspolitische Positionen

6 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Das von der Bundesregierung mittlerweile konkretisierte „Impulsprogramm“(Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung) trägtwenig zur Belebung der Wachstumskräfte bei. Es handelt sich dabei nicht nurum ein finanziell bescheidenes Programm, welches im Jahre 2006 mit 2,8 Milli-arden Euro auf Bundesebene zu Buche schlägt (2007: 5,7 Milliarden, 2008: 6,5Milliarden), sondern außerdem um einen Strauß diverser, fiskalisch mit Mehr-ausgaben oder Mindereinnahmen verbundener Einzelprojekte, wovon amehesten noch die befristete Anhebung der degressiven Abschreibung für in2006 und 2007 neu angeschaffte bewegliche Wirtschaftsgüter wachstumsrele-vant sein könnte. Allerdings wurden durch dieses Gesetz selektiv neue Begüns-tigungen geschaffen, die dem Ziel einer Kürzung kostenträchtiger, kompli-zierter und mit Effizienzverlusten verbundener Ausnahmen im Steuerrechtwidersprechen.1

Lohnzurückhaltung und Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung

Wenn die Konjunkturbelebung kaum das Verdienst der jetzigen Bundesregie-rung ist, wem gebühren dann die Meriten?

� Erstens investieren die Unternehmen seit 2005 wieder kräftiger. In den Jah-ren 2005 und 2006 legten die Ausrüstungsinvestitionen real um mehr als sechsbeziehungsweise sieben Prozent zu, während die Jahre zuvor durch magere,teilweise negative Veränderungsraten gekennzeichnet waren. Selbst die Bauin-vestitionen, die jahrelang rückläufig waren, stiegen im Jahr 2006 mit 3,6 vomHundert an. Für 2007 rechnet der Sachverständigenrat weiterhin mit positiven,wenn auch leicht abgeschwächten Zuwachsraten bei beiden Investitionskate-gorien. Die Unternehmen haben ihre Bilanzen in Ordnung gebracht und Kos-tensenkungsprogramme durchgeführt. Dies ermöglichte vielen Unterneh-men, Investitionen aus eigenen Mitteln oder aufgrund einer gestiegenen Bo-nität zu vergleichsweise günstigen Bedingungen über Fremdkapital zu finan-zieren. Die bereits erwähnten temporär verbesserten Abschreibungsbedingun-gen des „Impulsprogramms“ mögen diese positiven Effekte verstärkt haben.

� Zweitens kommt ein bescheidenes Verdienst der Tariflohnpolitik der ver-gangenen Jahre zu. Sie hat in den Jahren 2004 bis 2006 nach neuen Berech-nungen des Sachverständigenrates den beschäftigungsneutralen nominalenVerteilungsspielraum für nominale Lohnerhöhungen in Höhe von für diesenZeitraum zusammengenommen rund fünf vom Hundert nicht ausgeschöpft,sondern ihn um insgesamt rund 1,4 Prozentpunkte unterschritten, weil sichdie Tariflohnanhebungen der Jahre 2004 bis 2006 auf etwa 3,6 vom Hundertbeliefen. Jetzt ernten die Arbeitnehmer die Früchte dieses insgesamt betrach-tet moderaten Kurses der Tariflohnpolitik in Form neuer Arbeitsplätze, wobeiinsbesondere die Zunahme der Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigter hervorzuheben ist.

Diese erfreuliche Entwicklung sollte die Tariflohnpolitik des Jahres 2007 nichtwieder aufs Spiel setzen, und vor allem sollten sich die Tarifvertragsparteien Er-munterungen der Politik zu kräftigen Lohnanhebungen verbitten. Die Tarif-autonomie wurde bisher von ihnen vehement verteidigt, und schierer politi-scher Populismus stellt nun wirklich das allerletzte Argument für diesbezügli-che Eingriffe dar. Vielmehr sollte die Tariflohnpolitik angesichts von rund vier

1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten2006/07 „Widerstreitende Interessen – Ungenutzte Chancen“, Kasten 18, Wiesbaden.

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Aufschwung trotz oder wegen der Politik?

7Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Millionen Arbeitslosen weiterhin einen beschäftigungsfreundlichen Kurs hal-ten und den branchenspezifisch zu ermittelnden Verteilungsspielraum nichtausschöpfen.

Es ist verständlich, wenn Arbeitnehmer an einer hervorragenden Gewinnlagezahlreicher Unternehmen teilhaben wollen. Das spricht indessen dafür, stärkerals bisher Gewinnbeteiligungsmodelle in der Tariflohnpolitik ins Blickfeld zunehmen, denn für die Tariflohnabschlüsse des Jahres 2007 sind die für dieLaufzeit des Tarifvertrags erwarteten wirtschaftlichen Gegebenheiten maßgeb-lich, nicht die des Jahres 2006. Wären Gewinnbeteiligungsmodelle bereits infrüheren Jahren mehr zum Einsatz gekommen, würden die Arbeitnehmer jetztautomatisch an den Gewinnsteigerungen partizipieren, gemäß den individuel-len Entwicklungen in jedem Unternehmen. Diese Chance wurde seinerzeitvertan, jetzt gerät die Tariflohnpolitik in das Fahrwasser einer Nachschlagdis-kussion.

Existenzsicherung, aber kein Mindestlohn!

� Drittens stellte die Zunahme der Exporte um real über zwölf vom Hundertim Jahr 2006 eine ganz wesentliche Stütze der konjunkturellen Aufwärtsent-wicklung dar. Das sollte man selbst vor dem Hintergrund nicht kleinschreiben,dass ein (wachsender) Teil der hiesigen Exporte aus importierten Vorleistun-gen besteht. Gewiss: Zum Teil ist das auf Standortvorteile des Auslands im Hin-blick auf Lohnkosten und Steuerbelastungen zurückzuführen. Aber: Die Be-zeichnung „Basarökonomie“ für die hiesige Exportwirtschaft übertreibt, dennzu einem anderen Teil ist dieses Phänomen der internationalen Integrationder Gütermärkte geschuldet.

� Viertens zeigen sich nun die Wirkungen einiger Gesetze im Rahmen der Re-formen auf dem Arbeitsmarkt, namentlich die Einführung des Arbeitslosen-gelds II und die stärkere Beachtung des „Forderns“ im Vergleich zum „För-dern“. Daran haben die Vorgängerregierung und der Umbau der Bundes-agentur für Arbeit ihren Anteil. Auch dieser Weg muss weiter fortgeführt wer-den, indem die Anreize zur Arbeitsaufnahme bei den Empfängern des Ar-beitslosengelds II verstärkt werden. Hilfreich sind in diesem Zusammenhanggroßzügigere Hinzuverdienstmöglichkeiten zum Arbeitslosengeld II auf demersten Arbeitsmarkt und eine Regelsatzabsenkung des Arbeitslosengelds II beiVerweigerung einer Arbeitsaufnahme. Die Tarifvertragsparteien bleiben in die-sem Zusammenhang aufgefordert, die qualifikatorische Lohnstruktur im Nied-riglohnbereich weiter zu spreizen. Dieses Erfordernis mit dem Etikett „Hun-gerlöhne“ zu diskreditieren, ist schon allein deshalb verfehlt, weil in Deutsch-land eine Mindesteinkommenssicherung besteht. Und noch einmal: Eine Min-desteinkommenssicherung sollte nicht mit einem Mindestlohn verwechseltwerden. Vielmehr gilt: Hände weg von einem Mindestlohn! �

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Die Sicherung des Aufschwungs erfordert konsequente marktwirt-schaftliche PolitikDr. Ludolf von Wartenberg/Dr. Hans-Joachim HaßBundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Berlin

� Deutschland blickt zum Jahresbeginn 2007 auf ein markantes Wirtschafts-wachstum im Vorjahr zurück, das vor einem Jahr von keinem der seriösen Kon-junkturprognostiker erwartet worden war. Einen Zuwachs von 2,7 Prozent hatdie deutsche Volkswirtschaft seit dem Jahr 2000 nicht mehr erreicht. Getragenvon einer boomenden Weltwirtschaft, haben deutsche Unternehmen ihreChancen auf den Weltmärkten konsequent genutzt. Zum vierten Mal in Folgekonnte das Land den Titel eines Exportweltmeisters für sich verbuchen.

Neben der Auslandsnachfrage sprang auch die Binnennachfrage an. Die Aus-rüstungsinvestitionen entwickelten sich zur zweiten Antriebskraft der Kon-junktur, die Bauinvestitionen konnten ihren eine Dekade währenden Nieder-gang stoppen und erstmals seit Langem wieder einen positiven Wachstumsbei-trag leisten. In der Folge zeigte auch die bis dahin fast schon gewohnheitsmä-ßig nach unten weisende Arbeitsmarktentwicklung nach oben. Die Arbeitslo-sigkeit nahm merklich ab, die Beschäftigtenzahlen, auch bei den sozialversi-cherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen, stiegen an, und wachsende Zahlenoffener Stellen verbesserten die Perspektiven am Arbeitsmarkt.

Gute Aussichten für 2007

Hinzu kommt: Auch für das Jahr 2007 sind die wirtschaftlichen Perspektivengut. Die Weltwirtschaft wird weiter auf hohem, wenngleich leicht ermäßigtenNiveau wachsen, die deutschen Unternehmen sind in ihrer Mehrzahl hervor-ragend auf den Märkten aufgestellt, das monetäre Investitionsumfeld ist weiter-hin gut, Produktion und Auftragseingänge in der Industrie weisen im Trendweiter nach oben. Gleichwohl haben abwärts gerichtete Risiken für die Kon-junktur zugenommen. So könnte sich die US-amerikanische Wirtschaft stärkerals befürchtet abkühlen, der Euro könnte neue Höhen erklimmen und damitdie preisliche Wettbewerbsfähigkeit deutscher Exporte beeinträchtigen, Ener-gie- und Rohstoffpreise könnten ihre zuletzt beobachtete Ermäßigung wiederins Gegenteil verkehren, die endlich am Arbeitsmarkt Wirkung zeigendeLohnmoderation könnte ein jähes Ende finden, Steuer- und Abgabenerhö-hungen, allen voran die dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung, könntenVerbraucher und Investoren stärker zurückwerfen als befürchtet.

Die genannten Risiken müssen ins Kalkül gezogen, dürfen jedoch nicht über-bewertet werden. Insgesamt bleibt die Konjunktur in Deutschland auch 2007aufwärts gerichtet. Das Wachstum scheint nachhaltiger zu sein, als noch vor ei-nem Jahr zu erwarten war. Gleichwohl verläuft der Wachstumspfad immernoch zu flach, von einer dauerhaften Erhöhung des Wachstumspotenzialskann noch keine Rede sein.

In die allseitige Freude über das unerwartet hohe Wachstum und die positiveBeschäftigungsentwicklung mischt sich jedoch auch Dissonanz über die Frage,welche Triebkräfte und Ursachen hinter dieser Entwicklung stehen. Wem ge-

Ordnungspolitische Positionen

8 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

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Aufschwung trotz oder wegen der Politik?

9Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

hört die Anerkennung für den Aufschwung: der Politik oder der Wirtschaft?,lautet eine oft gestellte, nicht nur rhetorische Frage. Vordergründig könnteman – und die Politik scheut sich keineswegs, dies zu tun – die positive Wirt-schaftsentwicklung der Reformpolitik der Bundesregierung zuschreiben, wo-bei wegen der zu beachtenden Wirkungsverzögerungen wohl auch die vorhe-rige Bundesregierung mit ihrer Agenda 2010 mit ins Visier genommen werdenmuss. Ein Blick auf die Fakten zeigt jedoch, dass dies nicht der Aufschwung die-ser und der vorherigen Bundesregierung ist. Zwar wurden der Konjunktur mitden Genshagener Beschlüssen vom Januar 2006 begrenzte fiskalische Impulsegegeben, haben zaghafte Reformansätze am Arbeitsmarkt (Hartz I bis IV), inder Rentenversicherung und im föderalen Staatsaufbau durchaus zu erstenStrukturverbesserungen geführt. Insgesamt jedoch hat die Politik aus den ver-besserten Wirtschaftsperspektiven zu wenig Reformkapital geschlagen.

Wachstum trotz, nicht wegen der Politik

Leicht verkürzt, aber keinesfalls zu Unrecht, lässt sich behaupten, das uner-wartete Wachstum ist trotz der Politik zustande gekommen. Seine Ursachenund Triebkräfte liegen eindeutig weitgehend außerhalb der Politik. Zu nennensind die weltwirtschaftliche Nachfrage, vor allem aber die Restrukturierungs-und Konsolidierungsanstrengungen der Unternehmen sowie günstige mone-täre Investitionsbedingungen. Auch die mehrjährige Lohnmoderation in Ver-bindung mit erreichten Fortschritten in der Flexibilisierung der Arbeitsbezie-hungen trägt erkennbar erste Früchte.

Es ist nicht übertrieben, festzustellen, die Bundesregierung habe es bislang ver-säumt, dem Aufschwung durch entschlossenere Reformen Rückenwind zu ge-ben. Auch ist dies nicht als Klage der Wirtschaft misszuverstehen, sondern sollPerspektiven aufzeigen für die wirtschaftspolitische Agenda des Jahres 2007. Esist noch nicht zu spät, durch nachhaltigere Reformen dazu beizutragen, dassder bemerkenswerte Konjunkturaufschwung gestützt wird und in einen dauer-haft höheren Wachstumspfad einmündet. Gerade im Jahr 2007 hat die Politikhierzu alle Chancen, denn ab dem kommenden Jahr beginnt schon die zweiteHälfte der Legislaturperiode, und erfahrungsgemäß wirft der Wahlkampf im-mer früher seine unheilvollen Schatten voraus. Denn bei aller Freude über dieKonjunktur: Das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft hat sichnoch nicht nachhaltig erhöht. Hierzu reicht die Investitionsbelebung bei Wei-tem nicht aus. Angesichts der niedrigsten Nettoinvestitionsquote unter denOECD-Ländern sind Zuwächse zwischen fünf und sechs Prozent über zweioder drei Jahre nicht genug, den Kapitalstock und damit das Wachstumspo-tenzial substanziell anzuheben. Dies bedeutet: Wesentliche Strukturreformenmüssen noch durchgeführt werden. Der Rückenwind der guten Konjunkturmuss konsequent genutzt werden; das Reformtempo muss nicht gedrosselt,sondern erhöht werden.

Punktuelle Reformen sind nicht genug

Punktuelle Reformen, wie sie die Politik bisher angepackt hat, werden demunübersehbar großen strukturellen Reformbedarf in Deutschland nicht ge-recht. Dies gilt umso mehr, wenn sie nicht entschlossen und schnell genugumgesetzt werden. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt-wirtschaftlichen Entwicklung hatte nicht unrecht, wenn er in seinem letztenJahresgutachten vom November 2006 die Reformpolitik der Bundesregierungals „Stückwerk statt Konzept“ klassifizierte. Hier ist wohl auch ein Grund dafür

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Ordnungspolitische Positionen

10 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

zu sehen, dass die Menschen in Deutschland bislang nicht voll von den Re-formnotwendigkeiten überzeugt werden konnten. Nur mit einem in sich kon-sistenten Konzept, in dem verdeutlicht wird, wie die verschiedenen Maßnah-men ineinander greifen und so kombiniert ihre positive Wirkung auf Wachs-tum und Beschäftigung entfalten, kann das Vertrauen der Menschen in dieWirtschaftspolitik und in die Zukunft der deutschen Volkswirtschaft wieder-gewonnen werden.

Dabei scheint den politischen Parteien, die die Große Koalition tragen, der Re-formbedarf theoretisch bewusst zu sein. Beide großen Volksparteien arbeitenan neuen Grundsatzprogrammen. Nach dem, was bisher über diese pro-grammatischen Arbeiten bekannt wurde, bekennen sich beide Parteien zumMarkt, zu Wachstum und Wettbewerb. Ebenso ringen beide Parteien jedochum das Verhältnis von Sozialstaat und Markt und drücken sich um das notwen-dige Primat für den Markt herum. Bestrebungen, das Reformtempo zu dros-seln, mit vermeintlichen Zumutungen Schluss zu machen und dem sozialenAusgleichs- und Gerechtigkeitsziel wieder stärkere Beachtung zu schenken,gibt es in beiden politischen Lagern – und nicht zu knapp.

Wenn sich das Parteienspektrum in Deutschland dahin entwickelte, dass beidegroßen Volksparteien programmatisch eine soziale Schlagseite bekämen, wäredies aus Sicht der Wirtschaft geradezu fatal. Seit Begründung unseres Wirt-schaftssystems der Sozialen Marktwirtschaft durch Ludwig Erhard wurde – ge-gen Erhards Intention – die angebliche soziale Komponente immer weiter aus-geweitet, die ökonomische Komponente immer weiter zurückgeschraubt. DieFolgen dieser Scherenentwicklung liegen auf der Hand: Die Leistungsfähigkeitder Volkswirtschaft in Bezug auf die Generierung von Wirtschaftswachstumund die Schaffung rentabler Beschäftigungsmöglichkeiten wurden schwer be-schädigt, und die sozialen Sicherungssysteme können ihre Versprechen nichtmehr einlösen und haben die Grenze ihrer Finanzierbarkeit bereits über-schritten.

Eine Re-Ökonomisierung unserer Gesellschaft ist das Gebot der Stunde, wennes um die Bewältigung des Strukturwandels geht. Wir haben nicht zu vielemarktwirtschaftliche Elemente in unserer Gesellschaft, sondern zu wenige. Ver-teilungs- und Umverteilungsdenken sind allenthalben wieder auf dem Vor-marsch. Dabei muss es doch darum gehen, den verteilbaren Kuchen zunächsteinmal so groß wie möglich zu machen. Erst erwirtschaften, dann verteilen,entspricht der ökonomischen und auch sozialen Vernunft. Sozialpolitik musswieder als integraler Bestandteil einer wertschöpfungsorientierten Wirt-schaftspolitik begriffen und das ausufernde Eigenleben, das sie im Laufe dervergangenen Jahrzehnte entwickelt hat, muss aufgegeben werden.

Eine Doppelstrategie für erfolgreiche Standortpolitik

Wirtschaftspolitisch geht es im Kern darum, so viel Wertschöpfung wie möglicham Standort Deutschland (wieder) rentabel zu machen. In welchen Sektorendiese Wertschöpfung erfolgt, ist zweitrangig. Jede wirtschaftliche Aktivität, mitder sich am Markt Einkommen erzielen lässt, sollte willkommen sein. Das Spek-trum wird von einfachen Dienstleistungen mit geringen Qualifikationsanfor-derungen bis hin zu integrierten Problemlösungskonzepten, kombiniert austechnologieintensiven Industriegütern und komplementären industrienahenDienstleistungen reichen. Standortpolitik, die in diesem Sinne erfolgreich seinwill, muss wertschöpfungsorientiert sein.

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Aufschwung trotz oder wegen der Politik?

11Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Standortpolitik darf auch keinem verengten Leitbild anhängen, wie es Begrif-fe wie Informations-, Wissens- oder Dienstleistungsgesellschaft suggerieren. Einhoch komplexes und bevölkerungsreiches Land wie Deutschland kann es sichnicht wie kleinere Länder leisten, seine Wirtschaftsstruktur auf einige wenigeBereiche zu konzentrieren. Volkswirtschaftliche Nischenstrategien (bzw. sekto-rale Spezialisierungsstrategien) sind für die drittgrößte Industrienation unddie größte Exportnation der Welt nicht Erfolg versprechend. Der StandortDeutschland muss für die Informations-, Wissens- und Dienstleistungsgesell-schaft attraktiver gemacht werden und für die Industriegesellschaft attraktivbleiben.

Kosten und Qualität am Standort müssen wieder ins Lot gebracht werden. Nurso kann Deutschland seine Position als einer der führenden Wirtschaftsstand-orte halten bzw. zurückgewinnen. In der internationalen Arbeitsteilung wirdDeutschland nie mit niedrigen Arbeitskosten und geringen Sozialstandardsbrillieren. Innovative wissensintensive Produkte und Dienstleistungen, die zuwettbewerbsfähigen Preisen angeboten werden können, sind der Schlüssel zurZukunft. Sie sichern uns Wettbewerbsvorteile.

Notwendig ist eine Doppelstrategie: Die erste Strategiesäule nimmt Standort-faktoren ins Visier, bei denen Deutschland in der internationalen Arbeitstei-lung komparative Wettbewerbsnachteile hat. Diese müssen konsequent abge-baut werden. Die zweite Strategiesäule fokussiert auf Standortfaktoren, bei de-nen Deutschland im internationalen Wettbewerb komparative Vorteile hatoder haben könnte. Diese gilt es, konsequent auszubauen und in Wertschöp-fungs- und Beschäftigungspotenziale umzusetzen. Beide Säulen markierenzwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide Säulen sind für eine erfolgrei-che Standortpolitik gleichermaßen wichtig, und beide bedürfen offensivenHandelns.

Die Gefahr einer „Neuen Industriepolitik“

Ordnungspolitisches Fundament einer wertschöpfungsorientierten Wirt-schaftspolitik muss eine gestärkte Marktwirtschaft sein. Ob eine solchermaßenmarktwirtschaftliche Erneuerung oben auf der politischen Agenda steht, darfallerdings bezweifelt werden. Sorgen bereitet, dass industriepolitische Inter-ventionismen der verschiedensten Couleur wieder hoffähig, um nicht zu sagenstaatstragend werden. Nach ihrer Blütezeit in den 70er und frühen 80er Jahrendes vorigen Jahrhunderts steht die Industriepolitik möglicherweise vor einerRenaissance, so dass man durchaus von einer Neuen Industriepolitik sprechenkönnte. Die im Adverb „möglicherweise“ enthaltene Unschärfe bezieht sichdarauf, dass neuere industriepolitische Ansätze und Bestrebungen in den sel-tensten Fällen explizit unter der Begrifflichkeit „Industriepolitik“ firmieren.

Aber unabhängig davon, unter welcher Flagge solche Bestrebungen segeln, dermarktliche Allokationsmechanismus wird in der Konsequenz stets verzerrt. ImKern sind derartige Staatsinterventionen mit marktwirtschaftlichen Ordnungs-prinzipien nicht vereinbar. Dabei geht es in aller Regel nicht um die Korrekturvon Marktversagen – obwohl dieses Argument häufig vorgeschoben wird –, son-dern zumeist um die Korrektur von politisch unerwünschten Marktergebnis-sen oder um die Korrektur von Politikversagen. Dieses kann dabei sowohl aufeigenes politisches Handeln in der Vergangenheit – die berüchtigte Interven-tionsspirale – als auch auf gezielte Staatseingriffe oder marktwidriges Verhaltenanderer Staaten zurückzuführen sein.

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Ordnungspolitische Positionen

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Das Wiederaufleben industriepolitischer Neigungen hat vielfältige Ursachenund Begründungen, wobei die Intensivierung und Beschleunigung des welt-wirtschaftlichen Strukturwandels mit seinen gravierenden Umbrüchen in denWertschöpfungsketten und den entsprechenden standortpolitischen Rückwir-kungen eine prominente Rolle spielen. Globalisierung und Informatisierunghaben die Handlungsoptionen der Unternehmen enorm ausgeweitet, die Zahlder an der weltweiten Arbeitsteilung teilnehmenden Akteure hat zugenom-men, die Intensität des globalen Wettbewerbs hat sich erhöht. Standortgebun-dene Produktionsprozesse und Arbeitsplätze sind so unter enormen Anpas-sungsdruck geraten. Die Anpassungsfähigkeit von Menschen, Unternehmenund ganzen Volkswirtschaften hält diesem Druck allzu oft nicht stand, wasdann zuweilen den Ruf nach staatlicher Intervention – nach Industriepolitik –nach sich zieht. Die diesbezüglichen Rufer sind breit verteilt – mal ist es derStaat selbst, mal die betroffenen Arbeitnehmer und ihre institutionellen Ver-treter, in anderen Fällen auch die tangierten Unternehmen. Auffällig ist, dassin den seltensten Fällen aus der ökonomischen Wissenschaft heraus derWunsch nach industriepolitischen Interventionen artikuliert wird.

Ordnungspolitisch ist hier äußerste Wachsamkeit geboten. Ein nachhaltig höhe-rer Wachstumspfad für die deutsche Volkswirtschaft kann nur über eine Stär-kung der Marktkräfte und die Nutzung von Marktchancen erreicht werden. Hö-heres Wachstumspotenzial kann und sollte nicht industriepolitisch herbeiinter-veniert werden. Nicht nur, weil es nicht in ein liberales marktwirtschaftliches Leit-bild passt, sondern auch, weil Industriepolitik bislang in aller Regel den Nach-weis ihres Erfolgs schuldig geblieben ist. Die zusätzlichen finanziellen und poli-tischen Handlungsspielräume, die der unerwartete Konjunkturaufschwung auchder Wirtschaftspolitik beschert, sollten nicht für neue Staatseingriffe, sondernfür eine Verbesserung der Investitionsbedingungen genutzt werden. �

Aufschwung? – Eine gewöhnliche Konjunkturphase!Claus MateckiBundesvorstand Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)

� Nichts ist wirkungsmächtiger als die Realität. Die jüngsten Arbeitsmarktzah-len haben alle notorischen Wachstumspessimisten und Propheten einer unter-gehenden Arbeitsgesellschaft widerlegt. Seitdem hierzulande die Konjunkturwieder anzieht, entstehen neue Arbeitsplätze. Das Wachstum hat mit geschätzten2,7 Prozent die Beschäftigungsschwelle weit überschritten. Hunderttausendeneuer Jobs sind im vergangenen Jahr hinzugekommen. Daran ändert auch diekreative Buchführung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg herzlich we-nig. Die These einer Entkopplung von Wachstum und Beschäftigung gehört insökonomische Märchenland. Das beste Rezept im Kampf gegen die Arbeitslosig-keit ist immer noch ein sich selbst tragender Aufschwung.

Die niederschmetternde Bilanz kontraproduktiver Wirtschaftspolitik

Und ein richtiger Aufschwung schafft mehr Arbeitsplätze als alle sogenanntenReformen der letzten Jahre zusammen. Mehr Druck auf Arbeitslose und eine

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Aufschwung trotz oder wegen der Politik?

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effizientere Vermittlung von Arbeitsplätzen verpufften in den Jahren derWachstumsschwäche wirkungslos. Die Arbeitsmarktreformen schufen keineneinzigen neuen Arbeitsplatz. Gleiches gilt für niedrigere Unternehmenssteu-ern und Bürokratieabbau. Die letzte Körperschaftsteuerreform 2001 war einwachstums- und beschäftigungspolitischer Rohrkrepierer und riss ein zweistel-liges Milliardenloch in die öffentlichen Haushalte.

Die Finanzmarktreformen haben die Kurzfrist- und Renditeorientierungunternehmerischen Handelns verschärft. Die Shareholder-Value-Orientierunghat das Einkommen von unten nach oben umverteilt. Höhere Dividenden undUnternehmensgewinne stehen stagnierenden Arbeitseinkommen gegenüber.Diese wirtschaftspolitisch induzierte Umverteilung hat das Wachstum ge-schwächt.

Kurzum: Dieser Aufschwung hat keine politischen Ursachen. Dies gilt im Übri-gen nicht nur für die Angebotsseite unserer Volkswirtschaft. Das 25-Milliarden-Euro-Konjunkturprogramm der rot-schwarzen Bundesregierung entpuppt sichbei näherer Betrachtung als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Sinnhaftig-keit einzelner Maßnahmen – beispielsweise das Programm zur EnergetischenGebäudesanierung – wird dadurch nicht abgestritten. Der harte Kern der In-frastrukturinvestitionen umfasst aber nicht mehr als sieben Milliarden Euro.Gestreckt auf vier Jahre ist das eine gesamtwirtschaftlich irrelevante Größen-ordnung. Da können die Multiplikatoreffekte noch so hoch sein.

Weit und breit also kein Schröder-, Merkel-, Müntefering- oder Glos-Effekt. Was wirjetzt erleben, ist ein ganz normaler Konjunkturzyklus, eine technische Reak-tion. Nach fast fünf Jahren wirtschaftlicher Stagnation modernisieren dieUnternehmen ihre Produktionsanlagen. Lange Zeit wurden notwendige Er-satzinvestitionen aufgeschoben. An Erweiterungsinvestitionen war aufgrundunausgelasteter Kapazitäten ohnehin nicht zu denken. Nun müssen viele Be-triebe investieren, wollen sie nicht an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Und siekönnen investieren, denn ihre Geldspeicher sind voll. Das Ende des Euro-Hö-henfluges und mehr Aufträge für die kriselnde Bauwirtschaft sorgen für zu-sätzlichen Rückenwind. Die Ausrüstungsinvestitionen stiegen 2006 um mehrals sechs Prozent. Das ist nach Jahren der Stagnation viel, im Vergleich zu frü-heren Aufschwungphasen allerdings eher bescheiden.

Dass der aktuelle Aufschwung ohne politisches Zutun zustande kam, bedeutetaber nicht, dass die Politik keinen Einfluss mehr auf die Konjunktur hat. Ak-tuell führen das Finanzministerium und die Europäische Zentralbank den un-freiwilligen Gegenbeweis. Mehrwertsteuererhöhung, Kürzungen bei der Pend-lerpauschale und Hartz IV sowie das Drehen an der Zinsschraube bremsen diekonjunkturelle Dynamik. Ohne diese Bremswirkungen könnte die deutscheWirtschaft auch dieses Jahr mit nahezu drei Prozent wachsen, trotz gedämpfterWeltkonjunktur.

Aufschwung dank Lohnzurückhaltung?

Apropos „Väter des Aufschwungs“: Wenn die Wirtschaftspolitik die Konjunkturnicht anschieben konnte, war es dann die „Vernunft“ der Tarifpartner? Kanndie jahrelange Lohnzurückhaltung die plötzliche Genesung des deutschen Pa-tienten erklären? Was ist von diesem Erklärungsansatz zu halten?

In den letzten zehn Jahren haben sich die heimischen Reallöhne nicht verän-dert. Im internationalen Vergleich stiegen nur die österreichischen und japa-

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Ordnungspolitische Positionen

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nischen Arbeitseinkommen noch schwächer als die deutschen Löhne und Ge-hälter. Der international geringe Zuwachs der Lohnstückkosten – das Verhält-nis von Arbeitskosten zur Produktivität – hat die deutsche Exportwirtschaftpreislich wettbewerbsfähiger gemacht. Allein gegenüber Portugal hat sich derAbstand bei den Lohnstückkosten seit Mitte der 90er Jahre um fast 40 Pro-zentpunkte erhöht. Gegenüber Spanien und Italien beträgt der Zugewinn zwi-schen 25 und 30 Prozentpunkte. Die Ausfuhren boomen. Deutschland holt ei-nen Exportweltmeistertitel nach dem anderen. Seit 1995 entstanden in derdeutschen Exportwirtschaft 2,4 Millionen neue Arbeitsplätze.

Ernten wir jetzt die Früchte der mageren Jahre? War es nicht doch richtig, inZeiten der Not den Gürtel enger zu schnallen?

Man muss zugeben: Der außenwirtschaftliche Erfolg ist auch auf Kostensen-kungsprogramme zurückzuführen. Ausschlaggebend war jedoch etwas ande-res: Die Volkswirtschaften der Hauptabnehmerländer deutscher Ausfuhrensind in den letzten Jahren kräftig gewachsen. Dies gilt sowohl für Asien, Nord-amerika als auch für Ost- und mit bedeutenden Ausnahmen Westeuropa. Oh-ne dieses Wachstum der ausländischen Märkte wäre der Exportboom deutlichgeringer ausgefallen. Zudem exportiert die deutsche Wirtschaft vor allempreisunelastische Güter – also Güter, deren Preisänderungen die Nachfragekaum beeinflussen – sowie kapitalintensive Güter. Auch ohne gebremstenLohnanstieg hätten die deutschen Ausfuhren kräftig zugelegt. Die Lohnzu-rückhaltung war also keine notwendige Voraussetzung des Exportbooms.

Der Zugewinn internationaler preislicher Wettbewerbsfähigkeit ist zudem nurkurzfristiger Natur. Konkurrierende ausländische Unternehmen ziehen nachund senken ebenfalls ihre Arbeitskosten. Gegenüber konkurrierenden Wäh-rungsräumen führen die steigenden Außenhandelsüberschüsse mittelfristig zueiner Aufwertung der eigenen Währung, auch wenn die neue Gemeinschafts-währung diesen Trend stärker abfedert. Innerhalb der Euro-Zone drücken dieDeutschen hingegen Spanier, Italiener und Portugiesen gegen die Wand. DasVentil einer Abwertung der eigenen Währung gibt es im gemeinsamen Wäh-rungsraum nicht mehr. Folglich erhöht die deutsche Lohnschwäche denDruck auf die Lohnabschlüsse dieser Mitgliedstaaten. Mittelfristig droht eineAbwärtsspirale sinkender Löhne und Preise.

Der Lohn hat aber nicht nur eine Kostenseite. Der Lohn ist auch ein wichtigerNachfragefaktor. Wenn ein Nachfrageausfall infolge von Lohnzurückhaltungverhindert werden soll, dann müssten die Betriebe im Umfang der eingespar-ten Lohnsumme zeitgleich Neueinstellungen vornehmen. Billigere Arbeitführt jedoch nicht im Selbstlauf zu mehr Beschäftigung. Unsichere Umsatzer-wartungen der Betriebe verhindern einen solchen Automatismus. Je größer dieBedeutung des Binnenmarktes, desto stärker sind die negativen konjunkturel-len Effekte. Während sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschenExportwirtschaft verbesserte, verschlechterten sich die Absatzperspektiven derBinnenökonomie. Einzelhandel, Handwerk und Bau leiden unter der ein-kommensgetriebenen Kaufzurückhaltung der heimischen Verbraucher. Ohnedie Aussicht auf steigende Einkommen beschränken sich die gering und mittel-mäßig verdienenden Konsumenten auf die Güter des täglichen Bedarfs. Dahierzulande jedoch vier von fünf Arbeitsplätzen am Binnenmarkt hängen, lösteine boomende Exportwirtschaft nicht die heimischen Wachstums- und Ar-beitsmarktprobleme.

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Aufschwung trotz oder wegen der Politik?

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Was ist zu tun?

Qualitatives Wirtschaftswachstum ist eine zentrale Voraussetzung zur Lösungunserer Arbeitsmarktkrise. Wir brauchen aber einen vier- bis fünfjährigen Auf-schwung, um die Arbeitslosigkeit zumindest zu halbieren; wir brauchen einenAufschwung, der Wachstum, Ökologie und reguläre Arbeit miteinander ver-bindet. Die Länge, Breite und Qualität eines Aufschwungs können wirtschafts-politisch beeinflusst werden. Der aktuelle Aufschwung ist noch nicht selbsttra-gend. Die Exportabhängigkeit der wirtschaftlichen Belebung führt dazu, dassdie Auftriebskräfte störanfällig sind. Darauf kann und muss wirtschaftspolitischreagiert werden.

Neben einer konjunkturgerechten Geldpolitik der Europäischen Zentralbankspielt die Finanzpolitik eine zentrale Rolle. Mehr öffentliche Investitionen inKindertagesstätten, Schulen, Universitäten und das öffentliche Gesundheits-wesen stabilisieren die binnenwirtschaftlichen Wachstumskräfte und schließengleichzeitig elementare Versorgungslücken. Im europäischen Vergleich liegtdie deutsche Investitionsquote der öffentlichen Hand weit unter dem Durch-schnitt (1,2 Prozent gegenüber 2,5 Prozent).

Des Weiteren brauchen wir bessere Regeln auf den Arbeits- und Finanzmärk-ten. Mindestlöhne und die Eindämmung prekärer Beschäftigung könnten da-für sorgen, dass der Aufschwung auch bei den Menschen ankommt. Die sozia-len Sicherungssysteme werden gestärkt. Auf den Finanzmärkten gilt es, dieLangfristorientierung zu stärken. Spekulative Portfolioinvestitionen solltensteuerlich diskriminiert werden. Für die Private-Equity- und Hedge-Fonds-In-dustrie brauchen wir eine politische Regulierung. Unter dem Strich schützt ei-ne bessere Kapitalmarktregulierung die heimischen Wachstumskräfte vor de-stabilisierenden Einflüssen.

Schließlich gibt es gute wirtschaftliche Gründe für eine Trendwende in derLohnentwicklung. Die Stärkung des Massenkonsums belebt den Binnenmarkt.Gleichzeitig mindert eine stärkere Binnenorientierung der deutschen Wirt-schaft die Lohn- und Preiskonkurrenz in der Euro-Zone. Kräftige Tariflohn-steigerungen sind hierfür eine wichtige Voraussetzung.

Der Aufschwung kam ohne politische Mitwirkung. Jetzt gilt es, die Gunst derStunde zu nutzen und die Auftriebskräfte wirtschaftspolitisch zu stärken. �

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50 Jahre dynamische Rente

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In der Regierungserklärung vom 20. Oktober 1953hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer eine umfas-sende Sozialreform angekündigt und ihre Verwirk-lichung als vorrangiges innenpolitisches Thema be-zeichnet. Die Rentenleistungen waren zwar in denJahren von 1949 bis 1956 erhöht worden, um siedem gestiegenen Lohn- und Preisniveau anzuglei-chen. Aber das waren nur Zwischenlösungen. Zu-dem hatten sie das Rentenversicherungsrecht un-übersichtlich gemacht. Man dachte nun an eine insich schlüssige „große Rentenreform“.

Bundesarbeitsminister Anton Storch (CDU) und dieCDU-Sozialausschüsse forderten einen großzügi-gen Ausbau der Sozialleistungen. In ihrer Kritikwerden fünf Missstände der deutschen Rentenver-sicherung aufgezählt:

� die unzureichende Höhe der Renten,

� die allzu formalistische Auslegung des „Versi-cherungsprinzips“,

� die Zuschussbedürftigkeit der Rentenversiche-rung,

� die Durchlöcherung des Versicherungsprinzipsmit Elementen der Fürsorge und der Versorgung,

� die mangelnde Abstimmung mit dem Finanz-ausgleichgesetz.

Konrad Adenauers Motive

1955 begannen die Vorarbeiten zu einer Rentenre-form, die den Umbau der gesetzlichen Rentenversi-cherung vorsah, nicht aber das System der Renten-versicherung änderte. Adenauer sah sich, als der Re-gierungsentwurf für eine „große Rentenreform“ be-raten wurde, einer „starken Fronde opponierenderMinister gegenüber“ und „musste seine Autoritätvoll ausschöpfen, um dennoch ein positives Mehr-heitsvotum zustande zu bringen“.1 Als einige Minis-ter sich öffentlich über den Regierungsentwurf kri-tisch äußerten, griff Adenauer zu einem Mittel, vondem er in dieser Form nur selten Gebrauch mach-te: Unter Bezug auf die im Grundgesetz verankerteRichtlinienkompetenz des Bundeskanzlers erklärteer die Regierungsvorlage zur Richtlinie seiner Poli-tik, „was die Minister dem formellen Verbot jederabweichenden Stellungnahme unterwarf“.

Adenauer trat zwar für eine dynamische Rente ein,wollte sich aber nicht unbedingt auf die Lohnbin-dung der Renten festlegen. Um diesen Punkt zuklären, griff Adenauer in die Sachdebatte der 2. Le-sung am 16. Januar 1957 ein. Er wandte sich ge-gen den Vorwurf der SPD, auf äußeren Druck sei-ne Sympathie für die dynamische Rente, wie sie

Die große Rentenreform von 1957Dipl.-Verwaltungswirt Manfred Glombik

1 Vgl. Hans Günter Hockerts, Die Rentenreform 1957, in: Handbuchder gesetzlichen Rentenversicherung. Festschrift aus Anlass des100-jährigen Bestehens der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg.von Franz Ruland, Frankfurt am Main 1990, Seiten 93–104.

50 Jahre Erfahrungmit der dynamischen Rente

Auch aus Sicht von Ludwig Erhard war die Rentenreform 1957 eine Weichenstellung. Aber führte sie in die richtige Rich-

tung? – „Dynamisierung der Renten“ heißt: Kopplung an Lohnerhöhungen. Lohnerhöhungen werden im Wesentlichen

von den Tarifparteien beschlossen. Dabei ist nicht unbedingt die volkswirtschaftliche Rationalität maßgebend, sondern vor

allem Gruppeninteresse. Zu hohe Lohnabschlüsse, daran gekoppelte Rentenerhöhungen: Das wäre unweigerlich Infla-

tion, unter der die Rentner besonders leiden. Besser wäre eine Wirtschaftspolitik, die dafür sorgt, dass sich Produktivi-

tätssteigerungen in Preissenkungen niederschlagen. Jeder hätte davon Nutzen, auch die Rentner.

Wie gesagt: 1957 wurde ein Weg beschritten, vor dem Erhard gewarnt hat, und es kam zu Problemen. Erst musste die

Dynamisierung ausgesetzt, dann mussten neue Finanzquellen angezapft und das Rentenniveau gekürzt werden. „50 Jahre

Erfahrung mit der dynamischen Rente“, das ist keine Erfolgsbilanz.

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Rentenversicherung

17Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren zahlreiche Maßnahmen nötig, um die Rentenleistungen auf angemessenerHöhe zu halten:

� Das „Sozialversicherungsanpassungsgesetz“ vom 17. Juni 1949 setzte die vom Wirtschaftsrat begonnene Ent-wicklung nach der Wirtschafts- und Währungsreform – Anpassung des Leistungsrechts an das veränderte Lohn-und Preisgefüge – fort.

� Weitere Leistungsverbesserungen brachten insbesondere das „Rentenzulagen-“ und das „Teuerungszula-gengesetz“ (1951) sowie das „Grundbetragserhöhungsgesetz“ und das „Renten-Mehrbetrags-Gesetz“ (1954).

Für Ludwig Erhard war in der Debatte über ein neues Rentenrecht ausschlaggebend, „dass der Staat die wirt-schaftlichen Voraussetzungen der Selbstvorsorge nicht beeinträchtigt, wozu vor allem die Stabilhaltung der Wäh-rung gehört, und dass darüber hinaus die eigenverantwortliche und individuelle Altersvorsorge durch geeig-nete Maßnahmen so weit wie möglich gefördert wird“.1

Die auf den Bruttolohn bezogene Dynamisierung hielt Erhard für falsch: „Das entscheidende Moment ist, dasssich die Rente selbst mit der Verschiebung der volkswirtschaftlichen Daten mehr oder minder automatischverändern soll. Dieser ‚beweglichen‘ Rente liegt der der Marktwirtschaft innewohnende Gedanke einer ständi-gen Produktivitätssteigerung zugrunde; sie geht von der Erfahrung aus, dass sich die Produktivitätssteigerungweniger in Preissenkungen als vornehmlich in Nominallohnerhöhungen niederschlägt. Eine so strukturierte lohn-bezogene Produktivitätsrente ist jedoch konjunktur- und währungspolitisch nur so lange ungefährlich, als vonden Lohnbewegungen selbst keine währungs- und konjunkturpolitischen Störungen ausgehen.“2 Maßstab fürkünftige Erhöhungen der gesetzlichen Renten sollte aus Erhards Sicht also erstens der „echte Produktivitäts-zuwachs der Volkswirtschaft“ und zweitens eine Anpassung sein, die die Geldwertstabilität nicht gefährdet.

Erhards Überlegungen gingen über technische Fragen hinaus. Er wies während der Debatte über die „große Ren-tenreform“ 1956 darauf hin, dass sich die wirtschaftlichen Formen und Prinzipien seit 1949 gewandelt hätten,die gesellschaftspolitische Struktur eine völlig andere geworden sei: „Den ‚Proletarier‘, der nicht für sein Alterhat sorgen können und den deshalb der Staat verantwortlich schützen musste, gibt es heute nicht mehr.“ Erkritisierte, dass trotz stark verbesserter Lebensbedingungen und -perspektiven das Verlangen nach sozialerSicherheit zugenommen habe und der Wille und der Mut zur individuellen Verantwortung immer mehr verküm-mere. Schuld daran habe vor allem der Staat; er fördere diese Mentalität, wenn er eine patriarchalische Da-seinsvorsorge verfolge: „Das unverzichtbare Gefühl und Bewusstsein der Eigenverantwortung und der Selbst-vorsorge sollte nicht durch eine übersteigerte Vollversorgung zerstört werden.“

Erhard hat das Konzept einer umlagefinanzierten Rente nicht abgelehnt. Er sah realistisch, dass infolge von In-flationen, Kriegsschäden, Vertreibung und Währungsreform die Alterssicherung nicht allein über den indivi-duellen Aufbau eines Kapitalstocks gelingen kann. Aber die notwendige, nur zeitbedingte Rücksichtnahme aufdie gegebene Lage darf nicht dazu führen, dass sich über eine staatliche Sozialversicherung „immer größere kol-lektive Machtgebilde auf dem Kapitalmarkt bilden“. �

Andreas Schirmer

Die Position von Ludwig Erhard

1 Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Ministerausschuss für die Sozialreform 1955–1960, Seite 257. 2 Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, 8. Auflage, Düsseldorf 1964, Seite 258.

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50 Jahre dynamische Rente

18 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Professor Wilfried Schreiber 2 entwickelt habe, auf-gegeben zu haben. Gegen den Schreiber-Vorschlaghabe es im Kabinett gewichtige Bedenken gege-ben, und die seien mit der „Produktivitätsrente“,wie sie der Regierungsvorschlag enthalte, ausge-räumt worden.

Der Bundeskanzler hielt daran fest, dass der Wertder Beiträge, die der Versicherte während seinesArbeitslebens gezahlt hatte, bei der Rentenfestset-zung auf das aktuelle Lohnniveau hochgerechnetwerden müsse. Bei der laufenden Anpassung wäh-rend der Jahre des Rentenbezuges war er bereit,von dem ursprünglichen Ziel der Koppelung andie Lohnentwicklung abzugehen; aber er bestanddarauf, dass nicht das preisbereinigte, sondern dasnominale Sozialprodukt zum Anpassungsmaßstabgenommen werde, damit Preissteigerungen Be-rücksichtigung finden.

Bei den anschließenden Beratungen wurden trotzheftigen Ringens nur noch Details verändert. DasZentralstück der Reform – die Lohnkoppelung beider Erstfestsetzung der Rente – blieb erhalten. DerDeutsche Bundestag verabschiedete nach 15-stün-diger Debatte in der Nacht zum 22. Januar 1957die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze.Die Bestrebungen zur Vereinheitlichung und Neu-

ordnung der sozialen Leistungen fanden damit ih-ren vorläufigen Abschluss.

Kurz- und langfristige Konsequenzen

Die Bundesregierung hatte dafür gesorgt, dass dasGesetz rückwirkend zum 1. Januar 1957 in Krafttritt. Die umfangreichen Nachzahlungen zusam-men mit der regulären Erhöhung wurden von Mai1957 an ausgezahlt. Die Versichertenrenten stie-gen bei der Arbeiterrentenversicherung umdurchschnittlich 65 Prozent, bei der Angestellten-versicherung sogar um 72 Prozent. Das war ein ge-zieltes Wahlgeschenk für die Bundestagswahlenam 15. September 1957.

Der Übergang von der statischen zur dynamischenLeistungsrente – später hieß sie Produktivitätsren-te – war Gesetz geworden. Der neue Grundsatz derProduktivitätsrente berücksichtigt, dass die Rent-ner, genau wie die noch Arbeitenden, an der Ent-wicklung des Sozialprodukts beteiligt werden undeine Rentenerhöhung dann gerechtfertigt ist,wenn die Wirtschaft eine entsprechende Produkti-vitätssteigerung verzeichnet. Damit wird demRentner der Lebensstandard erhalten, den er sichwährend seines Berufslebens erarbeitet hatte. DieRente war nicht mehr nur ein Zuschuss zum Le-bensunterhalt. �

Mit der im Januar 1957 beschlossenen Rentenre-form erfolgte eine grundlegende Weichenstellungin der deutschen Alterssicherungspolitik: Die Sozi-alversicherungsrente sollte nicht länger ein Zu-brot im Alter und bei Invalidität sein, sondernLohnersatz werden.

Dieser konzeptionelle Wandel – der einvernehm-lich von CDU/CSU und SPD beschlossen wurde –drückte sich 1957 nicht nur in einer beträchtlichenErhöhung der Rentenzahlungen aus (um rund 65Prozent bei Arbeiterrenten und rund 72 Prozentbei Angestelltenrenten), sondern vor allem in ei-ner neuen Rentenberechnungsformel. Bis dahinbasierten die individuellen Rentenzahlungen auf

einem einheitlichen Grundbetrag und einem Stei-gerungsbetrag. Der Steigerungsbetrag berücksich-tigte zwar Versicherungsdauer und Lohnhöhe, be-ruhte jedoch auf den absoluten Beträgen der frü-her erzielten Nominallöhne und spiegelte folglichzwischenzeitlich eingetretene Lohnsteigerungennicht wider. Das führte teilweise zu so niedrigenRentenzahlungen, dass Altersarmut eintrat undFürsorgeleistungen oder Unterstützungen der Fa-milien erforderlich wurden.

Dieser Zustand wurde als höchst unbefriedigendangesehen. Zudem war während der Rentenlauf-zeit keine regelmäßige Anpassung des Rentenzahl-betrags vorgesehen, sei es an Inflationsraten oder

Die Prinzipien von 1957 sind noch immer tragfähigProf. Dr. Winfried SchmählZentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen

2 Zu Schreibers Hörern an der Universität zu Köln gehörte auchPaul Adenauer, Sohn des damaligen Bundeskanzlers. Er berichteteseinem Vater über Schreibers Ideen.

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Rentenversicherung

19Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Realeinkommenssteigerungen. Damit verloren dieRenten an Kaufkraft und blieben während desRentenbezugs immer weiter hinter der allgemei-nen Einkommensentwicklung zurück. In derNachkriegszeit erfolgten zwar einige Ad-hoc-Erhö-hungen der Renten, die Grundprobleme wurdendadurch jedoch nicht gelöst. Und da die Erhö-hungen weitgehend einheitlich waren, wurde dieohnehin schon stark ausgeprägte interpersonelleUmverteilungswirkung des Rentensystems nochverstärkt.

Zweck der neuen Rentenformel

Die neue, 1957 eingeführte Rentenformel sah vor,dass die Renten allein auf einem lohnbezogenenSteigerungsbetrag beruhen. Dieser basierte abernicht mehr auf der absoluten Höhe frühererLohnzahlungen, sondern auf der im Durchschnittdes Erwerbslebens erreichten relativen Höhe desindividuellen Lohnes (das heißt der Relation derindividuellen Bruttolöhne in den einzelnen Jah-ren der Erwerbstätigkeit zum jeweiligen durch-schnittlichen Bruttolohn aller Versicherten). Zu-gleich wurde der Rentenberechnung ein gegen-wartsnahes Lohnniveau zugrunde gelegt und eineregelmäßige, an der Lohnentwicklung orientierteAnpassung der Renten während der Rentenlauf-zeit eingeführt. Insgesamt wurde in der Renten-versicherung die interpersonelle Umverteilungs-funktion deutlich reduziert. Es erfolgte eineOrientierung am Vorsorgekonzept, bei dem die in-dividuellen Beitragszahlungen einen Preis für dieerworbenen Rentenansprüche darstellen.

Die neue Konzeption für die gesetzliche Renten-versicherung sah auch eine – wenngleich nochnicht vollständige – Abkehr von der Kapitalfun-dierung vor, wie dies bei Privatversicherungen al-lein schon aus finanzierungstechnischen Grün-den geboten ist. Es waren allerdings nicht alleindie Erfahrungen mit den Vermögensverlustennach Weltkriegen, Inflationen und Weltwirt-schaftskrise, die eine Abkehr vom Konzept der Ka-pitalfundierung in der gesetzlichen Rentenversi-cherung nahelegten, sondern vor allem auch,dass die spürbare Anhebung der allgemein als un-zulänglich angesehenen Renten nicht gleichzeitigmit einem erheblichen Vermögensaufbau in derRentenversicherung finanziert werden konnte(waren doch nach dem Zweiten Weltkrieg die Re-serven der Rentenversicherung weithin entwer-tet). Gewählt wurde zunächst ein sogenanntes„Abschnittsdeckungsverfahren“, bei dem für ei-nen Zeitraum von zehn Jahren ein konstanter Bei-

tragssatz so festgelegt wurde, dass am Ende desDeckungsabschnitts ein Vermögensbestand in Hö-he einer Jahresausgabe der Rentenversicherungvorhanden sein sollte. Erst 1969 ging man dannvollständig zum Umlageverfahren über – mit ei-ner dann nur noch auf drei Monatsausgaben be-grenzten Reserve.

Unbegründete Befürchtungen

Vor allem die Rentendynamisierung war umstrit-ten, auch innerhalb der Bundesregierung. So ver-suchten Bundesfinanzminister Fritz Schäffer undBundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, den Re-gierungsentwurf auch dann noch tiefgreifend zuverändern, als er bereits im Parlament eingebrachtwar, sodass sich Bundeskanzler Konrad Adenauer ge-zwungen sah, die Grundsätze der Regierungsvorla-ge zu Richtlinien der Politik zu erklären. Nicht nurdie beiden Bundesminister, sondern auch Zentral-bank, Versicherungen und viele Wissenschaftlerwarnten vor schwerwiegenden negativen ökonomi-schen Folgen der „dynamischen Rente“ und vordem Verzicht auf Kapitalfundierung der gesetz-lichen Rente. So wurden vor allem ein Inflations-schub, ein Erlahmen der Ersparnisbildung und ne-gative Folgen für die Versicherungswirtschaft be-fürchtet. Doch all diese Befürchtungen bewahrhei-teten sich nach der Rentenreform nicht.

Vielmehr hat die neue Rentenkonzeption mit ih-rer Erhöhung des Leistungsniveaus und der Ren-tenanpassung an die Lohnentwicklung im Zeitab-lauf maßgeblich dazu beigetragen, dass Altersar-mut in der Bundesrepublik an Bedeutung verlorund ein relativ enger Bezug zwischen der Höheder Vorleistungen – also dem in einem Jahr ge-zahlten Beitrag – und der Höhe der damit erwor-benen Renten-Gegenleistung realisiert wurde. Da-mit stellten für den Einzelnen auch die Beitrags-zahlungen an die umlagefinanzierte gesetzlicheRentenversicherung ein Element der Eigenvorsor-ge dar. Dies wiederum trug mit dazu bei, dass stei-gende Rentenversicherungsbeiträge nicht zur Be-gründung von Lohnforderungen dienten.

Besonders hervorzuheben ist, dass die Umlagefi-nanzierung im Prozess der Wiedervereinigung diesofortige Integration von Rentnern und Versicher-ten aus der DDR ermöglichte. Bei Kapitalfundie-rung hätte es Jahrzehnte gedauert, bis im Ostteilder Bundesrepublik ähnliche Renten wie im West-teil hätten gezahlt werden können. Dass dies nurbei Umlagefinanzierung möglich sein würde, wur-de anlässlich der Reform von 1957 mit Blick auf

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50 Jahre dynamische Rente

20 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

die erhoffte Wiedervereinigung durchaus als Vor-teil des Umlageverfahrens betont (so unter ande-rem vom Nestor der katholischen Soziallehre, Os-wald von Nell-Breuning).

Demontage der „Jahrhundertreform“seit 2001

Dass es im Zeitablauf zu steigender Abgabenbelas-tung aufgrund des steigenden Anteils Älterer ander Bevölkerung kommen würde, war Mitte derfünfziger Jahre im Prinzip unumstritten. Aller-dings gab es über das erwartete Ausmaß unter-schiedliche Auffassungen.

In den Diskussionen über die Bezahlbarkeit derumlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversiche-rung wird oft behauptet, das Umlagesystem sei„fehlkonstruiert“, der Reform von 1957 läge ein„Jahrhundertirrtum“ zugrunde. Zwei Sachverhaltebleiben dabei unberücksichtigt:

� In einer alternden Bevölkerung wird Alterssi-cherung teurer, ob sie nun umlagefinanziert oderkapitalfundiert ist.

� Ein maßgeblicher Grund für die Probleme dergesetzlichen Rentenversicherung sind politischeEingriffe in das System, oft außerordentlich kurz-sichtiger Art, aber mit weitreichenden Folgen. Zuerinnern ist beispielsweise an die Übertragung zu-sätzlicher Aufgaben auf die Rentenversicherung,an die Fehlfinanzierung mancher Ausgaben durchlohnbezogene Beiträge statt aus dem Steuerauf-

kommen oder auch an die inzwischen fast auf Nullgeschrumpfte Liquiditätsreserve. Allzu oft man-gelte es an konzeptionsgerechten und langfristigorientierten politischen Entscheidungen, die dasSystem nicht überfordern.

Das hat mit dazu beigetragen, dass das Vertrauender Bürger in die gesetzliche Rentenversicherunggeschrumpft ist. Die politisch eingeleitete Demon-tage der gesetzlichen Rentenversicherung durchdie Entscheidungen seit 2001 wird das Systemnachhaltig verändern, wenn kein Kurswechsel er-folgt: Die gesetzliche Rentenversicherung wird ih-re Funktion als Lohnersatz verlieren, da selbst beilängerer Versicherungsdauer die Rente vielfachunter die Schwelle einer armutsvermeidenden, be-dürftigkeitsgeprüften Sozialhilfe sinkt. Ein zu ei-ner „Basisrente“ geschrumpftes System würde wie-der stärker zu einem Umverteilungsinstrument.Für viele Versicherte wächst künftig die Gefahr derAltersarmut, und die Einkommensverteilung imAlter wird zunehmend ungleich werden. In alldem liegt gesellschaftspolitischer Sprengstoff.

Ein Rückbesinnen auf die Grundgedanken des Re-formgesetzes von 1957 könnte fünfzig Jahre späterdazu beitragen, eine Strategie für die künftige Al-terssicherungspolitik in Deutschland zu entwi-ckeln, die in ihren Wirkungen ausgewogener wäreals die in den letzten Jahren ergriffenen Maßnah-men, die nicht zu einer reformierten, sondern zueiner deformierten Rentenversicherung führen.Damit könnten die 1957 getroffenen konzeptio-nellen Entscheidungen tatsächlich als „Jahrhun-dertreform“ bezeichnet werden. �

Der Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölke-rung ist eine Herausforderung für alle Industrie-staaten. Die vordergründige Diskussion stellt dieAufrechterhaltung des Solidargedankens in denMittelpunkt. Das wichtigere Problem ist jedoch dienachhaltige Finanzierung einer sozialen Siche-rung, die keine Generation überstrapaziert.

Der Rentnerquotient, das heißt das Verhältnis derZahl der Rentenempfänger und der Zahl der bei-

tragszahlenden Versicherten, wird ansteigen. ImJahr 1997 betrug er 42, im Jahr 2050 wird er einenWert von 82 haben. Das bedeutet, dass im Jahr2050 auf 100 Personen im Alter zwischen 20 und60 Jahren 82 Personen im Alter unter 20 oderüber 60 Jahren entfallen.1 Im Jahr 1997 waren es

Die dynamische Rente standvon Anbeginn auf tönernen FüßenProf. Dr. Dr. h.c. Peter OberenderLehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Universität Bayreuth

1 Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis2050. Ergebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausbe-rechnung, Wiesbaden 2004, Presseexemplar, Seiten 17 ff.

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Rentenversicherung

21Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Die Rentenreform von 1957, mit der die regelmä-ßige Anpassung der Renten an die Lohn- und Ge-haltsentwicklung eingeführt wurde, galt als einwichtiger Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft. Sieüberwand das Problem der Altersarmut und er-möglichte der älteren Generation, am wirtschaft-lichen Wachstum teilzunehmen. Die Komponen-ten des neuen Rentenmodells waren die allgemei-ne Niveauanpassung, die Differenzierung der in-dividuellen Renten nach der Erwerbsbiographieund die staatliche Garantie. Die Renten wurdendurch ein Umlageverfahren finanziert; eine Kapi-

taldeckung war nicht vorgesehen. Aber das warnicht neu. Die öffentliche Rentenversicherung be-ruhte seit ihrem Beginn 1891 immer auf einerUmlagefinanzierung.

nur 42 Personen. Ursachen für diese Entwicklungsind der Rückgang der Geburten pro gebärfähigerFrau und die Zunahme der durchschnittlichen Le-benserwartung pro Alterskohorte.

Ein problemadäquater Systemvergleich

Welches System ist besser geeignet, um auf einesolche Entwicklung zu reagieren – ein umlagefi-nanziertes oder ein kapitalgedecktes? Grundsätz-lich bindet jedes Alterssicherungssystem finanziel-le Mittel, die in der Konsumphase nicht zur Verfü-gung stehen und für die Rentenphase aufgespartwerden müssen. Es lässt sich schlussfolgern, dassjenes Verfahren effizienter ist, dem es gelingt, beigleicher Ausgabenhöhe im Rentenfall mit gerin-geren Beiträgen auszukommen.

Ein Umlageverfahren ist zunächst genauso effi-zient wie ein kapitalgedecktes System, wenn dasProdukt aus Wachstum der Beitragszahler undWachstum der beitragspflichtigen Einkommenmindestens der Kapitalrendite des Kapitalde-ckungsverfahrens entspricht. In postindustriali-sierten Ländern liegt das Produkt in der Regel un-ter der Kapitalmarktrendite. Insbesondere ist zuberücksichtigen, dass es langfristig deutlich weni-ger Erwerbstätige geben wird, die das von allennachgefragte, langfristig zudem höhere Konsum-niveau produzieren müssen. Dies impliziert, dassentweder mehr aus dem Ausland importiert wer-den oder die Kapitalintensität steigen muss, das

heißt die fehlenden Erwerbspersonen werdendurch Realkapital ersetzt werden müssen.

Friedrich Breyer weist in einer Untersuchung daraufhin, dass das Interesse der Menschen an einer hö-heren Lebenserwartung nicht unabhängig ist vonden Leistungen der sozialen Sicherungssysteme.Mit anderen Worten: Es findet eine Abwägung zwi-schen Lebensdauer und Konsum statt.2 Beim Um-lageverfahren einer gesetzlichen Versicherungwird das deutlich. Diejenigen Menschen, die dengrößten Teil der Leistungsansprüche noch vor sichund den Hauptteil der Beitragszahlungen bereitshinter sich haben, sind an der Ausweitung derLeistungen interessiert.

Das legt nahe, die Frage der „Haftung“ im Sinnevon Walter Eucken neu zu definieren. Das Umlage-verfahren ist gerade deswegen ordnungspolitischproblematisch, weil es der Illusion Vorschub leis-tet, der einzelne Mensch könne seine Lebensdau-er im Anschluss an die Erwerbstätigkeit ausdeh-nen, ohne die damit verbundenen Kosten adäquatzu berücksichtigen. Für eine gerechte Belastungder Generationen muss geklärt sein, wer die wach-senden Ausgaben bei längerer Restlebenddauerder Menschen tragen kann. Die Einführung derdynamischen Rente war daher von Beginn an einSicherungsversprechen auf tönernen Füßen. �

2 Vgl. Friedrich Breyer, Auf Leben und Tod – steigende Lebenser-wartung und Sozialversicherung, in: Perspektiven der Wirtschafts-politik, 5. Jahrgang (2004), Heft 2, Seiten 227–241.

Der Generationenvertrag brauchtWachstum und VollbeschäftigungProf. Dr. Gerd HardachSozial- und Wirtschaftsgeschichte, Phillips-Universität Marburg

Literaturhinweis

Gerd Hardach, Der Generationenvertrag.Lebenslauf und Lebenseinkommen in Deutsch-land in zwei Jahrhunderten, Duncker & Humblot,Berlin 2006.

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50 Jahre dynamische Rente

22 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Finanzierungsprobleme durch Wachstums-schwäche und Arbeitslosigkeit

Das neue Rentenmodell wurde zunächst durch dieZunahme der Bevölkerung und durch das wirt-schaftliche Wachstum gestützt. Der gemeinsameBeitrag von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zurRentenversicherung, der bei der Reform auf 14Prozent der Löhne und Gehälter festgesetzt wur-de, blieb zehn Jahre stabil. Seit Mitte der sechzigerJahre änderten sich die demographischen Bedin-gungen des sogenannten Generationenvertrages.Die Geburtenrate ging zurück, während die Le-benserwartung weiter anstieg. Der Anteil der älte-ren Generation an der Gesellschaft nahm zu. 1957waren 11 Prozent der westdeutschen Bevölkerung65 Jahre alt oder älter, 2005 war der Anteil im ver-einten Deutschland auf 19 Prozent gestiegen. DasGesamtvolumen der intergenerativen Umvertei-lung ist durch den demographischen Wandel abernicht gestiegen, da als Folge des Geburtenrück-gangs weniger Kinder und Jugendliche zu unter-stützen waren. Der Anteil der Jugendgenerationbis zum Alter von 19 Jahren an der Bevölkerungging von 1957 bis 2005 von 30 auf 20 Prozent zu-rück.1

Die Probleme wurden größer, als sich seit Mitteder siebziger Jahre die wirtschaftlichen Grundla-gen der öffentlichen Rentenversicherung änder-ten. Die Abschwächung des wirtschaftlichenWachstums führte zu steigender Arbeitslosigkeit.Die Arbeitsmarktkrise verwehrte einem erheb-lichen Teil der mittleren Generation, am Erwerbs-leben teilzunehmen und einen Beitrag zur Stabi-lität der Rentenversicherung zu leisten. Von Mitteder siebziger Jahre bis zum Ende der altenBundesrepublik Deutschland stagnierte die sozial-versicherungspflichtige Beschäftigung. Im verein-ten Deutschland ging die sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigung von 1992 bis 2005 umdrei Millionen Personen zurück.2 Damit wurde ei-ne Negativspirale in Gang gesetzt. Der steigendeBeitragssatz zur Rentenversicherung trieb dieLohnnebenkosten in die Höhe und galt damit alseiner der Gründe für die Arbeitsmarktkrise, diezur Erosion der finanziellen Grundlagen der Ren-tenversicherung führte.

Nachhaltige Stabilisierung nur durcherfolgreiche Beschäftigungspolitik

Da das Problem nicht so sehr im Gesamtvolumender intergenerativen Umverteilung liegt, sondernin der Belastung der Erwerbseinkommen, kann ei-ne Differenzierung der Alterseinkommen zur Sta-bilität der Rentenversicherung beitragen. Dieswird mit den Rentenreformen von 2004 bis 2007angestrebt. Der Beitragsanstieg soll durch eine Re-duzierung des Rentenniveaus gebremst werden.Nachdem der Beitragssatz in den neunziger Jah-ren zeitweilig knapp über die politisch sensibleZwanzig-Prozent-Schwelle gestiegen war, konnte erwieder auf 19,5 Prozent zurückgeführt werden.Um einen Rückfall in die Altersarmut frühererZeiten zu vermeiden, werden die betriebliche Al-tersversorgung und die individuelle Vermögens-bildung als Optionen der Altersvorsorge geför-dert. So wie in der Geschichte von den BremerStadtmusikanten der Esel, der Hund, die Katzeund der Hahn kooperieren, um die Altersnot zuüberwinden, kann man sich vorstellen, dass sichöffentliche Transferleistungen, Betriebsrenten,Vermögenseinkommen und nicht zuletzt familialeTransferleistungen, die vor allem im Pflegeauf-wand für die ältere Generation bestehen, zu ei-nem tragfähigen Alterseinkommen verbinden.

Eine nachhaltige Stabilisierung der öffentlichenRentenversicherung, wie auch der sozialen Siche-rungssysteme insgesamt, kann nicht durch Einspa-rungen, sondern nur durch eine Überwindungder Arbeitsmarktkrise erreicht werden. Wenn esgelingt, die offene und verdeckte Arbeitslosigkeitzu reduzieren, wird die Basis der öffentlichen Ren-tenversicherung dauerhaft gestärkt.3

In einem dicht besiedelten Land wie der Bundes-republik Deutschland kann man einer Stagnationder Bevölkerung auch positive Aspekte abgewin-nen. Stetiges Wachstum der Bevölkerung ist je-denfalls schwer vorstellbar. Wichtig für die wirt-schaftliche und soziale Stabilität ist aber, dass derÜbergang vom Bevölkerungswachstum zur demo-graphischen Stagnation nicht als Absturz, sondernals sanfte Landung erfolgt. Deshalb ist ein Ausbauder Familienförderung notwendig, um die Attrak-tivität der Familie als Lebensform zu erhöhen. ZurFamilienförderung gehört nicht nur die finanziel-le Entlastung der Familien, sondern auch die Ver-besserung der Vereinbarkeit von Familie und Be-

1 Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zeitreihen,Ausgabe 2006, Seite 194.2 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2006,Seite 88.

3 Vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich, Wo sind die Jobs? Eine Streitschriftfür mehr Arbeit, München 2007.

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Rentenversicherung

23Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

ruf durch familien- und arbeitsmarktpolitischeMaßnahmen.

Die langfristige Stabilisierung der öffentlichenRentenversicherung ist auch in einer Zeit demo-graphischen Wandels möglich, aber sie erforderteine Verständigung über die Ziele, die angestrebt

sowie die Instrumente, die angewandt werden sol-len: „Wer den Hafen nicht kennt, dem weht keingünstiger Wind.“4 �

4 „Ignoranti, quem portum petat, nullus suus ventus est.“ L. An-naeus Seneca, Ad Lucilium. Epistulae morales (62–65), Philosophi-sche Schriften 4, Darmstadt 1984, Seite 21.

Bevor es die gesetzliche Rentenversicherung gab,beruhte die Altersvorsorge im Kern auf einem fa-milienbezogenen Umlageverfahren. Die Erwerbs-tätigen versorgten ihre eigenen Eltern, und sie zo-gen Kinder auf, von denen sie eine Versorgung imAlter erwarten durften. In einem solchen Systemgibt es eine breite Spanne von hohem Wohlstandbis zu bitterer Armut im Alter, je nachdem ob dieeigenen Kinder gesund und beruflich erfolgreichoder von Krankheiten, Unfällen und Arbeitslosig-keit betroffen sind. Deshalb ist es zweckmäßig,auch im Umlageverfahren in eine Versicherungeinzutreten, in der sich die Risiken bezüglich derLeistungsfähigkeit der Kinder ausgleichen.

Eine stabile und funktionsfähige Rentenversiche-rung im Umlageverfahren muss aber einige Be-dingungen erfüllen, die im jetzigen Rentensystemnicht oder nur unzureichend gegeben sind. Ren-ten können nur gezahlt werden, wenn es Erwerbs-tätige gibt, die Beiträge in das System einzahlen,das heißt wenn die Rentner Kinder groß gezogenhaben. Ohne Kinder bricht das System zusammen.Deshalb heißt eine schlichte Bedingung: Renten-ansprüche können im Umlageverfahren nur ent-sprechend der Kinderzahl erworben werden. Kin-derlose Rentner können nur Renten beziehen, so-weit sie sich an den Kosten der Kindererziehungbeteiligen.

Problem Nr. 1: Weniger Kinder

Im bestehenden System werden Rentenansprüchejedoch vorrangig danach bemessen, ob und wieviel der betreffende Rentner während seines Er-werbslebens für die damalige Rentnergenerationeingezahlt hat. Die Beiträge sind jedoch nur die

Gegenleistung für die Erziehungs- und Ausbil-dungsleistung der Eltern. Für die eigene Rentewird damit noch nichts getan. Analog zum famili-enbezogenen Umlageverfahren kommen jeder Er-werbstätigengeneration weiterhin zwei Aufgabenzu: die Versorgung der Elterngeneration, von dersie großgezogen worden ist, durch Beiträge, unddie Erziehung der Kinder, von denen sie späterBeitragszahlungen für ihre eigene Versorgung imAlter erwarten.

Seit einigen Jahren steigen die Rentenansprüchezwar auch aufgrund von Kindererziehungszeiten,allerdings in recht geringem Umfang. Die auf-grund von Beiträgen erworbenen Rentenansprü-che dominieren nach wie vor. Der 2004 eingeführ-te Nachhaltigkeitsfaktor senkt zwar die Rentenan-sprüche in dem Maße, in dem die Anzahl der Er-werbstätigen in Relation zu den Rentnern zurück-geht, aber davon sind Rentner, die Kinder großge-zogen haben, in gleicher Weise betroffen wie kin-derlose Rentner. Nach den Funktionsbedingun-gen des Umlagesystems müssten Eltern mit zweiund mehr Kindern dagegen von einer Rentenkür-zung aufgrund einer geringen durchschnittlichenGeburtenrate verschont bleiben.

Das demographische Problem, das sich aus derniedrigen Geburtenrate ergibt, kann sachgerechtgelöst werden, indem die Rentenansprüche we-sentlich stärker an die Kindererziehung geknüpftund Personen ohne Kinder oder mit nur einemKind darauf verwiesen werden, kapitalgedeckteVorsorge zu treffen. Dabei handelt es sich keines-wegs um eine Begünstigung von Eltern oder gar„Bestrafung“ Kinderloser. Wer – freiwillig oder un-freiwillig – keine Ausgaben für die Erziehung eige-ner Kinder trägt, hat größere zeitliche und finan-

Zahlreiche Korrekturen und Anpassungen,aber keine systematische LösungDipl.-Volkswirtin Vera Bünnagel/Prof. Dr. Johann EekhoffOtto-Wolff-Institut für Wirtschaftsordnung, Köln/Wirtschaftspolitisches Seminar an der Universität zu Köln

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50 Jahre dynamische Rente

24 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Die vor 50 Jahren eingeführte umlagefinanziertedynamische Rente sollte eine Koppelung der Ren-tenhöhe an die Entwicklung der Löhne und Ge-hälter gewährleisten. Grundgedanke war, dassRentnerinnen und Rentner an der – erwarteten –positiven wirtschaftlichen Entwicklung teilhabensollten. Die Rentenanpassungsformel sah einejährliche Anpassung des Rentenwerts an die Lohn-und Gehaltsentwicklung vor, jedoch keinen demo-graphischen Faktor, der die Veränderungen derLebenserwartung oder der Geburtenrate berück-sichtigt hätte.

Durch die Rentenanpassungen ist der Rentenwertvon 1957 5,35 DM (2,74 Euro) bis Anfang 2007 auf26,13 Euro, das heißt um rund 854 Prozent gestie-

gen. Das entspricht einer durchschnittlichen jähr-lichen Erhöhung von rund 4,6 Prozent. Gleichzei-tig hat sich der Beitragssatz zur Rentenversiche-rung von 14 Prozent auf 19,9 Prozent erhöht. Imgesamten Zeitraum von 1957 bis heute stiegen diePreise für die Lebenshaltung um rund 200 Pro-zent und damit deutlich geringer als die Renten.Real haben sich die Renten also mehr als verdrei-facht.1 Allerdings ist seit 1995 in den alten Län-dern die Rentenwertentwicklung hinter der Preis-entwicklung zurückgeblieben, die Kaufkraft derRenten hat also in diesem Zeitraum abgenommen.

zielle Spielräume als Kindererziehende, kapitalge-deckt vorzusorgen.

Problem Nr. 2: Längere Lebenserwartung

Ein zweites Problem ergibt sich für die gesetzli-che Rentenversicherung aus der zunehmendenLebenserwartung, wenn die Regelaltersgrenzenicht darauf reagieren kann. Die Regelalters-grenze liegt seit Jahrzehnten bei 65 Jahren, ob-wohl die Lebenserwartung kräftig gestiegen ist.In den letzten 40 Jahren hat sich die Rentenbe-zugsdauer daher um gut sieben Jahre auf 17,2Jahre verlängert. Das entspricht einer Rentener-höhung um mehr als siebzig Prozent unabhängigvon anderen Einflussfaktoren.

Diese Automatik von längerer Lebensdauer undhöherer Rente ist eine der Ursachen für die Erhö-hung der Beitragssätze in der gesetzlichen Ren-tenversicherung. Verschärft wurde der Bedarf anBeiträgen durch die Frühverrentung und die ge-förderte Altersteilzeitarbeit, sodass das tatsächli-che Rentenzugangsalter zeitweise unter 60 Jahregesunken ist. Seitdem die Regelaltersgrenze für ei-nige Gruppen schrittweise der allgemeinen Gren-ze von 65 angenähert wird und die massive Früh-verrentung eingeschränkt wurde, ist das Renten-zugangsalter inzwischen wieder auf knapp 61 Jah-re gestiegen.

Nichts spricht dafür, hinzugewonnene Lebensjah-re nur zur Rentenbezugsdauer hinzuzurechnen.1Sollen die Beitragssätze nicht aufgrund zuneh-mender Lebenserwartung steigen, muss die Rela-tion von Rentenbezugsdauer zu Erwerbsphase et-wa gleich bleiben: Nimmt die Lebenserwartungum ein Jahr zu, kann die Rentenbezugsdauer umknapp vier Monate verlängert werden. Das bedeu-tet, dass die Erwerbsphase um gut acht Monateverlängert werden muss. Das Bundeskabinett hatam 14. März 2007 einem Gesetzentwurf zuge-stimmt, mit dem die Regelaltersgrenze von 65 auf67 Jahre angehoben werden soll. Damit wird dieEntwicklung der Vergangenheit nur zu einem ge-ringen Teil korrigiert. Außerdem verteilen sich diekleinen Anpassungsschritte über den Zeitraum biszum Jahre 2029. Bis dahin dürfte die Lebenser-wartung wieder um fast drei Jahre höher liegen.Damit deckt die geplante, an sich sinnvolle undnotwendige Anhebung der Regelaltersgrenze nurgerade den neu entstehenden Anpassungsbedarfab. Notwendig wäre eine systematische Berück-sichtigung der zunehmenden Lebenserwartung inder Rentenformel über die jetzt vorgesehene Kor-rektur hinaus. �

1 Auf das gelegentlich angeführte, theoretisch und empirisch je-doch widerlegte Argument einer Verringerung der Arbeitslosigkeitdurch ein niedrigeres Rentenzugangsalter kann an dieser Stellenicht ausführlich eingegangen werden.

Viele Detailregelungen sind unzureichend bedachtProf. Dr. Eckart BomsdorfSeminar für Wirtschafts- und Sozialstatistik der Universität zu Köln

1 An dieser Stelle wären bei einem Vergleich auch noch die Belas-tungen der Rentner durch die Beiträge zur Kranken- und Pflegever-sicherung etc. sowie die Änderungen bei der Steuerpflicht hinzu-zuziehen.

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Rentenversicherung

25Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Eine differenzierte Betrachtungist erforderlich

Die Regelungen in der gesetzlichen Rentenversi-cherung sind vor allem seit 1989 mehrfach geän-dert worden. Speziell die Rentenformel ist in derVergangenheit wiederholt in die Kritik geratenund modifiziert worden. Das hat dazu geführt,dass das sogenannte Rentenniveau gesunken ist,wobei mitunter nur Neurentner betroffen waren.Das heißt die Ansprüche der Neurentner erreich-ten nicht das Niveau früherer Rentnerjahrgänge,beispielsweise wegen einer geringeren Anrechnungvon Ausbildungszeiten. Die Rente derjenigen, diebereits in Rente waren, ging nicht zurück. Die Än-derungen wurden vor allem mit dem demographi-schen Wandel begründet. Durch stetig steigendeLebenserwartung und seit Jahrzehnten sinkendeGeburtenzahlen hat sich der Altersaufbau der Be-völkerung geändert – der Anteil der Rentner ander Bevölkerung hat zugenommen. Auch wennbei allen Anpassungen versucht worden ist, die ge-setzliche Rente als eine beitragsorientierte stabileAlterssicherung zu erhalten, wird die gesetzlicheRentenversicherung künftig im Durchschnitt we-niger als die Hälfte des bisherigen Einkommens si-chern. Diese Erkenntnis ist leider erst spät ver-mittelt worden. Zusätzliche betriebliche oder pri-vate kapitalgedeckte Altersvorsorge ist in jedemFall sinnvoll und heute notwendiger als in den ver-gangenen 50 Jahren.2

Drei Jahre zögerliche Reformpolitik

In den letzten drei Jahren waren vor allem folgen-de Änderungen im Rentensystem von Bedeutung:

� Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hatte imDezember 1997 die Einführung eines die Verän-derung der Lebenserwartung berücksichtigendenFaktors in die Rentenformel beschlossen. Diesersogenannte demographische Faktor wurde Ende1998 vor seiner erstmaligen Anwendung von derneuen SPD-Bündnis90/Die Grünen-Koalition aus-gesetzt und 2004 eine Änderung der Rentenan-passungsformel durch Einführung eines Nachhal-tigkeitsfaktors beschlossen. Dieser soll – verein-facht gesagt – die Veränderung des Verhältnissesvon Rentenempfängern zu Beitragszahlern be-rücksichtigen, er ist als eine wesentliche Maßnah-

me zur Dämpfung der Rentenzuwächse gedacht.Der Faktor bezieht sowohl die demographischeEntwicklung als auch die Entwicklung auf dem Ar-beitsmarkt ein. Das ist im Prinzip sinnvoll, an eini-gen Stellen jedoch problematisch.

So traute der Gesetzgeber seiner eigenen Renten-formel nicht. Er schränkte deren Wirkung in zwarverständlicher, aber methodisch nicht stimmigerWeise ein: Für den Fall, dass der Nachhaltigkeits-faktor und der Beitragssatzfaktor zu einer Renten-kürzung führen oder eine solche verstärken, sol-len diese Faktoren nicht oder nicht voll angewen-det werden. Das hat dazu geführt, dass der Nach-haltigkeitsfaktor bisher seine dämpfende Wirkungnur zum geringen Teil entfalten konnte. Dieseunterlassenen Dämpfungen der Rentenanpassungsollen gemäß RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzab 2011 nachgeholt werden.3 So sehr es zu begrü-ßen ist, dass unterlassene Dämpfungen einer Stei-gerung des Rentenwerts nicht unter den Tisch fal-len, so ist doch zu kritisieren, dass dieses Nachho-len erst 2011 beginnen und dann noch zusätzlichzeitlich gestreckt werden soll.

Zudem gibt es aktuell ein Problem dadurch, dassder Nachhaltigkeitsfaktor auch eine positive, dasheißt rentenwertsteigernde Wirkung entfaltenkann, wenn sich das zahlenmäßige Verhältnis vonRentnern zu Beitragszahlern verbessert. Dies istgegenwärtig der Fall, und es ist davon auszugehen,dass die jetzt diskutierte Rentenerhöhung zum1. Juli 2007 etwa zur Hälfte von dieser positivenWirkung des Nachhaltigkeitsfaktors getragen wird.Die rentenwertdämpfende Wirkung des Faktorskam bisher nicht voll zum Tragen; die rentenwert-steigernde Wirkung wird jetzt jedoch wirksam.Dies konterkariert die Zielsetzung dieses Faktors.Es ist widersinnig, dass rentenwertsteigernde Wir-kungen des genannten Faktors unmittelbar grei-fen, solange die Dämpfung noch nachgeholt wer-den muss. Hier wäre eine direkte Verrechnung dernachzuholenden Dämpfungen mit den Steigerun-gen notwendig.

� Die 2004 beschlossene und seit 2005 angewand-te stufenweise Einführung einer Vollbesteuerungder Renten geht einher mit einer höheren Frei-stellung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversi-cherung. Damit wird langfristig das Ziel einernachgelagerten Besteuerung verfolgt, das eine

2 Staatlich geförderte Altersvorsorge wie die Riesterrente ist dabeihilfreich, doch darf diese weder in ihrer Höhe überschätzt nochübersehen werden, dass die staatliche Förderung letztlich nur eineSteuerverschiebung darstellt.

3 Hier zeigen sich Schwachstellen. Sinnvoll wäre eine Änderungder Formel, sodass bei starker (schwacher) Steigerung der Brutto-lohn- und Gehaltsumme je beschäftigten Arbeitnehmer die Fakto-ren stärker (schwächer) wirken als nach der jetzt vorgesehenen For-mel.

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50 Jahre dynamische Rente

26 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Freistellung der Beiträge zur gesetzlichen Renten-versicherung und eine Verschiebung der Besteue-rung in die Auszahlungsphase der Renten vor-sieht. Mittelfristig gesehen wird es jedoch noch ei-nige Rentnerjahrgänge geben, die Teile der Renteversteuern müssen, obwohl die zugrunde liegen-den Beiträge zur Rentenversicherung nicht vollsteuerfrei gestellt waren. Dies ist nicht fair gegen-über den Betroffenen.

� Das wesentliche Element des RV-Altersgrenzen-anpassungsgesetzes von 2007 ist die stufenweiseHeraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahrebis zum Jahr 2029. Diese Maßnahme ist eine logi-sche Folgerung der steigenden Lebenserwartung,welche dazu führt, dass die durchschnittliche Ren-tenbezugszeit ebenfalls ständig steigt. Während sie1960 noch etwa zehn Jahre betrug, ist davon aus-zugehen, dass Personen, die heute in Rente ge-hen, eine durchschnittliche Rentenbezugszeit vonmindestens 20 Jahren haben. Das würde ohne Än-derungen bei weiterer Zunahme der Lebenser-wartung und niedrigen Geburtenzahlen dazu füh-ren, dass in 25 Jahren ein Erwerbstätiger einenRentner finanzieren muss. Diese Belastung istnicht tragbar.

Die längere Lebenserwartung muss sich auch in ei-ner höheren Lebensarbeitszeit widerspiegeln. Eswäre sogar denkbar, die Regelaltersgrenze direktan die Lebenserwartung zu koppeln.4 SteigendeLebenserwartung darf nicht dazu führen, dass le-diglich die Zeit des Ruhestandes länger wird, wäh-rend die Lebensarbeitszeit, in der die Beitragszah-lungen geleistet werden, stagniert oder sogar zu-rückgeht. Das kann kein Alterssicherungssystemohne Änderungen verkraften – auch kein kapital-gedecktes.

Die Erhöhung des Renteneintrittsaltersist notwendig, aber nicht hinreichend

Die immer wieder kolportierte Meinung, dass dieErhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalterslediglich eine verkappte Rentenkürzung darstellt,ist falsch. Sie stellt in einer vereinfachenden Be-trachtungsweise isoliert das Renteneintrittsalter inden Vordergrund und lässt andere Komponentenunberücksichtigt. So ist beispielsweise davon aus-zugehen, dass sich die Rentenbezugszeit 2029 –trotz höherer Regelaltersgrenze – in ähnlicher

Höhe wie heute bewegt, weil auch die Lebenser-wartung bis dahin steigt. Die aus der Erhöhungdes gesetzlichen Renteneintrittsalters resultieren-de Erhöhung des faktischen Renteneintrittsaltersführt dazu, dass die Anzahl der Rentner langsa-mer als ohne diese Maßnahme steigt. Das bedeu-tet, dass der Nachhaltigkeitsfaktor eine deutlichgeringere dämpfende Wirkung auf die Rentenzu-wächse hat. Eine Studie hat gezeigt, dass eine Er-höhung der Regelaltersgrenze bei einem tatsäch-lichen Renteneintrittsalter von 63 bis 65 Jahrenden negativen demographischen Effekt des Nach-haltigkeitsfaktors gegenüber dem Status quo deut-lich verringern wird – und zwar im Extremfall ummehr als die Hälfte.5 Das heißt, durch die Rentemit 67 könnte die monatliche Rente sogar höherausfallen.

Die jetzigen Rentner und rentennahen Jahrgänge,deren Lobbyisten heute gegen die Rente mit 67wettern, sind von der Erhöhung der Regelalters-grenze nicht betroffen. Die Änderungen sind fürdie jüngeren Jahrgänge relevant, denen dies zuzu-muten ist und die sich noch auf Änderungen ein-stellen können. Die stufenweise Änderung desRentenalters wird zudem geburtsjahrgangsspezi-fisch wirken, sie wäre damit ein echter Generatio-nenfaktor in der Rentenberechnung.

Das Argument, dass die Erhöhung des gesetz-lichen Renteneintrittsalters den Arbeitsmarkt zu-sätzlich belasten würde, wäre nicht von der Handzu weisen, wenn dieses bereits kurzfristig auf 67Jahre steigen würde. Längerfristig greift dieses Ar-gument allerdings zu kurz, da aufgrund des demo-graphischen Wandels die Anzahl der Personen imerwerbsfähigen Alter und der Anteil dieser Perso-nen an der Gesamtbevölkerung deutlich zurück-gehen werden.

Würde die Regelaltersgrenze bei 65 Jahren belas-sen, blieben letztlich nur ein wiederholtes Ausset-zen jeglicher Rentenanpassung beziehungsweisesogar eine Kürzung der Renten oder eine deutli-che Erhöhung des Beitragssatzes in der Renten-versicherung. Dies folgt nahezu unmittelbar ausdem Prinzip des Umlageverfahrens. Wer aller-dings glaubt, dass mit der Einführung der Renteab 67 alle Probleme der gesetzlichen Rentenversi-cherung auf Dauer gelöst wären, der irrt.6 �

4 Vgl. Eckart Bomsdorf, Ansätze zur formelgebundenen Anpassungder Regelaltersgrenze in der GRV, in: Sozialer Fortschritt 51 (2002),Seiten 259–263.

5 Vgl. Eckart Bomsdorf/Bernhard Babel, Ist die Erhöhung des ge-setzlichen Rentenzugangsalters nur eine Rentenkürzung?, in: Wirt-schaftsdienst 86 (2006), Seiten 479–484.6 Im Übrigen reduziert die äußerst umstrittene Einführung einerabschlagsfreien Rente nach 45 Jahren Wartezeit den durch dieRente mit 67 erzielbaren Einspareffekt.

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27Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Trotz ihrer geringen fiskalischen Bedeutung ist dieErbschaftsteuer in modernen Gesellschaften ver-mutlich die politisch am stärksten umkämpfteSteuer. Bereits Andeutungen von Politikern, sie zuerhöhen, führen zu heftigen Reaktionen in der öf-fentlichen Diskussion. Sofort ist von „Neidsteuer“,Schädigung des wirtschaftlichen Standorts durchdrohende Kapitalabwanderung, Gefährdung desMittelstandes sowie Doppelbesteuerung die Rede.Befürworter der Erbschaftsteuer verweisen dage-gen auf soziale Gerechtigkeit, drohende Vermö-genskonzentration und Verletzung von Chancen-gleichheit.

Die Besonderheit geerbten Vermögens

Eine mögliche Erklärung für die heftige Diskus-sion um die Erbschaftsbesteuerung könnte lauten:Die Besteuerung von Erbschaften hat in einer aufdem Prinzip des Privateigentums beruhendenWirtschaftsordnung gravierende ökonomischeFolgen. Der Widerstand gegen die Erbschaftsteuerdient also dem Schutz des Wirtschaftssystems. Willman die Funktionsweise der Marktwirtschaft nichtnachhaltig stören, muss das Privateigentum ge-schützt werden, auch indem die Weitergabe desKapitalbesitzes an die Kinder und Enkel gewähr-leistet wird.1

Würden Vermögenswerte ohne Unterscheidungnach Art des Vermögens besteuert und wären dieerhobenen Steuern sehr hoch, wären solche Be-fürchtungen gerechtfertigt. Bei mäßiger Besteue-rung und vernünftiger Gestaltung der Steuer – dieinsbesondere die Weiterführung von Unterneh-men nicht gefährdet – scheinen die Sorgen jedochweit übertrieben. Jedenfalls lässt sich nicht ausma-chen, weshalb gerade die Erbschaftsteuer für dieWirtschaft besonders schädlich sein soll.

Der große Widerstand gegen die Erbschaftsteuerkönnte aber auch politisch erklärt werden: Da Ver-mögen und folglich auch Erbschaften ungleichverteilt sind, trifft die Erbschaftsteuer nur einekleine Gruppe. Aber diese Empfänger bedeuten-der Erbschaften sind als wirtschaftlich mächtigeElite auch politisch besonders durchsetzungsfähig.Diese Erklärung scheint jedoch ebenfalls unzurei-chend zu sein. Erstens gibt es auch andere Steuern– etwa die Einkommensteuer –, die wesentlich voneiner Minderheit gut verdienender Steuerzahlerentrichtet wird.2 Zweitens ist erklärungsbedürftig,warum sich Vermögensbesitzer gegen eine Steuerwehren, die sie selbst gar nicht betrifft. Undschließlich gibt es – drittens – Besitzer großer Ver-mögen, die sich für die Erbschaftsbesteuerung ein-setzen, und andererseits viele Menschen, die nievon der Besteuerung betroffen sein werden, sichaber gegen die Erbschaftsteuer aussprechen.

Um zu verstehen, warum die Erbschaftsteuer soheftig diskutiert wird, müssen demnach weitereÜberlegungen hinzugezogen werden. Ganz wich-tig ist dabei die emotionale Aufladung des Um-gangs mit vererbtem Eigentum, die aus der Ver-bindung der Vermögensübertragung mit dem Toddes Eigentümers resultiert. Wie beim Umgang mitdem Toten selbst, sind bei der Aneignung des Ver-mögens durch die Lebenden Wertvorstellungendurch Befolgung von Ritualen und anerkannterRegeln zu beachten. Die Nicht-Befolgung führt zusozialer Empörung. Auf individueller Ebene wirdvon den Erben gefordert, nicht als gierig zu er-scheinen und das geerbte Eigentum verantwort-lich zu verwenden. Der Erblasser ist moralisch auf-gefordert, das Eigentum in einer Weise weiterzu-

Der Diskurs um die ErbschaftsteuerProf. Dr. Jens BeckertProfessor für Soziologie und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Köln

In Deutschland beruht ungefähr die Hälfte des Privatvermögens auf Erbschaften. Viele politische Erörterungen kreisen

allein um den gewaltigen Umfang der jährlich vererbten Vermögensmasse. Dabei sind mit den Fragen des Erbrechts und

der Erbschaftsteuer zugleich sozialethische Grundfragen angesprochen.

1 Vgl. Adam Smith, The Wealth of Nations, University of ChicagoPress, Chicago 1976 [1776].

2 Das oberste Einkommensquintil bringt ungefähr 70 Prozent derEinkommensteuerschuld auf. Siehe Sachverständigenrat zur Be-gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, Staatsfinanzen kon-solidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04,Seite 467. Bei der Erbschaftsteuer ist dieser Anteil allerdings nochwesentlich kleiner, was sich auf die stärkere Konzentration von Ver-mögen im Vergleich zu Einkommen zurückführen lässt.

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Sorgsamer Umgang mit Vermögen und Einkommen

28 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

geben, die gesellschaftlich legitimierten Wertvor-stellungen entspricht. Auf gesellschaftlicher Ebe-ne kommt es auf die Übereinstimmung recht-licher Bestimmungen mit diesen Wertvorstellun-gen an. Doch zugleich sind die grundlegendenWerte der modernen Gesellschaft, auf die sich dieRegeln des Erb- und des Erbschaftsteuerrechts be-ziehen können, vielschichtig und teilweise wider-sprüchlich. Die starke emotionale Aufladung, ver-bunden mit dieser Widersprüchlichkeit, trägt zurheftigen Umkämpftheit der Vermögensvererbungbei und verhindert zugleich einen sachlichen ge-sellschaftspolitischen Diskurs. Genau dieser müss-te aber viel stärker geführt werden.

Gilt das Eigentumsrechtlebenslang oder länger?

Bei den gesellschaftspolitischen Auseinanderset-zungen um das Erbrecht und die Erbschaftsbe-steuerung geht es um zwei Fragestellungen: Werdarf über das zu vererbende Eigentum verfügen?Und wem kommt das Recht zu, das zu vererbendeEigentum zu erlangen?

Bei der ersten Fragestellung geht es um die Reich-weite individueller Eigentumsrechte. Die eine Sei-te vertritt die Position, dass das Recht des Erblas-sers, auch post mortem über den Verbleib seinesEigentums zu verfügen, integraler Bestandteil derFreiheitsrechte des Eigentümers sei. Die nachhal-tige Beschränkung der Eigentumsübertragungdurch Erbschaftsbesteuerung käme einer Be-schneidung des Eigentumsrechts gleich, das gewis-sermaßen auf lebenslange Nießbrauchrechte re-duziert würde. Das Grundgesetz folgt prinzipielldieser Auffassung, indem es in Artikel 14 das Erb-recht in Zusammenhang mit dem Recht auf Pri-vateigentum schützt. Auf der anderen Seite stehteine Auffassung von Privateigentum, der zufolgeEigentumsrechte an die Person des Eigentümersgebunden sind und mit dessen Tod enden.3

Auf breitere Resonanz im juristischen Diskurs des18. und 19. Jahrhunderts stieß jedoch eine ambi-valentere Haltung. Sowohl im angelsächsischenGewohnheitsrecht als auch im kontinentalen Zivil-recht setzte sich die Auffassung durch, das Erb-recht sei kein Naturrecht, sondern ein positivesRecht, das durch politische Entscheidung entsteheund vom Gesetzgeber jederzeit widerrufen werden

könne. Die Regulierung privater Erbrechte wirddamit der Souveränität des Gesetzgebers unter-stellt. Dies ermöglicht die legitime Besteuerungvon Erbschaften, ohne dass die Steuer mit dem in-dividuellen Eigentumsrecht in Konflikt gerät.

Gegensätzliche, aber jeweils bedenkenswerte Positionen

Die zweite Fragestellung bezieht sich auf die Rech-te der Familie und der Gesellschaft an Teilen deshinterlassenen Vermögens. Bei der Antwort aufdie Frage, wie Erbschaften verteilt werden sollen,stoßen in modernen Gesellschaften vier Wertprin-zipien aufeinander, die zu unterschiedlichenSchlussfolgerungen für die Besteuerung von Erb-schaften führen können:

� Das Familienprinzip besagt, dass das Eigentumdes Erblassers kein individuelles Eigentum ist,sondern Eigentum der Familie als eine den Erb-lasser überdauernde Rechtseinheit. Daraus leitetsich ein Anrecht der Familie auf Übertragung desVermögens an die Familienangehörigen her.4 Vordem Hintergrund dieses, insbesondere inDeutschland bedeutenden argumentativen Mus-ters, sehen Gegner der Besteuerung von Erb-schaften in der Erbschaftsteuer einen Übergriffdes Staates in die zu schützende Sphäre der Fami-lie. Allerdings sind aus der Problematisierung desVerhältnisses zwischen Familie, Staat und Indivi-duum gerade im liberalen Denken auch Argu-mente für die Besteuerung von Erbschaften ent-wickelt worden. Die Erberwartung beschränke dieNachkommen in ihrer Freiheit, weil mit der Dro-hung einer Enterbung Kontrolle über die Le-bensentscheidungen der Kinder ausgeübt werde.Erbschaften könnten außerdem den Erwerbsfleißder Nachfahren beeinträchtigen. Schließlich wür-den Erbschaften zu Konflikten innerhalb der Fa-milie führen.5

� Das Gemeinschaftsprinzip verbindet das Miss-trauen gegen die Familie als vornehmlichem Er-ben mit dem Misstrauen gegenüber dem Staat alsInstanz der Umverteilung. Die Überzeugung einer(zum Teil auch religiös begründeten) Gemein-schaftsverpflichtung des Eigentums steht imVordergrund. Der Erblasser muss dafür sorgen,

3 Vgl. Émile Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, Suhr-kamp Verlag, Frankfurt am Main 1991 [1950], Seite 299.

4 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophiedes Rechts, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986 [1821],§ 178.5 Vgl. John Stuart Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie, Band1 und Band 2, Gustav Fischer Verlag, Jena 1921 [1857].

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Erbschaftsteuer

29Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

dass das Vermögen nach seinem Tod eine Verwen-dung findet, die dem Gemeinwohl förderlich ist.Dies geschieht in der Regel durch die Einrichtunggemeinnütziger Stiftungen, denen das Vermögenübertragen wird. Die Vererbung innerhalb der Fa-milie wird abgelehnt, weil die Kinder das Geld nurfür ihre privaten Zwecke verwenden oder ver-schwenden könnten. Die Ablehnung staatlicherUmverteilung durch Besteuerung begründet sichaus der Vorstellung eines überlegenen Wissens desErblassers, wie das Vermögen am besten für dasGemeinwohl eingesetzt werden kann.

� Nach dem Gerechtigkeitsprinzip ist die Besteu-erung von Erbschaften aufgrund der erhöhten fi-nanziellen Leistungsfähigkeit der Erben gerecht-fertigt. Die „starken Schultern“, so die Begrün-dung, könnten die Last der Steuer leicht tragenund durch ihre Abgabe zur Verbesserung der Le-bensbedingungen der am Markt nicht oder nurwenig erfolgreichen Gesellschaftsmitglieder unddamit zur gerechten Reichtumsverteilung in derGesellschaft insgesamt beitragen. Das Aufkommenaus der Erbschaftsteuer soll gezielt zur Finanzie-rung sozialpolitischer Maßnahmen verwendet wer-den und dadurch die ungleichen Resultate desMarktes korrigieren.

� Das Gleichheitsprinzip ist hingegen nicht resul-tatorientiert, sondern setzt auf gleiche Ausgangs-bedingungen der Gesellschaftsmitglieder. Um die-ses Ziel zu erreichen, wird die staatliche Umvertei-lung von Erbschaften durch Besteuerung verlangt.So soll zum einen der dynastischen Konzentrationvon Vermögen entgegengewirkt werden. Zu starkeVermögenskonzentration führe zur Bildung vonMachtzentren in der Gesellschaft, die sich der de-mokratischen Kontrolle entziehen können. Zumanderen spielt das Gleichheitsprinzip bei der Rea-lisierung von Chancengleichheit eine bedeutendeRolle. Durch die erbschaftsteuerliche Umvertei-lung des in der Gesellschaft vorhandenen Privatei-gentums erlangen die Gesellschaftsmitglieder glei-che materielle Startchancen. Dies wiederum istVoraussetzung zur Realisierung des Leistungsprin-zips als der zentralen normativen Grundlage zurRechtfertigung sozialer Ungleichheit in der bür-gerlichen Gesellschaft.6

Liberale Argumente gegen Vermögens-übertragung durch Erbschaften

Dass die Vererbung von Privatvermögen demSelbstverständnis der Leistungsgesellschaft wider-spricht, war besonders im 19. Jahrhundert und amAnfang des 20. Jahrhunderts ein viel diskutiertesProblem. Die leistungsfreie Erlangung von Vermö-gen erschien vielen Liberalen als Verletzung vonLeistungsprinzip und Chancengleichheit, in derdie Feudalgesellschaft fortlebte.

Zum einflussreichsten Gegner der Vermögensver-erbung wurde der liberale Vordenker John StuartMill. Der britische Philosoph schlug vor, die Ver-mögenssumme, die eine Person erben kann, aufeinen Betrag zu begrenzen, der einen bescheide-nen Lebensstandard ermöglicht. Mill begründetediese Reform mit Verweis auf das Leistungsprin-zip. Die „Zufälligkeiten der Geburt“ hatten für ihnkeinen Platz in der liberalen Gesellschaftsord-nung. Soziale Ungleichheit solle strikt die unter-schiedlichen Leistungsbeiträge der Individuenwiderspiegeln. Die Auflösung des traditionellenFamilienverbandes lasse individualisierte Famili-enstrukturen entstehen, weshalb die dynastischeWeitergabe des Vermögens innerhalb der Familiekeine Berechtigung mehr habe. Die Eltern hättengegenüber ihren Kindern lediglich Fürsorge-pflichten, die im Fall des Todes aus dem Vermö-gen befriedigt werden müssen. Ansprüche auf Ver-mögensübertragungen, mit denen die Kinder vonder Anstrengung der Arbeit befreit würden, gäbees nicht.

In seiner Kritik am Erbrecht war sich Mill mit et-lichen seiner liberalen Zeitgenossen einig. Diemühelose Erlangung von Vermögen durch Erb-schaft stand im Widerspruch zu den Prinzipiender liberalen Gesellschaftsordnung und trug zu-dem zu den ausufernden sozialen Konflikten bei.So sah auch der französische Soziologe Émile Durk-heim Erbschaften als Ursache von Klassenkonflik-ten und forderte die Beschränkung des Erbrechts.Am Ende des 19. Jahrhunderts gesellte sich mitAndrew Carnegie einer der reichsten Männer derWelt zu den Kritikern des Erbrechts. Anstatt sei-nen Reichtum innerhalb der Familie zu vererben,übertrug er es an Stiftungen. Den Vermögensbe-sitzer sah Carnegie lediglich als Treuhänder desReichtums, der verpflichtet sei, seinen Besitz fürdie vorteilhafteste Entwicklung der Gemeinschafteinzusetzen.

6 In der deutschen Debatte hat dieses Argument insbesonderenach dem Zweiten Weltkrieg bei den Ordoliberalen Einfluss gehabt.Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise unddes Zusammenbruchs der Weimarer Republik sahen Walter Euckenund Alexander Rüstow die vordringliche ordnungspolitische Aufgabedes Staates in der Sicherstellung frei zugänglicher Märkte – ein Ziel,das auch durch die einschneidende Begrenzung der Vermögens-vererbung erreicht werden sollte; vgl. Alexander Rüstow, ZwischenKapitalismus und Kommunismus, Küpper Verlag, Godesberg 1949.

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Sorgsamer Umgang mit Vermögen und Einkommen

30 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Liberale Argumente zugunstender Vererbung von Vermögen

Die Befürworter von Erbschaften stützten ihre Ar-gumente ebenfalls auf das Leistungsprinzip. JohnLocke etwa sah die Vermögensvererbung als selbst-verständlichen Bestandteil des Eigentumsrechts.Erbschaften zu verbieten, würde das Recht auf in-dividuelle Verfügung und damit die Freiheit desErblassers einschränken. Gerade die Verfügungüber das selbst erwirtschafte Eigentum sei Teil desLeistungsprinzips. Adam Smith beklagte die negati-ven Folgen der Erbschaftsbesteuerung: Durch ei-ne Reduzierung des Kapitalstocks würden Investi-tionen vermindert und die wirtschaftliche Ent-wicklung behindert.

In der Aufhebung des Privaterbrechts sah man dieGefahr, das Erwerbsverhalten in wirtschaftlichproblematischer Weise zu beeinflussen: Ein Motivfür Erwerbsfleiß – also: für Leistungsorientierung– liege im Wissen um die Möglichkeit der dynasti-schen Weitergabe des Vermögens an die eigenenKinder oder auch an eine Stiftung. Schon JosephSchumpeter vermutete, dass kapitalistische Unter-nehmer weniger aus Geldgewinnstreben handel-ten als vielmehr in der Absicht, eine Dynastie zubegründen.

Vermögensvererbung wurde zudem als Institutionzur Sicherung sozialstruktureller Kontinuität undfamiliärer Versorgung gesehen. Auch in einer sichprinzipiell am Leistungsprinzip orientierendenGesellschaft ist dies zumindest teilweise er-wünscht. Dies gilt für die Beförderung solidari-scher Beziehungen zwischen den Generationendurch Erberwartungen und Schenkungen. Es giltauch für die symbolische Repräsentation von Her-kunft und Fortbestand durch Erbschaften, die fürdie persönliche Identitätsbildung bedeutend seinkann. Durkheim etwa nahm in einer späterenSchrift seine Forderung nach Aufhebung des Erb-rechts zurück, nachdem er die Rolle von Erbschaf-ten für den Zusammenhalt der Familie erkannthatte.

Heute erlangen Erbschaften auch durch den Ab-bau von Leistungen aus den Sozialversicherungenwieder eine größere Rolle bei der sozialen Siche-rung, insbesondere der Altersversorgung. Erb-schaften übernehmen zumindest für die Mittel-schicht eine zusätzliche Sicherungsfunktion, diezur sozialen Akzeptanz des Leistungsprinzips bei-trägt, indem sie die Folgen des Misserfolgs amMarkt und unzureichender Altersbezüge abfedernkönnen. Diese Aspekte des Erbens lassen es als

problematisch erscheinen, die Vermögensverer-bung allein unter dem Gesichtspunkt der mühelo-sen Bereicherung zu verstehen, denn die Institu-tion erfüllt eine Vielzahl sozialer Funktionen.

Empirische Befunde und nationale Eigenheiten

Insbesondere in den USA besteht eine lange Tra-dition der Kritik der Vermögensvererbung. Erb-schaften erscheinen als „unamerikanisch“, weil siedas Prinzip der Chancengleichheit verletzen undfeudalistische Privilegien aufrechterhalten. NebenFragen der Chancengleichheit stehen insbesonde-re die politischen Auswirkungen der Vermögens-vererbung im Mittelpunkt von Erbrechtsdiskur-sen. Schon Thomas Jefferson befand, dass Erbschaf-ten die Gefahr dynastischer Vermögenskonzentra-tion bergen und deshalb für die Demokratie ge-fährlich seien. Dieses Argumentationsmuster lässtsich bis heute finden: Der Multimilliardär WarrenBuffet wandte sich vor sechs Jahren zusammen mitanderen Milliardären gegen die Abschaffung derErbschaftsteuer, indem er auf den Zusammenhangzwischen Erbschaftsbesteuerung und „amerikani-schen“ Wertvorstellungen verwies. Ohne Erb-schaftsteuern würde sich eine Vermögensaristo-kratie bilden, und Ressourcen würden nicht mehrauf der Basis von Verdienst verteilt.

Auf dem Gemeinschaftsprinzip beruhende erb-schaftskritische Argumente in den USA nehmendie Problematik der Chancengleichheit auf, er-gänzen sie jedoch um staatskritische Sichtweisen.Statt dem Staat die zentrale Rolle als Umvertei-lungsagentur zuzuweisen, wird die Erbschaftsbe-steuerung als Mittel gedacht, um Anreize zur Er-richtung von Stiftungen zu schaffen. Ist die Verer-bung innerhalb der Familie mit einer hohen Erb-schaftsteuer belegt, die Übertragung des Vermö-gens an eine gemeinnützige Stiftung jedoch steu-erfrei, werden starke materielle Motive für die Ein-richtung von Stiftungen geschaffen. Die Grün-dung von gemeinnützigen Stiftungen ist insoferngemeinschaftsorientiert, als die VermögenserträgeZwecken zugute kommen, mit denen das Gemein-wohl gefördert wird. Zugleich ist die Errichtungvon Stiftungen individualistisch, da Stiftungen derWeiterführung des Namens des Stifters über des-sen Tod hinaus dienen und die Definition des Ge-meinwohls ausschließlich in der Entscheidungs-macht des Stifters liegt.

Die Gegner der Erbschaftsbesteuerung in denUSA argumentieren vornehmlich mit einer Inter-

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Erbschaftsteuer

31Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

pretation des Eigentumsrechts, das auch das un-eingeschränkte Recht zur Verfügung über das Ei-gentum nach dem Tod des Eigentümers beinhal-tet. Verbunden wird die Argumentation mit derBefürchtung negativer Auswirkungen der Erb-schaftsbesteuerung auf die wirtschaftliche Eigen-initiative. Die Erbschaftsteuer demotiviere wirt-schaftliche Ambitionen und gefährde gerade klei-ne Unternehmen, deren Existenz das Rückgratder wirtschaftlichen Grundlagen demokratischerFreiheitsrechte seien.

Im Gegensatz zu Amerika erschienen in Deutsch-land traditionell nicht so sehr Erbschaften als sol-che problematisch, sondern die durch den Marktgeschaffene soziale Ungleichheit. Die Besteue-rung von Erbschaften wurde daher weniger mitdem Prinzip der Chancengleichheit rechtfertigt,als vielmehr mit dem legitimen Anspruch der amMarkt erfolglosen Gesellschaftsmitglieder auf diesolidarische Unterstützung auch durch die Erben.

Erst in den letzten Jahren lässt sich eine Verände-rung erkennen. Der Hintergrund hierfür ist, dass

die Politik der sozialstaatlichen Umverteilung wäh-rend der letzten 30 Jahre immer stärker in die De-fensive geraten ist. Mit der stärkeren Orientierungam Marktprinzip rücken aber auch die Bedingun-gen stärker in den Vordergrund, unter denenMarkthandeln stattfindet. Wenn das Marktprinzipdominiert, dann, so wird argumentiert, muss dasein Markt sein, der allen Teilnehmern faire Chan-cen gibt, nämlich die Möglichkeit, tatsächlich Re-sultate zu erzielen, die ihren individuellen Fähig-keiten und Leistungen entsprechen.

Mit dem Zurückdrängen des ergebnisorientiertenGerechtigkeitsprinzips rückt die Frage der Chan-cengleichheit stärker in den Vordergrund – unddamit auch die Frage der Erbschaftsbesteuerung.Das wird besonders deutlich daran, dass die For-derung nach Erhöhung der Erbschaftsteuer häu-fig mit dem Vorschlag verbunden wird, die einge-nommenen Gelder für Bildungsausgaben aufzu-wenden. Bildung gilt als eine der zentralen Vo-raussetzungen für Markterfolg. Die Ausweitungvon Bildungschancen ist direkt mit Chancen-gleichheit verbunden. �

Das Bundesverfassungsgericht befasste sich jüngst mit der Erbschaftsteuer. Streitpunkt war die unterschiedli-che Bewertung verschiedener Vermögensarten. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschied, dassdiese Praxis nicht mit dem grundgesetzlich verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar sei und des-wegen neu geregelt werden müsse:

„Die durch § 19 Abs. 1 ErbStG angeordnete Erhebung der Erbschaftsteuer mit einheitlichen Steuersätzen aufden Wert des Erwerbs ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Denn sie knüpft an Werte an, deren Ermittlungbei wesentlichen Gruppen von Vermögensgegenständen (Betriebsvermögen, Grundvermögen, Anteilen an Ka-pitalgesellschaften und land- und forstwirtschaftlichen Betrieben) den Anforderungen des Gleichheitssatzesnicht genügt. (...)

(...) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu treffen. Da-bei ist er verfassungsrechtlich gehalten, sich auf der Bewertungsebene einheitlich am gemeinen Wert als demmaßgeblichen Bewertungsziel zu orientieren. Dem Gesetzgeber ist es unbenommen, bei Vorliegen ausreichen-der Gemeinwohlgründe in einem zweiten Schritt der Bemessungsgrundlagenermittlung mittels Verschonungs-regelungen den Erwerb bestimmter Vermögensgegenstände zu begünstigen. Die Begünstigungswirkungen müs-sen ausreichend zielgenau und innerhalb des Begünstigtenkreises möglichst gleichmäßig eintreten. Schließlichkann der Gesetzgeber auch mittels Differenzierungen beim Steuersatz eine steuerliche Lenkung verfolgen.“

Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 11/2007 vom 31. Januar 2007, Zum Beschluss vom 7. November 2006 – 1 BvL 10/02 –

(www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg07-011).

Erbschaftsteuerrecht in seiner derzeitigen Ausgestaltung verfassungswidrig

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Sorgsamer Umgang mit Vermögen und Einkommen

32 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Als Mitglieder der globalen Wissens- und Informa-tionsgesellschaft sehen sich die Konsumenten inein Geflecht von Ursachen und Wirkungen verwi-ckelt, in dem sich jeder Einzelne als Mit-Ursacheund Teil der Wirkung selbst erkennen kann. Den-noch scheinen die Konsumenten häufig zu verges-sen, dass ihre Nachfrage nach Waren die Umstän-de, unter denen diese Waren hergestellt werden,beeinflusst. Warum nehmen die Verbraucher Ver-stöße gegen ihr eigenes Wertesystem in Kauf? AusBequemlichkeit oder Gewohnheit, oder doch ausUnwissenheit?

Der Markt brauchtverantwortungsbewusste Verbraucher

Ähnlich, wie vor etwa hundertfünfzig Jahren ausUntertanen Bürger wurden, müssten heute aus ge-fühls- oder gewohnheitsgeleiteten Käufern aufge-klärte und emanzipierte Konsumenten werden,die die Verantwortung für ihren Konsum anerken-nen. Diese „politischen Konsumenten“ gibt es,aber sie schöpfen ihr politisches Potenzial nichtaus. Viele Konsumenten halten sich für ohnmäch-tig, doch das sind sie nur, solange sie selbst an die-se Ohnmacht glauben und deshalb nicht konse-quent nach ihren Wertvorstellungen handeln. DerWirtschaftswissenschaftler Birger Priddat sagt, dassindividuelle moralische Bewertungen ständig imKonsum mitliefen, doch weil sie so verschiedenseien, würden sie nicht bemerkt. „Sie bleiben vorallem deshalb statistisch unauffällig, weil statistischkaum danach gefragt wird.“1

Verstünde die Mehrheit der Konsumenten dasEinkaufen wie das Wählen, wäre das anders. Bei ei-ner politischen Wahl weiß jeder, dass die eigeneStimme nicht wahlentscheidend ist, und glaubttrotzdem an ihr Gewicht. Würde man seine Ent-scheidungen beim Einkaufen ähnlich ernst neh-men, könnte man nicht länger Waren kaufen, de-ren Herstellung man nicht billigt.

Der Soziologe Ulrich Beck hat den politischen Kon-sumenten als Macht bezeichnet, die bislang kaumentfaltet sei. Er glaubt, der „schlafende Riese Kon-sument“ könne – richtig organisiert – den Kaufaktin eine Abstimmung über die weltpolitische Rolleder Konzerne verwandeln.2 Bislang drohten dieWeltkonzerne mit dem Abzug von Arbeitsplätzenund mit Nicht-Investieren. Die Konsumentenmüssten ihrerseits mit Nicht-Kaufen drohen, undschon bekämen es die Unternehmen mit derAngst zu tun. Denn sie seien unkalkulierbaren Ri-siken ausgesetzt und wüssten nicht, wie ihre Kun-den reagieren werden. Ein Beispiel seien Fluor-chlorkohlenwasserstoffe (FCKW), die jahrzehnte-lang akzeptiert waren, weil keiner daran gedachthat, dass sie als Nebenfolge die Ozonschicht ge-fährden und damit den Klimawandel beschleuni-gen. „Selbst die allmächtigen Weltkonzerne kön-nen ihre Konsumenten nicht entlassen“, schreibtBeck.3 In anderen Ländern zu produzieren, sei ein

Die Entdeckung der KonsumentensouveränitätDr. Tanja Busse Moderatorin und Autorin für den WDR und Die Zeit

Die Verbraucher in den Industrieländern wissen, dass es bei der Herstellung von Konsumgütern nicht immer rechtens und

gelegentlich auch moralisch sorglos zugeht. Oft werden soziale und ökologische Standards leichtfertig missachtet. Die

Zusammenhänge sind den meisten bekannt: Benzinverbrauch und Weltklima, billige Textilien und Ausbeutung von Men-

schen in Billiglohnländern, Fleischkonsum und Abholzung von Regenwaldflächen für Sojafelder oder Rinderfarmen. Doch

ihr Verhalten beeinflusst das kaum.

1 Birger Priddat, Moral als Kontext von Gütern. Choice and Se-mantics, in: derselbe/Peter Koslowski (Hrsg.), Ethik des Konsums,München 2006, Seite 12.

2 Vgl. Ulrich Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter,Seiten 28 und 131.3 Ebenda, Seite 28.

Literaturhinweis

Tanja Busse, Die Einkaufsrevolution. Konsu-menten entdecken ihre Macht, Blessing Verlag,München 2006.

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Macht der Verbraucher

33Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

untaugliches Erpressungsmittel. Konsum kennekeine Grenzen – weder die der Herstellung nochdie des Verbrauchs.

„Politisches Einkaufen“ ist einfacher geworden

Politischer Konsum bedeutet Ausweitung der Po-litik auf den Markt in einer Zeit der Ausweitungder Märkte. Er bedeutet individualisiertes politi-sches Engagement in einer individualisierten Ge-sellschaft, das in kollektiven Aktionen mündenkann. Politischer Konsum ist heute leichter als je-mals zuvor, weil man sich ohne großen AufwandInformationen beschaffen kann. Der Protest ge-gen den Coltan-Abbau im Kongo4 hat gezeigt,dass die Konzerne selbst im tiefsten afrikanischenBusch auf Dauer nicht unsichtbar bleiben. Doku-mentarfilme, die tierquälerische industrielle Nah-rungsmittelproduktionen zeigen, finden ein gro-ßes Publikum. Auch das große Kino thematisiertMenschenversuche der Pharmaindustrie in Afrikaoder den Handel mit Blutdiamanten, der denBürgerkrieg in Sierra Leone finanziert und ver-längert hat.

Vieles, was man wissen muss, um verantwortungs-bewusst einzukaufen, ist einfach zugänglich. Infor-mationen stehen im Internet: auf den Seiten vonUmwelt- und Verbraucherschützern, kritischenAktionären und Gewerkschaften, in Büchern wiedem „Schwarzbuch Markenfirmen“ oder anderenkritischen Konsumführern sowie in Zeitschriftenwie Ökotest. Was noch fehlt, ist eine Datenbank,die alle Informationen bündelt und sie per Maus-klick oder besser noch beim Einkaufen per SMSabrufbar macht: Wer hat für wie viel Lohn dieseHose zusammengenäht? Wie viele Pestizide ste-cken in der Baumwolle? Kommt das Coltan ausdiesem Handy aus dem Kongo? Wird damit eineKriegspartei unterstützt? Und wie sieht der Hüh-nerstall aus, aus dem die Eier für diesen Kuchenstammen?

Es gibt Anzeichen, dass der „schlafende Riese Kon-sument“ aufwacht. Frauen- und Modemagazinewie Elle und Vanity Fair propagieren den neuenLebensstil, nach dem nur gekauft wird, was gesundund nachhaltig ist. Das Marktsegment von ökolo-gischen und fair gehandelten Produkten steigtkontinuierlich. Sogar die Discounter haben Bio-und Fair-Trade-Produkte ins Sortiment genom-men. Und immer mehr Deutsche investieren innachhaltige Geldanlagen.

Die Macht des mündiggewordenen Verbrauchers

Manche Unternehmen ziehen mit: Das Handels-haus Otto fördert in Zusammenarbeit mit demEntwicklungshilfeministerium, der DeutschenWelthungerhilfe und dem WWF den Anbau vonBio-Baumwolle in Afrika, wovon 180 000 Baum-wollbauern profitieren. Das sei das Ergebnis einesBewusstseinswandels in den Unternehmen, sagt Jo-hannes Merck, Direktor für Umwelt und Gesell-schaftspolitik der Otto Group. „Als wir Anfang derneunziger Jahre mit dem Vorwurf unzulänglicherSozialstandards bei unseren Lieferanten konfron-tiert wurden, war ich noch der Meinung, das [zuändern] sei vielmehr die Aufgabe der UNO.“

Noch vor sieben, acht Jahren hätten die Textil-unternehmen ihre Arbeit belächelt, sagt ChristianeSchnura, die die Konsumentenproteste der Kam-pagne für Saubere Kleidung (CCC) organisiert.„Heute treten sie mit uns in den öffentlichen Dia-log. Die Unternehmen wissen ganz genau, dass je-de Arbeitsrechtsverletzung in ihren Zulieferbetrie-ben, die uns zur Kenntnis kommt, ihr Image ver-letzen kann.“ Eine Zusammenarbeit der Kampag-ne mit dem Sportartikelhersteller Puma ist aller-dings nach hoffnungsvollem Anfang gescheitert.Puma hatte sich verpflichtet, in einem Modellpro-jekt seine Fabriken in El Salvador und deren Zu-lieferer von unabhängigen Kontrolleuren überwa-chen zu lassen. Das Projekt wurde Ende 2006 ab-gebrochen.

Angemessene Bezahlung und soziale Mindeststan-dards in Billiglohnländern würden sich minimalauf den Preis im Laden auswirken: Der Anteil derLohnkosten einer Näherin am Preis eines Marken-T-Shirts ist so gering, dass es dem Käufer kaum auf-fallen würde, selbst wenn sie das Dreifache bekä-me. Das Gleiche gilt für die Baumwollbauern. „Fai-re Erzeugerpreise wirken sich auf den Preis im La-den kaum aus“, bestätigt Rolf Heimann vom Natur-textilienhersteller Hess Natur, der seinen Baum-

4 Colombo-Tantalit, kurz „Coltan“, ist eine seltene Erzmischung,die das zur Herstellung kleinster Kondensatoren für moderneElektronikprodukte benötigte Tantal enthält. Coltan wird vor allemin der Demokratischen Republik Kongo abgebaut. EinheimischeKleinschürfer fördern es unter oft menschenunwürdigen Bedingun-gen, um es zu Preisen an Zwischenhändler zu verkaufen, welchekaum die pure Existenz ermöglichen. Die Zwischenhändler gehö-ren in der Regel einer Miliz oder dem Militär an und besitzen dem-entsprechendes Drohpotenzial. Sie bringen das Coltan über dunk-le Kanäle und Mittelsmänner auf den Weltmarkt und damit zu dengroßen Technologieunternehmen.

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Sorgsamer Umgang mit Vermögen und Einkommen

34 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

woll-Produzenten 20 Prozent Bio-Zuschlag und 20Prozent Fair-Trade-Zuschlag zusätzlich zu den re-gionalen Preisen zahlt.

Warum aber tun das nicht alle? Es gibt dafür kei-nen vernünftigen Grund – außer der Marktlogik:Die Unternehmen zahlen Weltmarktpreise unddie üblichen Löhne, auch wenn sie unter den Le-benshaltungskosten liegen. Solange es keine ver-bindlich festgelegten sozialen Mindeststandardsgibt, wird das so bleiben – es sei denn, die Konsu-menten setzen diese Standards.

Der Markt als zentraler Ort für politisches Engagement

Die Zeit für „politischen Konsum“ ist aus weiterenGründen günstig: Verbraucherschutz ist ein eigen-ständiges Politikfeld geworden, die Politiker sindsensibilisiert und die Nichtregierungsorganisatio-nen gut aufgestellt, um Einfluss auf die Politik unddie öffentliche Meinung zu nehmen.

In Deutschland ist der Begriff „politischer Konsu-ment“ relativ unbekannt, noch wird wenig darübergeforscht. Geprägt hat ihn der dänische Zukunfts-forscher Steen Svendsen, als er im Herbst 1994 mitseinen Kollegen vom Copenhagen Institute for Fu-ture Studies neue Wege der politischen Partizipa-tion erforschte. Sie fragten die Käufer von Öko-Produkten nach den Gründen ihrer Kaufentschei-dungen und fanden heraus, dass diese Leute ihrenEinkauf als eine politische Handlung verstanden.Svendsen nannte sie politische Konsumenten (poli-tiske forbruger). Politisches Handeln im Super-markt – das klang damals nach einer Idee, an dieniemand glaubte.

Sechs Monate später gab die Ölfirma Shell be-kannt, sie werde ihre ausrangierte ÖlplattformBrent Spar in der Nordsee versenken. Weltweitweigerten sich daraufhin Autofahrer, bei Shell zutanken – so lange, bis Shell aufgab und verkünde-te, die Brent Spar an Land zu entsorgen. Der poli-tische Konsument und sein Entdecker wurdenschlagartig bekannt. „Der Shell-Boykott hat eineneue Dimension der politischen Partizipation ge-zeigt“, sagt Svendsen. „Plötzlich öffnete sich derMarktplatz als neuer Ort für politisches Engage-ment – und zwar genau für die Themen, bei de-nen die Regierung nichts ausrichten kann. Dennwas Shell plante, war ja nichts Illegales. Die Öl-plattform zu versenken verstieß nicht gegen Geset-ze, aber es war natürlich trotzdem nicht in Ord-nung. Genau hier haben die Leute angesetzt.“

Nach dem Shell-Boykott kam die Forschung überpolitischen Konsum in Gang. Soziologen und Poli-tikwissenschaftler hatten den politischen Konsu-menten nicht bemerkt, weil er im toten Winkel ih-rer Forschung agierte. Gewöhnlich betrachten siePolitik und Privates getrennt: Politologen untersu-chen das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat,und Lebensstilforscher fragen Konsumenten, wassie kaufen. Im politischen Konsum überschneidensich diese beiden Sphären. Die meisten Politolo-gen waren so vertieft in das nachlassende Interessean Politik, die allgemeine Politikverdrossenheit,den Rückgang der Wahlbeteiligung und den Mit-gliederschwund der Parteien, dass sie ihren Blickerst spät auf die prall gefüllte Schnittmenge despolitischen Engagements jenseits der etabliertenInstitutionen gerichtet haben – zum Beispiel imSupermarkt.

Doch jetzt hat die Wissenschaft den Bürger alsKonsumenten entdeckt. Michele Micheletti, die ander Karlstad Universität in Schweden Politik lehrt,gehörte zu den ersten, die sich mit politischemKonsum systematisch befassen. Beim Vergleichenvon schwedischen Statistiken über politische Parti-zipation hat sie Ende der 90er Jahre entdeckt, dassdie Zahl von Einkaufsboykotten enorm gestiegenwar. 1987 hatten nur 15 Prozent der Schweden an-gegeben, innerhalb des letzten Jahres bestimmteProdukte aus politischen oder ethischen Gründenboykottiert zu haben, 1997 waren es 29 Prozent,beinahe jeder Dritte. 2001 und 2004 lud sie Wis-senschaftler aus der ganzen Welt zu einer Konfe-renz über politischen Konsum ein.5 Dabei wurdedeutlich, dass parallel zu den zunehmenden Boy-kotten immer mehr Gütesiegel und Produktkenn-zeichnungen entstanden sind, die sich immer bes-ser verkaufen.

Studien in Deutschland kommennicht zu eindeutigen Ergebnissen

In Deutschland ist manches anders. Wenn mandeutsche Meinungsforschungsinstitute nach Um-fragen und Zahlen zu verantwortungsvollem Kon-sum fragt, bekommt man abschlägige Antworten.Konsum und Politik werden auch bei ihnen nichtzusammen gedacht.

5 Die Ergebnisse des ersten „International Seminar on PoliticalConsumerism“ sind im Buch Politics, Products, and Markets. Ex-ploring Polical Consumerism, herausgegeben von Michele Miche-letti u. a., New Brunswick 2004 zusammengefasst. Auf der zweitenKonferenz entstand ein Bericht an den Nordic Council of Ministersüber politischen Konsum.

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Macht der Verbraucher

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Es ist nicht leicht, herauszufinden, ob sich das baldändern wird. Es gibt inzwischen viele Studien überden „politischen Konsumenten“, aber die Ergeb-nisse sind alles andere als eindeutig. Mit den einenlässt sich belegen, dass in Deutschland viele ver-antwortungsvolle Konsumenten leben. Die ande-ren zeigen, dass die Leute nur das Beste für sichwollen und das am liebsten ganz billig.

Die Ernährungsstudie Consumers‘ Choice 2005,von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK)im Auftrag der Deutschen Ernährungsindustrieerstellt, hat zum Beispiel herausgefunden, dass dieKonsumenten „Genuss, Wellness und Convenien-ce“ wollten, und das alles für möglichst wenigGeld. Die Discounter könnten weiter mit Zuwäch-sen rechnen, aber auch die Premium-Marken hät-ten Stärke demonstriert. Der GfK-TrendsensorKonsum 2005 habe einen deutlichen Trend zumehr Qualitätsbewusstsein registriert. Ob dabeiauch die ökologische und soziale Qualität der Wa-ren gemeint war, hat die Studie nicht ermittelt.6

Die meisten Studien über das Potenzial von Bio-Lebensmitteln zeigen dagegen ein anderes Bild:Danach sind Gesundheit und Geschmack zwar diewichtigsten Gründe für den Kauf, aber altruisti-sche Motive wie Tierliebe und Umweltschutz spie-len durchaus eine Rolle.7 Auch die Informations-kampagne der Verbraucher-Initiative zum fairenHandel („fair feels good“) meldete 2005, dass 2,6Prozent der Verbraucher regelmäßig und immer-hin 23,2 Prozent gelegentlich oder selten fair ge-handelte Produkte kaufen, was einen absolutenZuwachs von 2,5 Millionen Personen innerhalb ei-nes Jahres bedeutet.8

Die jüngste Studie des Heidelberger Forschungs-instituts Sinus Sociovision bestätigt diese Ten-denz.9 Die Bio-Branche habe große Wachstums-chancen in verschiedenen gesellschaftlichen Mi-lieus: bei den Postmateriellen, die schon immer ei-ne Agrarwende wollten und auch politisch über-

zeugt sind; bei den wohlhabenden und standesbe-wussten Etablierten, die auch beim Essen höchsteAnsprüche stellen; bei den „Modernen Perfor-mern“, der „jungen unkonventionellen Nach-wuchselite“, der es vor allem um Energie und Fit-ness geht; aber auch bei den Konservativen und inder bürgerlichen Mitte, die zunehmend von Le-bensmittelskandalen verunsichert sei. In einigendieser Gruppen kauft schon jetzt jeder zweite Bio-Produkte, in den meisten ist es jeder dritte. DochKatja Wippermann, die die Studie für Sinus Sociovi-sion erarbeitet hat, glaubt, dass politische oderethische Überzeugungen bei der Entscheidungfür Bio-Lebensmittel eher im Hintergrund stehen.Sie sieht den Öko- und Umweltgedanken als eineArt Mitnahmeeffekt: „Man kauft Bio, weil es besserschmeckt, und freut sich, wenn man damit – by theway – noch etwas Gutes getan hat.“

Verantwortungsbewusstseinals Leitbild der Verbraucherzentralen

Das Imug-Institut für Markt, Umwelt und Gesell-schaft, das sich auf Forschung über nachhaltigenKonsum spezialisiert hat, berichtete im Sommer2003, dass immer mehr Deutsche in nachhaltigeEntwicklungsfonds investieren. 27 Prozent gabenbei einer Befragung an, dass sie solche Investmentsfür attraktiv hielten, fünf Prozent für sehr attraktiv.Banken und Fondsgesellschaften können davonausgehen, dass jeder dritte Kunde ein offenes Ohrfür nachhaltige Investments hat, folgern die For-scher vom Imug-Institut. Bislang hapere es am Ver-trieb: Über ein Drittel der Befragten sagten, sie hät-ten noch keine nachhaltigen Fonds gekauft, weilsie nicht gewusst hätten, wo man sie erhält.

Im gleichen Sommer hat das Imug-Institut tau-send Deutsche zu ihren Einstellungen zur gesell-schaftlichen Verantwortung von Unternehmen(Corporate Social Responsibility) befragt. Das Er-gebnis: Zwei Drittel interessieren sich für die sozi-alen und ökologischen Auswirkungen der Unter-nehmen, und über die Hälfte wollen Produkte be-vorzugen, die – bei gleichem Preis und gleicherQualität – von Unternehmen kommen, die gesell-schaftlich verantwortungsvoll agieren. Das klingteinerseits viel versprechend, andererseits aberauch nicht: Knapp die Hälfte der Deutschen wür-de verantwortungsvolle Unternehmen nicht be-vorzugen, auch wenn es sie weder Geld noch Qua-lität kosten würde.

Konsumforscher würden solche Zahlen vermut-lich mit der traditionell hohen Erwartung an staat-

6 Vgl. Gesellschaft für Konsumforschung (GfK)/Bundesvereinigungder Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), Consumers‘ Choice ’05– Trends in Foods and Beverages, München 2005.7 Vgl. die Vortragsskripte zum Seminar „Der gläserne Bio-Konsu-ment“ in Göttingen am 10. Oktober 2003: Achim Spiller, Konsu-mentenverhalten bei Bio-Lebensmitteln. Stand der Forschung, Seite27, und Maike Bruhn, 20 Jahre Bio-Konsum. Ergebnisse einer Längs-schnittanalyse, Seite 19.8 http://www.fair-feels-good.de/fairfeelsgood.php/cat/49/title/Marktforschung9 Sinus Sociovision, Unterschiede zwischen Bio-Käufern und Bio-Nichtkäufern in den für den Biomarkt wichtigsten Sinus-Milieus,herausgegeben vom Bio Verlag 2006.

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Sorgsamer Umgang mit Vermögen und Einkommen

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liche Verantwortung in Deutschland erklären: DieBürger erwarten viel mehr als etwa die US-Ameri-kaner, dass sich der Staat um die Verbraucherkümmern soll. Die Verbraucherzentralen werdenvom Staat gefördert, und politische Bewegungenrichten ihre Proteste und Forderungen deshalblieber gleich an die Regierung als an ihre Mitbür-ger. Der Bürger will, dass sich der Staat darumkümmert, dass er, der Bürger und Konsument,sorglos einkaufen kann.

Doch das ist nicht der Fall: „Es werden den Ver-brauchern Informationen über Herstellungsbe-dingungen von Produkten vorenthalten“, sagtEdda Müller, Vorstand des Bundesverbands der Ver-braucherzentralen.10 Das Leitbild der Verbrau-cherzentrale ist der verantwortungsbewusste Kon-sument. Ähnlich hat es Renate Künast als Verbrau-cherschutzministerin formuliert. Mit diesem Leit-bild vom klugen, gut informierten Verbrauchersetze sie sich „von der früher den Verbraucher-schutz dominierenden Vorstellung eines uninfor-mierten und eher passiven Verbrauchers ab“,schrieb 2003 die Konsumforscherin Lucia Reisch,Professorin für Konsumentenverhalten in Kopen-hagen. „Damit wird den Verbrauchern implizitund grundsätzlich eine Mitverantwortung zuge-wiesen.“11 Um die wahrnehmen zu können, musssich der Verbraucher informieren können.

Mehr Transparenz ist notwendig

An dieser Stelle kommen der politische Konsu-ment und der politische Aktivist zusammen. VieleAktivisten halten nicht viel von Aufrufen zur Ab-stimmung mit dem Einkaufswagen. Sie fürchten,solche Appelle könnten von der Verantwortungder Politik und der Unternehmen ablenken. Dochdas Gegenteil ist der Fall: Wer versucht, verantwor-tungsvoll einzukaufen, wird bald verstehen, dass erdazu Gesetze braucht, die ihm den Zugang zu In-formationen garantieren und so ethisch korrektesEinkaufen vereinfachen, wenn nicht erst ermög-lichen. Er braucht ein Gesetz, das ihm Zugang zuden Ergebnissen von Lebensmittelkontrollen ga-

rantiert (und nicht nur in eng begrenzten Aus-nahmen wie das neue Verbraucherinformations-gesetz), eine Deklarationspflicht für sämtliche In-halts- und Zusatzstoffe von Lebensmitteln, Textil-ien, Spielzeug (also nicht etwa nur 100 ProzentBaumwolle, sondern auch Angaben zu den etwa7 000 zum Teil ungetesteten Textilhilfsmitteln) so-wie verbindliche und genaue Angaben zu denHerstellungsbedingungen der Waren.

Das ist zurzeit nicht gegeben. Lucia Reisch charak-terisiert den aktuellen Zustand als „asymmetrischeInformationsverteilung“ zwischen Unternehmenund Kunden, die eine Abwärtsspirale von Qualitätzur Folge hat und fairen Wettbewerb verhindert:Die Hersteller wissen alles über die Produktion ih-rer Waren, ihre Kunden viel weniger. „Solange ei-ne herausragende Qualität hier nicht glaubhaftsignalisiert wird, werden auf solchen Märkten An-bieter unterdurchschnittlicher Qualität tenden-ziell Gewinne erzielen, während Anbieter über-durchschnittlicher Qualität mit Verlusten rechnenmüssen. Letztere werden daher entweder denMarkt verlassen oder ihre Qualität ebenfalls ab-senken. Beides setzt einen negativen Kreislauf ausQualitätsminderung und Preissenkung in Gang,der zum Zusammenbruch des Marktes führenkann.“

Die mangelnde Information verhindert nicht nureine bessere Qualität, sie schützt sogar Anbieter,die bei Lebensmittelkontrollen wiederholt negativauffallen. Solange die Ergebnisse solcher Kontrol-len nicht veröffentlicht werden, wie etwa in Groß-britannien, ist der Anreiz für sie gering, ihre Wa-ren zu verbessern. Transparenz bei staatlichenKontrollen ist ein Beispiel dafür, wie man mit we-nig Aufwand und geringen Kosten viel erreichenkann. Ein anderes Beispiel wären klare Kenn-zeichnungspflichten. „Wenn die Verbraucher ein-fache Kennzeichnungen und Alternativen haben,entscheiden sie sich für die politisch korrektenProdukte,“ sagt Lucia Reisch. Als Beweis nennt siedie von Künast eingeführte Eier-Kennzeichnung:Erstens sei die Kennzeichnung so einfach, dass je-der sie verstehe, ohne sich lange informieren zumüssen. Zweitens stünden alle Produkte neben-einander, so dass man im Regal bloß auswählenmüsse. Drittens kosteten die fairen Eier nicht we-sentlich mehr; einen zehn bis 15 Prozent höherenPreis bezahlten die Konsumenten für das korrek-tere Produkt, sei ihre Erfahrung. Wenn diese dreiBedingungen erfüllt seien, habe der politischeKonsum ein großes Potenzial. �

10 Verbraucherpolitik als Querschnittsaufgabe profilieren! Interviewmit Edda Müller, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen,Unterschätzte Verbrauchermacht. Potenziale und Perspektiven derneuen Verbraucherbewegung, Heft 4 vom Dezember 2005, Seite 101. 11 Lucia Reisch, Transparenz auf Lebensmittelmärkten: Theoreti-sche Begründung und verbraucherpolitische Praxis, in: Hauswirt-schaft und Wissenschaft – Europäische Zeitschrift für Haushalts-ökonomie, Haushaltstechnik und Sozialmanagement, Heft 51(2)2003, Seiten 58-64.

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37Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Im Zuge der Streitigkeiten über Gaslieferungenvon Russland nach Westeuropa wurde einmalmehr deutlich, wie stark Deutschland von Ener-gieimporten abhängig und damit von Preis- undVersorgungsschwankungen betroffen ist. Einen(nationalen) Ausweg gibt es jedoch nicht: ImGegensatz zu manch anderen Ländern Westeuro-pas hat Deutschland nur wenige heimische Ener-gieträger aufzuweisen, die zudem auch nicht „si-cher“ sind: Mit dem geplanten Ausstieg aus derAtomenergie und der Steinkohleförderung gera-ten zwei wichtige Säulen der deutschen Stromer-zeugung in den kommenden Jahren ins Wanken.Und als wäre das nicht genug, ziehen die notwen-digen Anstrengungen im Umwelt- und Klima-schutz, die nicht zuletzt von der EuropäischenUnion (EU) und internationalen Abkommen ge-fordert werden, ebenso merkliche Veränderungennach sich.

Das „Zieldreieck“ der Energiepolitik

Eine nachhaltige Energieversorgung muss wettbe-werbsfähig, sicher und umweltfreundlich sein.Dementsprechend sollte sich eine nachhaltigeEnergiepolitik an den drei Zielen Wettbewerbsfä-higkeit, Versorgungssicherheit sowie Klima- undUmweltschutz orientieren.1

� Wettbewerbsfähigkeit bedeutet in diesem Zu-sammenhang, Energiemärkte zum Nutzen derVerbraucher und der Wirtschaft zu öffnen. Im Zu-ge der Liberalisierung der europäischen Strom-und Gasmärkte müssen sich die Energieversorger

verstärkt den treibenden Kräften des Wettbewerbsstellen. Da bisher nur in wenigen EU-Ländern einfunktionierender Markt entstanden ist, fördert dieEU-Kommission – auch weiterhin – den Wettbe-werb in Europa.2 Deutschland hat auf diese Anfor-derung mit der Einrichtung einer Regulierungs-behörde reagiert, die in erster Linie die Durchlei-tungsentgelte für die Netznutzung kontrolliert.

� Versorgungssicherheit beinhaltet die mittel- bislangfristige Sicherstellung der Energieversorgung.Durch die Verringerung der Energienachfrageund die Stärkung heimischer Energiequellen,aber vor allem auch durch die Diversifizierung desEnergieträgermixes, der Ursprungsländer undder Importkanäle soll der Zugang von Verbrau-chern und Unternehmen zu Energie ermöglichtwerden. Dabei sind vor allem die weitere Erschlie-ßung erneuerbarer Energiequellen und die Stei-gerung der allgemeinen Energieeffizienz von gro-ßer Bedeutung.

� Beim Umwelt- und Klimaschutz geht es um dieEntwicklung und Umsetzung von Strategien zurEindämmung der Folgen des Klimawandels, aberauch zur Bekämpfung der zugrunde liegendenUmweltverschmutzung. Der jüngste Bericht des„Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaände-rungen“ (IPCC) macht deutlich, dass die Mensch-heit dringender als jemals zuvor gefordert ist, Kli-maschutzpolitik zu betreiben. Das bedeutet in ers-ter Linie, den Ausstoß klimagefährlicher Treib-hausgase wie Kohlendioxid (CO2) und Methan zuvermindern.

Die Energieversorgung in Deutschlandund die Rolle der SteinkohleProf. Dr. Claudia KemfertLeiterin der Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Inhaberin des Lehrstuhls für Umweltökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin

Deutschland ist auf Energie-Importe angewiesen und dadurch höchst angreifbar. Allerdings gibt es auch in Deutschland

nutzbare Energieträger; einer davon ist die Steinkohle. Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Debatte in Politik und Öf-

fentlichkeit stellt sich die Frage: Kann diese langfristig eingesetzt werden, wenn emissionsmindernde Techniken entwi-

ckelt und auf die umfangreichen Beihilfen für den Steinkohleabbau verzichtet werden?

1 EU-Kommission, Grünbuch: Eine Europäische Strategie für nach-haltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie, Brüssel 2006.

2 Vgl. Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und desRates vom 19. Dezember 1996 betreffend gemeinsame Vorschriftenfür den Elektrizitätsbinnenmarkt.

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Nachhaltiger Einsatz von Ressourcen

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Stromerzeugung in Deutschland:Ausgangslage und Herausforderungen

In der deutschen Stromerzeugung wird es in denkommenden Jahren zu starken Veränderungenkommen. Die Enquete-Kommission „NachhaltigeEnergieversorgung unter den Bedingungen derGlobalisierung und Liberalisierung“ kommt zumErgebnis, dass der Strombedarf in Deutschland imJahre 2020 etwa 570 Terawattstunden betragenwird.3 Die gesamten Kraftwerkskapazitäten müss-ten sich damit von rund 115 Gigawatt im Jahr 1998bis zu 120 Gigawatt im Jahr 2020 und etwa 128 Gi-gawatt im Jahr 2050 erhöhen. Aufgrund der Al-tersstruktur der Kraftwerke und im Zuge desAtomenergie-ausstiegs stehen in Deutschland biszum Jahre 2020 umfangreiche Investitionen an: Indiesem Zeitraum muss in neue Kraftwerke mit ei-ner Leistung von etwa 40 Gigawatt investiert wer-den. Aus Klimaschutzgründen sollten dies – nachheutigem technischen Stand – möglichst emis-sionsarme Kraftwerke sein.

Derzeit wird Strom in Deutschland zu drei Vier-teln aus Kernenergie sowie Braun- und Steinkohlegewonnen. Erdgas und erneuerbare Energien tra-gen mit jeweils etwa zehn Prozent zur Energiever-sorgung bei; wobei in jüngster Vergangenheit vorallem letztere deutlich hinzugewinnen konnten.

Der Deutsche Bundestag hat zusammen mit Ver-tretern der Energiewirtschaft im Jahr 2002 be-schlossen, aus der Atomenergie auszusteigen. DieLaufzeit der bestehenden Atomanlagen wurdenach diesem Beschluss auf 32 Jahre beschränkt.Die Atomkraftwerke in Obrigheim und Stade sindbereits in den Jahren 2002 und 2004 abgeschaltetworden. Die nächsten Atomkraftwerke, die vomNetz gehen, sind 2007 Biblis A und 2008 Neckar-westheim I. Die Regelungen des Atomgesetzeszum Ausstieg bewirken, dass bis 2021 auch die rest-lichen Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Alleindadurch müssen Ersatzinvestitionen zur Produk-tion von 20 Gigawatt geleistet werden.

Neben Stein- und Braunkohle stehen Deutschlandkaum weitere fossile Ressourcen zur Verfügung.Dementsprechend lag die Importquote für dieEnergieerzeugung 2005 bei knapp 75 Prozent.Erdöl wird nahezu ausschließlich importiert undvor allem als Treibstoff und zum Heizen genutzt,

in der Verstromung spielt es keine Rolle. Erdgasals fossile Energieressource mit zunehmender Be-deutung stammt nahezu vollständig aus dem Aus-land. Die weltweit größten Gas-vorkommen liegenin Russland, im Iran und in Katar. Gas dient so-wohl der Stromerzeugung als auch der Wärmeer-zeugung und als Kraftstoff: Ein Großteil der stei-genden Nachfrage dürfte allerdings für die Strom-produktion in Gaskraftwerken eingesetzt werden.Aus wirtschaftlicher Sicht erscheint der Ausbauvon Gas- und Dampfkraftwerken derzeit kosten-günstig. Die zukünftige Wirtschaftlichkeit wird je-doch stark von der Entwicklung des Gaspreises ab-hängen. So ist anzunehmen, dass dieser ähnlichwie der Ölpreis langfristig auf hohem Niveau ver-harrt oder sogar weiter steigen wird.

Umweltschutz durch Emissionshandel

Die Europäische Kommission hat im Jahr 2001 ei-ne Richtlinie zur Stromerzeugung aus erneuerba-ren Energien herausgegeben. Hiernach sollen 21Prozent des Energieverbrauchs aus erneuerbarenQuellen gedeckt werden.4 Deutschland hat durchdie gezielte Förderung im Rahmen des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes (EEG) diesen Anteil be-reits auf fast zwölf Prozent steigern können.

Daneben wurde 2005 auf Basis zweier Richtlinienein europäisches Emissionsrechtehandelssystemeingeführt, mit dessen Hilfe die Emissionsminde-rungsziele des Kyoto-Protokolls erreicht werdensollen.5 Um klimaschonende Technologien wett-bewerbsfähig zu machen, muss CO2 einen Markt-preis bekommen. Die damit einhergende Verteue-rung von Verfahren zur Energiegewinnung, die re-lativ hohe Emissionen hervorrufen, sorgt für„funktionierenden“ Wettbewerb. Die systemati-sche Weiterentwicklung des Emissionshandels istdeshalb eine entscheidende Voraussetzung eineremissionsärmeren Stromerzeugung in Deutsch-land und in Europa.

3 Vgl. Bericht der Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversor-gung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisie-rung“ des 14. Deutschen Bundestages, Bundesdrucksache 14/9400.

4 Richtlinie 2001/77/EG des Europäischen Parlaments und des Ra-tes vom 27. September 2001 zur Förderung der Stromerzeugung auserneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt.5 Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Ra-tes vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treib-hausgasberechtigungen in der Gemeinschaft und zur Änderung derRichtlinie 96/61/EG und Richtlinie 2004/101/EG des EuropäischenParlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 zur Änderung derRichtlinie 2003/87/EG über ein System für den Handel mit Treib-hausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft im Sinne der pro-jektbezogenen Mechanismen des Kyoto-Protokolls.

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Steinkohle

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Treibhausgas-Emissionen entstehen hierzulandezum größten Teil in den Bereichen Energiewirt-schaft und Verkehr. Die CO2-Emissionen der Kraft-werke sind vornehmlich abhängig vom eingesetz-ten Brennstoff und den jeweiligen Wirkungsgra-den bei der Energieumwandlung. Obwohl sich dieStromerzeugung seit Anfang der 90er Jahre leichterhöht hat, sank der CO2-Ausstoß bei der Herstel-lung von Strom von 1991 bis 2002 um fast achtProzent. Die Emissionen pro erzeugter Kilowatt-stunde Strom gingen in diesem Zeitraum um rund14 Prozent zurück. Dies ist in erster Linie auf denvermehrten Einsatz von Gas- und Kernkraftwerkensowie auf den Zuwachs an Windkraftanlagen zu-rückzuführen. Zudem wurden überalterte Kraft-werke in Ostdeutschland erneuert.

Moderne Gaskraftwerke, die derzeit mit rund elfProzent zur Stromerzeugung in Deutschland bei-tragen, verursachen erheblich weniger klima-schädliche Treibhausgase als konventionelle Koh-lekraftwerke. Die Stromerzeugung in Kraft-Wär-me-Kopplungsanlagen weist einen hohen Gesamt-ausnutzungsgrad des eingesetzten Brennstoffs auf:Die ansonsten ungenutzte Abwärme, die bei derStromerzeugung anfällt, wird für Heizzwecke zurVerfügung gestellt. Die Stromerzeugung aus Kern-energie verursacht hingegen keine klimagefähr-lichen Treibhausgase; sie birgt jedoch große Um-weltrisiken im laufenden Betrieb und bei der End-lagerung der Abfallprodukte.

Aufgrund des nach wie vor hohen Kohlenanteilsan der Stromerzeugung ist Deutschland im Ver-gleich zu seinen europäischen Nachbarn das emis-sionsstärkste Land: Deutschland ist für knapp einViertel aller europäischen Treibhausgas-Emissio-nen verantwortlich. Die Bundesregierung hat sichim Zuge der EU-Lastenverteilung verpflichtet, bis2012 die klimarelevanten Treibhausgas-Emissio-nen um insgesamt 21 Prozent gegenüber 1990 zuverringern. Im Gegensatz zu vielen anderen euro-päischen Ländern hat Deutschland mit einerEmissionsminderung von etwa 20 Prozent diesesZiel bereits fast erreicht. Bis zum Jahr 2012 mussDeutschland den CO2-Ausstoß noch um 18 Millio-nen Tonnen verringern.

Die bedeutende Rolle der Steinkohlefür die deutsche Stromversorgung

Die deutschen Entscheidungsträger in Politik undWirtschaft haben schon vor einiger Zeit beschlos-sen, die Subventionierung der deutschen Stein-kohle zurückzufahren und letztendlich komplett

einzustellen. Damit fände der Steinkohleabbau inDeutschland ein Ende. Seit 1990 wurden bereits18 der 27 in Deutschland befindlichen Steinkohle-bergwerke geschlossen. Dementsprechend habensich die Steinkohleförderung und die Anzahl derBeschäftigten in diesem Sektor deutlich vermin-dert. Dennoch sind im vergangenen Jahr durchden Bund und die Länder Nordrhein-Westfalenund Saarland insgesamt noch 2,5 Milliarden Euroin die Subventionierung der deutschen Steinkoh-le geflossen.6 Diese Beihilfen sollen nach aktuellenpolitischen Beschlüssen bis zum Jahr 2012 auf 1,8Milliarden Euro vermindert werden. 2018 soll dieSteinkohleförderung dann endgültig auslaufen –wenngleich sich die Politik 2012 nochmals derThematik annehmen will.

Aufgrund der bereits vollzogenen Senkungen beiden Steinkohlesubventionen sind die Steinkoh-leimporte innerhalb der letzten Jahre stark ange-stiegen. Deutschland bezieht derzeit etwas mehrals 60 Prozent der Steinkohle aus dem Ausland –in erster Linie aus Polen, Südafrika, Russland, Ko-lumbien und Australien. Die restlichen knapp 40Prozent stammen aus deutschen Kohlegruben.Die Förderung von Kohle in Deutschland ist etwadreimal so teuer wie der Abbau unter den günsti-geren technologischen und geologischen Bedin-gungen, beispielsweise in Südafrika oder Austra-lien. Selbst der lange Transportweg verteuert dieseKohle nicht in dem Maße, dass es sich lohnen wür-de, deutsche Steinkohle weiter zu fördern. Da dieImportregionen zudem politisch als relativ stabileingestuft werden können, ist es weder aus Grün-den des Wettbewerbs noch der Versorgungssicher-heit zu rechtfertigen, deutsche Steinkohle derge-stalt zu subventionieren.

Die deutsche Steinkohle hat somit schlechte Vo-raussetzungen, zu einem nachhaltigen Energie-mix beizutragen: Sie verursacht klimagefährlicheCO2-Emissionen und ist international nicht wett-bewerbsfähig. Zudem trägt sie kaum zur Versor-gungssicherheit bei, da Steinkohle aus vielen poli-tisch stabilen Ländern kostengünstig importiertwerden kann. Energiepolitisch ist es demnach we-nig sinnvoll, die hohen Subventionen zur Förde-rung deutscher Steinkohle aufrechtzuerhalten.

Allerdings spielt Steinkohle in der Stromerzeu-gung sowohl in Deutschland als auch weltweit eine

6 Vgl. Alfred Boss und Astrid Rosenschon, Der Kieler Subventions-bericht: Grundlagen, Ergebnisse, Schlussfolgerungen, Kieler Diskus-sionsbeiträge 423, Institut für Weltwirtschaft, Kiel 2006.

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Nachhaltiger Einsatz von Ressourcen

40 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

bedeutsame Rolle. Das dürfte auch weiterhin sobleiben, da die statistische Reichweite der Koh-leressourcen bei 200 Jahren liegen dürfte.7 Zudemwerden Länder wie China, Polen und Australienauch in Zukunft billige Kohle verkaufen und – wiedie meisten anderen Staaten inklusive Deutsch-land – auch nutzen. Daher wird ein internationaleffektiver Klimaschutz nicht daran vorbeikom-men, neben Alternativen zur fossilen Energie auchVerfahren zur emissionsarmen konventionellenEnergiegewinnung aufzuzeigen.

Hoffnungen auf neue Technologien

Es gibt Technologien, mit denen die Emissionen,die bei der Verstromung von Kohle entstehen, ab-geschieden werden können. Diese „Carbon Cap-ture and Sequestration (CCS)-Verfahren“ würdendie Nutzung von Kohlekraftwerken unter Ge-sichtspunkten des Umwelt- und Klimaschutzesweiterhin ermöglichen. Bis zu CO2-armen Kraft-werken,8 die nach dieser Methode arbeiten, ist esaber noch ein weiter Weg. Sowohl die Technologieder Abscheidung als auch die Endlagerung sindbisher wenig erforscht. Zwar scheint das Abschei-den technisch möglich zu sein, doch sollten dabeiauch möglichst geringe Effizienzverluste auftre-ten. Dabei spielen vor allem die beim Abschei-dungsprozess einzusetzende Zusatzenergie aberauch die allgemeinen Verluste an Energieeffizienzeine wichtige Rolle.9

Nach derzeitigem Kenntnisstand arbeiten Kohle-kraftwerke mit CO2-Abscheidung und -Speiche-rung deutlich kostenintensiver und mit erheb-lichen Energieeffizienzverlusten gegenüber her-kömmlichen Anlagen. Allerdings gehen dieSchätzungen für den (zusätzlichen) Abschei-dungs- und Lagerungspreis einer Tonne CO2 mitWerten zwischen 30 und 250 US-Dollar sehr weitauseinander.10

Zudem muss das CO2 im Anschluss eingelagertwerden. Risiken erwachsen dabei vor allem ausdem möglichen Entweichen des eingelagerten

CO2 in die Atmosphäre. Als Lagerort kommenAquifere und leere Salz- oder Gaskavernen infra-ge. Da sich diese nur selten direkt am Entste-hungsort der Emissionen befinden, muss das CO2transportiert und eventuell zwischengelagert wer-den, was widerum mit Risiken verbunden ist.Schließlich ist auch unsicher, ob die technologi-schen Optionen herkömmlicher Kohlekraftwerkeals Basis für die CCS-Technologie ausreichen.

Steinkohle: Ja! Aber nicht aus deutschen Zechen

Die Möglichkeiten, Risiken und Kosten der CCS-Technologie sind bisher zu wenig erforscht wor-den. Ferner sind die Ausgaben für die Erfor-schung innovativer Energietechnologie wie derKohletechnologie in Deutschland in den vergan-genen Jahren gesenkt worden. 2003 haben sie mitinsgesamt sieben Millionen Euro nur etwa zweiProzent der gesamten Ausgaben für Forschungund Entwicklung im Energiebereich ausgemacht.Im Jahr 2004 hatte sich dieser Betrag zwar fast ver-doppelt, nichtsdestotrotz sollten die Aufwendun-gen zur Erforschung dieser Technologie erhöhtwerden. Wenn dafür nur ein Teil der derzeit ge-zahlten Kohlesubventionen umgewidmet würde,könnten die Ausgaben für Energieforschung spür-bar ausgeweitet werden.

Letztendlich könnte sich das für Deutschland loh-nen: Studien zur Abschätzung der CCS-Technolo-gie kommen zu dem Schluss, dass diese durchausPotenzial für bis zu 16 Prozent der weltweitenStromerzeugung besitzt.11 Sollte sich diese Tech-nik weltweit durchsetzen, hätte entsprechendesTechnikwissen „Made in Germany“ großen be-triebs- und volkswirtschaftlichen Nutzen. Freilichdürfte das den deutschen Bergwerken wenig nut-zen. Der Abbau deutscher Steinkohle ist erst wie-der sinnvoll, wenn die globale Nachfrage nachSteinkohle kräftig zunimmt und der deswegen stei-gende Preis die hohen Förderkosten in Deutsch-land übertrifft. Das scheint aber in absehbarer Zeitnicht sehr wahrscheinlich. �

7 Vgl. International Energy Agency (IEA), Reducing Greenhouse GasEmissions – The Potential of Coal, Paris 2005.8 „CO2-freies“ Kraftwerk ist als Bezeichnung insofern irreführend,als dass es technisch schwer möglich sein wird, das gesamte CO2 ab-zuscheiden und einzulagern.9 Vgl. Umweltbundesamt, Verfahren zur CO2-Abscheidung und -Spei-cherung, Berlin 2006.10 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung „Globale Um-weltveränderungen“ (WBGU), Welt im Wandel: Energiewende zurNachhaltigkeit, Berlin u.a. 2003.

11 Vgl. IEA, Reducing…, a.a.O. und IEA, Energy Technologies Per-spectives – Scenarios and Strategies to 2050, Paris 2006.

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41Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

In jüngster Zeit häufen sich die Berichte über einPhänomen, das in Zeiten der fortschreitendenInternationalisierung des Geldwesens wie ein Ana-chronismus wirkt: Regionalwährungen. Regional-währungen sind private inoffizielle Gelder, diemeist von „Vereinen für nachhaltiges Wirtschaf-ten“ ausgegeben werden und überwiegend inForm von Scheinen als lokale Bargeldsubstitutezum Euro umlaufen. Sie werden in kleinen Stü-ckelungen ausgegeben, in der Regel zu Nennwer-ten von ein, zwei, fünf, zehn, 20 und 50. In allerRegel werden sie gegen Euro in Umlauf gebracht.Meistens liegt der Wechselkurs bei 1:1 zum Euro,unter anderem um den teilnehmenden Unter-nehmen eine doppelte Preisauszeichnung undden Käufern ein lästiges Umrechnen zu ersparen.Bargeldlose Überweisungen sind bei einigen An-bietern mittlerweile ebenso möglich. Von der Re-gionalgeldemission erhoffen sich die Organisato-ren eine Stärkung der örtlichen Wirtschaft. Zu-dem will man mit diesen Geldern ein Zeichen ge-gen die Globalisierung setzen, die vermeintlichenDefizite des herrschenden Geldsystems behebenund die regionale Solidarität stärken. Derzeit kannman in 20 Regionen Deutschlands mit lokalemGeld bezahlen. Zudem ist in vielen weiteren Re-gionen die Einführung von Regionalgeld in ab-sehbarer Zukunft geplant.

Hintergrund: Die „Schwundgeldtheorie“von Silvio Gesell

Die Ausgabe von privaten regionalen Geldschei-nen ist in Deutschland keine gänzlich neue Beob-achtung.1 Die erste deutsche Regionalgeldemis-

sion nach dem Zweiten Weltkrieg datiert bereitsaus dem Jahr 1993, als man im Berliner StadtteilPrenzlauer Berg für zwei Monate die Papierwäh-rung „Knochengeld“ ausgegeben hatte. Ähnlichwie die nur sehr kurz existierende Papierwährung„Phoe“, die 1999 in Arnstadt bei Erfurt in einerKleinstserie emittiert wurde, war sie als sogenann-tes Schwundgeld konstruiert.

Diese spezifische Geldform, die heute allen um-laufenden Regionalgeldern zugrunde liegt, gehtauf den deutsch-argentinischen Kaufmann SilvioGesell (1862–1930) zurück. Schwundgeld oderauch Freigeld ist so konstruiert, dass es nach ei-nem im Voraus festgelegten Zeitpfad an Wert ver-liert. Durch diesen bewusst dem Geldhalter aufer-legten Wertschwund soll dieser angehalten wer-den, sein Geld möglichst zügig wieder auszuge-ben.

� Gegenwärtig sind die meisten Schwundgelderim deutschsprachigen Raum als „Markengeld“konstruiert. Hier muss der Besitzer der Geldschei-ne zum Werterhalt kleine Klebemarken auf denGeldschein anbringen, um so die Gültigkeit desZahlungsmittels für eine bestimmte Zeitperiode –meist drei Monate – zu sichern. In der Regel kos-ten die Marken pro Quartal zwei bis drei Prozentdes Nennwerts der Scheine; sie sind in der Regelgegen offizielle Währung bei der Emissionsstellezu erwerben. Hinzu kommt eine meist am Endeder einjährigen Gesamtlaufzeit der Scheine anfal-lende Um- bzw. Rücktauschgebühr in Höhe von et-wa fünf Prozent.

� Ähnliches gilt auch für das „Tabellengeld“, beidem der Wertverlust des Geldes direkt abgelesenwerden kann, sei es über eine auf der Rückseiteder Note aufgedruckte Tabelle oder anhand einesBalkendiagramms.

Regionalgeld in Deutschland:Eine große Idee in kleinräumiger WirkungProf. Dr. Gerhard RöslProfessor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Geldpolitik, internationale Wirtschaftsbeziehungen und Ordnungspolitik, an der Fachhochschule Regensburg

Zwanzig laufende Projekte und mehr als fünfzig geplante Initiativen zeigen, dass Regionalwährungen in Deutschland Be-

achtung verdienen. Regionales Geld soll Potenziale vor Ort aktivieren und eine Alternative zum offiziellen Geldsystem

bieten. Auch wenn dies nur begrenzt möglich scheint, lassen sich die Beteiligten das einiges kosten.

1 Die Regionalwährungen dürfen nicht mit Tauschringgeldern, die alsVerrechnungsforderungen in nicht-gewerblichen Tauschverbündenzirkulieren, verwechselt werden. Vgl. hierzu Gerhard Rösl, Regional-währungen in Deutschland, in: Wirtschaftsdienst 85, Heft 3 (2005),Seiten 182–190.

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Nachhaltiger Einsatz von Ressourcen

42 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

� Als dritte Schwundgeldvariante wird das „Ab-laufgeld“ ausgegeben. Hier verzichtet man auf ei-nen laufenden Schwund. Vielmehr will man denpermanenten Umlauf des Regionalgelds alleinüber eine begrenzte Gültigkeitsdauer von bis zu ei-nem Jahr und einer am Ende der Laufzeit drohen-den Gebühr sicherstellen.

Die Regionalgeldvereine, die neben der Emissionvon Geldscheinen für ihre Kunden auch elektro-nische Giralgeldkonten führen und somit regiona-les Buchgeld ausgeben, kürzen in bestimmtenZeitabständen die Guthaben ihrer Einleger um ei-nen entsprechenden Prozentsatz und führen dieseBeträge dem Ertragskonto des Vereins zu. Auchdies soll dem regen Geldumlauf dienen.

Regionalwährungen in Deutschland

Gegenwärtig hat der erstmals im Jahr 2003 emit-tierte „Chiemgauer“ die größte Geldmenge: Initi-iert von Schülern der örtlichen Waldorfschule zir-kuliert er derzeit in einem Volumen von 90 000 Eu-ro in der Gegend rund um Prien am Chiemsee.Nach Angaben des ausgebenden Chiemgauer Re-gionalvereins akzeptieren mittlerweile 550 Unter-nehmen aus den unterschiedlichsten Branchendas örtliche Zahlungsmittel, so dass sich sukzessiveein gewisser Geldkreislauf etabliert hat.2 Ebenfallsrecht erfolgreich sind der „VolmeTaler“ im westfä-lischen Hagen, der „Sterntaler“ in Ainging imBerchtesgadener Land, sowie der „Urstromtaler“ inGüsen bei Magdeburg mit ebenfalls mehrerenZehntausend Euro Umlaufwert. Andere Regional-geldvereine können hingegen nur auf einen Um-laufwert von meist deutlich unter 10 000 Euro ver-weisen. Der Gesamtumlauf aller Regionalwährun-gen in Deutschland kann gegenwärtig auf einenWert von knapp 400 000 Euro beziffert werden. Da-von dürften weniger als fünf Prozent in Form vonBuchgeld angelegt sein. Trotz der Vervierfachungder Umlaufsumme der Regionalwährungen in denletzten zwei Jahren bleibt deren gesamtwirtschaftli-che Bedeutung gering. Dies zeigt schon der Ver-gleich mit den aktuell in Deutschland zirkulieren-den offiziellen Bar- und Buchgeldbeständen, dierund 900 Milliarden Euro betragen.

Dennoch ist die Dynamik, mit der die Regional-währungen in Deutschland wachsen, beachtlich.Vor allem seit der Einführung des Euro-Bargeldsim Jahr 2001 hat die Regionalgeldbewegung einenkräftigen Schub bekommen. Dies legt den Schluss

nahe, dass unter den Deutschen nach wie vor einegewisse Skepsis gegenüber dem Euro herrscht.Aber als breiter gesellschaftlicher Protest gegendie als zu unpersönlich empfundene Gemein-schaftswährung lassen sich die Regionalgeldinitia-tiven nicht verstehen.

Ziel: Beseitigung von Mängelndes herrschenden Geldsystems

Dass die Regionalwährungen trotz ihrer gesamt-wirtschaftlich nur marginalen Bedeutung mittler-weile eine gewisse Aufmerksamkeit in den Mediengenießen, ist wohl eher ihrer „Kuriosität“ und derrecht umtriebigen Art der Regionalgeldherausge-ber zuzuschreiben. Denn diese wollen – zumeistbeseelt von einer tiefen Überzeugung, die ver-meintlichen Schwachstellen des herrschendenGeldsystems erkannt zu haben – eine „gesunde“Alternative zum offiziellen System des staatlichenMonopolgelds bereitstellen.

Aus ihrer Sicht ist das herrschende Geldsystemmerklich unvollkommen:

� Erstens wirke das offizielle Geld wie eine ArtPumpe, die das Kapital aus Regionen, in denen esverdient wird, absauge und in Regionen fließenlasse, in denen die höchste Rendite erzielt werde.Die Kosten dieses unsolidarischen Gewinnstrebenslägen in höherer Arbeitslosigkeit und einem allge-meinen ökonomischen Niedergang; sie wären vonden betroffenen Regionen zu tragen. Viele ost-deutsche Gegenden seien hierfür der beste Be-weis. Die regionale Begrenzung der Einsetzbarkeitder Regionalgelder solle nun sicherstellen, dassdie Kaufkraft vor Ort bliebe. Dies käme auch derUmwelt zugute, da wegen der verminderten Trans-portwege der Waren auch die natürlichenRessourcen geschont würden.

� Zweitens sei das von Profitgier und Wachstums-zwang getriebene offizielle Geldsystem undemo-kratisch und unsolidarisch. Die der parlamentari-schen Kontrolle entzogenen Zentralbanken seienzu weit entfernt von den Nöten und Ängsten derBürger. Deshalb haben die meisten Regionalgeld-initiativen einen Währungsrat installiert, der nachdemokratischer Entscheidungsfindung nicht nurüber die ausgegebene Geldmenge, sondern auchüber die aufgelaufenen Geldschöpfungsgewinneentscheidet. Oftmals können auch die Regional-geldhalter selbst entscheiden, welche örtliche Ein-richtung einen Teil der Einnahmen erhält.

2 Vgl. www.chiemgauer.info

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Regionalwährungen

43Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

� Drittens würde sich im herrschenden Geldsys-tem aufgrund des Zinseszinseffekts die Schere zwi-schen arm und reich immer weiter öffnen. Des-halb müsse schon aus sozialen Gründen der Zinsals leistungslose Einkunftsart bekämpft werden.Ohnehin führe das exponentielle Zinssystem derheutigen Volkswirtschaften notwendigerweise zueinem Zusammenbruch des gesamten Systems.Dies zeige ja schon das theoretische Beispiel desberühmten „Josephspfennigs“ – eines Pfennigs,der zu Christi Geburt angelegt, bereits bei rechtniedriger jährlicher Verzinsung heute auf ein un-vorstellbares Vermögen angewachsen wäre. Derartangewachsene Kreditforderungen wären naturge-geben nicht einlösbar.

Nach Gesell 3 gerät der Geldkreislauf ins Stocken,wenn nicht alles Geld umgehend für Güterkäufeausgegeben wird: Horten die Geldhalter ihre Bar-bestände, dann entsteht eine strukturelle Nachfra-gelücke auf den Gütermärkten gefolgt von Arbeits-losigkeit und ökonomischem Niedergang. Legensie ihr Geld bei Banken an, dann kehren zwar diedurch das Sparen dem Markt entzogenen Gelderüber die Kreditvergabe der Banken wieder in denKreislauf zurück, doch müssen hierfür nun die Ar-beiter, Produzenten und Kaufleute Zinszahlungenan die Geldbesitzer leisten. Der Zins sei damit einSondergewinn der Kapitalisten, der allein auf diestoffliche Besonderheit des Geldes als unverderbli-ches Tauschmittel zurückgeführt werden kann.

Wirkungsmächtige, aber abstruse Ideen

Einer fundierten ökonomischen Analyse haltendie vorgebrachten Argumente freilich nicht stand.

� Zwar wird richtig erkannt, dass gewichtige Wäh-rungen wie der Euro oder der US-Dollar in ihrerFunktion als internationale Tauschmittel die über-regionale Kapitalallokation erheblich erleichtern.Doch wird dabei die disziplinierende Wirkung desMarktmechanismus ausgeblendet: Wenn sich imZuge des weltweiten Wettbewerbs um ErsparnisseInvestitionen in bestimmten Regionen nicht ren-tieren, werden sie seitens der Kapitalgeber – dazugehören in der Regel auch die vielen kleinen Spa-rer – nicht finanziert. Dies ist in einer Marktwirt-schaft nichts Ungewöhnliches, ja vielmehr handeltes sich dabei sogar um den Kern einer auf Wettbe-

werb beruhenden Marktwirtschaft. Genauso wiesich vergleichsweise schlechte Produkte nicht ab-setzen lassen, sorgt auch hier der „Sanktionsme-chanismus“ Markt für den effizienten Einsatz derRessourcen. Will man die Investitionstätigkeit inden betroffenen Regionen ankurbeln, so sindmarktkonforme Eingriffe, wie der konsequenteAbbau bürokratischer Hindernisse und die Sen-kung von Unternehmensteuern probatere Mittelals die Bindung der Ersparnisse an die Regiondurch Kapitalverkehrsbeschränkungen.

� Dem Vorwurf, das Geldsystem in Deutschlandsei unsolidarisch mit strukturschwachen Regio-nen, kann entgegengehalten werden, dass sich ge-nerell realwirtschaftliche Strukturprobleme nichtmithilfe der Geldpolitik lösen lassen. Von kurzfris-tigen konjunkturellen Strohfeuern abgesehen,kann die Notenbank allein auf die Inflation in ih-rem Währungsraum Einfluss nehmen.

� Geradezu grotesk ist die Interpretation des Zin-ses als einen letztlich von den Arbeitern finanzier-ten Sondergewinn der Geldbesitzer, der seinen Ur-sprung in der stofflichen Überlegenheit des Geldesfindet. Der Zins kann schon allein deshalb seinenUrsprung nicht in der stofflichen Überlegenheitdes Geldes haben, da es auch in einer reinen, geld-losen Tauschwirtschaft eine Leihgebühr für die zeit-lich befristete Überlassung einer Ressource gibt.4

� Ernst genommen werden sollte hingegen dieSorge, dass ein überlineares FinanzierungssystemInstabilitäten in sich bergen kann. Diese Krisenan-fälligkeit gilt jedoch nur für einen entsprechendlangen Zeithorizont. So wäre in der Tat der vor2006 Jahren als Untereinheit der D-Mark angeleg-te „Josephspfennig“ bei einem jährlichen Zinssatzvon vier Prozent heute 7,5·1031 Euro wert. Bei ei-ner Masse der Erdkugel von etwa 2,1·1025 Kilo-gramm und einem Goldpreis von 14 800 Euro proKilogramm ergäbe dies ein utopisches, weil vonkeinem Kapitalnehmer finanzierbares Vermögenvon mehr als 240 Erdkugeln aus purem Gold.Auch wenn diese Rechnung in der Tat die Gren-zen eines auf dem Zinszins basierten Kreditsystemsaufzeigt, bleiben Mittelaufnahmen mit einem kür-zeren und deswegen realitätsnäheren Zeithorizontweiterhin finanzierbar.5

3 Vgl. Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freilandund Freigeld, 1949, Lauf bei Nürnberg, Seiten 181 ff. und 235 ff. Ers-te Ausführungen Gesells datieren bereits auf 1911 zurück; vgl. SilvioGesell, Die neue Lehre vom Geld und Zins, Berlin 1911.

4 Vgl. zur Zinsthematik in der gesellschaftlichen Wahrnehmung auchOtmar Issing, Der Zins und sein moralischer Schatten, in: Frankfur-ter Allgemeine Zeitung vom 20. November 1993.5 Es wird sich in der Realität wohl auch kein Kreditnehmer finden,der einen Kredit mit einer Laufzeit von 2006 Jahren aufnimmt, undfalls doch, werden seine Nachkommen mit Sicherheit die vererbtenSchulden ausschlagen.

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Nachhaltiger Einsatz von Ressourcen

44 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

� Auch die mit dem Horten von Geldbeständenverbundenen Befürchtungen sind durchaus ernstzu nehmen. Praktische Relevanz erfahren sie aller-dings nur in einem (zumindest drohenden) defla-tionären Umfeld. Für Länder wie Deutschland, Ös-terreich und die Schweiz, die neuerdings eine Rei-he von privaten Schwundgeldemissionen erleben,ist eine solche Situation jedoch nicht gegeben. Viel-mehr realisieren diese Länder seit Jahrzehnten sta-bile Preise oder moderate Inflationsraten. Sparenin Form von Geld ist hier vergleichsweise unrenta-bel, da einerseits über die Inflation der Realwertder Banknoten im Zeitablauf sinkt und andererseitskurzfristig abrufbare Bankeinlagen in aller Regelnicht mehr als einen Inflationsausgleich bieten. Ei-ne auf den Geldzins zurückgehende Nachfragelü-cke mit entsprechenden Folgen ist für die genann-ten Länder somit kaum denkbar.

� Doch selbst wenn durch Geldhortung tatsäch-lich eine Nachfragelücke am Gütermarkt entstün-de, wäre die Belegung der Geldbestände mit einerkonstanten Schwundrate zur Bekämpfung desGeldhortens kritisch zu sehen. Denn auf dieseWeise lässt sich eine anhaltende Erhöhung dermonetären Gesamtnachfrage, dem Produkt ausGeldmenge und Umlaufgeschwindigkeit des Gel-des, nicht erreichen.6 Zwar steigt in einem solchenSchwundgeldsystem tatsächlich die Umlaufge-schwindigkeit,7 dafür nimmt aber die umlaufendeGeldmenge entsprechend ab, so dass kein anhal-tend stimulierender Gesamteffekt auf die Güter-nachfrage zu erwarten ist.

Einschränkung von Arbeitsteilung

Auch die Hoffnung auf eine nachhaltige Regio-nalförderung durch die Beschränkung des Geldesauf die Region ist letztlich unbegründet. Ein aufregionale Abschottung zielendes System behindertden überregionalen Handel, ohne den sich eineRegion nicht weiterentwickeln kann. Zudem wer-den dadurch auch potenzielle Handelspartner ge-schädigt, indem man ihnen Wachstumschancennimmt. Die Ursache hierfür liegt im beiderseiti-gen Verzicht auf eine an komparativen Vorteilenorientierte überregionale Arbeitsteilung und aufintegrierte Absatzmärkte, die großvolumiger sind

als die Summe der Einzelmärkte. An dieser Ein-schätzung ändern auch Berichte8 über Umsatzstei-gerungen von Unternehmen, die am Regional-geldsystem teilnehmen, per se nichts.

Will man den wirtschaftlichen Gesamteffekt sicht-bar machen, müssen Umsatzzuwächse mit den ab-wanderungsbedingten Umsatzverlusten derjeni-gen Unternehmen verrechnet werden, die nichtan diesem regionalen Zahlungssystem teilnehmen.Nun kann nicht ausgeschlossen werden, dass einesolche Saldierung kurzfristig positiv für die Regionausfällt, da Regionalgelder einen gewissen Werbe-effekt besitzen. Dieser liegt aber nicht originär imlokalen Zahlungsmittel begründet, sondern viel-mehr im Kuriosum, dass in Zeiten der fortschrei-tenden Internationalisierung des Geldsystems ei-ne neue Geldform mit dezidiert regionalem Bezugbereitgestellt wird.

Kosten für die Verwender,Erträge für die Betreiber

Besonders kritisch sind die umlaufendenSchwundgelder jedoch wegen der überhöhtenGeldhaltungskosten zu betrachten. Dies verdeut-licht das folgende Rechenbeispiel, welches sich anden typischen Eckwerten der am meisten verbrei-teten Schwundgeldvariante, dem Markengeld,orientiert. Nehmen wir an, die Bewohner in einerGemeinde seien bereit, Regionalgeld im Wert von20 000 Euro für ein Jahr zu „halten“, um damit ih-re Transaktionen zu tätigen. Sie tauschen Euro-Bargeld, das sie vorher über das reguläre Banken-system zum derzeitigen Satz für Hauptrefinanzie-rungsgeschäfte (3,75 Prozent p.a. oder 750 Euro)gekauft haben, gegen die gewünschten Regional-geldscheine bei der Emissionszentrale ein. Letzte-re legt die erhaltenen Euro wieder im regulärenBankensystem an, wobei sie – vereinfachend ange-nommen – einen Zins von ebenfalls 3,75 Prozenterhalten soll. Durch diesen reinen Tausch an Zah-lungsmitteln werden die Verwender des Regional-gelds zwar nicht zusätzlich belastet. Der Geld-schöpfungsgewinn in Höhe von 750 Euro fließtaber jetzt nicht mehr dem Eurosystem, sondernder Regionalbank zu.

Eine Mehrbelastung stellt allerdings der Geld-schwund dar. Beim für üblichen laufenden Geld-verfall von zwei Prozent des Nennwerts pro Quar-tal ergeben sich kumulierte jährliche Kosten von

6 Vgl. hierzu Gerhard Rösl, Regionalwährungen in Deutschland – Lo-kale Konkurrenz für den Euro?, Deutsche Bundesbank, Diskussions-papier Reihe 1: Volkswirtschaftliche Studien, Nr. 43/2006(http://www.bundesbank.de/download/volkswirtschaft/dkp/2006/200643dkp.pdf).7 Vgl. die empirischen Untersuchungen von Joel W. Harper, Scrip andOther Forms of Local Money, Chicago 1948. 8 Vgl. www.chiemgauer.info

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Regionalwährungen

45Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

acht Prozent; bei Rückumtausch in Euro nach ei-nem Jahr werden weitere fünf Prozent fällig. DieVerwender von Schwundgeld tragen demnach zu-sätzliche Kosten in Höhe von 13 Prozent desNennwerts oder 2 600 Euro. Die Gesamtkosten derRegionalgeldhaltung belaufen sich in diesem Bei-spiel auf insgesamt 3 350 Euro pro Jahr. Gegen-über den Kosten der Haltung offizieller Geldbe-stände, die 750 Euro betragen, ist dies eine Steige-rung von fast 350 Prozent. Diese wird von den Ver-wendern des Regionalgelds getragen. Angesichtsder Höhe dürfte es auch nur wenig trösten, dassdie Betreiber in der Regel einen Teil ihrer Geld-schöpfungsgewinne an örtliche Vereine und sozia-le Einrichtungen spenden.

Schwundgeld: Ein Luxus,den sich nicht jeder leisten kann

Vor dem Hintergrund der vergleichsweise hohenKosten überrascht es nicht, dass der überwiegendeTeil der Schwundgelder in Gegenden umläuft, dierelativ strukturstark sind. Offenbar kann man sichdort den „Luxus“ Schwundgeld eher leisten als inwirtschaftlich weniger potenten Regionen. Aberwarum nimmt jemand an einem solchenSchwundgeldsystem teil?

Die Gründe hierfür dürften vielschichtig sein:Zum einen bieten diese Geldscheine ihren Besit-zern die Möglichkeit, sich demonstrativ zur Re-gion zu bekennen und ein Zeichen gegen die Glo-balisierung zu setzen. Auch dürfte die oftmals mitdem Kauf der Regionalgelder einhergehendeSpende an örtliche soziale Einrichtungen und Ver-eine für die Geldhalter einen gewissen Prestigege-winn darstellen.

Darüber hinaus kann man nicht ausschließen, dassdie relativ hohen Geldhaltungskosten zumindestzum Teil nicht allen Teilnehmern bewusst sind. DieBelastungen bleiben für den Einzelnen und in ab-soluten Zahlen durchaus überschaubar, erst in Re-lation zum Nennwert wird das wahre Ausmaß deut-lich. Daneben legen die Emittenten den Verwen-dern nahe, den Schwundkosten zu entgehen, in-dem man das Geld einfach wieder zügig ausgibt. Zu-gleich verspricht man den Unternehmen aufgrunddes schnelleren Umlaufs höhere Umsätze und Ge-winne. An dieser Stelle sollte allerdings nicht ver-gessen werden, dass wie bei jedem „Schneeballsys-tem“ der Letzte in der Reihe die Rechnung zu zah-len hat. Zudem geht ein gestiegener Umsatz nichtohne Weiteres mit einem Zuwachs des regionalenWohlstands einher: Werden Geldhalter aufgrund

des drohenden Geldschwunds faktisch dazu ge-zwungen, Güter zu kaufen, die sie eigentlich garnicht haben wollen, steigt zwar der Umsatz bei denUnternehmen, die Versorgung der Menschen inder Region ist aber nur suboptimal.

Allerdings kann man sich durchaus vorstellen,dass von einigen diese Kosten allein schon wegendes Spaßes, einmal mit Regionalgeld gezahlt zu ha-ben, getragen werden – zumindest solange der in-dividuell gehaltene Regionalgeldbestand keinesubstanziellen Größenordnungen erreicht. Diesdürfte insbesondere für Touristen gelten. So über-rascht es nicht, dass gerade im gastreichen Voral-penland mit dem „Chiemgauer“ und dem „Stern-taler“ Regionalgelder mit einem Wert von über130 000 Euro umlaufen. Des Weiteren dürften ei-nige Regionalgeldbesitzer auch ohne ausgeprägtekapitalismuskritische Grundüberzeugung an dieWirksamkeit der Regionalgelder als Beitrag zur lo-kalen Wirtschaftsförderung glauben oder zumin-dest den experimentellen Charakter der Schwund-geldemission für unterstützungswürdig erachten.

Ungelöste juristische Fragen

Aktuell geht im Schnitt etwa alle zwei Monate eineneue Regionalgeldinitiative an den Start. Auf abseh-bare Zeit scheint die Nachfrage nach regionalemGeld in Deutschland weiter zunehmen zu können.Seitens der Anbieter von Regionalwährungen ist je-denfalls nicht mit einer Abschwächung der Emis-sionstätigkeit zu rechnen, lässt sich doch auf dieseWeise völlig risikolos „Geld mit Geld verdienen“.

Verbleibt zum Schluss nur die Frage, ob nichtirgendwann die staatlichen Behörden gegen dieseRegionalgeldprojekte mit rechtlichen Mitteln vor-gehen werden. Nach § 35 Bundesbankgesetz istdie Ausgabe von Nebengeld verboten, wenn diesesgeeignet ist, im Zahlungsverkehr anstelle von ge-setzlichen Zahlungsmitteln verwendet zu werden.Ökonomisch gilt dies zweifelsohne: Regionalwäh-rungen sind Zahlungsmittel, die auf Dritte über-tragbar sind, eine eigene Recheneinheit darstellenund als (wenn auch vergleichsweise schlechtes)Wertaufbewahrungsmittel dienen. Weiterer Klä-rungsbedarf besteht vor allem dahingehend, ob essich auch im juristischen Sinne um Geld handeltoder ob Regionalgeld schlicht Ergebnis der imGrundgesetz verankerten Vertragsfreiheit ist. Ausökonomischer Sicht stellen Regionalgeldemissio-nen jedenfalls auf absehbare Zeit keine Bedro-hung für die Funktionsfähigkeit der Geldpolitikdes Eurosystems dar. �

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Europäische Union

46 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Bei der Frage nach den Grenzen Europas geht esmeist um die territoriale Ausweitung der Europäi-schen Union (EU). Im technischen Sinne wird da-bei diskutiert, wie die EU noch mehr Mitgliederhaben kann, ohne ihre innere Kohärenz undHandlungsfähigkeit zu verlieren. Zumindest im-plizit ist dabei immer auch die prekäre IdentitätEuropas adressiert: Wer gehört zu Europa? Zuwei-len wird das Thema auf die „Türkeifrage“ redu-ziert: Ist die Türkei noch Okzident oder schonOrient?

Die Frage nach den Grenzen Europas hat nebender „äußeren“ Dimension eine „innere“ Kompo-nente, die häufig vernachlässigt wird: Was kannund darf die EU zentral für alle Mitgliedstaaten re-geln? Technisch wird diese Frage häufig mit Ver-weis auf das Subsidiaritätsprinzip beantwortet, ob-wohl dieses Prinzip in der europapolitischen Pra-xis oft mehr Ratlosigkeit als Orientierung schafft.

Traditionell geht es bei der europäischen Vereini-gung nicht nur um die Bestimmung von Grenzen,sondern auch um deren Überwindung. So mussetwa die derzeitige Unfähigkeit, Probleme zu lö-sen, ebenso überwunden werden wie die begrenz-te Demokratiefähigkeit. Wenn ersteres nicht ge-lingt, ist die erweiterte Union verurteilt, ein bewe-gungsunfähiger Riese zu sein. Gelingt letzteresnicht, müssen die EU-Bürger mit dem Umstand le-ben, dass die Europäische Kommission in Brüsselimmer mehr Macht besitzt, die jedoch nicht hin-reichend demokratisch legitimiert ist. Damit über-haupt Lösungen für die beiden Probleme gefun-den werden können, muss zunächst die wichtigsteGrenze – nämlich die gedankliche in den Köpfen– abgebaut werden. Die EU ist hinsichtlich ihrerinstitutionellen Architektur etwas anderes als einStaatenbund oder Bundesstaat. Sie wird sich auchkünftig den gängigen Kategorien von Staatlich-keit, Demokratie und Nation entziehen.

Nachbarschaftspolitik als Alternative zur Erweiterung

Ohne sich etwa in der Türkeifrage abschließendfestlegen zu wollen, macht Bundeskanzlerin Ange-la Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 11.Mai 2006 klar, dass der Erweiterung der EU Gren-zen gesetzt werden müssen.1 An die Stelle jahre-langer Erweiterungseuphorie ist damit eine gewis-se Ernüchterung getreten: „Ein Gebilde, das keineGrenzen hat, kann nicht in sich schlüssig handelnund eine bestimmte Verfasstheit haben. Das müs-sen wir uns klar vor Augen halten und deshalbGrenzen ziehen.“ Die Kanzlerin trägt damit der Er-kenntnis Rechnung, dass sich die EU nicht belie-big vergrößern kann. Es werde, so Merkel in einerRede am 22. September 2006, „keine neuen Zusa-gen“ mehr geben, „was Mitgliedschaften anbe-langt“. Mit dem Beitritt Bulgariens und Rumä-niens – so lässt sich das interpretieren – ist die Er-weiterung erst einmal abgeschlossen, während dieVertiefung der EU noch nicht an ihre Grenzen ge-stoßen ist.2

Da nicht alle Staaten, die Mitglied werden wollen,in der EU aufgenommen werden könnten, müsseindessen die Nachbarschaftspolitik insbesonderefür die Schwarzmeerregion und Zentralasienweiterentwickelt werden: „Nachbarschaftspolitikist die vernünftige und attraktive Alternative“, soMerkel am 17. Januar 2007 vor dem EuropäischenParlament. Diese Stoßrichtung ist sinnvoll, denngravierende Defizite und Widersprüche sind indiesem Politikfeld kaum zu übersehen.3 Je besseres der EU gelingt, eine überzeugende Nachbar-

Die Agenda der deutschen EU-Ratspräsidentschaft:Lippenbekenntnisse und tatsächliche PrioritätenDr. Marcus HörethInstitut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn

Die Europäische Union steckt in einer Identitäts- und Legitimationskrise. Vordergründig geht es um die Bestimmung der

äußeren Grenzen und die Organisation im Inneren. Tatsächlich müsste aber viel mehr getan werden, damit die Bürger

die Integration Europas von Herzen unterstützen.

1 Die Reden von Angela Merkel findet man unter: www.bundes-kanzlerin.de2 Angela Merkel in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitungvom 6. November 2006.

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Deutsche Ratspräsidentschaft

47Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

schaftspolitik zu betreiben, desto leichter wird esihr fallen, sich bei der Bestimmung ihrer äußerenGrenzen festzulegen. Gelingt dies nicht, tritt ein,was die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärungbereits im Mai 2006 befürchtete, nämlich, dass die-jenigen, die nicht Mitglied werden können, vorden Kopf gestoßen werden und die Union als „ab-geschlossene Burg“ wahrgenommen wird.

Eine klare, verbindlichfestgelegte Kompetenzordnung

Viele Bürger in Deutschland sind der Auffassung,dass sich die EU in Angelegenheiten einmische,für die sie nicht zuständig sei. Daher wächst dasBedürfnis, dem Unionshandeln dort, wo es sichum ureigene Angelegenheiten der Mitgliedstaatenhandelt, Einhalt zu gebieten. Zumindest müssebesser beschrieben werden, wofür die Union zu-ständig ist, betonte Merkel in ihrer Rede vor demEuropäischen Parlament. Bereits in ihrer Regie-rungserklärung vom Mai vergangenen Jahres hatdie Kanzlerin eine klarere Kompetenzordnungverlangt und dies zu einem wichtigen Punkt ihrereuropapolitischen Agenda gemacht: „VerwischteKompetenzen sind nämlich immer ein Demokra-tiedefizit. Die Leute wissen nicht mehr, wen sie fürwas verantwortlich machen können.“

Um die Bestimmung der Grenzen des Unionshan-delns nach innen voranzutreiben, plädiert dieKanzlerin ausdrücklich für den Verfassungsver-trag, der eine klare Kompetenzordnung festge-schrieben habe. Zudem benennt sie für Europaein zunächst überzeugendes Vorbild, nämlich dasGrundgesetz: „Es gehört zu den wunderbarenMerkmalen des Grundgesetzes, dass es die Kom-petenzen klar auf die einzelnen Ebenen verteilt.“

Diese Argumentation verwundert jedoch ein we-nig, da gerade die Kompetenzordnung des Grund-gesetzes mit ihren „geteilten Zuständigkeiten“ inden letzten Jahrzehnten einen Zentralisierungs-schub ermöglicht hat, durch den die Bundeslän-der gravierend Gesetzgebungsautonomie verlorenhaben. Zudem ist es auch im „unitarischen Bun-desstaat“ mit seiner Politikverflechtung und derZustimmungsbedürftigkeit der meisten Bundesge-

setze für die Bürger schwierig geworden zu erken-nen, wen sie wofür verantwortlich machen kön-nen. Schon aus diesen Gründen kann die Kompe-tenzordnung des Grundgesetzes – auch nach ihrerjüngsten eher unbefriedigenden Reform4 – kaumals Vorbild für die EU dienen. Doch auch der Ver-fassungsvertrag, für dessen Ratifizierung die Kanz-lerin plädiert, wird in der Zuständigkeitsproble-matik kaum für mehr Klarheit sorgen, da die wirk-lich drängenden Probleme ungelöst bleiben.5

Ein Verfassungsrahmen,der differenziertes Handeln zulässt

Der Nizza-Vertrag wurde von den politischen Eli-ten in Europa als unbefriedigend empfunden, davor der Erweiterung der Union die institutionelleVertiefung stehen müsse. Trotzdem wurde die Er-weiterung um die ehemaligen Ostblockstaatenvollzogen. Es fiel der Union leichter, ihre damali-gen Grenzen nach außen zu überwinden als ihreinneren Grenzen. Angela Merkel scheint gewillt,Versäumtes nachzuholen. Die Bundesregierungsetzt alles daran, den europäischen Verfassungs-vertrag zu retten, dem nach den gescheiterten Re-ferenden in Frankreich und den Niederlandenviele Beobachter keine Chance mehr einräumenwollten.

Diesem Pessimismus setzt die Bundeskanzlerin de-monstrativ Zweckoptimismus entgegen: „Was dieHandlungsfähigkeit anbelangt, ist die Debatteüber den Verfassungsvertrag sehr wichtig. (…) Wirbrauchen den Verfassungsvertrag. Wir brauchenihn, weil er auf verschiedene Fragen Antwortengibt.“ Als primäres Ziel für die deutsche Ratspräsi-dentschaft hat Angela Merkel in ihrer Regierungser-klärung vom 14. Dezember 2006 versprochen, bisJuni 2007 einen Fahrplan vorzulegen, wie die Ver-fassung in ihrer Substanz umgesetzt werden kann.

Dieses Vorhaben ist der Kanzlerin hoch anzurech-nen, denn die Verfassung bleibt auf absehbare Zeitdas Referenzmodell für die Debatte um institutio-nelle Reformen, selbst wenn die Ratifizierungnicht gelingen sollte. Allerdings bleiben auch mitder Verfassung einige zentrale Fragen unbeant-wortet, beispielsweise ob die Einrichtung eines eu-ropäischen Außenministeriums sinnvoll ist.

3 Siehe hierzu die Beiträge im Themenheft „Inklusion, Exklusion, Il-lusion: Konturen Europas: Die EU und ihre Nachbarn“ der ZeitschriftOSTEUROPA 2-3/2007 sowie Georg Michels/Peter Zervakis, DieUnion und ihre Nachbarn, in: Marcus Höreth/Cordula Janowski/Lud-ger Kühnhardt (Hrsg.), Die Europäische Verfassung. Analyse und Be-wertung ihrer Strukturentscheidungen, Baden-Baden 2005, Seiten253–270.

4 Vgl. Werner Reutter, Föderalismusreform und Gesetzgebung, in:Zeitschrift für Politikwissenschaft 4 (2006), Seiten 1249–1274.5 Vgl. Klaus Bünger/Marcus Höreth/Cordula Janowski/Uwe Leo-nardy, Die Zuständigkeiten der Union, in: Die Europäische Verfassung.Analyse und Bewertung ihrer Strukturentscheidungen, Baden-Baden2005, Seiten 93–125.

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Europäische Union

48 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Auch in einem neuen Verfassungsrahmen müssendie Regierungen der Mitgliedstaaten selbst denWillen zum Handeln aufbringen. Die beste Verfas-sung nützt nichts, wenn die unterschiedlichenInteressen politisch nicht überbrückt werden kön-nen – und diese Gefahr ist in einer zunehmendheterogenen Union real.

Ob mit oder ohne Verfassung – man wird in Euro-pa kaum daran vorbei können, weiterhin Strate-gien der differenzierten Integration zu verfolgen.Einzelne Staaten mit ähnlichen Problemen wer-den auch in Zukunft gemeinsam Lösungen entwi-ckeln und mit der Integration voranschreiten, oh-ne dass alle anderen mitziehen müssen. Das ist –wie der nicht in allen Mitgliedstaaten eingeführteEuro belegt – längst gängige Praxis. Wenn man dieosteuropäischen Staaten den gleichen Umwelt-schutzregelungen und sozialen Standards unter-werfen würde, wie sie die hoch entwickelten west-lichen Wohlfahrtsstaaten praktizieren, beraubteman sie genau der Wettbewerbsvorteile, die siegegenwärtig noch benötigen.

Ein neues Verständnis von Demokratie und Legitimität

Erstaunlicherweise spricht Bundeskanzlerin Mer-kel kaum vom Demokratiedefizit in der EU. Allen-falls am Rande bemerkt sie, dass der Verfassungs-vertrag Europa auch demokratischer machen wür-de. Doch das Problem sitzt tiefer, als dass es mit ei-nigen technischen Verbesserungen, beispielsweisebei den Abstimmungsmodalitäten im Rat und dererneuten Aufwertung des Europäischen Parla-ments, aus der Welt geschaffen werden könnte.Folgt man der Auffassung vieler Experten und ins-besondere der deutschen Staatsrechtslehre, so istdie Demokratiefähigkeit Europas eng begrenzt.6Das mag stimmen; es muss aber kein endgültigerZustand sein. Die Europäer müssen intellektuelleGrenzen überwinden und lernen, sich Demokra-tie jenseits des Nationalstaats vorzustellen. Wenndas nicht gelingt, wird die EU immer als notwen-diges Übel erscheinen, weil es wegen der vielengrenzüberschreitenden Probleme keine Alternati-ve zu ihr gibt.

Die Legitimationskrise, die Europa gerade durch-läuft, hängt nicht nur damit zusammen, dass die

Bürger mit den Ergebnissen auf den europäi-schen Politikfeldern unzufrieden sind. Wichtigerist, dass die jahrzehntelang latent vorhandene Zu-stimmung zum sich vereinigenden Europa inzwi-schen durch latentes Unbehagen abgelöst wurde.Dass Europa grundsätzlich als etwas Gutes unddie Mitgliedschaft in der EU als vorteilhaft ange-sehen wird, kann nicht mehr pauschal unterstelltwerden.7

Die Agenda hinter der Agenda

50 Jahre nach den Römischen Verträgen muss dieeuropäische Einigung neu begründet werden. Dastagtägliche „Sich durchwursteln“ reicht in der Eu-ropapolitik nicht mehr. Europa leidet nicht nur anseinen Institutionen, der fehlenden Verfassungoder an fehlgeleiteten Politiken, sondern vor allemam Verhalten des politischen Führungspersonals.Aus der Sicht der Bürger sind weniger die Inhalteder europäischen Politik oder deren institutionel-ler Rahmen kritikwürdig, sondern vielmehr die Artund Weise, wie Europapolitik betrieben wird.

Aus welchem Grund sollte die EU anerkannt sein,wenn die wichtigsten Entscheidungen von anony-men Experten vorbereitet und hinter geschlosse-nen Türen getroffen werden, sodass eine Zurech-nung politischer Verantwortung quasi unmöglichist? Wieso sollten die Bürger die EU-Mitgliedschaftpositiv bewerten, wenn Politiker zu Hause „Brüs-sel“ für Entscheidungen verantwortlich machen,an denen sie selbst beteiligt waren?

Solange die Entwicklungen in der EU vor allem alsÜbel wahrgenommen werden, fehlt der europäi-schen Integration weiterhin jene grundsätzlicheUnterstützung, die sie doch so dringend benötigt.Es wäre die Aufgabe der politisch Verantwort-lichen, ehrlicher mit der EU umzugehen, um die-sem einzigartigen Projekt einer überstaatlichen po-litischen Ordnung wieder zu stärkerer Anerken-nung zu verhelfen. Man muss kein Prophet sein,um vorauszusagen, dass diese von der Bundesre-gierung weitgehend übersehene „Agenda hinterder Agenda“ der deutschen Ratspräsidentschaft dieEuropäer noch lange beschäftigen wird. �

6 Vgl. beispielsweise Paul Kirchhof, Europäische Einigung und derVerfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee(Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, Berlin 1993,Seiten 63-102.

7 Vgl. Marcus Höreth, Die erweiterte EU in der Legitimitätskrise, in:Der Bürger im Staat 54/1 (2004), Seiten 41–47.

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49Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Die Europäische Union (EU) hat seit 1975 beson-dere Handelsbeziehungen zu ihren ehemaligenKolonien in Afrika, in der Karibik und im Pazifik(AKP-Länder). In den Lomé-Abkommen I bis IVund im Cotonou-Abkommen wurden enge wirt-schaftliche, soziale und politische Kooperationenfestgelegt. Herzstück dieser Abkommen sind um-fangreiche Handelspräferenzen, ohne die Not-wendigkeit entsprechender Marktöffnung seitensder AKP-Länder, sowie die Finanzierung der Ko-operationen im Rahmen des Europäischen Ent-wicklungsfonds.

Ende der 1990er Jahre, mit Auslaufen des Lomé-IV-Abkommens, zeichnete sich ab, dass die Han-delsbeziehungen der EU zu den AKP-Ländern ge-ändert werden müssen. Die Beziehungen sind mitdem Grundprinzip der Welthandelsorganisation(WTO) nicht vereinbar, nach dem zwischen Han-delspartnern nicht diskriminiert werden darf. Mitihrer Sonderbehandlung der AKP-Länder diskri-minierte die EU die Entwicklungsländer, die nichtder AKP-Gruppe angehören. Das Cotonou-Ab-kommen von 2000 sieht deshalb vor, dass die AKP-Länder ab 2008 mit der EU in sogenannte Wirt-schaftspartnerschaftsabkommen (Economic Part-nership Agreements – EPAs) treten. Kern derEPAs ist ein Freihandelsabkommen zwischen denAKP-Regionen und der EU.

Die Entwicklungsziele der EPAs

Die Neuordnung der Handelsbeziehungen zwi-schen der EU und den AKP-Ländern stellt einenParadigmenwechsel in der europäischen Entwick-lungspolitik dar. Erstmals werden Freihandelsab-kommen als aktives Instrument eingesetzt, um dieEntwicklungsperspektiven armer Länder zu ver-bessern. Auch wenn die Europäische Kommissionbetont, dass die Freihandelskomponente nur einTeil von EPAs ist, der nicht ausreicht, um die wirt-

schaftliche und soziale Marginalisierung der AKP-Länder zu überwinden, so stellt sich doch die Fra-ge, ob ein Freihandelsabkommen zwischen denhoch entwickelten Ländern der EU und den ärm-sten Ländern der Welt letzteren hilft, sich wirt-schaftlich zu entwickeln.1

Im Cotonou-Abkommen einigten sich die Parteiendarauf, dass EPAs helfen sollen, die wirtschaftlicheEntwicklung in den AKP-Ländern zu fördern, Ar-mut zu bekämpfen, regionale Integrationsbünd-nisse zu stärken und die Integration der AKP-Län-der in die Weltwirtschaft zu fördern. Im Einzelnenwurde vereinbart, dass die EPAs

� WTO-kompatibel sein müssen, dabei jedoch dieSonderbehandlung von Least Developed Coun-tries (LDCs)2 gewährleisten sowie die Verwund-barkeit der AKP-Binnenstaaten und Inselökono-mien berücksichtigen;

� bei der Importliberalisierung den Entwick-lungsstand, die Kapazitäten und die Anpassungsfä-higkeiten der AKP-Länder berücksichtigen undausreichend Zeit für den Übergang von Präferenz-zu Freihandelsabkommen lassen;

� den Zugang der AKP-Länder zum EU-Markt ver-bessern und ihre Produktions- und Handelskapa-zitäten stärken;

� eine klare Verbindung zwischen finanziellerEntwicklungszusammenarbeit und der Handels-politik herstellen;

Wirtschaftspartnerschaften mit den AKP-Ländern: Ein neuer Weg der europäischen Entwicklungspolitik?Dr. Mareike MeynOverseas Development Institute (ODI), London

Die Europäische Union verhandelt zurzeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks über sogenannte Wirt-

schaftspartnerschaftsabkommen. Mit ihnen sollen nicht nur die Handelsbeziehungen intensiviert, sondern auch der Frei-

handel als Maßnahme in der europäischen Entwicklungspolitik eingesetzt werden.

1 Diese Frage wird auch von diversen Studien nicht beantwortet.Für einen kritischen Überblick über Nord-Süd-Freihandelsabkom-men siehe etwa UNCTAD, Trade and Development Report 2002,United Nations, Genf und New York 2002.2 Die „Least Developed Countries“ (LDCs) entsprechen bestimm-ten Kriterien der Vereinten Nationen in den Bereichen Einkommen,wirtschaftliche und humane Entwicklung sowie Einwohnerzahl undsind international anerkannt. Rund die Hälfte der AKP-Länder sindals LDCs klassifiziert.

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Europäische Union

50 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

� auf bestehende regionale Integrationsinitiativenaufbauen und regionale Märkte stärken, bevorsich die Region gegenüber der EU öffnet.

Spielräume bei der Interpretation von WTO-Bestimmungen

Die EPAs müssen mit den Bestimmungen derWTO im Einklang stehen, was bedeutet, dass sie„den wesentlichen Handel“ in einer „angemesse-nen Zeitspanne“ liberalisieren müssen (ArtikelXXIV GATT). Die genaue Bedeutung von „sub-stantially all trade in a reasonable length of time“ist strittig, wird aber von der EU so interpretiert,dass 90 Prozent des bilateralen Handels innerhalbvon zehn Jahren liberalisiert werden müssen. Auf-grund der enormen Entwicklungsunterschiedezwischen der EU und den AKP-Ländern habensich die Parteien im Cotonou-Abkommen daraufgeeinigt, eine ausreichende Übergangfrist bei derLiberalisierung einzuhalten und Spielraum fürden Schutz „sensitiver Produkte“ zu lassen.

Der Schutz sensitiver Produkte ist jedoch auf-grund der geforderten WTO-Kompatibilität sowieaufgrund des regionalen Ansatzes der EPAs kom-pliziert. Da die EU mit Regionen, die jeweils sie-ben bis 15 AKP-Länder umfassen, verhandelt, sol-len die Länder sensitive Produkte auf regionalerEbene festlegen. Dies führt zu Schwierigkeiten, dadie Zollraten und -strukturen der Länder einerEPA-Region voneinander abweichen. Wie soll abereine Region, deren Mitglieder noch nicht einmalden Handel untereinander liberalisiert haben, ge-schweige denn sich auf einen gemeinsamen Zoll-satz gegenüber Drittländern geeinigt haben, alseinheitliche Region ein Freihandelsabkommenmit einem Drittland verhandeln?

Weiterhin ist die vorherrschende Interpretationvon Artikel XXIV umstritten. In den laufendenVerhandlungen der WTO (Doha-Entwicklungs-runde) soll es auf Wunsch der AKP-Länder zu ei-ner Neuinterpretation des Artikels kommen. EPAskönnten demnach WTO-kompatibel sein, wennsie weniger bilateralen Handel als 90 Prozent um-fassen und über einen längeren Zeitraum als zehnJahre liberalisieren. Andererseits könnten sich dieWTO-Mitglieder auf eine noch striktere Ausle-gung von Artikel XXIV einigen.

Auch wenn unsicher bleibt, wie Artikel XXIV inZukunft interpretiert wird, bieten die EPAs dieMöglichkeit, die Regel großzügiger auszulegen, dadas Risiko eines WTO-Schiedsgerichtsspruchs sehr

gering ist. Da die Handelsbeziehungen zwischender EU und den AKP-Ländern global relativ unbe-deutend sind, dürften EPAs mit einer großzügige-ren Auslegung von Artikel XXIV wahrscheinlichnicht angefochten werden. Allerdings sieht es zur-zeit nicht so aus, als wäre die Europäische Kom-mission bereit, ein solches Experiment zu wagen.Obwohl bereits Nord-Süd-Freihandelsabkommenexistieren, die die WTO-Bestimmungen großzügi-ger auslegen (zum Beispiel zwischen Kanada undThailand oder Australien und Costa Rica), hat dieKommission bisher nur Freihandelsabkommenmit Entwicklungsländern (Südafrika, MERCO-SUR3, Chile) verhandelt, die mehr als 85 Prozentbilateralen Handels in nicht länger als zwölf Jah-ren liberalisiert haben.

Die Sonderbehandlung von Entwicklungsländern(Artikel XVIII GATT) sieht vor, dass Entwicklungs-länder ihre Zölle flexibel gestalten können und ineinem geringeren Umfang liberalisieren müssenals Industrieländer, wenn dies ihrer ökonomi-schen und industriellen Entwicklung förderlichist. Diese Bestimmung wird seit Bestehen derWTO (1995) so interpretiert, dass Entwicklungs-länder die gleichen reziproken Verpflichtungenhaben wie Industrieländer, ihnen für deren Um-setzung jedoch mehr Zeit gelassen wird. Nur dieals LDC klassifizierten Länder sind von der Rezi-prozität der WTO-Bestimmungen ausgenommen.

Die Europäische Kommission geht mit den EPAseinen Schritt weiter: Reziprozität und Regionali-sierung sind zentrale Elemente von EPAs. Da allesechs EPA-Regionen auch LDCs umfassen und eingemeinsamer regionaler Außenzollsatz als Voraus-setzung für ein EPA gesehen wird, müssen auchdie LDCs, die einem EPA beitreten, ihre Zöllegegenüber der EU liberalisieren. Ihre Sonderbe-handlung im Rahmen der WTO wird damit ausge-hebelt. Theoretisch können LDCs ihren einseitigpräferierten Marktzugang aufrechterhalten, wennsie sich entscheiden, keinem EPA beizutreten, son-dern weiterhin im Rahmen der EU-Initiative „Eve-rything But Arms“4 zu exportieren. Praktisch istdies jedoch aufgrund des regionalen Charaktersvon EPAs kaum möglich.5

3 Der MERCOSUR ist eine Freihandelszone in Lateinamerika, be-stehend aus Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Vene-zuela.4 Die 2001 ins Leben gerufene „Everything But Arms“-Initiative er-möglicht den LDCs, alle (bis auf militärische) Exporte zoll- und ab-gabenfrei in die EU einzuführen. Für Bananen, Reis und Zucker wur-den Übergangsperioden bis 2006 bzw. 2009 vereinbart. DieInitiative hat keinen vertraglichen Charakter und kann jederzeit vonder EU widerrufen werden.

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Entwicklungspolitik

51Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Besserer Marktzugang und großzügigere Ursprungsregeln

Die AKP-Länder können 97 Prozent ihrer Gesamt-exporte zoll- und abgabenfrei in die EU einfüh-ren. Dennoch kann der Zugang zum EU-Markt fürAKP-Länder im Agrar- und Nahrungsmittelbe-reich sowie im Bereich arbeitsintensiver Güter ver-bessert werden. Die AKP-Länder verlangen soforti-gen freien Zugang zum EU-Markt. Bislang ist dieEU bereit, ihren Markt nach einer Übergangfristvon zehn Jahren für AKP-Importe komplett freizu-geben. Angesichts der Tatsache, dass die AKP-Län-der nur für drei Prozent der EU-Importe verant-wortlich sind und bereits 97 Prozent ihrer Produk-te frei einführen können, erscheint dieses Ange-bot kaum akzeptabel.

Der Wechsel der EU-Agrarpolitik von Produktsub-ventionen zu Einkommensbeihilfen hat zu sinken-den Preisen für Agrarerzeugnisse geführt. Diesmacht nicht nur den EU-Markt weniger attraktivfür AKP-Exporte, sondern hat auch zu höhererWettbewerbsfähigkeit von EU-Agrarexporten ge-führt, was in einigen AKP-Ländern schädliche Aus-wirkungen auf die heimische Produktion hat.6 DerWegfall von EU-Präferenzen und die sinkende At-traktivität der EU für Exporte sind weitere Argu-mente für die Notwendigkeit, den Marktzugangder AKP-Länder zu verbessern. Außerdem habendie AKP-Länder teilweise hohe Anpassungskostenaufgrund der EPAs zu erwarten, und die Aussicht

auf besseren Zugang zum EU-Markt war eine ihrerHauptmotivationen, in Verhandlungen mit derEU zu treten.

Die AKP-Länder verlangen weiterhin großzügigereUrsprungsregeln. Die Regeln dienen dazu, das Ur-sprungsland zu identifizieren und Re-Exporte zuvermeiden.7 Das EU-Ursprungsregelwerk wird zur-zeit reformiert. Dabei ist unsicher, ob es zu einerVerbesserung der Marktzugangsbedingungen fürAKP-Länder kommen wird. Vom Standpunkt einesentwicklungsfreundlichen EPAs aus müssten dieUrsprungsregeln so gestaltet werden, dass sie ei-nerseits die industriellen Fähigkeiten der AKP-Länder nicht überfordern und andererseits lokaleWertschöpfung sowie nationale und regionaleWertschöpfungsketten in den AKP-Ländern för-dern. Um den regionalen Handel in den AKP-Län-dern zu stärken und regionale Wertschöpfungs-ketten (zum Beispiel im Bereich der Nahrungs-mittel- oder Lederindustrie) aufzubauen, ist esnotwendig, dass alle Mitglieder eines EPA den glei-chen Marktzugang zur EU haben.

Die Sonderbehandlung von LDCs beim Marktzu-gang zur EU ist nicht sinnvoll. Würde den zurAKP-Gruppe gehörenden LDCs freier Marktzu-gang gewährt werden, während die anderen AKP-Länder Marktzugangsbeschränkungen erfahren,müsste die EU unterschiedliche Ursprungsregelninnerhalb eines EPA anwenden, um zwischenLDC- und Nicht-LDC-Importen zu unterscheiden.Dies würde die finanziellen und administrativenKapazitäten der AKP-Länder, die den Ursprungs-nachweis erbringen müssten, stark strapazieren.5 Aufgrund der Schwierigkeiten vieler AKP-Länder, das Ursprungs-

land ihrer Importe zu identifizieren, besteht das Risiko, dass indi-rekte EU-Importe im Rahmen regionaler Liberalisierungsinitiativennicht entsprechend verzollt werden.6 Vgl. Agritrade, EPA negotiations, Eastern and Southern Africa:Executive Brief, EPAs-ESA-CTA Brief 1106, November 2006(http://agritrade.cta.int).

7 Aus entwicklungsökonomischer Sicht wird kritisiert, dass die Ur-sprungsregeln des Cotonou-Abkommens zu strikt sind und die lo-kale Weiterverarbeitung und Diversifizierung in den AKP-Ländernbehindern. Siehe etwa UNCTAD, a. a. O., Seite 244.

Warenstruktur des EU-AKP-Handels 2005

Anteil der AKP-Staaten an den Anteil der AKP-Staaten an den

jeweiligen EU-Importen jeweiligen EU-Exporten

Agrarprodukte 12,4 % 6,2 %

Energie 5,3 % 5,5 %

Nicht-agrarische Rohstoffe 5,9 % 5,8 %

Büro- und Telekommunikationsausstattung 0,1 % 2,7 %

Elektrische und nicht-elektrische Anlagen 0,2 % 2,9 %

Beförderungsmittel 3,5 % 3,7 %

Chemikalien 0,4 % 2,1 %

Textilien und Bekleidung 1,0 % 1,5 %

Eisen und Stahl 0,9 % 3,3 %

Quelle: EU-Kommission

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Europäische Union

52 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Darüber hinaus könnte es sein, dass ein entspre-chender Nachweis von der EU aufgrund der admi-nistrativen Schwächen in vielen AKP-Ländernnicht akzeptiert würde.8

Zudem erschweren Zölle für verarbeitete Produk-te die Exporte in die EU: Rohstoffe, wie Kaffee-oder Kakaobohnen, können frei eingeführt wer-den, während verarbeitete Produkte, wie Instant-Kaffee oder Kakaopulver, hohe Zölle aufweisen.Weitere Schwierigkeiten für AKP-Exporteure be-stehen in der Einhaltung von europäischen Si-cherheits- und Gesundheitsstandards sowie um-fangreichen Vorschriften, etwa bezüglich Mindest-mengen, Registrierung, Verpackung und Beschrif-tung. Die Einhaltung dieser Vorschriften erhöhtdie Kosten des Markteintritts und erschwert denAKP-Ländern, Marktnischen zu besetzen, zum Bei-spiel im Bereich von Gewürzen oder verarbeitetenexotischen Früchten.

Die nicht-tarifären Handelshemmnisse in EPA-Ver-handlungen anzusprechen, ist schwierig, da sievon verhandelbaren Regeln, etwa über Mindest-mengen, bis zu strikt einzuhaltenden Lebens-mittelvorschriften reichen. Nötig wäre deshalb,auf nationaler und regionaler Ebene zu ermitteln,welche konkreten Probleme Firmen in AKP-Län-dern bei Exporten in die EU haben. In einemzweiten Schritt sollte mit der Europäischen Kom-mission verhandelt werden, wie diese Hemmnisseüberwunden werden können (zum Beispiel durchtechnische Hilfe, um die Standardisierung vonProdukten zu erreichen). Leider ist die Einbezie-hung des Privatsektors in die Verhandlungen, diefür die Formulierung solch offensiver Verhand-lungsstrategien notwendig ist, in vielen AKP-Län-dern unzureichend.

Zollverluste als Folge der Liberalisierung

Obwohl sich das Protektionsniveau zwischen deneinzelnen AKP-Ländern stark unterscheidet, wei-sen sie im Durchschnitt ein wesentlich höheresZollniveau auf als die EU. Je nach Zollniveau undRelevanz der EU als Importquelle, werden dieZollverluste für einige AKP-Länder, vor allem inAfrika, schmerzhaft sein. Die Auswirkungen derZollverluste werden auf fünf bis zehn Prozent fürWestafrika, ein bis zwölf Prozent für das südlicheund östliche Afrika und zwölf Prozent für Zentral-

afrika geschätzt.9 Allerdings vermitteln die Schät-zungen nur ein statisches Bild.

Über die dynamischen Effekte der Zollverlusteaufgrund der EPAs kann nur spekuliert werden:Durch erhöhte EU-Importe zulasten von Drittlän-derimporten könnten sich die Zollverluste auf-grund von EPAs erhöhen, während sie durch hö-here Gesamtimporte und bessere wirtschaftlicheRahmenbedingungen als Resultat der Liberalisie-rung sinken könnten. Die Europäische Kommis-sion geht davon aus, dass die Zollverluste durchEPAs durch höhere Handelsvolumina, eine effek-tivere Zollverwaltung und die Erschließung neuerFinanzquellen für den öffentlichen Haushalt, etwader Mehrwertsteuer, kompensiert werden können.

Allerdings haben die meisten AKP-Länder bereitsumfangreiche fiskalische Reformen durchgeführt,um die Steuereinnahmen zu verbessern und ihreAbhängigkeit von Zolleinnahmen zu verringern.Aufgrund der schmalen Steuerbasis sowie institu-tioneller und administrativer Schwächen inner-halb der AKP-Länder sind die Möglichkeiten er-höhter Steuereinnahmen begrenzt. Eine weitereHerausforderung für EPAs ist deshalb, fiskalischeund handelspolitische Reformen miteinander zuverbinden. Sinkende Zolleinnahmen dürfen nichtzur Reduzierung öffentlicher Ausgaben führen, et-wa für Bildung oder Gesundheitsversorgung.Durch eine verbindliche finanzielle Zusicherungder EU könnte in transparenter Weise nachvollzo-gen werden, wie viel Geld zur Verfügung stünde,um alternative Finanzierungsquellen aufzubauen,die einzelnen Komponenten des Abkommens um-zusetzen oder die regionale Komponente derEPAs zu sichern (etwa durch die institutionelleStärkung der Regionalorganisationen).

Obwohl im Cotonou-Abkommen das Ziel vorgege-ben wurde, eine klare Verbindung zwischen finan-zieller Entwicklungszusammenarbeit und Handels-politik herzustellen, verweigert die EuropäischeKommission bislang jegliche finanzielle Zusage, dieüber die im 10. Europäischen Entwicklungsfonds(2007-2013) festgelegte Summe hinausgeht. Diemeisten EU-Mitgliedstaaten wollen keine finanziel-len Zusagen in die EPA-Verträge aufnehmen, ha-ben sich jedoch aufgrund des Drucks seitens derAKP-Länder und Nichtregierungsorganisationendarauf geeinigt, zwei Milliarden Euro jährlich als„aid for trade“ für Entwicklungsländer bereitzustel-

8 Vgl. Paul Brenton/Miriam Manchin, Making EU Trade Agree-ments Work: The Role of Rules of Origin, World Economy, Volume26, No. 5, 2003, Seiten 755-769.

9 Vgl. etwa Matthias Busse/Axel Borrmann/Silke Neuhaus, TradeInstitutions and Growth: An Empirical Analysis of the ProposedACP/EU Economic Partnership Agreements for ECOWAS countries,HWWA, Hamburg 2005.

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Entwicklungspolitik

53Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

len. Angesichts der Selbstverpflichtung der EU, dieoffizielle Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Prozentdes Bruttosozialprodukts zu erhöhen, gibt es je-denfalls genügend Spielraum für finanzielle Zusa-gen im Rahmen von EPAs.

Regionale Integration ist unzureichend

Die Förderung regionaler Integrationsbemühun-gen der AKP-Länder ist ein wesentliches Ziel desCotonou-Abkommens. Regionale Integration inForm von Freihandelszonen und Zollunionen sollhelfen, die kleinen AKP-Märkte zu integrieren,Transaktionskosten zu senken, den Wettbewerb zustärken und damit die Effizienz der Produktion zuerhöhen sowie intra-regionalen Handel und Inves-titionen zu fördern. Darüber hinaus sollen durchIntegration grenzübergreifende Infrastruktur-projekte gefördert und regionale Konflikte, zumBeispiel um Wasserressourcen, entschärft werden.Regionale Integration wird als erfolgreiches Instru-ment zur Erreichung ökonomischer und politi-scher Ziele verstanden. Da die EU solche positivenEffekte selbst erfahren hat, sieht sie die Förderungregionaler Integration als Schlüsselinstrument zurIntegration der AKP-Länder in die Weltwirtschaft.

Das Cotonou-Abkommen hebt hervor, dass beiden EPA-Verhandlungen der Integrationsgrad undder jeweilige Integrationsprozess berücksichtigtwerden sollen. Da es das Ziel der Europäischen

Kommission ist, einheitliche EPAs mit AKP-Regio-nen einzugehen, ist ein bestimmtes Maß regiona-ler Integration in Form von Zollunionen notwen-dig. Momentan existieren jedoch nur drei AKP-Zollunionen, die bei Weitem nicht alle Länderumfassen.10 Aus diesem Grund verhandelt dieKommission mit Regionen, die sowohl Mitgliederals auch Nicht-Mitglieder bestehender regionalerIntegrationsräume umfassen. Vor allem in Afrikasind Mehrfach-Mitgliedschaften in regionalen In-tegrationsbündnissen weit verbreitet.11 Deshalbwurden neue regionale Gebilde für die EPA-Ver-handlungen geschaffen, die von den ursprüng-lichen Integrationsgebilden abweichen.

Der geringe Integrationsgrad der AKP-Regionensowie unterschiedliche Zollstrukturen und Protek-tionsinteressen erschweren die Formulierung ei-ner gemeinsamen Verhandlungsposition. DieMehrzahl der Regionen wird am 1. Januar 2008keinen gemeinsamen Außenzollsatz gegenüberder EU eingeführt haben. Dies bedeutet, dass dieSchaffung einer regionalen Zollunion und die Li-

Die EU und die AKP-Länder: Eine ungleiche Handelspartnerschaft

2001

2005

0

5

10

15

20

35

Prozent

Import Export

Anteil der EU am AKP-Handel Anteil der AKP-Staaten am EU-Handel

Import Export

Quelle: EU-Kommission

28,5

25,9

30,5

23,3

3,3 3,1 3,2 2,9

25

30

10 Dies sind die Zollunion des südlichen Afrikas, SACU (Südafrika,Botswana, Lesotho, Namibia und Swasiland), die ostafrikanischeZollunion, EAC (Kenia, Tansania und Uganda), und die westafrikani-sche Zoll- und Währungsunion, UEOMA (Benin, Burkina Faso, El-fenbeinküste, Guinea Bissau, Mali, Niger, Senegal und Togo). EACund UEMOA haben ihren intra-regionalen Handel noch nicht voll-ständig liberalisiert.11 Vgl. Mareike Meyn, The Impact of EU Free Trade Agreementson Economic Development and Regional Integration in SouthernAfrica. The Example of EU-SACU Trade Relations, Peter Lang Verlag,Frankfurt et al. 2006.

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Europäische Union

54 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

beralisierung des Außenzollsatzes gegenüber derEU gleichzeitig erfolgen sollen. Eine solche Vorge-hensweise widerspricht der im Cotonou-Abkom-men avisierten Vorgehensweise, nach der regiona-le Märkte erst gefestigt werden sollen, bevor siesich für EU-Importe öffnen. Aus entwicklungspoli-tischer Sicht ist deshalb wichtig, der unzureichen-den ökonomischen Integration der AKP-LänderRechnung zu tragen und lange Übergangsfristenfestzulegen, die es den Ländern ermöglichen,intra-regionalen Freihandel und einen gemeinsa-men Außenzollsatz zu realisieren, bevor sie sich alsRegion gegenüber der EU öffnen.

Ein gemeinsamer regionaler Außenzollsatz gegen-über der EU ist sinnvoll. Wenn die Länder einesEPAs unterschiedliche Außenzollsätze gegenüberder EU aufwiesen, würde dies das Risiko von indi-rekten EU-Importen erhöhen. Würden beispiels-weise die LDCs in einer AKP-Region nicht Teil desregionalen EPAs sein und die bestehenden Zöllegegenüber der EU beibehalten, würde dies bedeu-ten, dass Importe von Nachbarländern, die Teildes EPAs sind, auf ihren Ursprung hin geprüftwerden müssten, um sicherzustellen, dass es sichnicht um indirekte EU-Importe handelt. Dies wärenicht nur aufgrund der unzureichenden Überwa-chung der Ursprungsregeln in den meisten AKP-Ländern schwierig, sondern würde auch den re-gionalen Freihandel behindern.

Da eine Sonderbehandlung von LDCs innerhalbeines EPAs weder sinnvoll noch möglich erscheint,ist es umso wichtiger, dass lange Übergangsperio-den zur Umsetzung der EPAs gewährt werden. Da-bei ist wichtig, technische und finanzielle Unter-stützung zu gewähren – vor allem für die ärmstenLänder, um einen entsprechenden Aufholprozesszu ermöglichen. Eine länderspezifische Behand-lung bei der Importliberalisierung sollte jedochim Sinne der Förderung regionaler Integrationzeitlich befristet sein – mit dem Ziel, dass alle Län-der eines EPAs mittelfristig einen gemeinsamenAußenzollsatz gegenüber der EU aufweisen.

Eine Minimallösung wäre nicht gut

Die laufenden EPA-Verhandlungen spiegeln nurunzureichend die im Cotonou-Abkommen festge-legten Entwicklungsziele wider. Der Stillstand derDoha-Entwicklungsrunde und die fehlende Neu-interpretation von Artikel XXIV (regionale Inte-grationsräume) und Artikel XVIII (Sonderbe-handlung von Entwicklungsländern) bieten je-doch Spielraum für die innovative Gestaltung der

Importliberalisierung. Die EU sollte diesen Spiel-raum nutzen, um eine positive Entwicklung derAKP-Länder zu fördern.

Bislang divergieren die Positionen der Europäi-schen Kommission und der AKP-Länder in nahezuallen Bereichen der EPA-Verhandlungen. Obwohldie meisten AKP-Länder generell daran interes-siert sind, einem EPA beizutreten, um ihren präfe-rierten Marktzugang in die EU zu erhalten unddie Beziehungen zu ihrem Haupthandels- undEntwicklungspartner vertraglich zu sichern, wer-den sie dies nicht um jeden Preis tun. Nur wenndie Abkommen dazu beitragen, dass die EU ein at-traktiver Handelspartner bleibt, werden die AKP-Länder die Abkommen als Chance für ihre Ent-wicklungsperspektiven begreifen. Bislang überwie-gen jedoch Frustrationen über die allumfassendeAgenda (Güter, Dienstleistungen, Investitionen,Wettbewerb, intellektuelle Eigentumsrechte etc.),den rigiden Zeitplan und den Widerstand der Eu-ropäischen Kommission, über verbindliche finan-zielle Zusagen zu sprechen.

Angesichts der unterschiedlichen Verhandlungs-positionen der Parteien ist es fraglich, ob die ver-bleibenden neun Monate ausreichen, um zu einerEinigung zu kommen. Selbst die EuropäischeKommission erwägt angesichts der momentanenLage, den Verhandlungsspielraum für EPAs zu ver-längern.12 Ob die EPAs im Januar 2008 in Kraft tre-ten, ist also offen. Allerdings könnte ein Aufschubdes Termins weitere Nichteinhaltungen von Fris-ten nach sich ziehen. Angesichts des aktuellen Ver-handlungsstands wäre ein „EPA light“ denkbar, indem nur Rahmenbedingungen, die zur Errei-chung der WTO-Kompatibilität notwendig wären,festgelegt werden. Alles weitere würde dann in spä-teren Verhandlungen geklärt. Obwohl diese Lö-sung den beteiligten Ländern erlauben würde, ihrGesicht zu wahren, wäre sie nicht optimal im ent-wicklungspolitischen Sinne. Eine solche Minimal-lösung würde weder den Schwierigkeiten der AKP-Länder, in die EU zu exportieren, Rechnung tra-gen noch regionale Integration innerhalb derAKP-Länder fördern.13 �

12 Vgl. Peter Mandelson, „Economic Partnership Agreements canmove ACP from dependency to opportunity“, Luxemburg, 16. Ok-tober 2006 (http://ec.europa.eu/commission_barroso/mandel-son/speeches_articles/sppm121_en.htm, accessed 19/11/2006).13 Der Artikel basiert auf der von der Autorin erstellten Studie„Economic Partnership Agreements – How to Ensure DevelopmentOrientation of Trade Liberalisation and the Coherence with ACP Re-gional Integration Objectives“. Die Studie wurde von der DeutschenGesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Sektorvorha-ben Handelspolitik, Handels- und Investitionsförderung, in Auftraggegeben und wird in Kürze veröffentlicht.

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55Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Im Jahr 1999 hat der amerikanische China-Exper-te Gerald Segal einen provokanten Artikel unterdem Titel „Does China matter?“ veröffentlicht, indem er darlegt, dass die VR China in ihrer Bedeu-tung systematisch überschätzt wird.1 Als Volkswirt-schaft beeindrucke sie zwar in absoluten Größenund aufgrund der hohen Wachstumsraten. In re-lativen Größen betrachtet, zum Beispiel bei Pro-Kopf-Größen, erreiche sie aber kaum beeindru-ckende oder gar besorgniserregende Dimensio-nen. Segal wollte mit seinem Artikel, der auch diepolitische und militärische Bedeutung Chinas re-lativierte, sowohl einer überzogenen Euphorie alsauch überzogenen Ängsten entgegensteuern, diein der öffentlichen Meinung aufgrund des ra-schen chinesischen Wirtschaftswachstums in denneunziger Jahren entstanden waren.

Acht Jahre nach Segals Artikel zeigen die Debattenum die chinesische Währungs- und Energiepoli-tik, die Bemühungen chinesischer Unternehmen,im Ausland Firmenanteile zu erwerben oder dieDebatten um den Einfluss Chinas auf den Klima-wandel, dass kaum noch jemand behauptet, Chi-na sei für die Weltwirtschaft unbedeutend. Immeroffensichtlicher wird, dass Chinas wirtschaftlicheEntwicklung nicht nur die Frage aufwirft, wie aus-ländische Unternehmen von dieser Entwicklungprofitieren und in China Fuß fassen können, son-dern auch die Frage, welche Konsequenzen sichaus der Entwicklung Chinas für die Weltwirtschaftergeben.

In Anbetracht der Größe der chinesischen Bevöl-kerung und des beachtlichen Entwicklungserfol-ges der letzten dreißig Jahre wächst die Sorge, dassdie Welt ein aufholendes China nicht verkraften

kann, gerade wenn aufgrund der noch niedrigenPro-Kopf-Zahlen das Entwicklungspotenzial be-rücksichtigt wird. Zum Teil geht es dabei nicht ein-mal nur um China, sondern um die grundsätzli-che Frage, ob das „westliche“ Modell von Industri-alisierung und Wachstum nachhaltig ist und auchdann noch funktioniert, wenn es von den Entwick-lungsländern bzw. einem Großteil der Weltbevöl-kerung übernommen wird. Darüber hinaus stelltsich die Frage, ob eine nachholende Entwicklung,wie China sie gegenwärtig vollzieht, ohne weltpoli-tische Verwerfungen realisiert werden kann.

Chinas komplexe Öffnungsstrategie

Der 1978 in China eingeleitete Reformprozess, mitdem zunächst nur eine Reform der Planwirtschaftbezweckt wurde, mündete 1992 in eine Politik derwirtschaftlichen Transformation mit dem Ziel, ei-ne Marktwirtschaft zu etablieren. Chinas Beitrittzur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001bescheinigte den Erfolg dieser Politik. Flankiertwurde der Reformprozess von Anfang an durch ei-ne „Öffnungspolitik“, die es ausländischen Unter-nehmen ermöglichte, in China zu investieren undvon den günstigen Rahmenbedingungen zu profi-tieren. Diese Öffnung wurde staatlich gesteuertund begrenzt. Sie war und ist aber trotzdem weit-reichend und hat den gewünschten Beitrag zuChinas wirtschaftlicher Entwicklung geleistet:Heute ist China weltweit die drittgrößte Handels-nation und das wichtigste Empfängerland von aus-ländischen Direktinvestitionen in Asien und unterden Entwicklungsländern. Über fünfzig Prozentdes chinesischen Außenhandels gehen auf auslän-dische Unternehmen bzw. Unternehmen mit aus-ländischer Kapitalbeteiligung zurück.

Der hohe Beitrag der ganz oder teilweise mit aus-ländischem Kapital finanzierten Unternehmen

China als Auslöser weltwirtschaftlicher TurbulenzenDr. Doris FischerInstitut für Ostasienwissenschaften, Universität Duisburg-Essen

Die Wirtschaftsentwicklung in China hatte in jüngster Zeit drastische Auswirkungen auf westliche Industrieländer: Nicht

nur die Preise für Energie und Rohstoffe sind aufgrund der starken chinesischen Nachfrage deutlich gestiegen. Auch das

Problem des Klimawandels hat sich gravierend verschärft. In einigen Entwicklungsländern konterkariert die chinesische

Außenhandelspolitik die westlichen Bemühungen um Demokratie und Menschenrechte. Wie soll der Westen auf diese

Herausforderungen reagieren?

1 Gerald Segal, Does China Matter?, in: Foreign Affairs, Jahrgang78 (1999), Nr. 5, Seiten 24–36.

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China

56 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

zum Außenhandel erklärt sich unter anderem ausChinas Einbindung in internationale Produktions-netzwerke, insbesondere die länderübergreifen-den Produktionsketten innerhalb Asiens. Bei ei-nem Großteil der chinesischen Exporte – im Jahr2005 waren es 55 Prozent – handelt es sich umweiterverarbeitete Produkte. Häufig werden Vor-produkte und Produktkomponenten aus dem be-nachbarten Ausland importiert, dann in Chinaweiterverarbeitet und schließlich exportiert. DieseEntwicklung hat China inzwischen den Spitzna-men „Werkbank der Welt“ eingebracht.

Ende der 1990er Jahre ergänzte die chinesischeRegierung ihre Außenwirtschaftspolitik um eineneue Komponente: Chinesische Unternehmenwurden ermuntert, im Ausland zu investieren undmit ausländischen Firmen zu kooperieren. Zwarwar das auch schon vorher möglich, aber erst zudiesem Zeitpunkt wurde die sogenannte „Goingoutward-Strategie“ zu einem wichtigen und expli-ziten Bestandteil der chinesischen Außenwirt-schaftspolitik.2 Sie zeigte in den folgenden Jahrendeutliche Erfolge. Die Summe der chinesischenDirektinvestitionen im Ausland stieg von 0,55Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf über 16 Milliar-den im Jahr 2006,3 das Volumen der Projektkoo-peration im Ausland stieg von 8,4 Milliarden auf21,8 Milliarden Dollar.

Die chinesische Regierung verband mit dieserneuen Initiative verschiedene Motive. Der bevor-stehende WTO-Beitritt hat China den Zugang zuzahlreichen ausländischen Märkten erleichtert,aber auch den Konkurrenzdruck im Inland er-höht. Daher wurden Investitionen im Ausland un-ter anderem als ein Weg befürwortet, wie chinesi-sche Unternehmen mehr über ausländische Märk-te lernen und konkurrenzfähiger werden könn-ten. Diesem Ziel entsprach die Aufhebung vielerinländischer Beschränkungen für Investitionen imAusland.

Daneben ist die Strategie sehr eng mit energiepo-litischen Zielsetzungen verbunden worden. Die„Going outward-Strategie“ wurde auch als ein Ins-trument propagiert, mit dem China sich den Zu-

gang zu Energieressourcen im Ausland sichernkönnte. Aktuelle chinesische Analysen zur Ener-giesituation betonen ebenfalls die Bedeutung derStrategie für die Energieversorgungssicherheit.4Dieser Aspekt der Strategie hat sich in den letztenJahren in Versuchen der drei großen staatlichenÖlgesellschaften niedergeschlagen, Anteile an aus-ländischen Ölunternehmen zu erwerben. Am be-kanntesten wurde im Jahr 2005 der gescheiterteVersuch der China National Offshore Oil Corpo-ration (CNOOC), Unocal zu übernehmen. Ande-re Vorstöße im selben Jahr, wie der Erwerb von Pe-troKasachstan (Kanada) durch PetroChina warendagegen erfolgreich.5 Über 50 Prozent der chine-sischen Auslandsinvestitionen fließen allerdings indie Steueroasen Lateinamerikas. An zweiter Stellesteht die Region Asien, gefolgt von Europa.

Einen deutlicheren Hinweis auf die geopoliti-schen Schwerpunkte der letzten Jahre gibt die Sta-tistik zur Projektkooperation, da vor allem Staats-unternehmen mit ausländischen Unternehmenkooperieren. Hier zeigt sich, dass in den letztenJahren besonders die Projekte mit Ländern inAfrika (Nigeria, Algerien und Sudan), Lateiname-rika (Brasilien, Venezuela und Mexiko) und Chi-nas Partnerländer aus der Shanghaier Koopera-tionsorganisation (Russland, Kasachstan, Kirgi-sien, Tadschikistan) deutlich an Umfang gewon-nen haben.

Gewaltiger Rohstoff- und Energiebedarf

Der Erfolg der Reform- und Öffnungspolitik hatzu einer Anhebung des Lebensstandards der chi-nesischen Bevölkerung, zu höherer Mobilität undzu einem höheren Grad der Urbanisierung ge-führt. Diese Faktoren bedingen gemeinsam mitder Nachfrage der Industrie nach Produktionsma-terialien, dass China verstärkt als Nachfrager fürRohstoffe auf dem Weltmarkt auftritt. Besondersauffällig stieg die Nachfrage nach Rohöl in denJahren 2003 und 2004, aber auch die Importe an-derer Rohstoffe wie Eisenerz, Kupfer oder Bauxitstiegen in den ersten Jahren des neuen Jahrhun-derts überdurchschnittlich. Chinas rasantes Wirt-schaftswachstum und der Investitionsboom trugendamit unmittelbar zu den teils erheblichen Preis-steigerungen auf den Weltmärkten bei.

2 Vgl. Margot Schüller/Anke Turner, Global Ambitions – ChineseCompanies Spread Their Wings, in: China aktuell 2005/4, Seiten 1-14.3 Daten zu den Direktinvestitionen chinesischer Unternehmen imAusland werden vom Staatlichen Statistikamt ab dem Jahr 2004erfasst. Die Zahl für 2000 geht auf statistische Angaben des Han-delsministeriums zurück. Darüber hinaus veröffentlicht die UNCTADim World Investment Report Daten zu Chinas Direktinvestitionen imAusland.

4 Vgl. Yiming Wei u. a., China Energy Report, Peking 2006, Seite291.5 Vgl. Andreas Lunding, Chinesische Firmen auf dem Vormarsch,DB Research Spezial vom 7. September 2006 (abrufbar unterwww.dbresearch.de).

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China in der Weltwirtschaft

57Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Aber auch die Versuche der chinesischen Regie-rung, einer wirtschaftlichen Überhitzung mit ad-ministrativen Eingriffen entgegenzuwirken, waszum Beispiel bei Bauxit zu einer plötzlichen Dros-selung der Importe führte, verursachten in denletzten Jahren erhebliche Preisschwankungen anden Rohstoffmärkten. Dadurch wuchs das Be-wusstsein, dass Entwicklungen und wirtschaftspoli-tische Eingriffe in China die Weltmärkte empfind-lich beeinflussen können.6

Langfristig werden massive Auswirkungen bei denfossilen Brennstoffen, insbesondere Erdöl, erwar-tet. Nach Projektionen der Internationalen Ener-gieagentur und chinesischer Forschungseinrich-tungen wird die chinesische Nachfrage nach fossi-len Brennstoffen in den nächsten Jahren deutlichansteigen. Im Jahr 2020 wird China knapp 60 Pro-zent seines Ölbedarfs durch Importe decken.7

Perspektiven für die Weltwirtschaft

Chinas zunehmende Präsenz auf den Weltmärk-ten löst ebenso wie die chinesische Wirtschafts-entwicklung im Ausland Ängste aus und wirft glo-bale Fragen der zukünftigen Entwicklung auf, diesich in jüngster Zeit vor allem auf die BereicheEnergie, Umwelt- und Klimaschutz konzentrie-ren. Wird Chinas Energie- und Rohstoffhungerzu stillen sein? Werden internationale Beziehun-gen zunehmend unter geostrategischen Überle-gungen der Sicherung von Ressourcen organi-siert werden? Kurz: Kann die Welt Chinas wirt-schaftliche Aufholjagd ökonomisch, ökologischund strategisch verkraften und kann China über-

haupt das angestrebte anhaltende Wachstum auf-rechterhalten?

Rein ökonomisch betrachtet, lassen sich diese Sor-gen kaum begründen.8 Der Logik der neoklassi-schen Theorie folgend ist zu erwarten, dass beisteigender Nachfrage nach einem Rohstoff derPreis steigt. Daraufhin wird das Angebot ausge-dehnt, da nun Rohstoffvorkommen erschlossenwerden können, deren Abbau zuvor unwirtschaft-lich gewesen wäre. Selbst wenn unterstellt wird,dass ein Rohstoff endlich ist und keine Reservenmehr erschlossen werden können, so wird dieseMarktsituation Investitionen in alternative Tech-nologien auslösen, welche die Nachfrage bedie-nen können. Krisenszenarien, die auf einer anhal-tend großen Nachfrage aus China basieren, kön-nen vor dem Hintergrund dieser Argumentationals unbegründet angesehen werden.

Die nüchterne ökonomische Argumentationscheint aber in den gegenwärtigen Debatten umChinas Rolle in der Welt nicht im Vordergrund zustehen. Dies ist leicht dadurch erklärbar, dass dasAusland von Chinas „Going outward-Strategie“überrascht wurde. Die Überraschung rührte nichtdaher, dass die chinesische Regierung aus demVorhaben ein Geheimnis gemacht hätte, sondernaus der zur gleichen Zeit herrschenden Euphorieüber Chinas bevorstehenden WTO-Beitritt. DieUnternehmen blickten auf den chinesischenMarkt und die Politik auf die Verhandlungen.Selbst bei jenen, die die neue Strategie wahrge-nommen haben, mag die Skepsis überwogen ha-ben, ob es sich um einen ernsthaften und Erfolgversprechenden Politikansatz handele. Umso grö-ßer war die Überraschung, als erste Übernahme-

6 Vgl. zum Beispiel „China Effect Convulses Commodity Markets“,in: Financial Times vom 15. März 2003; „China Resource DemandChanges Economic Map“, in: China Daily online vom 27. Juni 2006.7 Vgl. Yiming Wei u. a., a. a. O., Seite 80.

8 Siehe hierzu ausführlich Ross Garnaut/Ligang Song, Rapid in-dustrialization and market for energy and minerals: China in theEast Asia context, in: Front. Econ. China, Jahrgang 3 (2006), Sei-ten 374 ff.

Außenwirtschaftliche Eckdaten Chinas

Milliarden US-Dollar

2000 2005 2006

Importe 225,0 660,0 792,0

Exporte 249,0 762,0 969,0

Ausländische Direktinvestitionen in China 40,7 60,3 63,0

Chinesische Direktinvestitionen im Ausland 0,6 12,3 16,1

Devisenreserven 166,0 819,0 1 066,0

Quelle: Chinesisches Statistikamt, Chinesisches Handelsministerium, Welthandelsorganisation

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China

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angebote von chinesischen Firmen für westlicheTraditionsfirmen bekannt wurden. Diese Nach-richten schürten ähnliche Ängste wie vor wenigenJahrzehnten die Übernahmen von Unternehmendurch japanische Firmen.

Unsensibles Engagementin Entwicklungsländern

Das Ausland wurde aber auch von Chinas Aktivitä-ten in Lateinamerika und Afrika überrascht. MitErstaunen wird beobachtet, dass China massiv inAfrika investiert und dass sich der Handel Chinasmit Lateinamerika und Afrika überdurchschnitt-lich schnell entwickelt.9 Für viele afrikanische Staa-ten ist China zu einem wichtigen Handelspartnergeworden, wobei die afrikanischen Länder schwer-punktmäßig Rohstoffe exportieren und industriellgefertigte Güter aus China importieren.

Dabei entsteht der Eindruck, dass die chinesischeKooperation mit den rohstoffreichen Entwick-lungsländern nicht den Grundsätzen der europäi-schen und US-amerikanischen Politik im Umgangmit Entwicklungsländern entspricht.10 Chinaknüpft seine wirtschaftliche Unterstützung undZusammenarbeit nicht an politische Forderungennach Demokratisierung, Einhaltung der Men-schenrechte oder „good governance“, sondernhält sich an die außenpolitische Devise der Nicht-einmischung in die inneren Angelegenheiten an-derer Länder.11 Es wird befürchtet, dass das chi-nesische Vorgehen die Bemühungen der west-lichen Entwicklungszusammenarbeit konterkarie-ren könnte.12 Darüber hinaus wird es als Ärgernisempfunden, dass die chinesische Regierung bzw.chinesische Unternehmen zum Zwecke der Roh-

stoffsicherung auch in politisch labilen und als ri-sikoreich eingestuften Ländern (zum Beispieldem Sudan) auftritt und sich dort den Zugang zuRohstoffreserven sichert, während westlicheUnternehmen davon in der Vergangenheit aus po-litischen Gründen abgesehen haben. Berichte,dass die chinesische Regierung das Engagementihrer Unternehmen massiv politisch unterstützt,erzeugen in diesem Zusammenhang Misstrauen.13

Hinweise darauf, dass in einzelnen afrikanischenLändern der Widerstand gegen die massive Prä-senz chinesischer Produkte und gegen die Arbeits-bedingungen in Unternehmen mit chinesischemKapital wächst, werden daher mit einer gewissenGenugtuung zur Kenntnis genommen.14

Dominanz nationaler Interessen

Die genannten Entwicklungen nähren das Bild ei-nes Chinas, das sich über alle moralischen Grund-sätze hinwegsetzt, nur um seine nationalen ökono-mischen Interessen zu sichern. In diese Sichtweisepassen auch die chinesische Währungspolitik, diechinesische Weigerung, verbindliche Zusagen zurReduktion seiner Treibhausgasemissionen zu ma-chen, oder Probleme in der Umsetzung der WTO-Richtlinien. Die chinesische Regierung erscheintaufgrund des politischen Systems und ihres diri-gistischen Politikverständnisses als ein merkantilis-tischer Akteur,15 der in der Lage ist, die Unterneh-men des Landes im Dienst der nationalen Wirt-schaftsinteressen zu mobilisieren und sich weigert,globale Verantwortung zu übernehmen.

Dieser Wahrnehmung leistet auch das in Chinavorherrschende Politikverständnis Vorschub. Dadie Informationsfreiheit eingeschränkt, Propagan-da nach wie vor weit verbreitet und die Presse da-rüber hinaus kontrolliert ist, entsteht im Auslandder Eindruck, dass die chinesische Politik nebender offiziellen eine versteckte Agenda verfolgt.Darüber hinaus ist die Rolle des Staates in Bezugauf die Staatsunternehmen nicht transparent. Chi-na tritt offen für eine staatliche Industriepolitikein, mittels der der Staat versucht, seine wirt-

9 Vgl. beispielhaft für zahlreiche Publikationen Denis M. Tull, DieAfrika-Politik der VR China, SWP-Studie S20, Berlin 2005 undOECD, The Rise of China and India – What’s in it for Africa?, Paris2006. Allerdings hat der Außenhandel mit China rein quantitativfür Afrika ein wesentlich größeres Gewicht. 2004 gingen 40 Prozentder gesamten Exporte Afrikas nach China, ein Großteil davon warenRohstoffe. Gleichzeitig stammten 36 Prozent der afrikanischen Im-porte aus China (vgl. Harry G. Broadmann, Africa’s Silk Road –China and India’s New Economic Frontier, Washington 2007, Sei-ten 79 f.). Demgegenüber hat Afrika nur einen geringen Anteil anChinas Außenhandel.10 Vgl. hierzu Peter Brookes/Ji Hye Shin, China’s Influence inAfrica: Implications for the United States, in: Backgrounder (TheHeritage Foundation), Nr. 1916, 22. Februar 2006 (abrufbar unterwww.heritage.org/research/asiaandthepacific/bg1916.cfm).11 Vgl. Denis M. Tull, Die Afrikapolitik der VR China, SWP-StudieS20, Berlin 2005, Seite 12.12 Vgl. zum Beispiel die Online-Debatte des „Rates für Internatio-nale Beziehungen“ (USA), ob Chinas Engagement gut für Afrika ist(abrufbar unter http://www.cfr.org/publication/12622/is_chi-nese_investment_good_for_africa.html).

13 Vgl. zum Beispiel Human Rights Watch 2003, China’s Involve-ment in Sudan: Arms and Oil (abrufbar im Internet unter http://www.hrw.org/reports/2003/sudan1103/26.htm).14 Vgl. Elizabeth Economy/Karen Monaghan, The perils of Beijing’sAfrica strategy, in: International Herald Tribune vom 1. November2006.15 Vgl. Matthew Davis, Is China Mercantilist?, 2005 (abrufbar imInternet unter http://www.nber.org/digest/dec05/w11306.html).

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China in der Weltwirtschaft

59Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

schaftspolitischen Interessen über die Staatsunter-nehmen durchzusetzen.

Ein neues Verständnis von globaler Verantwortung?

Es gibt aber auch eine ganz andere Betrachtungs-weise der jüngeren Entwicklungen, die besondersin China selbst verbreitet ist und den AnspruchChinas auf eine nachholende Entwicklung betont.

Die „Going outward-Strategie“ wird demnach alskonsequente Fortführung der außenwirtschaft-lichen Liberalisierung angesehen. Die WTO-Prin-zipien fordern zwar lediglich die Gleichbehand-lung ausländischer Unternehmen im Inland. Chi-nesische Unternehmen, die im Inland erfolgreichmit ausländischen Unternehmen konkurrierensollen, müssen aber in einer globalisierten Weltauch die Möglichkeit haben, die betriebswirt-schaftlichen Vorteile von Investitionen im Auslandzu nutzen. Insofern war die Aufhebung der frühe-ren Beschränkungen konsequent. Das Hauptmo-tiv waren demnach nicht geostrategische Überle-gungen. Nur etwa 15 bis 30 Prozent der Investitio-nen fließen in die Sektoren Bergbau, Öl- und Gas-förderung, während ein Großteil der Auslandsin-vestitionen in Dienstleistungs-, Handelsunterneh-men und das produzierende Gewerbe geht. Dertatsächliche Einfluss der chinesischen Regierungauf unternehmerische Entscheidungen sei selbstim Falle der großen Rohstoffunternehmen gering,da diese immer mehr gewinnorientiert arbeitenmüssten.16 Vielmehr stelle die „Going outward-Strategie“ die chinesische Diplomatie vor ganzneue Herausforderungen, gerade weil sich die chi-nesischen Unternehmen im Ausland der direktenKontrolle entziehen können und sich nicht immerso verhalten, dass sie zu einem positiven ImageChinas beitragen.

Die Investitionen in Rohstoffprojekte in Afrikaund Lateinamerika sind demnach lediglich Teil ei-ner Politik, die versucht, bei der Rohstoffversor-gung möglichst nicht in die Abhängigkeit einerRegion bzw. eines Landes zu geraten.17 Ziel derchinesischen „Energiediplomatie“ ist, Rohstoffe,insbesondere Erdöl, zu etwa gleichen Teilen aus

Asien, Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Ostensowie Russland und den GUS-Staaten zu beziehen.

Weitergehende geostrategische Zielsetzungenseien mit dem Engagement nicht verbunden. Im-mer wieder betont die Regierung, dass China ei-nen friedlichen Aufstieg anstrebe. Die Zusammen-arbeit mit Ländern, die von westlichen Unterneh-men und Staaten als Partner eher gemieden wer-den, ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dasssich viele andere Länder schon auf die Zu-sammenarbeit mit westlichen Ländern festgelegthaben und China als Nachzügler auf den interna-tionalen Rohstoffmärkten keine andere Wahlbleibt.

Forderungen, China solle seine Kooperationenstärker an den internationalen Standards der Ent-wicklungszusammenarbeit orientieren, sind beidieser Betrachtungsweise gleichzusetzen mit derForderung, China sollte auf Entwicklungschancenverzichten. Die Einforderung moralischer Grund-sätze in der außenwirtschaftlichen Zusammenar-beit wird in China zuweilen als scheinheilig emp-funden, da auch die westlichen Industrieländerdiese Grundsätze immer wieder in den Windschrieben, wenn es um den Schutz ihrer wirt-schaftlichen Interessen ginge.18 Die chinesischeRegierung hält zudem gegenüber dem Ausland ander Auffassung fest, dass Probleme der Ressour-cenknappheit und des Klimawandels in erster Li-nie von den Industrieländern verursacht werdenund daher die Anstrengungen zur Lösung dieserProbleme auch in erster Linie von den Industrie-ländern geleistet werden müssen. Ungeachtet derabsoluten Beiträge Chinas zur globalen Rohstoff-

16 Dieser Standpunkt wurde von chinesischen Teilnehmern des„Sino-European Strategic Dialogue“ am 27. und 28. November 2006in Beijing vertreten, der vom Asia Centre und dem China Institute ofContemporary International Relations organisiert wurde.17 Vgl. Yiming Wei u. a., a. a. O., Seiten 250 ff.

18 Vgl. hierzu allgemein Randall Peerenboom, Assessing HumanRights in China: Why the Double Standard?, in: Cornell InternationalLaw Journal, Jahrgang 38 (2005), Seiten 71-172.

Chinas Engagement im Ausland

Chinesische Direktinvestitionen 2005

Milliarden US-Dollar Anteile

Lateinamerika 6,466 52,73 %

Asien 4,375 35,68 %

Europa 0,505 4,12 %

Afrika 0,392 3,20 %

Nordamerika 0,321 2,62 %

Ozeanien 0,203 1,66 %

Gesamt 12,262 100,00 %

Quelle: China Statistical Yearbook 2006

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China

60 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

nachfrage, zur Umweltverschmutzung allgemeinund den Treibhausgasen im Besonderen, sei derPro-Kopf-Beitrag im internationalen Vergleich ex-trem niedrig.

Optionen angesichts der neuen Herausforderungen

Die gegensätzlichen Interpretationen liegen imentscheidenden Punkt nicht weit auseinander:Beide betonen, dass der wirtschaftliche Aufhol-prozess, der auf das Erreichen des heutigen Ein-kommens- und Konsumniveaus der Industrielän-der zielt, zu großen ökonomischen, politischenund ökologischen Herausforderungen für dieWelt führt. Konkret gesagt: Die Vorstellung, Chinakönnte eine Autodichte pro Kopf erreichen, diejener der Industrieländer entspricht, ist höchst be-unruhigend.

Aus der Einsicht in die globalen Risiken, die mitChinas Aufstieg verbunden sein können, lassensich grundsätzlich drei Optionen ableiten:

� Im Sinne eines merkantilistischen Politikver-ständnisses könnte das westliche, industrialisierteAusland auf die Idee kommen, Chinas Entwick-lung offen oder verdeckt auszubremsen, um dieKonsequenzen weiteren Wohlstands in China zuverhindern. Doch diese Option scheint wederpraktikabel noch politisch fair. Über kurz oderlang würde ein anderes Entwicklungsland, zumBeispiel Indien, an die Stelle Chinas treten. Auchsind die Instrumente zur Umsetzung einer sol-chen Strategie unbestimmt. Ferner würde eine an-haltende wirtschaftliche Stagnation, die vom Aus-land zu verantworten wäre, sicher zu einer innen-politischen Krise in China führen, vermutlich abernoch viel eher zu einer internationalen Krise,denn die chinesische Regierung würde sich eine

solche Politik kaum gefallen lassen. Zugleich wür-de die gesamte Entwicklungszusammenarbeit zurFarce, wenn in dem Moment, in dem der wirt-schaftliche Aufholprozess an Fahrt gewinnt, nurnoch die Gefahren, die damit verbunden sind, ge-sehen würden.

� Die zweite Option, den Entwicklungsprozesseinfach laufen zu lassen und auf die heilendenKräfte der Märkte zu vertrauen, lässt sich kaumverantworten. Einerseits spüren wir schon heutedie Folgen des Klimawandels, andererseits unter-stützt die chinesische Wirtschaftsordnung das freieSpiel der Marktkräfte nicht uneingeschränkt. Vie-le wichtige Parameter wirtschaftlicher Entschei-dungen werden in China nach wie vor vom Staatgesteuert. Damit ist nicht auszuschließen, dass Chi-na eine ansonsten liberale internationale Wirt-schaftspolitik opportunistisch ausnutzt.

� So bleibt letztlich nur, die globalen Herausfor-derungen, die Chinas wirtschaftlicher Aufstiegmit sich bringt, zu diskutieren und gemeinsam anLösungen zu arbeiten, die eine nachholende Ent-wicklung erlauben, ohne die Weltwirtschaft oderdas Klima zu gefährden. Letztlich ist das im Inte-resse aller Staaten. Um den gegenseitigen Vor-wurf zu entkräften, dass jede Nation nur auf daskurzfristige nationale Wohl bedacht handelt, be-darf es der Bildung von Vertrauen durch gegen-seitige Information. Dieser Austausch findet heu-te bereits auf vielen Ebenen statt, er sollte fortge-führt und ausgebaut werden. Die internationaleStaatengemeinschaft kann China eine nachho-lende Entwicklung nicht verwehren, selbst wenndies bedeutet, dass China wieder – wie noch vorwenigen Jahrhunderten – zur wirtschaftlich be-deutendsten Nation der Welt wird. Die Staatensollten dahin wirken, dass dieser Aufstieg nichtzum Nachteil der Lebensqualität in anderen Län-dern gereicht. �

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61Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Der Kontrast könnte nicht größer sein:

� Im Juli 2006 protestierten afrikanische Arbeiterder Chambeshi-Minen im Kupfergürtel Sambiasgegen die miserablen Arbeitsbedingungen unddas Lohndumping des chinesischen EigentümersNFC African Mining of China. Fünf Demonstran-ten wurden getötet und viele verletzt, als die Poli-zei in die Menge schoss. Nicht zum ersten Mal hat-ten sich die Minenarbeiter gegen das chinesischeManagement gestellt. Auslöser waren meistensschwere Unfälle, darunter auch eine Explosion inder angeschlossenen Munitionsfabrik im April2005, die 50 Menschenleben forderte. Im Februardieses Jahres musste der chinesische Präsident sei-nen Besuch in Chambeshi absagen, wo er denGrundstein für eine neue Kupferschmelze legenwollte. Es wurden schwere Proteste befürchtet.

� Völlig anders war die Stimmung im November2006 in Beijing. Das dritte Treffen des Forum onChina Africa Cooperation (FOCAC) war Ausdruckvon Chinas massivem Afrika-Interesse, aber auchder Wertschätzung, die afrikanische Regierungen –in Beijing vertreten durch 48 Staatsoberhäupter –China entgegenbringen. Das FOCAC hat sämtli-che afrikanische Staaten mit lediglich fünf Aus-nahmen (Burkina Faso, Malawi, Swasiland, Gam-bia, Sao Tomé & Principe) an den chinesischenTisch gebracht.

Nach den Worten des chinesischen Premierminis-ters Wen Jiabao will China bis 2010 Afrikas wichtig-ster Wirtschaftspartner mit einem Handelsvolu-men von 100 Milliarden US-Dollar sein. Unrealis-tisch ist das nicht. Schon jetzt steht China nachden USA und Frankreich an dritter Stelle mit ei-ner Bilanz von 55 Milliarden US-Dollar im letztenJahr. Traditionelle Handelspartner Afrikas wieGroßbritannien oder Deutschland hat China weithinter sich gelassen.

Wie man sieht, kann der China-Boom in Afrikasehr unterschiedlich bewertet werden. Mit wissen-

schaftlichem und politischem Abstand betrachtet,stellen sich folgende Fragen:

� Welche Auswirkungen auf den Wohlstand hatdie exponentiell wachsende wirtschaftliche Ver-flechtung von China und Afrika?

� Wie spiegelt sich das in der öffentlichen Wahr-nehmung auf dem Kontinent?

� Vor welchen wirtschaftspolitischen Herausfor-derungen stehen afrikanische Regierungen undSozialpartner angesichts der China-Dynamik?

Massive chinesische Beteiligungan Minen und Rohölfeldern

China wurde 1993 Nettoimporteur von Rohöl; ge-nau zehn Jahre später war es der weltweit zweit-größte Erdölimporteur nach den USA. Rohöl istgleichzeitig Afrikas wichtigstes Exportgut nachChina, das mittlerweile ein Drittel seines Erdölbe-darfs aus afrikanischer Förderung deckt und denImportwert von 3,6 Milliarden US-Dollar im Jahr2000 auf 13,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2005ansteigen ließ. Das chinesische Engagement wirdin diesem Sektor von den drei Staatsfirmen ChinaNational Petroleum Cooperation (CNPC), ChinaNational Offshore Oil Corporation (CNOOC)und Sinopec getragen. 15 Prozent der Ölexportestammen aus Quellen mit chinesischer Kapitalbe-teiligung.

Eine ähnliche Strategie wird im Bergbau umge-setzt – China kauft nicht nur Rohstoffe, sonderninvestiert auch in deren Förderung: Kupfer inSambia, Platin in Zimbabwe, Kupfer und Kobaltim Kongo, usw. „Equity oil“ und der serielle Kaufvon Erzminen sind eine völlig andere Strategie derRohstoffsicherung, als sie beispielsweise die deut-sche Wirtschaft betreibt. Vor allem aufgrund dergroßen Verluste in Nigeria und in Liberia (Bong-Eisenerzmine) sind – bis auf Wintershall in Libyen

Chinas Bedeutung für AfrikaProf. Dr. Helmut Asche/Susanne SchmutzerInstitut für Afrikanistik der Universität Leipzig

Der Versuch Chinas, sich in Afrika Rohstoffe und Energie zu sichern, nutzt zwar einigen afrikanischen Entwicklungslän-

dern. Aber das chinesische Engagement hat auch gravierende Nachteile.

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China

62 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

und Mauretanien – deutsche Firmen kaum in denRohstoffsektoren des Kontinents vertreten.

So sind Allianzen chinesischer Staatskonzerne mitlokalen Unternehmen, beispielsweise Sinopec mitAngolas Sonangol, entstanden. Angolas Lieferun-gen an die Volksrepublik übertrafen Anfang letz-ten Jahres bereits die Saudi-Arabiens. 2004 erwarbSinopec in Angola ein Erdölfeld von Shell undschloss dann mit Sonangol ein Joint-Venture übereine 75-Prozent-Beteiligung. In den folgendenJahren kamen drei weitere Erdölfelder hinzu so-wie der Bau einer Raffinerie und der Ausbau derbenötigten Infrastruktur. Alle Baumaßnahmenwurden von chinesischen Unternehmen realisiertund durch die Export and Import Bank of China(EXIM) finanziert. Für Afrika wäre dieses Engage-ment allerdings nur dann positiv, wenn die Ölein-nahmen entwicklungsfördernd eingesetzt werden.Das ist bisher in keinem einzigen Land gelungen.

Raubbau und Überschwemmungafrikanischer Märkte

Ein noch kritischeres Bild zeigt sich in der Holz-wirtschaft, die seit Ende der 1990er Jahre explo-sionsartig wachsende Exporte nach China ver-zeichnet. Auch auf diesem Sektor ist China derzweitgrößte Handelspartner nach den VereinigtenStaaten. Es bezieht seine Lieferungen hauptsäch-lich aus Kamerun, Gabun, Äquatorialguinea, Li-beria und der Demokratischen Republik Kongo.2003 beliefen sich die Holzimporte der Volksre-publik auf 2,5 Millionen Kubikmeter. Tatsäch-licher Einschlag und Exporte übersteigen legaleund nachhaltige Grenzwerte um ein Vielfaches.Berichte zu einzelnen Ländern lassen bislang diewirkliche Dimension dieses Raubbaus nur erah-nen;1 so dokumentiert Greenpeace in seiner ak-tuellen Studie „Partners in Crime“ den Weg illegalgeschlagenen Tropenholzes aus Papua Neu-Gui-nea, Indonesien und Gabun, das über den chine-sischen Umweg als Sperrholz und Möbel auf eu-ropäischen und US-amerikanischen Großmärktenlandet. Das Forstministerium in Tansania hat sichdurch eine neue Studie gerade erst einen Über-blick über die Raubexporte durch chinesische Fir-men verschafft. Auch über die massiven illegalenHolzausfuhren aus Mozambique nach China kom-men jetzt erst verlässliche Angaben zusammen.

Im Gegenzug zum Rohstoffboom dringen chinesi-sche Billigimporte allmählich auf sämtliche afrika-nischen Märkte. Chinas Lieferungen konzentrie-ren sich zum größten Teil auf Textilien, Elektro-und Haushaltsgeräte, Telekommunikation undSchuhe. Die Verteilung der Importe erfolgt aufdem gesamten Kontinent über ein rasch expan-dierendes Netzwerk chinesischer Groß- und Ein-zelhandelsunternehmen. Die Chinesen investie-ren vor Ort in Handelsniederlassungen, Super-märkte und kleine Geschäfte und dringen sogarbis in den informellen Sektor vor.

Mit 41 afrikanischen Staaten hat die chinesischeRegierung eine Meistbegünstigungsklausel imAußenhandel vereinbart, mit Südafrika laufen Ge-spräche über ein Freihandelsabkommen. 28 Staa-ten profitieren von Zollfreiheit, die bis 2009 auf440 Produktlinien erhöht werden soll. Die Siche-rung afrikanischer Absatzmärkte ist eines derHauptziele Chinas. Daher ist die Volksrepublikauch gewillt, Präferenzsysteme und Sonderkondi-tionen im Handel anzubieten.

Der Anstieg von Exporten chinesischer Ge-brauchsgüter nach Afrika bleibt nicht ohne Folgenfür die einheimischen Betriebe. So sollen in Bur-kina Faso, bekannt als das Land der Zweirad-Mo-torisierung in Afrika, chinesische Importe von Mo-peds und Mofas die wenig wettbewerbsfähige loka-le Montageindustrie ruiniert haben. Auch in dereinzigen Fabrik Tansanias für Plastiksandalen, OKPlast, die einst 3 000 Arbeiter beschäftigte und in22 Länder exportierte, musste unter dem Druckchinesischer Massenimporte die Zahl der Arbeiterauf 1 000 reduziert werden. „Design-Kopien“ allerArt spielen in Nigeria und anderen Ländern eben-falls eine große Rolle.

Der Niedergang der Textilindustrieals Lehrstück

Der wichtigste Bereich, in dem sich die Wirkungenvon Exporten und Importen chinesischer Herstel-ler konterkarieren, ist der Textilsektor. Hier wer-den afrikanische Märkte durch chinesische Billig-Importe aus Garnen, Stoffen und Bekleidung be-dient, während westafrikanische Länder Roh-baumwolle nach Indien und China ausführen.Neue Bekleidungsfabriken in Afrika, zum Beispielin Mauritius, Madagaskar, Nigeria, Südafrika, Le-sotho und Swasiland, produzieren jedoch nicht sosehr für afrikanische Märkte, sondern für Abneh-mer im Norden wie die USA. Durch Handelsprä-ferenzen erst unter dem Multifaser-Abkommen

1 Als guten Überblick siehe die Angaben auf der Internetseite:www.globaltimber.org.uk

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China und Afrika

63Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

(MFA) der WTO und nun dem US-amerikani-schen Africa Growth and Opportunity Act(AGOA) konnten eine Reihe afrikanischer Staatenihre Textil- und Bekleidungsexporte in die USAenorm steigern. Die Vorteile derartiger Abkom-men wurden gerade von chinesischen und taiwa-nesischen Firmen wahrgenommen, die sich spe-ziell zu diesem Zweck binnen weniger Jahre inAfrika niederließen.

Beim Auslaufen des MFA im Januar 2005 kam esjedoch bereits zu einem massiven Einbruch derTextilexporte. AGOA verlangt zudem die Nutzunglokaler oder in den USA hergestellter Vorproduk-te und gewährt auf diese Regelung nur noch biszum September 2007 eine Ausnahme, wonach Vor-produkte aus Drittländern, zum Beispiel Garneund Stoffe aus China, eingesetzt werden können.Die Verlängerung dieser Sonderregelung wird fürdie exportorientierten afrikanischen Textilunter-nehmen überlebenswichtig werden, ebenso wie ei-ne Überarbeitung der „Everything but Arms“-Initi-ative der Europäischen Union (EU), die mit einernoch anspruchsvolleren Ursprungsregelung fürafrikanische Textilunternehmen zurzeit fast wert-los ist. Was in der ungünstigsten Konstellation pas-sieren kann, ist das gleichzeitige Wegbrechen derExporte in den Norden und des heimischen Ab-satzes in Afrika.

Das botswanische Textilunternehmen Caratex, zu70 Prozent in taiwanesischer Hand, illustriert dieFragilität dieser Wertschöpfungskette. Caratex hat-te es erfolgreich verstanden, die durch AGOA ge-währte zollfreie Einfuhr von Textilien in die Ver-einigten Staaten zu nutzen und seinen Umsatz von36 Millionen botswanischen Pula im Jahr 2002 auf169 Millionen im Jahr 2003 und 283 Millionen imJahr 2004 zu steigern. Der Betrieb expandierte aufsechs Filialen und erhöhte die Zahl seiner Ange-stellten von 500 auf 5 000 Arbeiter, was bei einermomentanen Arbeitslosenquote von 21 Prozent inBotswana einen beachtenswerten Beitrag zur Ar-mutsverringerung ausmacht. Das Unternehmenerhielt zweimal den Golden Arrow Award des Pro-fessional Management Review, geriet jedoch 2005wegen Etikettenschwindels in die Schlagzeilen.Die Angestellten hatten ihren Betrieb beim Zollangezeigt und ausgesagt, Caratex würde selbstkaum mehr Bekleidung herstellen, sondern Billig-importe aus China mit dem Label „Made in Bots-wana“ versehen und zollfrei unter AGOA in dieUSA ausführen. Tatsächlich fanden sich in den Be-trieben zahlreiche Textilien chinesischer Her-kunft. Der Geschäftsführer gab zu verstehen, es

handele sich lediglich um überschüssige Ware fürden südafrikanischen Markt.

Ausnutzen von entwicklungspolitischenPrivilegien

Ein anderes Beispiel für die Effekte des chinesi-schen Wirkens im Textilsektor bietet Lesotho. Zu-nächst eröffneten rund drei Dutzend taiwanesi-sche und festlandchinesische Fabriken, doch un-ter dem Druck des Exportrückgangs nach Endedes MFA wurden Tausende Arbeitsplätze wiederabgebaut, und als Reaktion auf Lohndumping gin-gen 20 000 in der Factory Worker’s Union (Fawu)organisierte Arbeiter auf die Straße. Das Ergebnisglich dem des Bergarbeiterprotests in Sambia: zweiTote und zahlreiche Verletzte, nachdem die Poli-zei den Aufmarsch mit Schüssen in die Menge be-endet hatte. Parallel drohte in Südafrika die loka-le, noch an den geschützten Raum aus Apartheid-Zeiten gewöhnte Textilindustrie, unter den China-Importen in die Knie zu gehen. Der Verlust vonArbeitsplätzen in der südafrikanischen Textilpro-duktion wird auf circa 75 000 beziffert. Nach mas-siven Protesten von Unternehmern, Gewerkschaf-ten und Medien hat China 2006 freiwilligen Im-portquoten nach Südafrika zugestimmt. Vergleich-bar sieht die Situation in anderen Ländern aufdem afrikanischen Kontinent aus: In Kenia warenacht Textilfabriken gezwungen, die Produktioneinzustellen, in Swasiland vier und in Lesothosechs. Selbst Mulungushi Textile Mills, die größteTextilfabrik Sambias, die ironischerweise drei Jahr-zehnte zuvor von Chinesen gebaut und bislang un-ter deren Management geführt wurde, musste imJanuar dieses Jahres schließen. Die Arbeiter vonMulungushi Textiles protestierten vor der chinesi-schen Botschaft in Lusaka.

Ähnlich widersprüchlich steht es um die Baubran-che. Bis zu ein Drittel aller öffentlichen Projekt-ausschreibungen gehen an chinesische Firmen, daafrikanische Regierungen vor allem die schnelleund preiswerte Arbeit im Vergleich zu den einhei-mischen oder westlichen Baufirmen schätzen. Sol-che Leistungen werden allerdings ausschließlichmit chinesischen Arbeitskräften und importiertenMaterialien erreicht, praktisch ohne Unteraufträ-ge an lokale Unternehmen. Der exklusive Einsatzchinesischer Arbeiter – allein im algerischen Woh-nungsbau 10 000 bis 20 000 Personen – ist ein eherklassisches Verfahren, das man schon von der Tan-sania-Sambia-Bahn kennt.

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China

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Die temporären Vertragsarbeiter von Bau- oderEntwicklungsprojekten, nach neuen chinesischenAngaben circa 80 000, waren nur die Vorhut einesneuen, breiten Stroms chinesischer Einwandererauf dem afrikanischen Kontinent. Begrenzte Im-migration gab es schon in der Vergangenheit, zumBeispiel Ende des 19. Jahrhunderts auf Veranlas-sung der damaligen britischen Verwaltung in dieGoldminen von Transvaal/Südafrika. Mittlerweilehandelt es sich um eine der größten Wanderungs-Bewegungen nach Afrika seit dem Ende der Kolo-nialzeit. Dabei bleiben die Chinesen vor Ort eherunter sich. Im Gegensatz zu indischen Zuwande-rern, die sich vor allem in Ost- und Südafrika an-gesiedelt und fast ausnahmslos die Nationalität ih-res Aufnahmelandes angenommen haben, blei-ben besonders die chinesischen Unternehmer oftAusländer. Inder und Chinesen vertrauen beideauf wirtschaftliche Netzwerke im Sinne ethnischdefinierter Zulieferer- und Kundenbeziehungen,integrieren sich jedoch ganz unterschiedlich indie jeweiligen Nationalökonomien.

Schwer messbareWachstums- und Wohlfahrtswirkung

China hat ohne Zweifel zum Wachstumsschub inAfrika beigetragen, der sich seit Mitte der 90er Jah-re abzuzeichnen begann und jetzt im vierten auf-einanderfolgenden Jahr zu realem Wachstum vonmehr als fünf Prozent geführt hat. Das kommt zu-nächst daher, dass der energie- und material-in-tensive Wachstumstyp Chinas die Weltmarktpreisefür Öl und Industrierohstoffe nach oben getrie-ben hat. Konkreter sind die Gesamtergebnisse desExport- und Import-Wachstums, der breiten Inves-titionen, der Immigration und der Wettbewerbs-verschärfung empirisch allerdings noch nicht er-fasst worden. Keine der einschlägigen Studien, dieetwa von OECD oder Weltbank zur China-Afrika-Thematik vorgelegt worden sind, bildet die aggre-gierte Wohlfahrtswirkung aus Produzenten- undKonsumenten-Gewinnen oder -Verlusten ab, zu-mal hier nicht nur die komparativ-statische, son-dern auch die dynamische Wirkung im Zeitablaufinteressieren muss. Dies wird ein großes Themafür wirtschaftswissenschaftliche Begleitforschungbleiben, umso mehr, als noch weitere Variablen indie Gleichung eingehen, etwa die chinesische Ent-wicklungshilfe und die mögliche wirtschaftspoliti-sche Reaktion in Afrika.

Die chinesische Entwicklungshilfe

Abgesehen vom rein wirtschaftlichen Engagementbemüht sich die Volksrepublik um regionale afri-kanische Initiativen wie die Afrikanische Unionund die New Partnership for Africa’s Development(NEPAD). Sie verfolgt dabei ein ganz anderesKonzept als die EU. Während die EU ihre Prinzi-pien der guten Regierungsführung und die Ach-tung der Menschenrechte betont, hebt die chine-sische Seite die friedliche Koexistenz und Nicht-einmischung in die internen Angelegenheiten an-derer Länder hervor.

Trotz ihrer Zustimmung zu den Millennium Deve-lopment Goals (MDG) und der Unterzeichnungder Pariser Erklärung zur Wirksamkeit der Ent-wicklungszusammenarbeit ist die chinesische Re-gierung zurückhaltend, was eine tiefer gehendeAbstimmung ihrer afrikanischen Entwicklungs-projekte mit der westlichen Staatengemeinschaftangeht. Dabei können die Chinesen in der Ent-wicklungszusammenarbeit stärker noch als imunternehmerischen Engagement auf eine langeTradition zurückblicken: Seit 1956 förderten sie –nach offiziellen Angaben – in 49 afrikanischenStaaten rund 700 Projekte, die eine große Anzahlvon Bereichen, wie Landwirtschaft, Nahrungsmit-telverarbeitung, Vieh- und Fischzucht, den Ener-gie- und Transportsektor, Wasserkraft, Bildungetc., abdecken.

Die chinesische Entwicklungszusammenarbeit kon-zentriert sich heute im Wesentlichen auf vier großeFelder: die Infrastruktur, das Gesundheits- und Bil-dungswesen sowie den Agrarsektor. So sind circa15 000 chinesische Ärzte in über 47 Ländern undin den Militäreinheiten der UN-Friedenstruppentätig, zusätzlich werden medizinische Ausstattun-gen für Krankenhäuser in Afrika gestellt und dieKooperation zwischen chinesischen Provinzen undafrikanischen Ländern durch Personal- und Infor-mationsaustausch gefördert. Jährlich erhaltenrund 15 000 afrikanische Studenten Stipendien füreinen Aufenthalt in China, und 23 afrikanischeUniversitäten besitzen ein Partnerschaftsabkom-men mit chinesischen Bildungseinrichtungen.

Im Agrarsektor wird die Entwicklungszusammen-arbeit als besonders vorteilhaft für die afrikani-schen Staaten dargestellt, da China beim Einsatzmoderner Agrartechnologien für die Bewässerungund den Reisanbau relativ erfolgreich ist. Projektedieser Art dienen Beijing als Vorzeigebeispiele fürseine gute Kooperation mit afrikanischen Regie-rungen und den Erfolg des chinesischen Wirkens

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China und Afrika

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auf dem Kontinent. Ebenso populär sind derSchuldenerlass von rund 1,3 Milliarden US-Dollarfür die 31 ärmsten afrikanischen Länder und diekonditionsfreie Kreditvergabe ähnlich hoher Be-träge. 2005 konnten mit 800 Millionen US-Dollarinsgesamt 55 Projekte in 22 Ländern des afrikani-schen Kontinents finanziert werden.

Das alles sind eindrucksvolle Zahlen. Allerdingshat China über seine Entwicklungshilfe noch nienach den international vereinbarten OECD-DAC-Kriterien berichtet. Vieles – Zahlen, Fristen, Ab-wicklungsformen – bleibt daher unklar, und Eva-luierungen der langfristigen Wirkungen sindgänzlich unbekannt.

Entwicklungsschwerpunkte in Angola, Sudan und Zimbabwe

Außerdem erhielten die besonders ressourcenrei-chen Staaten Angola, Nigeria, Mosambik, Zimbab-we und Sudan allein 80 Prozent der Kredite der Ex-port-Import Bank of China (EXIM), also genau dieLänder, die schon von Öl- und Erz-Ausfuhren nachChina profitieren. Insbesondere auf die Koopera-tion mit Angola, Sudan und Zimbabwe zielt diewestliche Kritik an Chinas Engagement in Afrika.Es besteht zunächst kein Zweifel daran, dass Chinabislang keine konstruktive Rolle in den Bemühun-gen um eine gute Regierungsführung, den Res-pekt der Menschenrechte und die Transparenz derRessourcenströme gespielt hat. Schaut man sichaber auch die westliche Politik näher an, sind Dif-ferenzierungen in der Betrachtung angebracht:

� In Angola war die bisherige Strategie des Wes-tens, die Plünderung der Reichtümer des Landesdurch eine kleine Oligarchie zu verhindern, nichtsehr erfolgreich. Nachdem die angolanische Re-gierung die Forderung des Internationalen Wäh-rungsfonds (IWF) nach Offenlegung der Finanz-ressourcen abgelehnt und auf dessen Kredite ver-zichtet hatte, traten die Chinesen ohne Auflagenan die Stelle der ursprünglichen Geldgeber. DenChinesen kann man vorwerfen, nichts Aktives zurLösung beizutragen. Aber das westliche Vorgehen,französische und amerikanische Ölkonzerne un-gehindert agieren zu lassen und für die politischheiklen Fragen den IWF vorzuschicken, war auchnicht zielführend.

� In Zimbabwe wurden während des Besuchs vonChinas Spitzenpolitiker Wu Bangguo sechs Verträgeüber wirtschaftliche und technische Zusammenar-beit abgeschlossen, die Zimbabwe vor allem Mili-

tär- und Kommunikationstechnik bieten. Darun-ter sind einige Militärjets, aber auch Radiotechno-logie, die unabhängige Stationen der Oppositionam Senden hindern soll. Ganz offensichtlich kannsich Präsident Mugabe mit Hilfe der Chinesenleichter im Amt halten, obwohl ihn westliche Ge-ber seit Jahren boykottieren und die WirtschaftZimbabwes mit einer Inflationsrate von 1 600 Pro-zent dem Zusammenbruch nahe ist. Doch näherbetrachtet hatte der Westen auch in diesem Fallkeine Erfolg versprechende Strategie. Die ameri-kanische Unterstaatssekretärin für Afrika, JendayiFraser, musste sich 2006 für ihre resignative Äuße-rung verteidigen, sie suche angesichts der Spal-tung von SADC (Südafrikanische Entwicklungs-/Wirtschafts-Gemeinschaft) und zimbabwischer Op-position noch nach einer „Coalition of the wil-ling“. Dieses Problem haben die Chinesen nichtgeschaffen, sondern nur verschärft.

� Anders sieht es im Sudan aus: 2003 verkaufteneuropäische und kanadische Konzerne unter demDruck von Menschenrechtsorganisationen ihre An-teile am Energiesektor, die sogleich von chinesi-schen Staatskonzernen zum Ausbau ihrer Positionerworben wurden. Den Chinesen geht es im Sudanvor allem um die reichen Ölvorkommen, wie bei-spielsweise auch der Bau einer 1 600 km langenPipeline beweist. Aus diesem Grund unterstützt Bei-jing die Regierung in Khartum und hält sich in denAuseinandersetzungen über Darfur zurück. Im UN-Sicherheitsrat stimmte China gegen verstärkteSanktionen und die Entsendung einer Schutztrup-pe und unterzeichnete parallel dazu diverse Part-nerschaftsabkommen in Millionenhöhe mit demsudanesischen Präsidenten al-Bashir. Freilich konn-ten sich die Chinesen gegenüber den internationa-len Protesten nicht ganz taub zeigen. Deshalbunterstützte China trotz seiner Nichteinmischungs-politik die Friedensmission im Südsudan und hin-derte den UN-Sicherheitsrat nicht daran, den Inter-nationalen Gerichtshof wegen grober Verstöße ge-gen die Menschenrechte in Darfur einzuschalten.Frieden in diesem Land wäre auch im Interesse derVolksrepublik, da der größte Teil der ergiebigstenÖlfelder in den zwischen dem Norden und Südenhistorisch umstrittenen Gebieten liegt.

Chinas überraschend guter Rufin der öffentlichen Meinung

In der afrikanischen Öffentlichkeit dominiert mitBlick auf China nicht die negative Wahrnehmung.Vielmehr lässt sich ein Gefühl von Befreiung aus-machen, eine Befreiung von westlichen Diktaten,

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China

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vom „westlichen Joch“ aufgezwungener Entwick-lungsbedingungen. Dies sollte angesichts der Ver-breitung in ganz unterschiedlichen Bevölkerungs-gruppen und trotz des überzogen euphorischenCharakters nicht als vorübergehende Stimmungabgetan werden. Auch afrikanische Politiker, Wis-senschaftler und Journalisten teilen diese Mei-nung. Das hat zum einen historische Wurzeln: Chi-na zählt nicht zu den ehemaligen Kolonialmäch-ten wie Frankreich und Großbritannien. Die Volks-republik zeigte sich solidarisch mit zahlreichenKolonien, die sich im Befreiungskampf gegen dieKolonialmächte befanden. Nach der Unabhängig-keit bemühten sich die Chinesen rasch um diplo-matische Beziehungen und die Gunst afrikani-scher Staaten mit groß angelegten Bauprojekten,die noch immer als Symbole der guten Zu-sammenarbeit auf dem Kontinent hervorragen.

Zum anderen gibt es psychologische Gründe. DieSüd-Süd-Kooperation mit einem Entwicklungs-land, das sich innerhalb von drei Dekaden zu einerder führenden Wirtschaftsmächte wandelte, lässtauch afrikanische Meinungsführer auf einen Auf-schwung in ihren eigenen Staaten hoffen, zumalder Wachstumsbeitrag Chinas alles andere als fik-tiv ist. Das bringt die westliche Gebergemeinschaftin gewisse Bedrängnis.

Die bi- und multilaterale Entwicklungszusammen-arbeit der OECD-Länder mit Afrika hat in denletzten acht Jahren wohl ihre bisher größte Re-form durchlaufen – mit dem Übergang von reinerProjekthilfe zu mehr abgestimmter Programm-und Budgethilfe, mit Zielorientierung auf die Mil-lennium Development Goals. Das Prinzip Hilfe zurSelbsthilfe galt schon länger; nun wird auch in derSteuerung der Entwicklungszusammenarbeit dienationale Ownership der Partner und die Anpas-sung an deren Strategien und Systeme zum Leit-motiv. Auch wenn China die sogenannte Paris-Er-klärung über die Grundsätze der „neuen“ Ent-wicklungszusammenarbeit unterschrieben hat,widerspricht sein tatsächliches Wirken auf demafrikanischen Kontinent diesen Prinzipien: Es en-gagiert sich überwiegend mit unabgestimmtenEinzelprojekten, es wirkt mit massiver Entsendungvon eigenem Personal, Kredite werden mit Liefer-bindungen verknüpft, und es fördert einen hohenAnteil von baulichen Prestigeprojekten.

So gesehen ist die in Afrika gelegentlich lautstarkeKritik an der westlichen Entwicklungshilfe nicht ge-rechtfertigt. Sie ist aber auch aus vielen anderen

Gründen ungerecht: Ohne diese Hilfe wären eini-ge Krankheiten in Afrika nicht ausgerottet, gäbe eskeine Perspektive auf Eindämmung von HIV/Aids,stände es um die Sozialsysteme viel schlechter etc.Generell werden die afrikanischen Regierungenerst langsam auf die Zweischneidigkeit des chine-sischen Vordringens auf dem afrikanischen Konti-nent aufmerksam. Das gilt für die Entwicklungs-wie für die wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die wenigsten Regierungen haben eine klareKonzeption, was ihre Kooperation mit Beijing an-belangt. Eine zielgerichtete wirtschaftspolitischeDebatte dazu hat bislang nur Südafrika geführt.In einem öffentlichen Gespräch mit Studenten inKapstadt zum Thema „China, Afrikas neuerFreund“ ließ Präsident Thabo Mbeki deutlich wer-den, dass angesichts der übermächtigen Wirt-schaftskraft Chinas die Gefahr für Afrika groß sei,zu dessen Kolonie zu werden. Bislang diene Afri-ka den Chinesen vor allem als Rohstofflieferantvon Erdöl, Metallen und Kaffee, was den Konti-nent zu weiterer Unterentwicklung verdammeund koloniale Abhängigkeiten wiederhole. Mitsolchen erst allmählich aufkommenden Einsich-ten an der Spitze afrikanischer Staaten korres-pondiert die Ausbreitung eines Gefühls der Ab-lehnung von unten, das heißt vor allem in derstädtischen Arbeiterschaft.

Wachsende Kritik in breiten Bevölkerungsschichten

„Growing resentment“ war der wahrscheinlich ammeisten gebrauchte Ausdruck in der Medienbe-richterstattung der vergangenen Monate. Kriti-siert wurde in der afrikanischen Bevölkerung da-bei fast alles: die Importschwemme chinesischerProdukte bei zugleich mangelhafter Produktqua-lität, die Beschäftigung chinesischer Arbeiter inden Bauprojekten, die Unterstützung diktatori-scher Regime etc. Natürlich richtet sich dieserProtest ebenso an die eigenen afrikanischen Re-gierungen, die solche Erscheinungen offensicht-lich widerspruchslos hinnehmen oder sich bei Es-kalationen wie in Sambia gegen die eigenen Leu-te wenden. Kaum zu überraschen vermochtedann die China-kritische Agenda des dortigenOppositionskandidaten zur Präsidentschaftswahl.Die Wahrnehmung der Chinesen in Afrika er-scheint von unten mittlerweile vielfach negativerals die Wahrnehmung von oben. �

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67Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Einige der grundlegenden Wirtschaftsdaten In-diens sind keineswegs beeindruckend: Obwohlsich Indiens Bevölkerung auf 18 Prozent der Welt-bevölkerung beläuft, erwirtschaftet das Land nurzwei Prozent des Weltbruttoinlandsproduktes undträgt nur mit 1,3 Prozent zu den Weltexporten bei.Das Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich auf ledig-lich 730 US-Dollar; das ist etwa die Hälfte des Pro-Kopf-Einkommens in China. Rund ein Drittel derBevölkerung verdient nicht einmal einen US-Dol-lar pro Tag; mehr als ein Drittel der Inder sindAnalphabeten. Die Transportwege sind kaum ent-wickelt. Ein Lastwagen – so hört man – benötigtfür die 2 000 km lange Strecke zwischen Kalkuttaund Bombay acht Tage. Wie kann eine solcheVolkswirtschaft für ausländische Investoren inte-ressant sein?

Indien aus der Sicht von ausländischen Investoren

In der Wirtschaft kommt es weniger auf absoluteGrößen als auf marginale Veränderungen an. Ja-pan und Deutschland etwa, die in absoluten Zah-len zur Weltspitze gehören, galten als wenig at-traktiv, solange ihre Wirtschaft nur um circa einProzent pro Jahr wuchs. Indiens Volkswirtschaftdagegen wächst seit vier Jahren um jährlich etwaacht Prozent. Dies weckt zu Recht große Erwar-tungen:

� Hohe Wachstumsraten des Sozialproduktes be-deuten, dass in den besonders dynamischenWachstumsbranchen überdurchschnittliche Ge-winne erzielbar sind. In Zukunft werden mit höhe-rer Kaufkraft ausgestattete Inder wesentlich mehrMotorräder, Kühlschränke, Fernseher, Pkws undsonstige langlebige Konsumgüter nachfragen, alsgegenwärtig hergestellt werden.

� Hohe Wachstumsraten brauchen keineswegsein kurzfristiges Phänomen zu sein. In vielen Län-dern – Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur undMalaysia sowie inzwischen China – wurden mitrichtigen ordnungs- und prozesspolitischen Ent-scheidungen Wachstumsraten von bis zu zehn Pro-zent über Jahrzehnte hinweg verwirklicht.

� Viele international agierende Unternehmen,die bisher vor allem China fokussierten, musstenerkennen, dass ihr technisches Know-how von chi-nesischen Firmen ungeniert übernommen wird.Sie sehen deutliche Risiken für ihr Engagementund suchen neue Standorte in Asien. Indien mitseinen anhaltend hohen Wachstumsraten und sei-ner fast an die chinesische Bevölkerung heranrei-chenden Einwohnerzahl schneidet bei dieser Su-che gut ab. Das liegt auch daran, dass sich derKonflikt mit Pakistan entschärft hat und die inner-indischen Unruhen eher als unbedeutend angese-hen werden.

Indiens eigentümlicher Entwicklungsweg

In Indien gibt es eine überaus große Zahl qualifi-zierter Fachleute. Als Indiens Produktionsstrukturder eines weniger entwickelten Landes glich, wa-ren viele hoch qualifizierte Fachleute und For-scher arbeitslos, sofern sie nicht in der Verwal-tung, in Staatsbetrieben und in den wenigen pri-vaten Großunternehmen – in der Regel weit unterihren Fähigkeiten – eingesetzt wurden. Viele wan-derten deshalb ins Ausland ab: in die USA, nachEuropa, vor allem nach England, und in die arabi-schen Staaten. In den USA trugen sie nachhaltigzum Hightech-Boom bei. Mehr als 7 000 der High-tech-Firmen in den USA sollen von Personen mitindischem Familienhintergrund gegründet undgeführt werden.

China und Indien:Zwei Entwicklungswege und ihre SynergieeffekteProf. Dr. Wolfgang KlennerFakultät für Ostasienwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum

Man erwartet, dass Indien in absehbarer Zeit zu einer maßgeblichen Wirtschaftskraft heranwachsen und ähnlich wie China

eine wichtige weltwirtschaftliche Rolle einnehmen wird. Bei derartigen Prognosen müssen jedoch Interdependenzen be-

rücksichtigt werden, die in Entwicklungsprozessen eine bedeutende Rolle spielen. Besonders interessante Erkenntnisse

ergeben sich bei einer Gesamtbetrachtung des Wirtschaftsraumes Süd- und Ostasien.

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China

68 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Als sich Indien in den neunziger Jahren gegen-über dem Ausland öffnete, kam es nicht zum er-warteten Kapitalzufluss. Ausländische Investorenblickten zunächst auf die billigen ungelernten undhalbwegs qualifizierten Arbeiter. Aber nur wenigeUnternehmen entschlossen sich zum Aufbau vonIndustriebetrieben. Maßgeblich waren vor allemzwei Gründe: Erstens fehlten Meister und prakti-sche Techniker, die für Führungspositionen inden neu errichteten Anlagen hätten rekrutiertwerden können. Zweitens war Indiens Infrastruk-tur unzureichend. Es gab keine leistungsfähigenTransportverbindungen und keine zuverlässigeElektrizitätsversorgung, obwohl die Elektrizitäts-preise zu den höchsten der Welt gehörten. Seitensder indischen Regierung gab es kaum Signale,dass sie sich in Zukunft für den Ausbau der Infra-struktur einsetzen wollte.

Erst allmählich änderte sich die Situation. Unter-nehmen aus dem Software-Bereich und aus sonsti-gen Dienstleistungsbranchen, etwa Banken undAnwaltskanzleien, boten hoch qualifizierten In-dern – Technikern und Forschern – Einsatzmög-lichkeiten. Zudem hatte die indische Regierungim Rahmen ihrer militärisch-zivilen Forschungs-programme in einigen Städten Forschungsinstitu-tionen errichtet und sie mit hoch qualifiziertenFachleuten besetzt. An einigen Institutionen hat-ten sich Unternehmer indischer Abstammung ausSilicon Valley beteiligt. Sie hatten Kapital zur Ver-fügung gestellt und die Ausstattung lokaler Bil-dungsinstitutionen mit Lehrpersonal unterstützt.So bildeten sich Hightech-Bereiche heraus, in de-nen ausländische Investoren Unternehmen er-richteten und die im indischen Bildungssystemausgebildeten Fachleute einstellten.

Firmen wie SAP, Infineon, Intel, Sanyo, Microsoft,Cisco, Motorola, Texas Instruments haben inzwi-schen in zahlreichen Regionen umfangreiche In-vestitionen getätigt. Hightech-Firmen beschäfti-gen circa eine Million indischer Fachleute, diesich schon lange nicht mehr lediglich mit der Kon-zipierung von Software-Programmen, sondernauch mit komplexen Forschungs- und Entwick-lungsaufgaben befassen. Die Erzeugnisse werdenzu einem großen Teil exportiert; die Ausfuhrenbeliefen sich im Jahr 2005 auf circa 17 MilliardenUS-Dollar. Sie werden in den nächsten fünf Jahrenschätzungsweise auf circa 60 Milliarden US-Dollarsteigen, sofern es – und das ist eine für Indien bis-her ungewöhnliche Einschränkung – Indiens Bil-dungsinstitutionen gelingt, den rasant wachsen-den Bedarf an hoch qualifizierten Fachleuten undForschern zu decken. Indiens Fachleute und For-

scher, noch vor kurzer Zeit weltweit auf der Suchenach geeigneten Arbeitsplätzen, sind inzwischenin Indien zum knappen, das Wachstum der High-tech-Branchen limitierenden Produktionsfaktorgeworden.

Das Ergebnis ist, dass Indiens industrielle Produk-tionskapazitäten nur gering, die Branchen desDienstleistungssektors indessen – für ein Entwick-lungsland ganz ungewöhnlich – hoch entwickeltsind. Indiens Entwicklung weicht also erheblichvon den in anderen Ländern üblichen Entwick-lungspfaden ab. Nicht der Ausbau des Industrie-sektors stand im Mittelpunkt der Entwicklungsbe-mühungen. Ausländer investierten auch kaum inarbeitsintensive Produktionsbranchen, zum Bei-spiel in den Textilsektor. Stattdessen entfaltetensich hochkomplexe Segmente des Dienstleistungs-sektors, die bald auch für ausländische Hightech-Unternehmen attraktiv wurden. Ihre Wachstums-raten übertreffen inzwischen die Wachstumsratenaller sonstigen Branchen.

Inder helfen, China in der Informations-technologie voranzubringen

In China verlief die Entwicklung anders. In den50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Chinamit der Sowjetunion und anderen sozialistischenStaaten auch bildungspolitisch kooperierte, wur-den zahlreiche einfache Arbeiter und Facharbei-ter ausgebildet und in den neu errichteten Indus-trieanlagen beschäftigt. Dieses Segment wurde zuBeginn der 60er Jahre, nachdem sich die Bezie-hungen zur Sowjetunion verschlechtert hatten,durch eigene Bildungsanstrengungen gestärkt.Danach wurde die Ausbildung von Fachleutenunterbrochen. Mehr als ein Jahrzehnt lang, wäh-rend der „Kulturrevolution“, wurden so gut wiekeine sogenannten Intellektuellen mehr ausgebil-det. Höhere Bildungsstätten und sogar Schulenwurden geschlossen.

Stattdessen wurde der bildungspolitische Schwer-punkt auf Praxisnähe gelegt. Arbeitskräfte solltenlernen, einfache technologische Lösungen im ge-samten Land zu verbreiten und selbständig weiter-zuentwickeln. Im Rahmen dieser Politik stieg zwardie Alphabetenquote an, auch wurde das untereSegment der gering Qualifizierten ausgeweitetund zur Durchführung einfacher Innovationenund Imitationen in die Lage versetzt. Das für einLand von der Größe und mit dem Entwicklungs-ehrgeiz Chinas viel zu kleine Segment der hochQualifizierten wurde indessen nicht und das mitt-

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China und Indien

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lere Bildungssegment, also Meister und praktischeIngenieure, kaum gestärkt.

Als sich China Ende der 70er Jahre gegenüberdem Ausland öffnete, waren für ausländischeUnternehmer zunächst nur Chinas billige, weni-ger qualifizierte Arbeitskräfte interessant. Ein ge-radezu typisches Beispiel für die ersten ausländi-schen Engagements waren die in den sogenann-ten Sonderwirtschaftszonen aufgestellten Vorrich-tungen mit einfachen Fließbändern, an denenPlastikteile zu Weihnachtsmännern und Puppenzusammengeschraubt wurden. Dank gewaltigerAnstrengungen im Bildungssektor und der zu-nächst auf den Küstenbereich konzentriertenMaßnahmen zum Aufbau einer modernen Infra-struktur war China bald in der Lage, ausländi-schen Investoren auch in technologisch an-spruchsvolleren Bereichen des Industriesektors at-traktive Investitionsmöglichkeiten zu bieten. Ein-gestellt wurden unter anderem Absolventen höhe-rer Bildungsinstitutionen und erfahrene Fachar-beiter aus Staatsbetrieben, die höhere Einkom-men suchten.

Das Bildungssegment der hoch Qualifizierten istin China immer noch wenig entwickelt. Chinagreift daher auf ausländische, sogar auf indischeFachleute zurück, um bestimmte Vorhaben mit ho-hen Qualifikationsanforderungen durchzuführen.Bemerkenswert ist, dass China indische Fachleutenicht ins Land holt, um Engpässe zu überbrücken– wie es Deutschland im Software-Bereich versuch-te. Stattdessen wurden indische Unternehmen be-auftragt, in China Software-Spezialisten auszubil-den. Bisher absolvierten bereits 25 000 Fachleutevon indischen Spezialisten geführte Ausbildungs-stätten.1 China gelingt es so, technologisch auchauf dem Gebiet voranzukommen, in dem es bisherim Vergleich mit Indien rückständig war.

Indiens Vorzüge im Vergleich mit China

Indien hat in den letzten zwei Jahrzehnten Inves-titionen im Umfang von kaum mehr als einemViertel des Volkseinkommens getätigt und einedurchschnittliche Wachstumsrate des Sozialpro-dukts von circa sechs Prozent erreicht. In Chinalag die Wachstumsrate im gleichen Zeitraum beizehn Prozent. China ist wesentlich besser in der

Lage, sowohl inländische als auch ausländischeErsparnisse für seinen wirtschaftlichen Aufbau zumobilisieren. Setzt man aber Wachstumsratenund Investitionen beider Länder miteinander inBeziehung und ermittelt die marginale Kapital-produktivität, befindet sich Indien in der besserenPosition. Es kann den Faktor Kapital besser ein-setzen als China.

Chinas Bankensystem ist weniger effizient als dasIndiens. So belief sich in China der Anteil der un-einbringbaren Kredite an den Gesamtkreditennoch vor Kurzem auf fast 40 Prozent.2 Der Grundwar, dass Chinas Banken vom Staat veranlasst wur-den, zur Durchsetzung politischer und gesell-schaftspolitischer Vorhaben Kredite zu gewähren.Für die Volkswirtschaft bedeutete diese Kapital-Fehlleitung, dass die Investitionen nur bedingt zueiner adäquaten Erhöhung der Produktion undder Produktivität führten. Steigerungen in größe-rem Ausmaß wurden häufig nur erzielt, wenn Pro-jekte zusammen mit oder allein von ausländischenUnternehmen durchgeführt wurden. In Indiendagegen beläuft sich der Anteil der uneinbringba-ren Kredite an den Gesamtkrediten auf rund fünfProzent.3 Dies entspricht international üblichenQuoten. Hinzu kommt, dass Indiens Kapitalmarktdifferenziertere und effizientere Finanzierungs-instrumente bietet als Chinas nur rudimentär ent-wickelter Kapitalmarkt.

Dafür investiert Indien weniger in seine Infra-struktur als China. Da Investitionen für den Bauvon Schnellstraßen, Autobahnen, Brücken, Kanä-len und Häfen erst längerfristig zu Produktions-und Produktivitätszuwächsen führen, ist Chinasrechnerisch ermittelte Kapitalproduktivität zu-nächst relativ niedrig. In Indien, wo Investitions-projekte verwirklicht werden, die rascher in Be-trieb genommen werden, fällt sie dagegen relativhoch aus. Dies ist ein nur auf den ersten Blick er-freuliches Ergebnis. Die Konsequenzen einer sol-chen Investitionsstruktur sind leicht erkennbar.Viele chinesische Provinzen verfügen über einfunktionsfähiges Schnellstraßensystem: Millionen-städte werden durch vier- bis sechsspurige Auto-bahnen verbunden, Häfen verfügen über moder-ne Ausrüstungen, die Produktion wird kaum mehrdurch Engpässe in der Elektrizitätsversorgung be-

1 Vgl. Edward Luce/Richard McGregor, A share of spoils: Beijingand New Delhi get mutual benefits from growing trade, in: Finan-cial Times vom 24. Februar 2005, Seite 13.

2 Vgl. Wolfgang Klenner, Chinas Finanz- und Währungspolitik nachder Asienkrise, Stuttgart 2006, Seite 88.3 Vgl. International Monetary Fund (IMF), India Selected Issues, Fe-bruary 2006, IMF Country Report No. 06/56, Seite 59.

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China

70 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

hindert. In Indien dagegen herrscht allerorts Ver-kehrschaos, selbst in den Hightech-Regionen.

Solchen unterschiedlichen Infrastrukturvorausset-zungen tragen die Entscheidungen ausländischerInvestoren Rechnung. In China investiert man inBranchen und Sektoren, die auf eine gut funktio-nierende „konventionelle“ Infrastruktur angewie-sen sind. Indiens mangelhafte Infrastruktur ist da-gegen immer noch ein großes Hindernis für aus-ländische Investoren, die im Industriebereich tätigwerden wollen. Nur bei Projekten im Hightech-Be-reich macht sich dieser Mangel weniger bemerk-bar. Offensichtlich reicht es aus, von den traditio-nellen Stadtbezirken abgegrenzte moderne Arealezu entwickeln und sie mit der Welt über das Inter-net zu verbinden. Kontakte mit der unmittelbarenNachbarschaft sind kaum erforderlich.

Aus unternehmerischer Sicht mag der Sprung In-diens vom Agrar- in den Hightech-Sektor pro-blemlos oder sogar wünschenswert sein. Aus volks-wirtschaftlicher Sicht ist dies allerdings kein un-problematischer Entwicklungsweg. Indiens hohes,vom Hightech-Sektor getragenes Wirtschafts-wachstum war in den 90er Jahren mit einer durch-schnittlichen Zunahme der Beschäftigung von nureinem Prozent pro Jahr verbunden. Nahezu 100Millionen kaum qualifizierter Arbeitskräfte sindarbeitslos. Ihre Zahl wird sich in absehbarer Zu-kunft erhöhen. Viele Einzelprojekte werden dasbewirken, zum Beispiel die Absicht von Reliance,eine landesweite Kette von Supermärkten aufzu-bauen, die den traditionellen Einzelhandel ver-drängen. Für Indiens Arbeitssuchende sind indus-trielle Produktionskapazitäten und arbeitsintensi-ve Produktionstechnologien unentbehrlich. Siesetzen aber erhebliche Investitionen in die Infra-struktur voraus.

Die erforderlichen Infrastrukturvorhaben lassensich bei unveränderten Ersparnissen kaum finan-zieren. Wichtig wird deshalb sein, dass erstens dieBevölkerung mehr spart, möglichst aus gestiege-nen Einkommen. Zweitens muss der Staat, der seitvielen Jahren ein Haushaltsdefizit aufweist, seineHaushaltspolitik ändern, um seine Mittel für In-frastrukturprojekte einsetzen zu können. Auchwird man, so wie es China bereits vor längerer Zeitgetan hat, Infrastrukturvorhaben zusammen mitprivaten Investoren durchführen müssen.

Zur Vergrößerung der industriellen Produktions-kapazitäten werden in größerem Umfang als bis-her ausländische Direktinvestitionen in Indiens In-dustriesektor kanalisiert werden müssen. Sollte es

Indien gelingen, den Anteil ausländischer Direkt-investitionen am Sozialprodukt von bisher einemauf fünf Prozent – dies entspricht dem chinesi-schen Anteil – anzuheben, würden sich erheblicheWachstumsimpulse ergeben. Bei der Suche nachAuslandskapital und Absatzmärkten für seine In-dustrieprodukte wird Indien zunehmend in Kon-kurrenz mit China treten. Umgekehrt wird China,nicht zuletzt dank indischer Unterstützung bei derAusbildung von Software-Spezialisten, seinen Wett-bewerbsnachteil im Hightech-Bereich mit Indienverringern, so dass auch in diesem Segment einewachsende Konkurrenz entstehen wird. Gleichzei-tig ergeben sich daraus jedoch für beide Seiten lu-krative Kooperationsvorhaben.

Gefahren einer „Pro-Business-Politik“

Regionale Einkommens- und Entwicklungsunter-schiede verringern sich im Allgemeinen als Folgevon Arbeitskräfte- und Kapitalmobilität. In Indienwar dies bisher indessen kaum zu beobachten. ImGegenteil: Die Differenzen nahmen zu, weil diewohlhabenderen Regionen rascher wuchsen alsdie übrigen und ausländische Investitionen in er-ster Linie in wohlhabendere Gebiete flossen. Sowurde auch die Infrastruktur in ärmeren Regio-nen noch problematischer. Ein weiterer Grund fürdie unterschiedliche regionale Entwicklung liegtdarin, dass die seit den 80er Jahren konzipiertenordnungspolitischen Reformvorhaben der Zen-tralregierung in den einzelnen Gliedstaaten mitunterschiedlichem Elan verwirklicht wurden.

Anfang der 80er Jahre beabsichtigte die Zentralre-gierung Indiens, die Wirtschaft – allerdings zu-nächst nur in einigen Bereichen – zu liberalisie-ren. Zu lange schon hatte man zur Kenntnis neh-men müssen, dass das von Nehru und seinem da-maligen Wirtschaftsminister Mahanalobis geprägtesozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellmit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden war.Zum Beispiel konnte Indien in den 60er und 70erJahren nur durchschnittliche jährliche Wachs-tumsraten von nicht einmal 3,5 Prozent erzielen,während einzelne ostasiatische Volkswirtschaften,Japan und später Südkorea und Taiwan, Wachs-tumsraten von bis zu 15 Prozent realisierten.

Auch beobachtete man die erheblichen Wachs-tumsimpulse, von denen China profitieren konn-te, nachdem es Ende der 70er Jahre begonnenhatte, sich verstärkt auf Marktmechanismen zustützen und seine Wirtschaft gegenüber ausländi-schen Investoren zu öffnen – obwohl es, anders

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China und Indien

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als Indien, seine Reformen im Rahmen einesOrdnungssystems begonnen hatte, das nahezukeine Marktelemente aufwies und vom Auslandweitestgehend abgeschottet war. Insofern war der„Reformbedarf“ in Indien aus marktwirtschaft-licher Sicht geringer, und die zu erwartendenWachstumsimpulse waren leichter zu erzielen alsin China.

Bei den in den 80er Jahren ergriffenen Reform-schritten handelte es sich um punktuelle Maßnah-men, die in einzelnen Bereichen das „Geschäfts-klima“ verbessern sollten. Man bezeichnete sie da-her als „Pro-Business Reformen“. Importe be-stimmter Ausrüstungen wurden erlaubt, Geneh-migungsverfahren für Importe erleichtert und ei-nige Importzölle reduziert. Exporte, die bisherhäufig behindert wurden, weil man den Abflussvon Ressourcen ins Ausland verhindern wollte,wurden zugelassen, zum Teil sogar gefördert. Eini-ge der Branchen, in denen private Unternehmun-gen bisher nicht gestattet waren, wurden für priva-te Investitionen geöffnet. Genehmigungsverfah-ren für private Firmengründungen wurden ver-einfacht und transparenter gestaltet.

Das Ziel war, Indiens Wirtschaft in den 90er Jahrenschrittweise in eine offene Marktwirtschaft zuüberführen. Weil es darum ging, die Bedingungengenerell für marktwirtschaftliche Tätigkeiten zuverbessern, sprach man von „Pro-Market Refor-men“. Ihnen gingen Indiens Nationalstolz verlet-zende Ereignisse voraus: Indien war in eine Zah-lungskrise gestürzt, als Anfang der 90er Jahre – un-ter anderem im Zusammenhang mit dem damali-gen Nahostkonflikt – die erheblichen Transferleis-tungen der in den Golfstaaten arbeitenden Lands-leute ausblieben. Nach Brasilien und Mexiko wur-de Indien mit Auslandsverpflichtungen in Höhevon 71 Milliarden US-Dollar das drittgrößteSchuldnerland. Indien sah sich gezwungen, beimIWF Kredite zu beantragen, die nur gewährt wur-den, nachdem das Land seine Goldreserven ver-pfändet und sich zur Einhaltung konkreter Re-formauflagen verpflichtet hatte.

Die Reformauflagen wurden von der damaligenRegierung, dem Premier Rao und seinem Finanz-minister Singh, zum Anlass genommen, die eige-nen Reformvorstellungen mit größerer Energieund Konsequenz durchzusetzen. Das Land wurdegegenüber der Weltwirtschaft weiter geöffnet.Hierzu wurden die Importzölle reduziert, nichtta-rifäre Hemmnisse verringert sowie in vielen Berei-chen ausländische Investitionen erlaubt. Imbinnenwirtschaftlichen Bereich wurden die Vor-

schriften für private Firmengründungen gelockertund private Investitionen in bisher dem Staat vor-behaltenen Branchen, wie Stahl, Energie, Erdöl,Straßenverkehr, Fernmeldewesen, Flugverkehrund Bergbau zugelassen. Außerdem wurde begon-nen, einige der mehr als 200 großen Staatsbetrie-be schrittweise zu privatisieren.

Erstarrung von Strukturen

Regierungen in den reicheren Staaten, die heutezu den Erfolgsregionen gehören, muteten einzel-nen Bevölkerungsgruppen zugunsten rascherenWirtschaftswachstums größere Belastungen zuund führten die Reformpolitik konsequenterdurch. In den ärmeren Staaten dagegen setzteman in der Regel weiterhin auf Umverteilung. Ih-re Regierungen scheuten Maßnahmen, die zulas-ten der bisher geförderten Sektoren – den staat-lichen Betrieben, den kleineren Handwerksbetrie-ben und den bäuerlichen Haushalten – hätten ge-hen können. Sie wandten sich auch energisch ge-gen die Einrichtung der von den reicheren Staa-ten geforderten Sonderwirtschaftszonen. In sol-chen in China eingerichteten Gebieten, die mitFreihandelszonen vergleichbar sind, hatten Aus-länder vor allem in arbeitsintensive Technologieninvestiert; aus rückständigen ländlichen Regionenwaren so pulsierende Großstädte geworden. In-diens ärmere Staaten befürchteten, dass die be-reits erfolgreichen Regionen davon profitierenund sie selbst noch stärker zurückfallen würden.

In China erfolgte die Abstufung der Reformge-schwindigkeiten in den einzelnen Provinzen dage-gen in zentraler Regie. Die Zentralregierung ent-schied, welche Regionen Marktmechanismen ein-führen und sich dem Ausland gegenüber öffnendurften. Die Entscheidungen wurden von den be-troffenen Regionen rasch umgesetzt; in denjeni-gen Provinzen, denen die wirtschaftliche Liberali-sierung untersagt war, wurde über Benachteiligun-gen geklagt. Innerhalb der zentralistischen politi-schen Strukturen Chinas wird außerdem wirt-schaftlichen Interessengruppen kein Spielraumgewährt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammen-hang die in Indien anzufindende Beurteilung derBedingungen, zu denen China der WTO beitrat.China hatte damals Zugeständnisse gemacht, dieseine Bauern, das heißt: ungefähr die Hälfte derBevölkerung, erheblich belasteten. Ein „demokra-tisches“ Land, so die Auffassung, hätte solche Be-dingungen nicht akzeptieren und durchsetzenkönnen.

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China

72 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Auswirkungen von Privilegierungen und Regulierungen

Die durch die Reformen freigesetzten Wirtschafts-kräfte trugen dazu bei, dass sich die durchschnitt-liche Wachstumsrate des Sozialproduktes umknapp drei Prozentpunkte erhöhte. Sie stieg vonzuvor circa drei auf 5,6 Prozent in den 80er Jahrenund auf 5,8 Prozent in den 90er Jahren. Wachs-tumsprognosen liegen in einem Korridor zwi-schen sechs und zehn Prozent. Welcher Wert er-reicht wird, hängt davon ab, inwieweit die geplan-ten Reformen auch in den bisher wenig reform-willigen Staaten erfolgreich durchgesetzt werden.

Das Wachstum großer Betriebe und die Moderni-sierung kleiner Betriebe soll gefördert und priva-ten Unternehmen der Zugang zum indischenMarkt weiter erleichtert werden. Nach derzeitigenVorschriften benötigen Betriebe mit einer Beleg-schaft von über 100 Mitarbeitern eine staatlicheGenehmigung, wenn sie Arbeitskräfte entlassenwollen, die ihnen nur selten erteilt wird. Viele mitt-lere Betriebe achten daher darauf, in keinem Fallmehr als 100 Arbeitskräfte zu beschäftigen. Zudemsind bestimmte Branchen, etwa die Textilindustrie,immer noch kleinen, arbeitsintensiven Betriebenvorbehalten. Eine Folge dieser Vorschrift war, dassindische Unternehmer nach der Abschaffung desTextilfaserabkommens anders als ihre chinesischenKonkurrenten ihre Produktionsanlagen nicht mo-dernisieren und ausweiten durften und sich dahernur begrenzt neue Märkte erschließen konnten.Schließlich werden zumindest in einzelnen Regio-nen immer noch staatliche Betriebe gegenüber pri-vaten Unternehmen und private gegenüber aus-ländischen Firmen bevorzugt.

Änderungen in der Haushaltspolitik werdenschwieriger durchzusetzen sein. Indiens jährlichesHaushaltsdefizit beläuft sich auf knapp zehn Pro-zent des Sozialprodukts. Eine Sanierung des Haus-halts, verbunden mit einer Umstrukturierung der

Ausgaben, wird daher für erforderlich angesehen.Eine der Folgen würde sein, dass Indien, das 70Prozent seines Rohölbedarfs importiert, die inlän-dischen Preise für Erdölprodukte nicht mehrdurch Subventionen von den Weltmarktpreisenabkapseln kann. In Erwägung wird außerdem ge-zogen, Indiens Währung, die für Handelsgeschäf-te bereits voll konvertierbar ist, schrittweise weiterzu liberalisieren, um die Vorteile freier internatio-naler Kapitalströme nutzen zu können. Allerdingsmuss Indien, das wohl nicht zuletzt gerade wegender fehlenden Währungskonvertibilität die Asien-krise weitgehend unbeschadet überstand,4 sein Fi-nanzsystem zuvor den Anforderungen einer offe-nen Wirtschaft anpassen.

China und Indien im Jahr 2025an der Weltspitze

Alles in allem befindet sich Indien im Vergleichmit China in Bezug auf wichtige Entwicklungsindi-katoren um zehn bis fünfzehn Jahre im Rück-stand, obwohl sich China zu Beginn seiner Refor-men auf einem wesentlich niedrigeren „marktwirt-schaftlichen Niveau“ befand. Indien mit seinempluralistischen, eine gesellschaftliche Vielfalt tole-rierenden System gelang es nicht so gut wie Chinaszentralisierter und autoritärer Führung, Ressour-cen zu mobilisieren und vorgesehene Maßnahmenkonsequent und landesweit durchzusetzen.

Unabhängig davon werden Indien von den meis-ten Beobachtern gute Wachstumschancen einge-räumt. Es wird für möglich gehalten, dass Indienim Jahr 2025, wenn China mit seinem auf der Basisvon Kaufkraftparitäten ermittelten Volkseinkom-men erwartungsgemäß an erster Stelle in der Weltsteht, vor den USA den dritten Platz einnimmt.Dies könnte das Ende der 500 Jahre anhaltendenDominanz des „Westens“ signalisieren – die Erbengroßer Zivilisationen, China und Indien, würdenwieder in die Spitzengruppe rücken. �

4 Vgl. Stanley Fischer, Breaking Out of the Third World: India’s Eco-nomic Imperative, International Monetary Fund, 22. Januar 2002.

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73Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Lateinamerika nach dem Wahljahr 2006:Vorwärts in die Vergangenheit?

Zwischen Dezember 2005 und Ende 2006 wurdenin Lateinamerika elf Präsidenten und zwölf Parla-mente gewählt. Die Ergebnisse dieses Wahlmara-thons haben Beobachter von einem „Linksruck“sprechen lassen, der die politische Landschaft derRegion erheblich verändert.1 Mehrheitlich habensich Kandidaten um das höchste Staatsamt durch-gesetzt, die unmissverständlich einen wirtschafts-und sozialpolitischen Richtungswechsel anstrebenoder weiter vertiefen wollen.

� In Bolivien trat im Januar 2006 Evo Morales seinAmt als Präsident an. Er ist der erste Staatschef in-digenen Ursprungs in der Geschichte des südame-rikanischen Landes. Als Vorsitzender der „Bewe-gung zum Sozialismus“ (Movimiento al Socialis-mo) und Führer der Gewerkschaft der Koka-An-bauer hatte Morales in den Jahren zuvor mit einerDoppelstrategie von parlamentarischer und außer-parlamentarischer Blockadepolitik das Land anden Rand der Unregierbarkeit getrieben. Bereitswenige Wochen nach seinem Amtsantritt stellte erdie in Bolivien tätigen multinationalen Gas- undÖlkonzerne unter staatliche Kontrolle und kün-digte die Enteignung brachliegender Ländereienan. Daneben bereitete er eine Volksabstimmungüber eine verfassungsgebende Versammlung vor,die „das Ende des internen Kolonialismus und dieNeugründung Boliviens“ bringen soll. Im Oktober2006 ging Morales mit seinem Plan an die Öffent-lichkeit, den Ende der achtziger Jahre des 20. Jahr-hunderts privatisierten bolivianischen Bergbau zurenationalisieren und damit Bodenschätze wie

Zinn, Silber und Gold unter „die soziale Kontrolledes Volkes“ zu bringen.

� In Chile übernahm im März 2006 die SozialistinMichelle Bachelet als erste Frau das höchste Staats-amt. In ihrem Wahlkampf hatte sie die Bekämp-fung sozialer Ungleichheiten in den Vordergrundgestellt; in ihre Regierungsmannschaft berief sieallerdings zahlreiche Politiker und Technokraten,die einem neoliberalen Wirtschaftsmodell anhän-gen, so dass sie mehr für einen symbolischen als ei-nen realen Egalitarismus steht.2

� In Peru stimmten im Juni 2006 bei der Stich-wahl für das Präsidentenamt fast 50 Prozent derWähler für den Ex-Militär Ollanta Humala Tassound dessen linksnationalistische Ideen. Damitunterlag er nur knapp dem siegreichen Alan Gár-cia. Dieser hatte seine erste Präsidentschaft von1985 bis 1990 unter Protesten und Tumulten be-endet, da Peru in Folge seiner etatistischen Wirt-schaftspolitik in eine tiefe Wirtschaftskrise ge-stürzt war.

� Mit einer Wahlkampftaktik, welche die Sozial-programme seiner Regierung, die reale Erhöhungder Mindestlöhne um mehr als 25 Prozent und dieEinkommenstransfers zugunsten der ärmsten Be-völkerungsgruppen in den Vordergrund stellte,gewann Brasiliens Staatspräsident Luiz Inácio Lulada Silva im Oktober 2006 die Stichwahl gegen Ge-raldo Alckmin, den Kandidaten der Mitte-Rechts-Parteien. Lula erhielt das Mandat für eine zweiteAmtszeit trotz einiger Korruptionsvorwürfe gegen

Neue Sozialisten in LateinamerikaProf. Dr. Hartmut SangmeisterLeiter der Arbeitsgruppe Entwicklungspolitik, Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Lateinamerika befindet sich nach dem Linksruck bei den zahlreichen Wahlen der vergangenen Monate auf dem Weg hin

zu einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Getragen wird diese Entwicklung von charismatischen Führern – allen voran

der venezolanische Staatschef Hugo Chávez –, die mit umfangreichen Erdöleinnahmen und populistischen Parolen die

Ängste und Sorgen der Bevölkerung in Wahlsiege umzumünzen wussten.

1 Vgl. Thomas Fischer, Der Linksruck in Südamerika, in: Politorbis.Zeitschrift zur Außenpolitik, Nummer 41, Bern 2006, Seiten 6-19.

2 Vgl. Christóbal Rovira Kaltwasser, Eine Frau kommt an die Macht:Verkörpert Chile einen Sonderweg in Lateinamerika?, GIGA FocusLateinamerika, Nummer 3, Institut für Iberoamerika-Kunde, Ham-burg 2006, Seite 6.

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Sozialismus im 21. Jahrhundert

74 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

engste Mitarbeiter aus Reihen der Arbeiterpartei(Partido dos Trabalhadores). In seiner Antrittsre-de am 1. Januar 2007 verwahrte er sich gegen denVorwurf des Populismus, betonte jedoch, dass sei-ne Regierung volkstümlich (brasilianisch: popu-lar) sei und auch bleibe. In seiner Rede berief ersich zudem siebenmal auf Gott, so als erfolge seinAufstieg zur Präsidentschaft durch göttliche Er-nennung. Darüber hinaus stellte er Konsultations-prozesse mit weiten Teilen der organisierten Ge-sellschaft in Aussicht; mit keinem Wort erwähnteer hingegen die zentralen Institutionen des demo-kratischen Machtgleichgewichts wie Parlament,Parteien, Opposition und Gerichte.3

� Bei den Präsidentschaftswahlen in Nicaraguavom November 2006 setzte sich ebenfalls ein Ex-Präsident durch: Daniel Ortega, einer der Führerder Sandinistischen Revolution von 1979. Elf Jahrenach dem Sieg der Sandinisten, hatte Ortega – in-mitten einer schweren Wirtschaftskrise – sein Amtabgeben müssen. Anlässlich seiner erneuten Ver-eidigung als Staatspräsident kritisierte Ortega den„wilden Kapitalismus“, versprach aber auch, Pri-vatbesitz zu respektieren und relativ offenen Um-gang mit den internationalen Finanzmärkten zupflegen. Mit einer umfassenden Verfassungsre-form soll eine „direkte Demokratie des Volkes“ be-fördert werden.

� In der Stichwahl für das Amt des Staatspräsi-denten von Ecuador, die ebenfalls im November2006 stattfand, war Rafael Correa gegenüber seinemkonservativen Rivalen Álvaro Noboa erfolgreich. Inseinem Wahlkampf hatte Correa indigenen Grup-pen, Nationalisten und Globalisierungskritikerneine politische Heimat angeboten und verspro-chen, mit diversen „Revolutionen“ das politischeSystem seines Landes zu erneuern.

� Im Dezember 2006 erhielt Hugo Chávez Frías mitmehr als 60 Prozent der Stimmen das Mandat füreine zweite Amtszeit als Staatspräsident Venezue-las, so dass er die von ihm proklamierte „Bolivari-sche Revolution“ fortführen und vertiefen kann.Mit einem rhetorischen Cocktail aus Nationa-lismus, Antiamerikanismus und Antikapitalismuswar es Chávez erneut gelungen, seine Anhänger-schaft – vor allem in den ärmsten Bevölkerungs-gruppen – zu mobilisieren.

Venezuela: Kristallisationskerneines „Sozialismus im 21. Jahrhundert“

In den lateinamerikanischen Ländern, in denennationalistisch-linkspopulistische Führungsfigurendie Regierungsverantwortung übernommen ha-ben, markiert dies möglicherweise einen weitrei-chenden wirtschafts- und sozialpolitischen Para-digmenwechsel. Am profiliertesten wird der„Linksruck“ in Lateinamerika vom venezolani-schen Präsidenten Chávez verkörpert. Nach achtzeitweise turbulenten Amtsjahren, die durch einenwillkürlichen Umgang mit den Institutionen undVerfahren der repräsentativen Demokratie ge-prägt waren, sieht er in seinem klaren Sieg bei denPräsidentschaftswahlen 2006 den Auftrag, seine Vi-sion eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ um-zusetzen. Seine Wiederwahl widmete er seinem er-krankten Freund, dem kubanischen Staatschef Fi-del Castro.

Für seine zweite Amtszeit kündigte der venezolani-sche Präsident die Gründung einer sozialistischenEinheitspartei an, der sich alle 23 Parteien an-schließen sollen, die ihn bei der Wiederwahlunterstützt hatten. Zudem soll im Rahmen einererneuten Verfassungsreform der Sozialismus alsStaatsziel verankert und der Landesname in „Sozi-alistische Republik Venezuela“ geändert werden.Die angekündigte Verfassungsreform soll zugleichdie unbegrenzte Wiederwahl des Staatspräsiden-ten erlauben. Dadurch würde Chávez die Möglich-keit eröffnet, über 2012 hinaus im Amt zu bleiben.Bei seiner erneuten Vereidigung kündigte er an,wichtige Schlüsselbranchen wie den Erdöl-, Strom-und Telekommunikationssektor zu verstaatlichenund auch in anderen Branchen für ausländischeUnternehmen nur Minderheitsbeteiligungen zu-zulassen. Bereits Ende Januar 2007 billigte das ve-nezolanische Parlament in erster Lesung ein Ge-setz, das dem Staatschef für 18 Monate weitrei-chende Vollmachten zur Umgestaltung von Wirt-schaft und Politik einräumt. Die Opposition kanndem nichts entgegensetzen, ist sie doch seit ihremWahlboykott 2005 kaum noch im politischen Insti-tutionensystem Venezuelas vertreten. So kann eskaum gelingen, der fortschreitenden Transforma-tion des alle Staatsorgane beherrschenden „Cha-vismo“ zu einem plebiszitären Autoritarismus wir-kungsvollen Widerstand entgegenzusetzen.4

3 Vgl. Demêtrio Magnoli, Três discursos de posse, in: O Estado deSão Paulo, 11. Januar 2007.

4 Vgl. Claudia Zilla, Die Macht der Stimmen und die Ohnmacht derInstitutionen, SWP-Aktuell Nummer 6, Stiftung Wissenschaft undPolitik, Berlin 2007, Seite 4.

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Lateinamerika

75Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Mit den politisch-ideologischen Inhalten seiner öf-fentlichen Diskurse und mit seinem Führungsstilist Chávez in Lateinamerika – und nicht nur dort –zum Vorbild für andere neopopulistische Füh-rungspersönlichkeiten mit antidemokratischenund gegen das kapitalistische System gerichtetenTendenzen geworden. In gewisser Weise steht erdamit in der Tradition des klassischen lateiname-rikanischen Populismus, der von Politikern wie Ge-túlio Vargas in Brasilien (1930–45 und 1951–54)und Juan Domingo Perón in Argentinien (1946–55und 1973–74) geprägt worden war.

Die dem Neopopulismus und dem klassischen Po-pulismus gemeinsamen Merkmale sind ein charis-matischer Führungsstil, der Aufbau massenklien-telistischer Bindungen durch eine verteilungs-orientierte Sozialpolitik und ein besonderer Pa-thos in der Anrufung des Volkes.5 Auch Chávez er-hebt den Anspruch, eine Emanation des Volkes zusein, das er direkt anspricht – in oft mehrstündi-gen, landesweit übertragenen Fernsehansprachen– und das sich direkt an ihn wenden kann.6 Er trittals Vermittler zwischen einfachem Volk und privi-legierten Gesellschaftsschichten auf, indem er ver-kündet, mit ihm regiere das Volk („Con Chávez go-bierna el pueblo“). Zudem beschwört er mit seinerReferenz an Simón Bolívar den Gründungsmythosder Nation. Bolívar, der sogenannte „Libertador“und Held des Freiheitskampfes gegen die spani-sche Kolonialmacht, war erster Präsident der 1819geschaffenen Republik Kolumbien, deren Territo-rium die heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien,Ecuador und Panama umfasste. Sein Versuch, ausder Erbmasse des spanischen Kolonialreichs inHispanoamerika ein geeintes Groß-Kolumbien zuschaffen, scheiterte allerdings: Die Republik Ko-lumbien zerfiel in mehrere Staaten.

Für die Umsetzung seiner Vision eines „Sozia-lismus des 21. Jahrhunderts“ in ganz Lateinameri-ka – und wenn möglich auch anderswo – suchtChávez Verbündete und Gleichgesinnte, denen ermit Erdöllieferungen zu günstigen Sonderkondi-tionen entgegenkommt. Mit Morales in Bolivien,Correa in Ecuador und Ortega in Nicaragua hat erbereits Partner für die von ihm zusammen mitCastro initiierte „Bolivarische Alternative für Ame-

rika“ (ALBA-Alternativa Bolivariana para nuestraAmérica) gefunden, die zunächst als Gegenmodellzur von den USA propagierten panamerikani-schen Freihandelszone ALCA (Área de Libre Co-mercio de las Américas) gegründet worden war. Indiesem Projekt, das ebenfalls auf die lateinameri-kanischen Integrationspläne nach der Unabhän-gigkeit im 19. Jahrhundert verweist, findet sich die„alte“ und die „neue“ Linke Lateinamerikas ver-einigt. Und die Staatschefs der beteiligten Länder– mit Ausnahme Kubas – können sich dabei durch-aus auf eine demokratische Legitimation berufen;internationale Beobachter haben die Wahlen dervergangenen Monate überwiegend als relativ fairbezeichnet. Wenngleich bei den Präsidentschafts-wahlen in Venezuela von den Beobachtermissio-nen der Organisation Amerikanischer Staaten(OAS) und der Europäischen Union der massiveEinsatz öffentlicher Mittel und Bediensteter fürden militärisch straff organisierten Wahlkampfvon Chávez kritisiert wurde.7

Enttäuschte Erwartungenund Globalisierungsängste

In den Wählermehrheiten für „linke“ Führungs-persönlichkeiten und deren antiliberalen Diskur-sen drückt sich die Unzufriedenheit großer Teileder Bevölkerung mit den schwachen demokrati-schen Institutionen ihrer Länder aus. Diesen ge-lingt es nicht, einen Grundkonsens zur Lösungder Verteilungskonflikte in den stark polarisiertenGesellschaften zu finden. Nach wie vor leben inLateinamerika Millionen Menschen in absoluterArmut und bleiben von der Teilhabe an den Vor-teilen einer marktwirtschaftlich verfassten Wettbe-werbsgesellschaft völlig ausgeschlossen. Nach An-gaben der Weltbank lebten 2003 in den LändernSüd- und Mittelamerikas 134 Millionen Menschenmit weniger als zwei US-Dollar pro Tag; 49 Millio-nen mussten sogar mit weniger als einem US-Dol-lar täglich auskommen.8

Die Erwartungen, dass die stärkere Einbindung indie Weltwirtschaft sowie Strukturanpassungspro-gramme und wirtschaftspolitische Reformprozessezu anhaltendem Wachstum führen würden, vondem auch die Ärmeren profitieren könnten, sindweitgehend enttäuscht worden. Fast überall in La-

5 Vgl. Peter Peetz, Neopopulismus in Lateinamerika. Die Politik vonAlberto Fujimori (Peru) und Hugo Chávez (Venezuela) im Vergleich,Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg 2001.6 Vgl. Luis Gómez Calcaño, Politische Führung im Wandel: Der FallVenezuela, in: Wilhelm Hofmeister (Hrsg.), „Gebt mir einen Balkonund das Land ist mein“: Politische Führung in Lateinamerika, Frank-furt am Main 2002, Seiten 126 f.

7 Vgl. Friedrich Welsch, Chávez’ Wahlsieg: ein Mandat für die sozi-alistische Revolution?, GIGA Focus Lateinamerika, Nummer 12,Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg 2006, Seite 4.8 World Bank, Global Economic Prospects 2007. Managing the NextWave of Globalization, Washington, D.C. 2007, Seite 60.

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Sozialismus im 21. Jahrhundert

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teinamerika sind während der „Modernisierungs-dekade“ der neunziger Jahre Reformen in Rich-tung auf ein offenes, marktorientiertes Wirt-schaftssystem durchgeführt worden. Aber in demMaße, in dem die Reformmaßnahmen inkonsis-tent waren und von begrenzter Reichweite blie-ben, konnte das gesamtwirtschaftliche Wachstums-potenzial nicht oder nur teilweise mobilisiert wer-den. Zwar wurden Märkte dereguliert, allerdingsohne eine staatliche Wettbewerbspolitik zur Ge-währleistung ihrer Funktionsfähigkeit zu entwi-ckeln. Zwar wurden staatliche Dienstleistungenprivatisiert, allerdings ohne die dabei entstande-nen privaten Monopole und Oligopole Preis- undEffizienzkontrollen zu unterwerfen. Zwar wurdenüberkommene Institutionen abgeschafft, aller-dings ohne im Bedarfsfalle an ihrer Stelle neue, ef-fiziente Institutionen aufzubauen. Die „Wende zurMarktwirtschaft“ in Lateinamerika hat zwar zu ei-ner Entstaatlichung der Wirtschaft geführt, nichtaber zur Etablierung einer effektiven Ordnungs-politik, ohne die eine Marktwirtschaft auf Dauernicht auskommt.9

Trotz aller Reformbemühungen hat Lateinameri-ka in den zurückliegenden Dekaden an weltwirt-schaftlicher Bedeutung verloren: Zur globalenWertschöpfung trägt die Region, in der knappneun Prozent der Weltbevölkerung leben, nurnoch sechs Prozent bei; zu Beginn der achtzigerJahre lag dieser Wert noch bei sieben Prozent. DerAnteil Lateinamerikas am Welthandel hat sichgegenüber den fünfziger Jahren sogar halbiert;noch schwächer als im weltweiten Warenhandel istdie Position Lateinamerikas im internationalenHandel mit kommerziellen Dienstleistungen. InRanglisten internationaler Wettbewerbsfähigkeitnehmen lateinamerikanische Länder – mit derAusnahme Chiles – nur hintere Plätze ein. Latein-amerika hinkt der Weltwirtschaft hinterher undkann mit den dynamischeren Wirtschaftsräumenin Asien oder Osteuropa nicht Schritt halten.

Angesichts dessen breitet sich in Lateinamerika ei-ne Art „Vergeblichkeitssyndrom“ aus, verbundenmit der Furcht, von der Globalisierung überrolltzu werden und den Funktionsbedingungen derglobalisierten Wirtschaft nicht entsprechen zukönnen, verbunden mit dem bedrohlichen Ge-

fühl, in eine Globalisierungsfalle geraten zu sein,in der die Segnungen der westeuropäisch-nord-amerikanischen Konsumgesellschaft nur einerMinderheit zugänglich sind und mit den Un-gleichzeitigkeiten und Wahrnehmungsdifferenzenin den eigenen Gesellschaften kollidieren. Ohne-hin mag der Terminus „Globalisierung“ aus latein-amerikanischer Perspektive irreführend erschei-nen, solange für Produkte aus Lateinamerika dieHandelsliberalisierung durch Zoll- und Subven-tionsschranken der westlichen Industrieländer be-grenzt bleibt und der nordwärts gerichteten Mobi-lität lateinamerikanischer Arbeitskräfte an denGrenzzäunen des Río Grande tagtäglich gewaltsamEinhalt geboten wird.

Tatsächlich hat sich an der geringen Weltmarktin-tegration lateinamerikanischer Volkswirtschaftenbislang wenig geändert: Sie sind lediglich nach-rangige Akteure, mit nur wenigen Einflussmög-lichkeiten auf die Gestaltung der „Spielregeln“ desGlobalisierungsprozesses. Dennoch ist Lateiname-rika gezwungen, eine Wirtschaftspolitik zu betrei-ben, die den Voraussetzungen und Folgen der Glo-balisierung gleichermaßen gerecht wird – einKunststück, das bisher kaum gelungen ist. Unddieses Kunststück kann auch nicht gelingen, ohneein neues Verständnis des Verhältnisses von Staat,Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Dieses Dreieck ge-rät in der nationalistisch-populistischen Vorstel-lungswelt lateinamerikanischer Führungspersön-lichkeiten unter Druck. Denn in dieser – im Kernantiliberalen und antipolitischen – Vorstellungs-welt werden Institutionen und Formen repräsen-tativer Demokratien abgelehnt. Der Blick der An-hängerschaft wird nach innen und in die Vergan-genheit gelenkt, statt nach außen und in die Zu-kunft. Vermeintlich verloren gegangene Werteund Weisheiten des Volkes sollen wiederbelebtwerden als machtvolle Reaktion auf die gefühlteKrise infolge eines größeren Transformationspro-zesses.10

Erdölfinanzierte Sozialpolitikstatt Aktivierung von Potenzialen

Den „linken“ Regierungen in Lateinamerika wirdzugute gehalten, dass sie den Kampf gegen dieArmut nicht nur in Wahlkampfreden verspre-chen, sondern auch in die Tat umsetzen. Verbes-serungen, die beispielsweise Chávez in den Berei-

9 Vgl. Hermann Sautter, Die „Wende zur Marktwirtschaft“ in La-teinamerika. Drei Thesen, in: Jorge Enrique Jiménes Carvajal u. a.(Hrsg.), Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit für Lateinamerika(= Regionalwissenschaft Lateinamerika, 7), Münster 2000, Seiten35-38.

10 Vgl. hierzu die Charakterisierung populistischer „Schlüsselthe-men“ bei Paul A. Taggart, Populism, Buckingham u. a. 2000.

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Lateinamerika

77Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

chen Bildung und Gesundheit für die ärmstenBevölkerungsschichten Venezuelas zweifelsohneerreicht hat, oder die medienwirksam verkünde-ten Sozialprogramme der Regierung von Präsi-dent Lula in Brasilien laufen allerdings Gefahr,nicht nachhaltig zu sein. Sie haben überwiegendalimentierenden Charakter und tragen kaum da-zu bei, die Zielgruppen in den Wirtschaftskreis-lauf zu integrieren.

Chávez kann sich die großzügige Finanzierung derunter dem Namen „Missionen“ laufenden Sozial-programme leisten, solange der Erdölpreis hochbleibt und er sich, am Staatshaushalt vorbei, ausden Kassen des staatlichen Erdölkonzerns PdVSAbedienen kann. Die Durchführung der Program-me ist dabei wenig transparent und eine nachvoll-ziehbare Überprüfung der Ausgaben fehlt. DerKonzern PdVSA, der mit dem Slogan „Erdöl fürdas Volk“ wirbt, soll allein in den ersten neun Mo-naten des Jahres 2006 über acht Milliarden US-Dollar für die „Missionen“ abgeführt haben. Aller-dings hat sich während der bisherigen Amtszeitvon Chávez infolge von Missmanagement undunterlassenen Investitionen die Förderkapazitätvon PdVSA halbiert, so dass Unternehmen undStaat Milliarden-Einnahmen entgehen.11 Damitaber ist die dauerhafte Finanzierbarkeit des Ent-wicklungsmodells des Chavismo gefährdet, auf dasauch in anderen rohstoffreichen Ländern Latein-amerikas gesetzt wird.

In Venezuela zeigt sich exemplarisch ein zentralesordnungspolitisches Problem des lateinamerikani-schen Neopopulismus: Der Versuch, die soziale In-tegration, die Überwindung sozialer Ungleichheitdurch korporativistische und klientelistische Be-ziehungsmuster zu erreichen, und nicht durch einsystemisches Konzept zur produktiven Einbindungbislang marginalisierter Bevölkerungsgruppen.Die Herstellung eines demokratischen Konsensesüber das Ausmaß staatlicher Umverteilungspolitikunterbleibt. Die Institutionen des demokratischenRechtsstaates, wie zum Beispiel Parlament, Par-teien, Opposition und Gerichte, werden übergan-gen. An die Stelle deren vermittelnder Leistungenzwischen Staat und Gesellschaft tritt das Verspre-chen emotional überhöhter Direktbeziehungen

zwischen dem Volk und der charismatischen Füh-rungspersönlichkeit.12

Eine Antwort auf neoliberale Reformen

Der „Linksruck“ in Lateinamerika ist eine Reak-tion auf den Versuch vieler Volkswirtschaften inder Region, mit wirtschaftspolitischen Reforman-sätzen neoliberaler Prägung einen neuen Entwick-lungspfad einzuschlagen. Von einer Rückkehr zuden interventionistischen Politikmustern latein-amerikanischer Importsubstitutionsstrategien ver-gangener Dekaden mit ihren korporativistischenVerteilungskartellen lassen sich allerdings keinenachhaltigen Lösungen für die drängenden wirt-schaftlichen und sozialen Probleme erwarten. Oh-nehin erübrigt sich auch in Lateinamerika ange-sichts der wirtschaftspolitischen Implikationen desGlobalisierungsprozesses die Kontroverse über dieVorteilhaftigkeit binnenmarktorientierter Ent-wicklungsstrategien gegenüber weltmarktorien-tierten Entwicklungsstrategien. Ebenso erübrigtsich die grundsätzliche Kontroverse über die Leis-tungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Ordnungs-modelle im Vergleich zur Wirtschaftslenkungdurch eine Zentralverwaltung. Letztendlich habendie ökonomischen (Miss-)Erfolgsbilanzen vielerLänder innerhalb- und außerhalb Lateinamerikaswährend der zurückliegenden Jahrzehnte darüberentschieden.

Auch wenn das marktwirtschaftliche Ordnungs-modell als überlegenes Paradigma zwischenzeit-lich weltweit akzeptiert zu sein schien, werden inLateinamerika jetzt neomerkantilistische, etatisti-sche, staatsinterventionistische und protektionisti-sche Reminiszenzen als Blaupausen für die Wirt-schaftspolitik wiederbelebt und in Wahlsiege um-gemünzt. Für beträchtliche Teile der (wahlberech-tigten) Bevölkerung Lateinamerikas sind die wirt-schaftlichen und sozialen Ergebnisse, die derÜbergang zu Demokratie und Marktwirtschaft ge-bracht hat, nicht zufriedenstellend. Tatsächlich istes in vielen Fällen dort, wo sich die neoliberale„Revolution“ in den Köpfen der politischen Ent-scheidungsträger durchgesetzt hatte, zu einer ver-antwortungslosen Untersteuerung des Wirt-schaftsgeschehens gekommen. Denn es blieb inder Reformeuphorie häufig unberücksichtigt, dasseine Wettbewerbswirtschaft überfordert ist, wennkeine funktionierenden Märkte entstehen. Ein sol-ches Marktversagen führt ebenso wie Staatsversa-gen zu einer Fehlallokation knapper Ressourcen.Staatliche Regulierungsleistungen bleiben dem-entsprechend zur Korrektur von Marktunvollkom-

11 Vgl. Hanna Henkel, Soziölismus, in: Financial Times Deutschlandvom 30. November 2006.12 Vgl. Wilhelm Hofmeister, Die Rückkehr des Populismus nach La-teinamerika und die Rolle Brasiliens, in: KAS Auslandsinformatio-nen, 22. Jahrgang, Nummer 8, Konrad-Adenauer Stiftung, Berlin2006, Seite 24.

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Sozialismus im 21. Jahrhundert

78 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

menheiten, aber auch zur Durchsetzung gesell-schaftlicher Interessen unverzichtbar. Mit latein-amerikanischen Erfahrungen lässt sich vielfach be-legen, dass marktwirtschaftliche Reformen unddemokratische Partizipation nur dann zum Auf-brechen ökonomischer Entwicklungsblockadenführen, wenn effektive Mechanismen gegen Poli-tik- und Marktversagen existieren.13

Man mag dem Neoliberalismus angelsächsischerPrägung, der staatliche Aktivitäten grundsätzlichinfrage stellt, gegenüber anderen Varianten markt-wirtschaftlich orientierter WirtschaftssystemeÜberlegenheit attestieren. Allerdings nur, sofernman die Effizienz eines ökonomischen Systems al-lein an der Höhe der durchschnittlich erzieltenKapitalrenditen misst und die Armut von Men-schen nur als ein sekundäres, statistisches Detailbetrachtet. Berücksichtigt man jedoch bei der Be-urteilung der Leistungsfähigkeit von Wirtschafts-systemen auch den Lebensstandard der Mehrheitderer, die darin leben, sowie die Reichweite sozia-ler Sicherungssysteme und die Zufriedenheit „desWählers“ mit den staatlichen Leistungen, fällt dasUrteil anders aus: Dann schneiden Modellvarian-ten besser ab, bei denen zwar marktwirtschaftlicheMechanismen im Mittelpunkt stehen, der Staataber einen wichtigen Beitrag zu einer produktivenund humanen Gesellschaft leistet. Das Urteil übereine fundamentalistische Marktwirtschaft neolibe-raler Prägung fällt in Lateinamerika noch härteraus, wenn man die dort gegebenen höchst un-gleich verteilten Zugangsbedingungen zu Märktenberücksichtigt und nicht ignoriert, welche Märktein der Region besonders boomen: die Märkte fürDrogen, Waffen, Kinderpornographie, Prostitu-tion, gefälschte Medikamente etc.

Eine sozial verträgliche Marktwirtschaft

Um das ökonomische Potenzial ihrer Gesellschaf-ten zu mobilisieren, haben die Berater der inter-nationalen Finanzinstitutionen von den latein-amerikanischen Regierungen mit Nachdruck De-regulierung, Privatisierung und Liberalisierunggefordert. Aber wirtschaftliche Leistungsfähigkeitdarf nicht zum Selbstzweck werden; sie ist eine derVoraussetzungen für die Einlösung des Gesell-schaftsvertrages, der soziale und ökonomische

Grundabsicherung für alle verlangt. Und es gibtdurchaus Varianten des marktwirtschaftlichen Mo-dells, die sich durch die Rolle des Staates bei derGewährleistung von Wettbewerb sowie bei derWahrnehmung der sozialen Sicherungs- und Aus-gleichsfunktion auszeichnen.

Lateinamerika braucht nicht nur eine ökono-misch leistungsfähige, sondern auch eine sozial-verträgliche, menschenwürdige Wirtschaftsord-nung. Notwendig ist eine Synthese zwischen mög-lichst großen individuellen Freiheitsspielräumenund den sozialen Bindungen und Bedingtheitenmenschlicher Verhaltensweisen. Eine „Markt“-Wirtschaft, die nicht als Laissez-faire-System(miss-)verstanden wird, sondern als umfassendereKonzeption für die Gestaltung gesellschaftlichenZusammenlebens, bedarf zur Sicherung ihrerFunktionsfähigkeit zwingend hoheitlicher Ord-nungspolitik. Dabei kann sich staatliches Handelnnicht auf die Schaffung der rechtlich-institutionel-len Voraussetzungen marktwirtschaftlichen Leis-tungswettbewerbs beschränken, sondern muss die-se auch sichern, indem die Einhaltung der „Spiel-regeln“ überwacht und Regelverstöße mit Sanktio-nen belegt werden.

Sofern Ungleichheit als Ergebnis des Wettbewerbsin Konflikt steht mit dem Ziel eines geregelten ge-sellschaftlichen Neben- und Miteinanders, bedarfes staatlicher Sicherungsmaßnahmen. Dafür blei-ben auch dann Spielräume, wenn durch wirt-schaftspolitische Reformen Marktmechanismengestärkt werden. Welchen Aufwand für soziale Ab-sicherung, zur Vorsorge für materielle Risiken undfür die Solidarität mit den sozial Schwachen eineGesellschaft zu akzeptieren bereit ist, hängt von ih-ren Präferenzen ab – und natürlich davon, wie vielUngleichheit sie aushalten kann. Für einen staat-lich organisierten Solidarausgleich in der Gesell-schaft bedarf es allerdings eines Konsenses überdie Bedeutung von Sozialpolitik für die wirtschaft-liche Entwicklung und die demokratische Ord-nung. Eine solche Konsensbildung steht in denstark segmentierten lateinamerikanischen Gesell-schaften aber noch aus. Es sind indezente Gesell-schaften, die im Gegensatz zu „anständigen Ge-sellschaften“ institutionelle Arrangements dulden,deren Funktionsweise Mitgliedern der Gesell-schaft begründeten Anlass gibt, sich gedemütigtund in ihrer Selbstachtung verletzt zu fühlen.14

13 Vgl. Jörg Faust, Der verweigerte Leviathan – Demokratisierung,Marktreformen und Regieren in Lateinamerika, in: Dieter Nohlenund Hartmut Sangmeister (Hrsg.), Macht, Markt, Meinungen. De-mokratie, Wirtschaft und Gesellschaft in Lateinamerika, Wiesbaden2004, Seiten 94-110.

14 Vgl. Avîsay Margalît, The Decent Society, Cambridge/Massa-chusetts 1996, Seiten 10 f.

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Lateinamerika

79Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Soziale Marktwirtschaft statt Sozialismus

Eine Marktwirtschaft kann nur dann effektiv funk-tionieren, wenn sie in ein Geflecht sozialer Institu-tionen eingebettet ist und zivilgesellschaftlich ge-tragen wird. Marktwirtschaft und Demokratie er-fordern stabile Zivilgesellschaften, in denen dieNormen des Vertrauens und des sozialen Anstandsverankert sind.15 Ohne eine ethische Fundierungder Wirtschaftspolitik werden die lateinamerikani-schen Gesellschaften weiter so funktionieren wiebisher: Als Spielergesellschaften, in denen zweiParteien unter dem Recht des Stärkeren um Ge-winn und Verlust spielen, wobei eine dritte Parteigänzlich ausgeschlossen bleibt. Diese letzte Parteibesteht aus jenem Teil der Menschen, die aus ei-gener Kraft ihre wirtschaftliche und soziale Situa-tion nicht mehr verändern können, die ihre Per-spektivlosigkeit ohnmächtig ertragen oder in ihrerHoffnungslosigkeit obskuren Heilsversprechun-gen vertrauen.

Auf der Suche nach Lösungen für die drängendenwirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Prob-leme Lateinamerikas bieten sich die konstitutivenund regulierenden Prinzipien einer SozialenMarktwirtschaft kontinentaleuropäischen Typs an.Soziale Marktwirtschaft bedeutet keineswegs eineWirtschaftspolitik der Illusionen, die versucht,ökonomische Gesetze außer Kraft zu setzen. Wirt-schaftspolitik für eine Soziale Marktwirtschaft setztDaten und gestaltet Rahmenbedingungen. Die

Wünsche von Individuen – aber auch der Gesell-schaft im Ganzen – nach einem Mindestmaß an Si-cherheit gegenüber den Wechselfällen des Lebenswerden berücksichtigt. Den gesellschaftlichen Vor-stellungen von sozialer Gerechtigkeit innerhalbund zwischen den Generationen wird Rechnunggetragen, und die ökologischen Grenzen von Ent-wicklungsprozessen sind zu respektieren.

Eine Soziale Marktwirtschaft für Lateinamerikakann aber keine bloße Kopie kontinentaleuropäi-scher Vorlagen sein.16 Denn Wirtschaftspolitik fin-det auch in Zeiten der Globalisierung im national-staatlichen Kontext statt und muss die jeweiligenkulturellen und ethnischen Eigenarten, die for-mellen und informellen Institutionen sowie die ineiner Gesellschaft mehrheitlich akzeptiertenHandlungsgebote und -verbote berücksichtigen.Die lateinamerikanischen Gesellschaften sollten inihrem wirtschaftspolitischen Such- und Lernpro-zess auch auf sich selbst vertrauen und nicht nurauf vermeintliche Patentrezepte externer Ratge-ber. Europa sollte im politischen Dialog mit La-teinamerika deutlich machen, dass es zum in Miss-kredit geratenen neoliberalen Wirtschaftsstil einemarktwirtschaftliche Alternative in (kontinental-)europäischer Tradition gibt. Die Soziale Markt-wirtschaft bietet eher eine nachhaltige Lösung fürdie drängenden Probleme des lateinamerikani-schen Subkontinents als die nationalistisch-links-populistischen Konzepte, mit denen sich derzeitdort Wahlen gewinnen lassen. �

15 Vgl. Anthony Giddens, Die Frage der sozialen Ungleichheit,Frankfurt am Main 2001, Seite 182.

16 Vgl. Hartmut Sangmeister, Eine soziale Marktwirtschaft für La-teinamerika, in: Dieter Nohlen und Hartmut Sangmeister (Hrsg.),Macht, Markt, Meinungen. Demokratie, Wirtschaft und Gesellschaftin Lateinamerika, Wiesbaden 2004, Seiten 111–124.

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Sozialismus im 21. Jahrhundert

80 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Die jüngere deutsche Familienpolitik ist ein Drama,dessen erster Akt mit der Wiedervereinigung be-gann. Die DDR konnte wenig von ihrer gesell-schaftlichen Identität ins wiedervereinigte Deutsch-land hinüberretten, doch zu den folgenschwerenAusnahmen gehörte die Familienpolitik. Währendin der Bundesrepublik die Fristenregelung verbo-ten war, herrschte im SED-Staat ein liberales Ab-treibungsrecht. Gegen den Widerstand der katho-lischen Kirche und der Unionsparteien setzten ost-deutsche Politiker 1990 durch, dass die DDR-Re-geln bestehen blieben und schließlich in ganzDeutschland zur Anwendung kamen. Ferner er-reichten die neuen Länder und Berlin, dass sie dieumfassende, aber teure Kinderbetreuung in Krip-pen und Tagesstätten fortsetzen konnten, wäh-rend entsprechende Angebote in den westlichenLändern auch wegen der Kosten wenig verbreitetwaren.

Vollversorgung im Osten

So kam es, dass von Mecklenburg-Vorpommern bisThüringen ein Versorgungsgrad mit Krippenplät-zen von 30 bis 50 Prozent herrscht, während dieserWert in den westlichen Ländern – mit AusnahmeHamburgs – unter zehn Prozent liegt. Die west-lichen Länder, die den Osten jährlich mit siebenMilliarden Euro alimentieren, beschwerten sichnicht über dieses Ungleichgewicht. Die Ostdeut-schen betrachten die Vollversorgung als eineSelbstverständlichkeit. In der DDR arbeitetenneun von zehn Frauen, da in der StaatswirtschaftArbeitskräftemangel herrschte. Daher waren für80 Prozent der Ein- bis Dreijährigen Krippenplät-ze vorhanden, ab dem dritten Lebensjahr gingenpraktisch alle Kinder in eine Tagesstätte, die bissechs Uhr abends geöffnet hatte. In einigen Fällenkonnten Mütter Kleinkinder ab dem achten Le-bensmonat betreuen lassen, und auch dies warmöglich: In Wochen-Krippen brachte man seineKinder am Montag hin und holte sie am Freitagnach Arbeitsschluss wieder ab.

Im zweiten Akt Ende der neunziger Jahre stelltedie westdeutsche Gesellschaft zwar nicht die Trans-ferleistungen in den Osten infrage, kritisierte aberdie im Osten herrschenden Erziehungsprinzipien.Eine damals weit verbreitete These lautete, die frü-he Betreuung außer Haus habe emotional verarm-te und unselbständige Menschen heranwachsenlassen, die als Erwachsene zu Rechtsradikalismusund Ausländerfeindlichkeit neigten. Als Sinnbilddes in der DDR herrschenden Zwangs und Kollek-tivismus galt das in Kinderkrippen übliche Ritual,wonach alle Kinder einer Gruppe zur selben Zeitauf eine lange Batterie von Töpfchen gesetzt wur-den. Zugleich feierte man ostdeutsche Mütter, diesich dem Imperativ der staatlich organisierten Kin-der-Aufbewahrung widersetzt hatten, als Heldin-nen des stillen Widerstands.

„Rabenmütter“ im Westen

In einem dritten Akt begann man dann darübernachzudenken, wie sich der Sozialstaat reformie-ren lässt. Die westdeutsche Tradition seit den sieb-ziger Jahren, die Empfänger zu alimentieren undsich sonst um ihre Lebensbedingungen kaum zukümmern, erschien nicht mehr sinnvoll. Unterden Leitbegriffen Exklusion und Inklusion galtnun eine Sozialpolitik als erstrebenswert, welchedie Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger mög-lichst rasch wieder in die Arbeitsgesellschaft inte-grierte.

Als entscheidender Faktor zur Inklusion wurde un-ter anderem die Bildungspolitik identifiziert. Miteiner frühzeitigen Betreuung in Kindertagesstät-ten und Ganztagsschulen sollten die Entwick-lungsdefizite von Kindern aus benachteiligten Fa-milien kompensiert werden. Zu diesen sozialpoliti-schen Überlegungen gesellte sich ein Wertewan-del bei gut ausgebildeten jungen Frauen, die nichtmehr bereit waren, ihr gerade beginnendes Be-rufsleben zugunsten der Kindererziehung aufzu-geben. Galten früher im Bürgertum berufstätige

Deutschlands Familienpolitik auf den Spuren der DDRDr. Eric GujerDeutschland-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung

Die Kinderbetreuung in Krippen und Tagesstätten ist heute ein wichtiges Thema in Deutschland. Nach der Wiederverei-

nigung war dies anders: Damals waren es nur die neuen Länder, welche die DDR-Tradition fortsetzten und eine Vollver-

sorgung anboten.

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Familienpolitik

81Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Mütter als „Rabenmütter“, waren es nun geradeFrauen aus diesen Schichten, welche nach Betreu-ungsangeboten verlangten. So ist es wohl kein Zu-fall, dass die deutsche Familienministerin Ursulavon der Leyen – heute die prominenteste Protago-nistin der Vereinbarkeit von Beruf und Familie –einen entsprechenden Hintergrund hat: Ihr Vater,der frühere niedersächsische MinisterpräsidentErnst Albrecht, war ein herausragender Vertreterdes bürgerlichen Konservatismus, einschließlichtradierter Geschlechterrollen und Familienbilder.Seine Tochter hingegen brachte die Erziehungvon sieben Kindern und ihre Arbeit als Ärztin un-ter einen Hut.

Der „Pisa-Schock“ als Zeitenwende

Diejenigen, die Familien- und Bildungspolitik alsgesellschaftliche Leitfragen betrachteten, hattenum die Jahrtausendwende noch einen schwerenStand. Im Bundestagswahlkampf des Jahres 2002musste Bundeskanzler Schröder eine Großveranstal-tung zu diesen Themen noch förmlich abgetrotztwerden. Kolportiert wurde sein Ausspruch, eshandle sich nur um „Gedöns“. Auch Schröders He-rausforderer, der bayrische Ministerpräsident Stoi-ber, war weit davon entfernt, in der Familienpolitikein zentrales Aufgabenfeld zu sehen. In sein Schat-tenkabinett berief er hierfür eine junge und gänz-lich unbekannte Bundestagsabgeordnete. Die an-deren Sachgebiete besetzte er hingegen mit aus-gewiesenen Fachleuten und politischen Schwerge-wichten.

Der zur nationalen Katastrophe stilisierte erste Pi-sa-Test leitete jedoch den vierten Akt ein. Die En-de 2001 und im Sommer 2002 veröffentlichten Er-gebnisse für die Bundesrepublik entfalteten eineungeahnte Wirkung. Die Deutschen, bis anhinstolz auf ihr Bildungssystem, erkannten Mängelunter anderem in der frühkindlichen Förderung.

Während die Hochschulbildung kostenlos war,müssen die Eltern für Kindergärten – allerdingsmeist sehr günstige – Beiträge entrichten. Betreu-ungsplätze ab dem ersten Lebensjahr standen imWesten nur wenige zur Verfügung, die vorschuli-sche Erziehung genoss insgesamt einen geringenStellenwert. Zum „Pisa-Schock“ kam die Berichter-stattung über das angeblich drohende Aussterbender Deutschen wegen demographischer Probleme

und eines „Gebärstreiks“ unter Akademikerinnen,welche die Frage nach Beruf und Familie mit einerklaren Prioritätensetzung beantworteten.

Die SPD sprang als Erste auf diesen Zug auf, undso entstammen viele der Ideen, welche Familien-ministerin von der Leyen heute umsetzt, ursprüng-lich aus der Feder der sozialdemokratischen Amts-vorgängerin Renate Schmidt. Dies gilt für das soge-nannte Elterngeld, das gut verdienenden Frauenden temporären Ausstieg aus dem Berufslebenschmackhaft machen soll, ebenso wie für die Kon-zepte zum Ausbau der frühkindlichen Betreuung.Auf christlich-demokratischer Seite waren die Vor-behalte gegen eine staatlich organisierte Erzie-hung von Kleinkindern größer; generell herrschtein den süddeutschen Hochburgen der Unionspar-teien Skepsis gegenüber Einrichtungen wie Kin-derkrippen. Doch die CDU-Vorsitzende Merkel –selbst kinderlos, aber in der DDR sozialisiert – ver-ordnete ihrer Partei eine Neuorientierung, dienoch folgenreicher ist als der Kurswechsel, den dieUnion wenige Jahre zuvor in der Einwanderungs-politik vollzogen hatte.

Das traditionelle Modell in der Defensive

Vorläufiger Schlussakt ist der derzeitige Zustand,in dem die Parteigrenzen in dieser Frage ver-schwimmen. Bayern weist bei Kinderkrippen einedeutlich höhere Versorgungsquote auf als das bisvor kurzem sozialdemokratisch regierte Nord-rhein-Westfalen. Besonderen Elan legt wiederumdas vom SPD-Bundesvorsitzenden Beck regierteRheinland-Pfalz an den Tag, wo allein im Jahr2006 die Zahl der Betreuungsplätze um ein Drittelwuchs. Betrachtet man die Stellungnahmen, dieinzwischen jeden Tag zu den Themen Bildungund Erziehung abgegeben werden, hat sich in we-niger als einem Jahrzehnt ein völliger Wandel voll-zogen. Mussten sich früher die „Rabenmütter“ fürihre Berufstätigkeit rechtfertigen, befinden sichheute die Anhänger des klassischen Familienmo-dells mit einem Alleinverdiener in der Defensive.Die Politik reagiert damit auf eine sich verändern-de Realität. Der Doppelverdiener-Haushalt wirdzur Norm, wie eine Studie der EU-Kommissionzum sozialen Alltag in den Mitgliedsländern fest-stellt. Hierfür die Rahmenbedingungen zu schaf-fen, sei die zentrale Aufgabe der Familienpolitik inganz Europa, heißt es im Bericht. �

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In eigener Sache

82 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 (1/2007)

Am 4. Februar 2007 jährte sich zum 110. Mal derGeburtstag Ludwig Erhards. Aus diesem Anlass hatder Bundesminister für Wirtschaft, Michael Glos, imEingangsbereich seines Ministeriums eine Bronze-büste des ersten Wirtschaftsministers der Bundes-republik aufstellen lassen. In einem würdigen Rah-men nahm er die von Herbert B. Schmidt, Mitgliedder Ludwig-Erhard-Stiftung, zur Verfügung ge-stellte Erhard-Büste des Künstlers Wolf Ritz entge-gen.

Bei der Feierstunde waren neben dem jetzigenHausherrn fünf ehemalige Wirtschaftsminister an-wesend (siehe Bild). Alle waren sich darin einig,dass Erhard ins Bundeswirtschaftsministerium ge-hört – unabhängig davon, wer dort gerade die

Amtsgeschäfte inne hat. Erhard habe als Vater derSozialen Marktwirtschaft das Fundament für den –nicht nur – wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlandsgelegt. Dies machte auch Hans D. Barbier, Vorsit-zender der Ludwig-Erhard-Stiftung, in seiner Rededeutlich: „Überall dort, wo Erhard seine Vorstel-lungen durchsetzen konnte, kassieren wir nochheute die Dividende.“

Mit der Büste kehrt ein ordnungspolitischer Mah-ner in eben dieser Funktion zurück ins Wirt-schaftsministerium. Die Notwendigkeit zu ord-nungspolitischer Wachsamkeit besteht allemal; Er-hard dürfte gefallen, dass ihm ein so prominenterPlatz im Bundesministerium für Wirtschaft zuge-wiesen wurde.

Ludwig Erhard kehrt als ordnungspolitischer Mahnerins Wirtschaftsministerium zurück

Ludwig Erhard im Kreise einiger seiner Nachfolger (v.l.n.r.): Werner Müller (1998–2002), Michael Glos (seit 2005),Helmut Haussmann (1988–1991), Hans Friderichs (1972–1977), Martin Bangemann (1984–1988) und ManfredLahnstein (1982). Quelle: BMWi

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ISSN 0724-5246Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 111 – März 2007. Orientierungen erscheinen vierteljährlich. Alle Beiträge in den Orientierungen sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigung bedürfen derGenehmigung der Redaktion. Namensartikel geben nicht unbedingt die Meinungder Redaktion bzw. des Herausgebers wieder.

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