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Zusatztext 2 - Teil 1- Bourdieu- Chamboredon- Passeron - Soziologie Als Beruf, 15-29

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Bourdieu, Passeron, Soziologie als Beruf, 15-29

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)14 Einleitung

keir, wenn die Voraussetzungen für den Gebrauch dieser Instrumente nichterfüllt sind. Nach außen hin den Eindruck der "Operationalisierung" episte-mologischer \'('achsamkeit vermittelnd, kann die \X!issenschaft von den for-malen ßedingungen verfahrensmäßiger Strenge den Anschein erwecken, alssei es ihre Sache, gleichsam mechanisch die praktische Umsetzung der dieepistemologische \Vachsamkeir definierenden Prinzipien und Regeln zu ge-währleisten. Es bedarf daher zusätzlicher \Xfachsamkeit, um zu verhindern,daß sie diesen Verschiebungseffekt automatisch produziert.

Man müßte, heißt es einmal bei Saussure. "dem Sprachwissenschaftlerzeigen, was er tut".2" Sich fragen, was das denn sei: Wissenschaft treiben,oder, genauer, herauszufinden versuchen, was der \X1issenschaftler macht,egal, ob er weiß, was er macht, heißt nichr nur nach der \X'irksamkeit undformalen Stringenz der vorhandenen Theorien und Methoden fragen, sondernbedeutet auch, die Methoden und Theorien im Akt ihrer praktischen Um-setzung danach zu befragen, was sie welchen Gegenständen antun. Nachwelcher Ordnung diese Befragung zu erfolgen hat, ist sowohl durch dieerkenntnis kritische Analyse der Hindernisse der \X'issensprnduktion vorge-geben als auch durch die soziologische Analyse des erkenntnistheoretischenGepäcks der gegenwärtigen Soziologie. Dieses bestimmt die Rangfolge derGefahren auf erkenntnistheoretischer Ebene und damit den Dringlichkeits-grad ihrer Analyse.

Mit Bachelard zu postulieren, daß die iuissenschaftlicl:« Tatsache ,gegen die[liusion des tmmittrlbarrn IFiJJem errtltlgen, daß sie kom!mier! IIlId ralidier: werdenmuß, heißt gleichermaßen den Empirismus, der den wissenschaftlichen Aktauf die Validierung reduziert, wie den Konventialismus verwerfen, der demEmpirismus lediglich die Konstruktion als das unmittelbar Vorausgehendeentgegenhält. Da sie gegen die ganze spekulative Tradition der Sozialphilo-sophie, von der sie sich lösen muß, an den Imperativ der Validierung erinnert,gerät in der soziologischen COIll11lt//lif)' leicht die wissenschaftstheoretischeHierarchie der wissenschaftlichen Akte in Vergessenheit, die die Validierungdes empirisch Gegebenen der Konstruktion und diese dem Bruch unterordnet:In einer Erfahrungswissenschaft bleibt die bloße Aufforderung zur empiri-schen Überprüfung so lange eine Tautologie, wie sie nicht einhergeht miteiner Darlegung der theoretischen Vorannahmen, auf denen die Prüfung ander Erfahrung basiert, wie auch diese Darlegung so lange heuristisch wertlosbleibt, wie sie nicht einhergehr mir einer Darlegung der Erkenntnishinder-nisse, die sich in jeder wissenschaftlichen Praxis in je eigener Form zeigen.

zu F.. Bcnvenisre, "l.eutes de Ferdinand de Saussure a Anroinc Meiller", Cabiers Ferdiuaedde SaIlHJm, 21 (1964), S. 92-135.

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Teil I: Der Bruch

1. Der wissenschaftliche Tatbestand wird gegendie Illusion unmittelbaren Wissens errungen

Epistemologische Wachsamkeit erweist sich bei den Humanwissenschaftenals besonders notwendig, da hier die Trennung zwischen Alltagsmeinung undwissenschaftlichem Diskurs unklarer ist als in anderen Wissenschaften. Mitdem rasch und leichthin gemachten Zugeständnis, daß die Soziologen des19. Jahrhunderts in ihrem vorrangigen Interesse an einer moralischen undpolitischen Reform der Gesellschaft es häufig an wissenschaftlicher Neutralitäthaben fehlen lassen und daß selbst die Soziologie unseres Jahrhunderts aufdie Ansprüche der Sozialphilosophie hat verzichten können, ohne deshalbvor ideologischen Ansteckungen einer ganz anderen Ordnung geschützt zusein, drückt man sich häufig vor der Erkenntnis - und den damit sichergebenden Konsequenzen -, daß für den Soziologen die Vertrautheit mitder sozialen Welt das Erkenntnishindernis schlechthin darstellt, da dieseVertrautheit unablässig nicht nur fiktive Konzeptionen oder Systernatisierun-gen hervorbringt, sondern auch die Bedingungen ihrer Glaubwürdigkeit. DerSoziologe ist nie definitiv vor der .Spontansoziologie gefeit; er muß sich zueiner fortwährenden Polemik gegen die blindmachenden Evidcnzen zwingen, <die allzu billig die Illusion unmittelbaren Wissens und seines unüberschreit-baren Reichtums vermitteln. Die Trennung zwischen alltäglicher Wahrneh-mung und Wissenschaft, die sich etwa für den Physiker im entschiedenenGegensatz von Alltagsleben und Laboratorium niederschlägt, fällt ihm umso schwerer, als er im theoretischen Erbe, auf das er zurückgreifen kann,Hilfsmittel zur radikalen Zurückweisung der Alltagssprache und ihrer Begriffenicht findet.

1.1 Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs

Dazu bestimmt, das Alltagsbewußtsein um jeden Preis mit sich selbst zuversöhnen, indem sie - und seien es widersprüchliche - Erklärungen einesTatbestandes vorgeben, präsentieren sich die Primärmeinungen über sozio-logische Tatbestände als eine nur zum Schein systematische Sammlung vonUrteilen zu wechselndem Gebrauch. Wie E. Durkheirn feststellt, leiten sichdie Evidenz und "Autorität" dieser Vorbegriffe, dieser "schematischen undsummarischen Vorstellungen", die "von der Praxis und für die Praxis ge-schaffen" sind, von den sozialen Funktionen her, die sie erfüllen. [E. Dl/rk-beim, Tex! Nr. 4]

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16 ) 1. Der Bruch

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Der Einfluß dieser Alltagsbegriffe ist derart stark, daß alle Objektivie-rungstechniken eingesetzt werden müssen, um einen wirklichen Bruch mitihnen zu vollziehen; häufig genug bleibt er noch bloßes Lippenbekenntnis.So haben die Ergebnisse statistischer Messung zumindest die negative Qua-litär, die Primäreindrücke durcheinander zu bringen. Bislang wurde auch nurunzulänglich die Funktion erkannt, die Durkhcimder vorEiufigen Definitiondes Gegenstandes als einer "provisorischen" theoretischen Konstruktion imRahmen des Bruchs zuerkannte, die vorrangig dazu bestimmt ist, "die Begriffedes ALltagsverstandes durch einen ersten wissenschaftlichen Begriff zu erset-zen".21 [Jf. Maass, Text Nr. 5] Tatsächlich erscheint die logische und lexi-kologische Kritik der Alltagssprache insofern als unabdingbare Voraussetzungfür die kontrollierte Erarbeitung wissenschaftlicher Begriffe, als elie Alltags-sprache und bestimmte wissenschaftliche Verwendungsweisen von Alltags-begriffen das hauptsächliche Transportmittel von allgemein herrschendenVorstellungen über die Gesellschaft bilden. U. H. Goldtborpe lind D. Loclauood,Text N,.. 6J

Da der Soziologe im Rahmen der Beobachtung oder des Experiments zuseinem Objekt in eine Beziehung tritt, die als soziale immer mehr als nurreine Erkenntnis ist, präsentieren sich ihm die Gegebenheiten wie lebende,individuelle, ja allzumenschliche Konfigurationen, die sich leicht als Objekt-strukturen aufdrängen. Indem die statistische Analyse die der unmittelbarenAnschauung vorgegebenen konkreten und offenbaren Kriterien ersetzt, diesie soziologisch definieren - Beruf, Einkommen, Bildungsniveau usw. -,indem sie die spontanen Induktionen unterbindet, die kraft einer Art Aura-Effekt dazu führen, daß einer ganzen Klasse oder Gruppe die markantenZüge der scheinbar "typischsten" Individuen zugesprochen werden, kurzum:indem die statistische Analyse das in der Erfahrung unablässig gestrickteNetz von Zusammenhängen zerreißt, trägt sie dazu bei, daß die Konstruktionneuer Zusammenhänge möglich wird, die durch ihren ungewohnten Charak-ter in der Lage sind, der Erforschung von Zusammenhängen einer höherenOrdnung, die jene erklären würden, zum Durchbruch zu verhelfen.

Kurz gesagt, die Arbeit des Erfindens erschöpft sich nicht in einer bloßenAuslegung des - und sei es verworrenen - Wirklichen, denn sie setzt immer

j r P. Fauconnet und I\I. !\[auss, Artikel "Sociologie" in der Grande Encydopidie 1",.III/(,,;"e,BLl. 30, Paris: 1901, S. 173. Es ist kein Zufall, daß diejenigen, die bei Durkheim, lindspeziell in seiner Theorie der Definition und des Indikators (siehe z. B. R. K. Merton,"The Bearing of Empirical Research on Sociological Theory", in: ders., On Theoretica]Soäology, Toronto (Ontario): 1967, S. 169), Ursprung und Bürgschaft des "Operotio-nalisrnus' finden wollen, die Funktion ignorieren, die Durkheim der Definition imZusammenhang mit dem erkenntnislogischen Bruch beimaß. Tatsächlich sind zahlreichesogenannte "operationale" Definitionen nichts anderes ,11s eine logisch kontrollierteoder formalisierte Gestaltung von Vorstellungen des (01l1l1l0/J sense.

Wissenschaftlicher Tatbestand 'geien die Illusion unmittelbaren Wissens 17

den Bruch mit dem Wirklichen und den Konfigurationen voraus, die es der\'\fahrnehmung anbietet. Wer wie Roberr K. Merton mit seiner Analyse derJ'erelldipi~y allzu stark auf die Rolle des Zufalls bei der wissenschaftlichenEntdeckung abhebt, setzt sich der Gefahr aus, damit die naivsten Vorstellun-gen über das Erfinden wieder zu neuem Leben zu erwecken; Vorstellungen,wie sie etwa in Newtons Apfel paradigmatisch verdichtet sind: Einen uner-warteten Sachverbalt zu erfassen setzt zumindest die Entscheidung voraus,auf das Unerwartete methodiscb zu achten, und sein heuristiscber \'\fert hängtvon der Relevanz und Kohärenz des Systems von Fragen ab, das es erschüt-tert. 22 Der Akt des Erfindens, der zur Lösung eines sensomotorischen oderabstrakten Problems führt, rnuß die offenkundigsten, weil vertrautesten Be-ziehungen aufbrechen, um das neue System von Beziehungen zwischen denElementen sichtbar zu machen. In der Soziologie wie anderswo "führt eineernsthafte Forschung zur Vereinigung dessen, was die Volksmeinung trennt,oder zur Trennung dessen, was die Volksmeinung vermischt. «23

1.2 Die Illusion der Transparenz und das Prinzipder Nicht-Bewußtheit

Alle Techniken des Bruchs - logiscbe Kritik der Begriffe, statistische Über-prüfung der falscben Gewißheiten, entschiedene und methodische Infrage-stellung des äußeren Scheins - bleiben allerdings so lange wirkungslos, wiedie Spontansoziologie nicht in ihrem eigentlicben Kern getroffen wird, d. h.in der sie tragenden Philosophie der Erkenntnis des Sozialen und des mensch-lichen Handeins. Als vom common sense klar geschiedene Wissenschaft kannsich die Soziologie nur konstituieren, wenn sie den systematischen Ansprü-chen der Spontansoziologie den organisierten Widerstand einer Theorie derErkenntnis des Sozialen entgegenstellt, deren Prinzipien Punkt für Punkt denVorannahmen der Primärphilosophie des Sozialen widersprecben. Fehlt einesolche Theorie, kann der Soziologe nocb so demonstrativ die Vorbegriffezurückweisen - er wird seinen scheinbar wissenscbaftlichen Diskurs unbe-wußt auf jenen Vorannabmen aufbauen, die den Vorbegriffen der Spontan-soziologie zugrunde liegen. Der Artifizialismus, jene illusionäre Vorstellungvon der Entstebung der sozialen Tatbestände, derzufolge der Wissenschaftlerdiese Tatbestände "allein aufgrund seiner privaten Reflexion" verstehen underklären kann, besteht in letzter Instanz auf der Annahme, er wisse schonimmer alles, eine Annahme, die sich aus dem Gefühl der Vertrautheit ergibt

-- R. I"'::',Merton, a. a. 0.) S. 157 ff.23 "ZUln Beispiel hat die Religionswissenschaft die Tabus der Unreinheit und der Reinheit

in derselben Gattung zusammengefaJlt, weil sie alle Tabus sind; dagegen hat sie dieBeerdigungsriten und den Ahnenkult säuberlich voneinander geschieden". (P. Faucon-net und 1\1. Mauss, "Sociologie", a. a. 0., S. 173.)

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18 ) 1. Der Bruch

und auch die Spontanphilosophie der Erkenntnis der sozialen Welt begründet:Durkheims Polemik gegen Artifizialismus, Psychologismus und Moralismusist lediglich die Kehrseite des Postulats, demzufolge die sozialen Tatsachen"eine konstante Art des Seins, eine Natur haben, die nicht von der indivi-duellen Willkür abhängt und von der sich notwendige Beziehungen ablei-ten".2-f [E. DurkheillJ) Text Nr. 7] Nichts anderes meinte Marx mit seinerberühmten Formulierung: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebensgehen die .Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem \'(fillen unabhängigeVerhältnisse ein", oder auch Max Weber, wenn er davor warnt, den Sinnsozialen Handeins auf die subjektiven Absichten der Handelnden zu reduzie-ren. Durkheirn, der vom Soziologen fordert, in die soziale Welt wie in einefremde Welt einzudringen, gesteht denn auch Marx das Verdienst zu, dieIllusion der Transparenz überwunden zu haben: "Wir halten den Gedankenfür fruchtbar, daß das gesellschaftliche Leben nicht durch die entsprechendeVorstellung der an ihm Beteiligten erklärt werden soll, sondern durch tiefer-liegende Ursachen, die sich dem einzelnen Bewußtsein entziehen". 25 [1~.Dllrkheilll, Text Nr. 8)

Eine derartige Konvergenz ist leicht zu erklaren ": Was als Prinzip derNicht-Bewußtheit bezeichnet werden kann und hier begriffen wird als Be-dingung sine qua non der Konstitution der Soziologie als Wissenschaft, istnichts weiter als die in der Logik dieser Wissenschaft vorgenommene Re-formulierung des Grundsatzes des methodologischen Determinismus, denkeine Wissenschaft negieren kann, ohne sich selbst zu negieren.27 Das wirdallerdings kaschiert, wenn man das Prinzip der Nicht-Bewußtheit im Voka-

,., E. Durkheirn, Die R'geln der J'oziologisdml Metbode hg. und eingeleitet von R. König,Neuwied: Luchrerhand, 1961, und Frankfurt am Main: Suhrkarnp, 1984, S. 101.

2; E. Durkheim, Rezension von A. Labriola, "Essais sur la conception rnaterialisre del'histoire", Reu« Pbilosopbique, 22 (1897) XLIV, S. 648.

zo Der Vorwurf des Synkretismus, den das Nebeneinanderstellen der Texte von Marx,\'V'eber und Durkheim hervorrufen könnte, beruht auf der Vermischung der Theoriedes Wissens vom Sozialen als Bedingung der Möglichkeit wirklicher Soziologie mitder Theorie des sozialen Systems (vgl. zu diesem Punkt die Seiten 5 f., 35 f. und weiterunten, G. Bacbelard, Text Nr. 2, S. 100-103). Sollte man uns diese Trennung nichtkonzedieren, wäre zu prüfen, ob der Anschein der Dispararbeit nicht daher rührt, daßman weiterhin der traditionellen Vorstellung einer Pluralität von theoretischen Tradi-tionen anhängt, einer Vorsrellung, die der "friedliche Eklektizismus" der Theoriesoziologischen Wissens gerade in Frage stellt, indem er ausgehend von der Erfahrungder soziologischen Praxis bestimmte, in einer anderen Praxis, nämlich der des Philo-sophie-Unterrichts, rituell gewnrdene Grundsatze zurückweist.

" ,,\X'enn ein Phänomen", schreibt Claude Bernard, "sich bei einem Experiment sowidersprüchlich zeigt, daß es sich nicht auf eine notwendige Weise mit bestimmtenExistenzvoraussetzungen verbunden erweist, müßte die Vernunft das FaktII'" als nicht-wissenschaftliches Faktum z"riickw,iml [... ], denn ein ursacheloses. d. h. ein in seinenExistenzvoraussetzungen unbestimmtes Faktum gelten zu lassen bedeutet nicht mehrund nicht weniger, als die Wissenschaft zu negieren." (C, Bernard, Introdaction ci /'itIldede I" lIIedai", experimenta!«, Paris: Baillere, 1865, Kap. II, Abschnitt 7.)

)Wissenschaftlicher Tatbestand gegen die Illusion unmittelbaren Wissens 19

bular des Unbewußten formuliert und damit ein methodologisches Postulatin eine anthropologische These umwandelt, sei es, daß man vom Substantivauf die Substanz schließt, sei es, daß man sich auf die Vieldeutigkeit diesesBegriffs beruft, um die Bindung an die Mysterien der Innerlichkeit mit denImperativen der Distanzierung ZLl versohnen.i" Tatsächlich soll das Prinzipder Nicht-Bewußtheit lediglich vor der Illusion schützen, die Anthropologiekönne sich als reflexive \Vissenschaft konstituieren und zugleich die metho-dologischen Voraussetzungen bestimmen, unter denen sie zu einer Erfah-rungswissenschaft werden kann. 29 [E. Durkheim, Text Nr. 9,. F. SimiCll1d, TextNr.101

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I[

2. Obwohl er aufgrund des für die Humanwissenschaften seiner Epoche spezifischenbegrifflichen Instrumentariums in der Problematik des Kollektivbewußtseins befangenblieb, hat Durkheim doch sorgsam unterschieden zwischen dem Prinzip, mittels dessender Soziologe sich die Existenz nicht-bewußter Regelmäßigkeiten erschließt, und demPostulat eines mit spezifischen Merkmalen versehenem "Unbewußten". Das Verhältnisvon individuellen und kollektiven Vorstellungen diskutierend, schreibt er: "Wir wollenweiter nichts behaupten, als daß in uns Phänomene auftauchen, die psychischer Artsind und doch von unserem Ich nicht erkannt werden. Um die Frage, ob sie vonunbekannten Ichs wahrgenommen werden oder was sie außerhalb jeglicher Wahrneh-mung noch sein können, ist es uns hier nicht zu tun. Man konzediere uns lediglich,daß die Vorstellungswelt über unser aktuelles Bewußtsein hinausreicht." Schon Durk-heim hat jedoch darauf hingewiesen, daß zwischen der methodologischen Annahmeder Existenz nicht-bewußter Regelmäßigkeiten im Verhalten und der Annahme eines"Unbewußten" als besonderer psyschischer Instanz ein Unterschied besteht. Er deutetauch die Rolle der Sprache für die Neigung an, Bewußtseinsebenen. die in der Analyseunterschieden werden, zu "realisieren". Es gibt Ausdrücke, die ein Attribut erfordern,Verben, die ein Subjekt verlangen, also eine Substanz, Etymologien, die Nebenbedeu-tungen suggetieren. "Im Grunde deckt sich der Begriff einer unbewußren Vorstellungmit dem eines Bewußtseins ohne erfassendes Ich. Denn wenn wir sagen, eine psychischeTatsache sei unbewußt, meinen wir nur, daß sie nicht erfaßr wird, Die Frage istlediglich, welchen Ausdruck man arn besten verwenden sollte. Vom Standpunkt desVorstellungsvermögens aus haben beide dieselben Nachteile. Es fällt uns ebenso schwel',eine Vorstellung ohne ein vorstellendes Subjekt wie eine Vorstellung ohne Bewußtseinzu begreifen." (E. Durkheim, "Individuelle und kollektive Vorstellungen", in: ders.,SoZiologi, IIlId Pbilosopbie übers. von E. Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkarnp,1970, S. 69 f.) I

'" Das legt Levi-Strauss mit seiner Unterscheidung der Verwendung des Begriffs desUnbewußten bei Mauss und Jungs Begriff des kollektiven Unbewußten nahe, das"erfüllt [ist] von Symbolen und sogar von symbolisierten Dingen, die eine Art Substratdes Unbewußten bilden". Mauss wird das Verdienst zugestanden, daß er "ständig andas Unbewußte als Quelle des gemeinsamen und spezifischen Charakters der sozialenTatsachen [ ... ] appelliert hat". (C. Levi-Strauss, "Einleitung in das Werk von MarcelMauss", in: M. Mauss, SOZiologie lind Anthropologie, übers. von H. Ritter, Bd. 1, München:Hanser, 1974, S. 25 und 24.) Ähnlich erkennt Levi-Strauss bereits bei Taylor die sichernoch konfuse und mehrdeutige Formulierung dessen, was die Originalität der Ethno-logie ausmacht, nämlich die "unbewußte Natur der kollektiven Phänomene [ ... 1. Selbstwenn man auf Interpretationen stößt, haben diese immer den Charakter sekundärerRationalisierungen oder Erklärungen: ohne Zweifel sind .die unbewußten Gründe, ausdenen man einen Brauch praktiziert oder an einem Glauben teilhat, weit von denenentfernt, die man anführt, um jene zu rechtfertigen." (C, Levi-Strauss, StruktllraleAnthropologie, übers. von H. Naurnann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967, S. 32 f.)

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I. Der Bruch

Taucht die Spontansoziologie derart beharrlich und in so vielfacher Ver-kleidung innerhalb der wissenschafeliehen Soziologie auf, dann sicher deshalb,weil jene Soziologen, die das wissenschaftliche Projekt mit der Affirmationder Rechte des Individuums - Recht auf freies Handeln und Recht auf klaresBewußtsein beim Handeln - versöhnen wollen oder die es schlicht unter-lassen, ihre Praxis an den Grundsätzen der Theorie des soziologischen Er-kennens auszurichten, unvermeidlich auf jene nai ve Philosophie des Handeinsund des Verhältnisses von Subjekt und Handeln zurückfallen, die in dieSpontansoziologie derjenigen eingeht, denen die Verteidigung der gelebtenWahrheit ihrer eigenen Erfahrung arn Herzen liegt. Der Widerstand, auf dendie Soziologie bei ihrem Versuch stößt, die unmittelbare Erfahrung ihreserkenntnistheoretischen Primats zu entkleiden, nährt sich aus derselben hu-manistischen Philosophie des menschlichen Handeins wie jene Soziologie, diedadurch, daß sie mit Begriffen wie dem der ,,:tvlotivation" hantiert oder sichmit Vorliebe Fragen des decision l!Iaking widmet, immer noch, wenn auch aufihre Weise, den alten naiven \'Vunsch eines jeden sozialen Subjekts verwirk-licht: Gewillt, Herr uncl Meister seiner selbst und seiner \'\!ahrheit zu bleiben,keinen anderen Determinismus als den seiner eigenen Entschlüsse anzuerken-nen (auch wenn er diesen den Charakter der Unbewußtheir zugesteht), mußfür den in jedem Menschen steckenden naiven Humanisten jeder Versuch zur"soziologischen" oder "materialistischen" Reduktion werden, der nachweisenwill, daß der Sinn noch der persönlichsten und "transparentesten" Handlun-gen nicht dem Subjekt zuschreibbar ist, das sie ausführt, sondern sich ausdem umfassenden System der Beziehungen ergibt, in dem und durch dasdiese Handlungen geschehen. Die Tiefe, die der Sprachgebrauch der "l\[oti~varionen" (von den simplen "Motiven" ostentativ abgehoben) fälschlichverheißt, soll möglicherweise die Philosophie der Entscheidung dadurchschützen, daß sie sie mit den Federn des wissenschaftlichen Prestigesschmückt, das mit der Erforschung unbewußtcr Wahlentscheidungen ver-knüpft ist. Häufig genug hintertreibt die obertlächliche Erkundung psycho-logischer Funktionen, so wie sie erlebt werden - "Gründe" oder "Befrie~digungen" -, die Erforschung der sozialen Funktionen, welche die "Gründe"gerade verschleiern und deren Vollzug darüber hinaus die unmittelbar emp~fundenen Befriedigungen verschaffen. 30

3V In diesem Sinne lautete auch Durkheims Kritik an Spencer: "Die sozialen Tatsachensind nicht elie einfache Fortführung psychischer Tatsachen, vielmehr sind diese zumgrößten Teil nur die Verlängerung der sozialen Tatsachen innerhalb des Bewußtseinsder einzelnen Individuen. Dieser Satz ist sehr wichtig, denn der entgegengesetzteGesichtspunkt verleitet den Soziologen jeelen Augenblick dazu, die Ursache für die\X'irkung zu nehmen und umgekehrt." (E. Durkheim, Über Joziale ~~j,.beitJteiltlllg,Derdeutsche Text von Luelwig Schrnidrs, durchgesehen von Michael Schmiel, Frankfurtarn Main: Suhrkarnp, 1988, S. 415.)

Wissenschaftlicher Tatbestand ge~n die Illusion unmittelbaren Wissens 21

Gegen diese ambivalente Methode, die zum ständigen unkoutrolliertenHin- und Hergehen zwischen COlJltJIOfi sense und u/issenscbaftlicbe»: COlllJI/OIl senseermächtigt, ist ein zweites Prinzip der Theorie der Erkenntnis des Sozialenzu postulieren, das nichts anderes ist als die positive Ausprägung des Prinzipsder Nicht-Bewußtheit: Die sozialen Beziehungen sind auf Verhältnisse zwi-schen Subjekten mit Absichten oder "Motivationen" deshalb nicht zu redu-zieren, weil sie sich zwischen sozialen Lagen und sozialen Positionen herstellenund weil sie zugleich mehr Realität haben als die Subjekte, die sie verbinden.Marx' Kritik an Srirner läßt sich auf jene Sozialpsychologen und Soziologenerweitern, die die sozialen Beziehungen auf die Vorstellung zurückführen,welche die Subjekte von ihnen haben, und die unter Berufung auf einenpraktischen Artifizialismus glauben, objektive Beziehungen durch Verande-rung der subjektiven Vorstellung von ihnen verändern zu können: "Sanchowill z. B. nicht, daß zwei Individuen als Bourgeois und Proletarier zueinanderim ,Gegensatz' stehen [...]; er möchte sie in ein rein persönliches Verhältnistreten, als bloße Individuen miteinander verkehren lassen. Er bedenkt nicht,daß innerhalb der Teilung der Arbeit die persönlichen Verhältnisse notwendigund unvermeidlich sich zu Klassenverhältnissen fortbilden und fixieren unddaß darum sein ganzes Gerede auf einen bloßen frommen Wunsch herausläuft,den er zu realisieren denkt, indem er die Individuen dieser Klassen vermahnt,sich die Vorstellung Ihres ,Gegensatzes' und ihres ,besondern' .Vorrechts' ausdem Kopf zu schlagen. [... ] Durch ein verändertes ,Dafürhaltet!' und ,Wollen'wird der ,Gegensatz' und das ,Besondre' aufgehoben. "31 Unabhängig von·den Ideologien der "Partizipation" und der "Kommunikation", denen siehäufig dienen, legen die klassischen Techniken der Sozialpsychologie auf-grund ihrer impliziten Wissenschaftstheorie eine Privilegierung der \rorstel~lungen der Individuen nahe, unter Vernachlässigung der objektiven Bezie-hungen, in denen diese verstrickt sind und von denen ebenso die "Befriedi~gung" oder "Nicht~Befriedigung", die sie empfinden, wie die Konflikte, diesie spüren, und die Erwartungen und Ambitionen, die sie äußern, bestimmtwerden. Das Prinzip der Nicht-Bewußtheit fordert dagegen die Konstruktiondes Systems der objektiven Beziehungen, innerhalb deren sich die Individuenvorfinden und die in der Struktur oder Morphologie der 'f3ruppen adäquaterzum Ausdruck kommen als in den Meinungen und offen ~rklärten Absichtender Subjekte. Wie eine Organisation funktioniert, ergibt sich nicht aus derBeschreibung der Einstellungen, Meinungen und Bestrebungen der Indivi-duen; vielmehr muß die objektive Logik der Organisation erfaßt werden, umzu jenem Prinzip vorzudringen, das überdies noch die Einstellungen, Mei-nungen und Bestrebungen zu erklären vermag.V Dieser provisorische Ob-

JI 1-;'. Marx, Die deutsche Ideologie, M EIf7, Bd. 3, Berlin: Dierz, 1962, S. 422.32 Eines ihrer auserwählten Modelle tinder diese Reduktion auf Psychologie in eier

Kleingruppenforschung, in jenen abstrakten Handlungs- und Interaktionsinseln der

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22 )1. Der Bruch

jektivismus ist Voraussetzung nicht nur dafür, daß die objektivierte Wahrheitder Subjekte begriffen werden kann, sondern auch dafür, daß die gelebteBeziehung der Subjekte zu ihrer objektivierten Wahrheit im Kontext einesSystems von objektiven Beziehungen erklärt werden kann.33

1.3 Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen

Zwar ist das Prinzip der Nicht-Bewußtheit lediglich die Kehrseite des Prinzipsdes Primats der Relationen, doch sollte letzteres von sich aus schon zurAblehnung aller Versuche führen, die Wahrheit eines kulturellen Phänomensunabhängig vom System der historischen und sozialen Beziehungen zu defi-nieren, in das es eingefügt ist. Vielfach kritisiert, überlebt der Begriff dermenschlichen Natur, dieser einfachsten und natürlichsten aller Naturen, dochimmer wieder in Gestalt von Konzepten, die sie gewissermaßen in Münzeschlagen, wie die "Tendenzen" oder "Neigungen" bestimmter Wirtschafts-wissenschaftler, die "Motivationen" der Sozialpsychologie oder die "BedLirf-nisse" und "Erfordernisse" der funktionalistischen Analyse. Die mit demNaturbegriff einhergehende Wesensphilosophie bleibt auch noch beim naivenGebrauch analytischer Kategorien wie Geschlecht, Alter, Rasse oder intellek-tuelle Fähigkeiten virulent, das heißt dann, wenn diese Merkmale als glei-

Gesamtgesellschaft. Die Erhebungen sind Legion, in denen die in vitro-Untersuchungpsychologischer Konflikte zwischen Cliquen die Analyse der objektiven Verhältnissezwischen sozialen Kräften ersetzt.

3J War es aus pädagogischen Gründen notwendig, den vorgängigen Charakter der Ob-jektivierung hervorzuheben, weil jedes soziologische Vorgehen nur auf diese \'\'eise mitder Spontansoziologie brechen kann, so steht doch vollkommen außer Diskussion, diesoziologische Erklärung auf die Dimension eines Objektivismus zu verkürzen: "DieSoziologie hat die Überwindung der fiktiven Opposition, wie Subjekrivisten undObjektivisten sie willkürlich entstehen lassen, zu ihrer Voraussetzung. Soziologie alsobjektive Wissenschaft ist deshalb möglich, weil es äußere, notwendige und vomindividuellen Willen unabhängige Beziehungen gibt, die, wenn man so will, unbewußtsind (in dem Sinne, daß sie sich nicht der einfachen Reflexion erschließen) und sichnur über objektive Beobachtung und Experiment dingfest machen lassen [...]. Dochim Unrerschied zur Naturwissenschaft kann sich eine allgemeine Anthropologie nichtmit der Rekonsrruktion objektiver Beziehungen zufriedengeben, da die Erfahrung derBedeutung dieser Beziehungen zum vollständigen Sinn dieser Erfahrungen dazugehört:Selbst eine Soziologie, auf die nicht der geringste Verdacht des Subjektivismus fällt,bedient sich vermittelnder Begriffe zwischen Subjektivem und Objektivem wie Ent-fremdung, Einstellung oder Ethos. So ist es ihre Aufgabe, jenes System von Beziehun-gen zu konstruieren, das sowohl den objektiven Sinn der nach feststellbaren Regel-mäßigkeiten organisierten Verhaltensformen als auch die einzelnen Beziehungen um-schließt, welche die Subjekte zu ihren objektiven Existenzbedingungen und demobjektiven Sinn ihres Handels unterhalten, einem Sinn, dessen Objekt sie sind, nachdemman sie seiner beraubt hat. Anders gesagt, die Deskription der objektivierten Subjek-tivität verweist auf die Deskription eier Verinnerlichung der Objektivität." (P. Bourdieu,"Einleitung", in: Bourdieu et alii, Eine illegitime Kunst, Die sozialen Cebraiabsweisen derPhotographie, übers. von U. Rennen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981, S. 12 ff.)

Wissenschaftlicher Tatbestand geien die Illusion unmittelbaren Wissens 23

ehermaßen notwendige und ewige natürliche Gegebenheiten begriffen wer-den, deren Wirken sich angeblich unter Abstraktion von den historischenund sozialen Bedingungen, die sie für eine gegebene Gesellschaft zu einembestimmten historischen Zeitpunkt in ihrer Besonderheit konstituieren, er-fassen läßt.

Tatsächlich wird das Konzept der menschlichen Natur immer dann ver-wandt, wenn entweder gegen Marxens Verbot, historisch Geschaffenes durchdie Rückführung auf Natur festzuschreiben, oder aber gegen 'DurkheimsForderung verstoßen wird, Soziales durch Soziales allein zu erklären. [K.Marx, Text Nr. 11; E. Dvrebeim, Text Nr. 12] Durkheirns Formel behältihren Wert, vorausgesetzt, sie wird weder als Einklagen eines "Realobjektes"- real unterschieden von dem der anderen Humanwissenschaften - nochals die soziologische Anmaßung verstanden, mit den Mitteln der Soziologieüber alle Aspekte der menschlichen Wirklichkeit Aufschluß geben zu können,sondern lediglich als nachdrückliche Erinnerung an die methodelogischeEntscheidung, nicht vorschnell den Anspruch auf soziologische Erklärungfallenzulassen oder, in anderen Worten, so lange nicht auf ein von eineranderen Wissenschaft - etwa der Biologie oder der Psychologie - entlehntesErklärungsprinzip zurückzugreifen, als die genuin soziologischen Methodendes Erklärens nicht vollkommen ausgeschöpft wurden. Ansonsten setzt mansich durch den Rekurs auf Faktoren, die ihrer Bestimmung nach geschichtlichund kulturell übergreifend sind, nicht nur der Gefahr aus, das als Erklärungauszugeben, was allererst der Erklärung bedarf, sondern kann im besten Fallauch nur verständlich machen, worin die Institutionen sich ähnlich sind -womit gerade unter den Tisch fallt, was nach Levi-Strauss deren historischeBesonderheit und kulturelle Eigenheit ausmacht: "Wir haben hier eine Dis-ziplin, deren erstes, wenn nicht einziges Ziel es sein sollte, Verschiedenheitenzu analysieren und zu interpretieren, die sich aber alle Probleme spart undnur noch von Ähnlichkeiten berichtet. Im sei ben Augenblick verliert sie jedeMöglichkeit, das Allgemeine, zu dem sie hinstrebt, von dem Banalen, mitdem sie sich begnügt, zu unterscheiden.":" [M. Weber, Text Nr. 13]

Um dezidiert gegen jene Wesensphilosophie anzugehen, deren Verfüh-rungskraft weitgehend auf der Denkschablone beruht, die da lautet: "Es gibtnichts Neues unter der Sonne", reicht es allerdings nicht hin, die dem sozialenMenschen in seiner Universalität zugesprochenen Merkmale als "Residuen"oder als durch die Analyse konkreter Gesellschaften freigelegte Invariantendarzustellen: Von Pareto bis Ludwig von Mises fehlt es nicht an - scheinbarhistorischen - Analysen, die sich darauf beschränken, soziologisch derartunzulänglich fundierte Erklärungsprinzipien wie die "Neigung zur Gründungvon Vereinigungen", "das Bedürfnis, Gefühle durch äußere Handlungen zumanifestieren", wie Ressentiment, Streben nach Prestige, Unstillbarkeit von

34 C. Levi-Strauss, Strllktllrale Anthropologie, a. a. 0., S. 27.

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24 1. Der Bruch

Bedürfnissen oder die libido dominandi als soziologische Erklärungen zu apo-srrophieren.P Es bliebe unverständlich, daß Soziologen derart häufig ohneweitere Erläuterung Erklärungen anbieten, zu denen sie wirklich nur ausschierer Verzweiflung greifen dürften, und sich damit selbst verleugnen kämenicht zu der Versuchung, welche die Erklärung durch öffentlich deklarierteMeinungen ausübt, noch die Verführung einer Erklärung durch das Einfachehinzu, deren "wissenschaftstheoretische Ineffizienz" bereits Bachela rd an-prangerte.

1.4 Spontansoziologie und die Macht der Sprache

Ist die Soziologie eine Wissenschaft wie alle anderen, die nur besondereSchwierigkeiten hat, eine \X'issenschaft wie alle anderen zu sein, so liegt dieswesentlich an dem spezifischen Verhältnis, das zwischen wissenschaftlicherund naiver Erfahrung der sozialen Welt besteht und zwischen den naivenund wissenschaftlichen A•.ußerungsforrnen dieser unterschiedlichen Erfahrun-gen. Um mit den von der Spontansoziologie vorgegebenen trügerischenKonstruktionen Schluß zu machen, ist es in der Tat nicht schon damit getan,daß man die Illusion der Transparenz entlarvt und sich auf die Prinzipienberuft, die die Voran nahmen der Spontansoziologie überwinden helfen. DieAlltagssprache, diese "Hinterlassenschaft von \'('örtern, Hinreriasscnschafrvon Ideen", wie Brunschvigs Titel lautet, die, weil alltäglich, nicht mehrwahrgenommen wird, birgt in ihrem Wortschatz wie ihrer Syntax eine gleich-sam versteinerte Philosophie des Sozialen, die aus den umgangssprachlichen\'('örtern oder den damit gebildeten komplexen Ausdrücken, die der Soziologezwangsläufig benutzt, immer wieder zum Leben erweckt werden kann. DenEindruck wissenschaftlicher Ausarbeitung vermittelnd, können sich die Vor-begriffe im soziologischen Diskurs ausbreiten, ohne die Glaubwürdigkeit zuverlieren, die ihnen ihre Herkunft verleiht: Vor der Ansteckungsgefahr derSoziologie durch die Sponransoziologie zu warnen bliebe verbale Beschwö-

:;5 Als Beleg für die These, daß die kritische Einstellung oder Stimmung gegeniiber demkapit'llislllus ausschließlich durch das Ressentiment von in ihrem sozialen Ehrgeizfrustrierten Menschen morivierr werden kann, muß von i\Iises unabhängig: von jedwedersoziologischen Spezifizierung eine Neigung zur Selbsrreduferrigung verstarkr durchAufstiegsstreben unterstellen. Weil viele Menschen aufgrund natürlicher Unzulänglich-keiten (lIdie biologischen Eigenschaften, mit denen ein Mensch ausgestattet ist, be-grenzen sehr stark das Feld, innerhalb dessen er anderen Dienste erweisen kann")angeblich ihre Aufsriegschance» verfehlt haben, kehren sie nun gegen den Kapitalismusdas aus ihrem frustrierten Ehrgeiz geborene Ressentiment. Kurzum, wie es laut Leibnizauf ewig zum \'liesen Cisars gehört, den Rubikon zu überschreiten, so soll das Schicksaljedes sozialen Subjekts in seiner (nach ihren psychologischen und manchmal biologi-schen Merkmalen definierten) Natur eingeschlossen sein. Der Essentialismus mündetfolgerichtig in eine "Sozioclizee" (L. von Mises, The ~-lllti-(apit"Ii.,.ti( ,\f""t,,/i~y, Princeron(N. ].J, Toronto, London, New York: Van Nostrand, '1956, S. 143.)

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rung, ginge damit nicht der Versuch einher, die epistemologische Wachsam-keit angemessen auszurüsten, um auf diese Weise die Kontamination derBegriffe durch die Vorbegriffe zu vermeiden. Der Ehrgeiz, die Alltagssprachedurch eine von Grund auf konstruierte und formalisierte, und deshalb per-fekte, Sprache zu ersetzen, birgt, weil häufig verfrüht, die Gefahr in sich,daß von der dringenderen Analyse der Logik der Alltagssprache abgelenktwird. Doch erst durch diese Analyse wird der Soziologe befähigt, die all-tao-ssprachlichen Wörter innerhalb eines Systems von explizit definierten undm~thodisch gereinigten Begriffe!) neu zu bestimmen und zugleich die l-'::ate-gorien, Problemstellungen und Schemata, die die wissenschaftliche Spracheder Alltagssprache entlehnt und die unter der wissenschaftlichen Fassade eierformalisierten Sprache sich immer wieder einzuschleichen droben, kritisch zuhinterfragen. "Die genaue Untersuchung der Grammatik eines Wortesschwächt die Position bestimmter festgelegter Normen unseres Ausdrucks,die uns davon abhielten, Tatsachen vorurteilsfrei zu sehen", schreibt \Vitt-genstein. ,)v1it unserer Untersuchung haben wir versucht, dieses Vorurteil,das uns zwingt zu denken, daß die Tatsachen bestimmten, in unserer Spracheverankerten Bildern entsprechen müssen, zu beseitigen."3(, Wird die Alltags-sprache, dieses primäre Mittel zur "Konstruktion der Welt der Gegen-stände",37 nicht einer methodischen Kritik unterzogen, setzt man sich derGefahr aus, in der und durch die Alltagssprache prä konstruierte Gegenständeals gegeben hinzunehmen. Das Bemühen um eine strenge Definition bleibtso lange nutzlos, ja sogar trügerisch, als das vereinheitlichende Prinzip derdefinierten Gegenstände nicht kritisch hinterfragt wurde. 3~ Wie die Philose-

IItIiI(1

)(, L. \'\'irtgensrein, Das BI"m Buch. Eine Philosophische Betrachtllll,~ (Das Braune Bnch }.Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt arn Moin: Suhrkarnp, 1984, S. 73f.

\7 Vgl. E. Cassi rer, "Le langage er la construction du rnonde des objets", jOl/mal dePD'fhologie normale et pathologiqlle, 30 (1933), S. 18-44; und "The lntluence of Langnageupon rhe Developmenr of Scientific Thought", The joumal 01 Phi/oiopkr, 33 (1936), S.309-327.

'" M. Chastaing verlängert Wirtgensteins Kritik an den Begriffsspielereien als Folge der\~'ortspiele mit dem WOrt "Spiel" (vgl. M. Chasraing, "Jouer n'esr pas jouer", [ourna!de ps)'(bolo,~ie norsraie et patboiogique, Nr. 3 (Juli-Sept. 1959), S. 303-326). ehastaingslogische und linguistische Kritik des Begriffs "Spiel" ließe sich nahezu vollständig aufden der "Freizeit" übertragen, auf die Verwendung, die gewöhnlich von ihm gemachtwird, und auf die ,,\'V'esensbeS[itnlTIUngen" von seircn gewisser Soziologen: }!"ErsetzenSie den alten Begriff ,Spiel' durch den Neologismus der .Freizeir'. Tauschen Sie alsoin einigen klassischen Beschreibungen von Spielen den .Spielr rieb' oder die ,freieTätigkeit' des Spielers durch eine als gpvollt qualifizierte oder als Optio» des lndiridmo»:eingestufte Freizeirgesraltung, ohne sich U111 gelenkte Freizeit oder bezahlten Urlaubnoch um den alten Gegensatz licel/libet zu kümmern. Ersetzen Sie das ,Vergnligen amSpielen' durch die hedonistische Zielsetzung der Freizeitgestalrungen, passen Sie dabeiauf, nicht Trister SonN/ag, dann gar leb hasse die JOtJlI'{J~W anzustimmen. I.....rsetzen Sieschließlich einige zweckfreie Spiele durch Freizeitaktivitären, die sich jeflJeils tliierutilitaristischen Fil/alität entfalten, falls Sie die Gartenarbeit der Arbeiter und Angesrell-ten , wenn nicht die .Basrelei' vergessen können" (ebenda).

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phen, die sich die Suche nach einer wesensmäßigen Bestimmung des "Spiels"unter dem Vorwand aufzwingen lassen, die Alltagssprache besäße einengemeinsamen Namen für "Kinderspiele, Olympische Spiele, mathematischeSpiele Lind Wortspiele", so folgen auch die Soziologen, die ihre wissenschaft-liche Fragestellung um Termini aus dem vertrauren Wortschatz der Alltags-sprache aufbauen, nur der Sprache, die ihnen ihre. Gegenstände vorgibt -gerade dann, wenn sie meinen, sich lediglich dem empirisch "Gegebenen" zuunterwerfen. Die von der Umgangssprache vorgenommenen Gliederungensind nicht die einzigen unbewußt und unkontrolliert wirkenden Prakonstruk-tionen, die in die Soziologie einzudringen drohen; und so fände jene Technikdes Bruchs, wie sie die logische Kritik der Spontansoziologie darstellt, in derBeschreibung der Krankheiten der Alltagssprache, die zumindest ansatzweisemit \Vittgensteins spätem Werk vorliegt, sicherlich ein unersetzliches Instru-ment. [N!. Chastain,g, Text Nr. 14]

Eine solche Kritik würde den Soziologen befähigen, den Bedeutungshof(fringe 0/ meaning, wie William James ihn nennt) um die umgangssprachlichen\Vörter herum aufzulösen und die frei nottierenden Bedeutungen aller -selbst der dem Anschein nach 'abgestorbenen - Metaphern zu kontrollieren,die seine Aussagen nur allzu leicht in einen anderen Zusammenhang stellenals in den von ihm vorgesehenen. Nehmen wir einige dieser Bilder, die nachdem - biologischen oder mechanischen - Zusammenhang, auf den sieverweisen, oder entsprechend den von ihnen suggerierten impliziten Philo-sophien des Sozialen klassifiziert werden könnten: Gleichgewicht, Druck,Kraft, Spannung, Reflex, Wurzel, Körper, Zelle, Absonderung, Wachstum,Regulierung, Schwangerschaft, Absterben usw, Diese Interpretationsmusrer,meistens der Physik oder der Biologie entnommen, bergen die Gefahr insich, unter dem Deckmantel der Metapher und Homonymie eine inadäquatePhilosophie des sozialen Lebens zu transportieren, vor allem aber die Suchenach einer spezifischen Erklärung zu hintertreiben, da sie auf billige \Veiseeine Erklärung bereits zu geben scheinen.:" [G. Canglii/hcIII, Text Nr. 15] Sokönnte eine Psychoanalyse des soziologischen Geistes vermutlich in mancherBeschreibung des revolutionären Prozesses als einer auf Unterdrückung fol-genden Explosion einem nur unwesentlich transponierten mechanischenSchema auf die Spur kommen. Auch die Studien zur kulturellen Diffusiongreifen meist eher unbewußt denn bewußt auf das Modell des sich ausbrei-tenden Ölflecks zurück, um damit über das Verbreitungsgebiet und denVerbreitungsrhythmus eines Kulturmerkmals Aufschluß zu geben, Es wäreein Beitrag zur Reinigung des wissenschaftlichen Geistes, würde man einmal

39 Das ist im übrigen \'(!urst wider \Vurst: \Venn die Soziologie unter dem unkontrolliertenImport biologischer Denkweisen und Vorstellungen gelitten hat, so mußte die Biologiezu einer anderen Zeit Begriffe wie "Zelle" und "Gewebe" von ihren moralisch,politischen Begriffen reinigen (vgL G, Catwtilhelll, Text NI', lS).

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konkret die Logik und die Funktionen solcher Schemata wie dem der "Ver-änderung des Maßstabs" untersuchen, mit dem die Übertragung von Beob-achtungen oder Thesen, die auf der Ebene von Kleingruppen Gültigkeithaben, auf die Ebene der Gesamtgesellschaft oder der Gesellschaft im Welt-maßstab rechtfertigt wird; oder auch solcher Schemata wie der "Manipula-tion" und der "Verschwörung", die, letztlich auf der Illusion der Transparenzberuhend, nach tiefgründiger, weil Verborgenes aufdeckender, Erklärungaussehen und darüberhinaus auch deshalb durchaus befriedigend sind, weilsie Geheimbünde bloßstellen; oder schließlich auch eines Denkmusters wieder "Fernwirkung", das dazu verleitet, sich die Wirkung der modernenKommunikationsmedien in den Kategorien des magischen Denkens vorzu-stellen, 40

Wie man sieht, finden sich die meisten dieser metaphorischen Schemataebenso in den naiven wie in den wissenschaftlichen Äußerungen; und in derTat verdankt sich ihre pseudo-explikarive Leistung genau dieser doppeltenZugehörigkeit. Wie Yvon Belaval sagt: "Wenn sie uns überzeugen, danndeshalb, weil sie uns ohne' unser Wissen zwischen Bild und Gedanken,zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten gleiten, hin- und hergehenlassen. Im Bunde mit der Einbildungskraft überträgt die Sprache unmerklichdie Gewißheit der sinnlichen Evidenz auf die Gewißheit der logischen Evi-denz".:" Ihre Herkunft aus der Umgangssprache unter dem Zierat des wis-senschaftlichen Jargons kaschierend, entziehen sich diese Misch-Schemata derWiderlegung, da sie entweder sofort eine allgemeine Erklärung anbieten unddamit vertraute Erfahrungen wachrufen (so kann ein Begriff wie "Massen-gesellschaft" z. B, seine Mitbedeutungen aus der Erfahrung des großstädti-schen Verkehrschaos schöpfen, beschwört ein Terminus wie "Mutation"häufig nichts anderes als die banale Erfahrung des Beispiellosen, Ausgefal-lenen), oder aber auf eine naive Geschichtsphilosophie verweisen, wie -dasSchema der zyklischen Wiederkehr, wenn es schlicht um die Abfolge derJahreszeiten geht, oder wie das funktionalistische Schema, wenn dessen Gehaltsich auf das "untersuchen für" eines naiven Finalismus beschrän kt, oderschließlich, indem sie bereits vulgarisierre wissenschaftliche Denkmuster auf-greifen, z. B. im Falle des Soziogramms, wenn zu dessen Verständnis dasbereits vorhandene Bild der ineinander verhakten Atome benutzt wird. Fürdie Physik stellte Duhem fest, daß der Wissenschaftler stets der Gefahrausgesetzt ist, in den Evidenzen des Alltagsverstandes die Abfälle frühererund von der Wisserlschaft dort abgelagerter Theorien wieder zu verwetten;da die soziologischen Begriffe und Theorien gewissermaßen dazu vorbe-

4U Chomsky zeigt, daß Skinners Vokabular, das von den technischen Termini einen bloßmetaphorischen Gebrauch macht, dann seine Inkonsistenz erweist, wenn man es einerlogischen und linguistischen Kritik unterzieht (N, Chomsky, Rezension von B, F.Skinner, "Verbal Behavior", in: Langllage, 35 (1959), S, 16-58,)

41 Y. Belaval, Les philosophes et lenr langage, Paris: Gallimard, 1952, S, 23,

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stimmt sind, öffentliche Verbreitung zu finden, läuft der Soziologe mehr alsjeder andere \X'issenschaftler Gefahr, "nur Stücke aus dem Schatze der all-oemeincn Erkenntnis wieder entnommen und in theoretische Wissenschaftb

verwandelt (ZLl) haben, die die theoretische Wissenschaft selbst diesem Schatzebeigefügt hatte. ".2

\Xlie allerdings der Gebrauch selbst mechanistischer Paradigmen zu päd-agogischen oder heuristischen Zwecken in der modernen Physik belegt, mußnicht aus Gründen der wissenschaftlichen Strenge auf jede Art von Erklärungoder Erläuterung verzichtet werden, die mit Analogien arbeitet (wenn sieauch mit Verstand und Methode anzuwenden sind). Wie sich die physikali-schen \Vissenschatten kategorisch von den anirnistischen Vorstellungen vonMaterie und Wirkung auf die Materie absetzen mußten, so müssen dieSozialwissenschaften einen "wissenschaftstheoretischen Schnitt" vollziehenund auf diese \X'eise die wissenschaftliche Interpretation von allen artifiziali-stischen oder anthropomorphen Deutungen der Funktionsweise eies Sozialentrennen: Nur wenn die von der soziologischen Erklärung benutzten Schematavollständig explizit gemacht werden, üläßt sich die Konrarninarion vermeiden,denen noch die am stärksten gereinigten Schemata dann ausgesetzt bleiben,wenn sie strukturelle Affinitäten mit den Schemata des Alltags aufweisen.Bachelord zeigt, daß die Nähmaschine erst erfunden werden konnte, als manaufhörte, die Handbewegungen der Näherin nachzuahmen: Eine der nach-haltigsten Lehren, die die Soziologie aus der richtigen Vorstellung von der\X1issenschaftstheorie eier Naturwissenschaften ziehen könnte, bestünde si-cherlich darin, sich in jedem Augenblick zu vergewissern, ob, sie wirklichNähmaschinen konstruiert, anstarr mehr schlecht als recht die spontanenGesten der nai ven Praxis zu übertragen.

1.5 Die Versuchung der Prophetie

Weil es ihr schwerer fällt als anderen Wissenschaften, sich von der Illusionder Transparenz freizumachen und den Bruch mit den Vorbegriffen unwi-derrutlich zu machen; weil sie sich häufig nolens rolens vor die Aufgabe gestelltsieht, auf die letzten Fragen nach der Zukunft: der Zivilisation eine Antwortzu geben, ist die Soziologie heute prädisponiert, mit einem immer den Kreisder Fachkollegen sprengenden Publikum eine kaum geklärte Beziehung zuunterhalten, die nur allzuleicht die Logik jener Beziehung aufnimmt, diezwischen dem Erfolgsautor und seiner Lesergemeinde besteht oder manchmal

,1 P. Duhern, Ziel und Slmktilr der physika/ischen Theorien, übers. von F. Adler, Hamburg:Meiner, 1978, S. 354.

,.I Für diese semantische Kontrolle kann sich die Soziologie nicht nur mit dem ausrüsten,was Bachelard als Psychoanalyse der Erkenntnis bezeichnete, oder mit einer rein logisch-linguistischen Kritik, sondern auch mir einer Soziologie des sozialen Gebrauchs derlnrerpretationsrnuster des Sozialen.

Wissenscbaftlicher Tatbestano e)gen die Illusion unmittelbaren Wissens 29sogar die, die es zwischen dem Propheten und seiner Gefolgschaft gibt. Mehrals jeder andere Experte ist der Soziologe dem vieldeutigen und ambivalentenUrteil der Nicht-Experten ausgesetzt, die sich durchaus in der Lage sehen,den vorgeschlagenen Analysen Glauben zu schenken, sofern diese den Vor-annahmen ihrer Spontansoziologie entgegenkommen, die aber gerade deshalbauch gerne die Geltung einer \'V'issenschaft anzweifeln und diese nur in demMaße schätzen, wie sie Überzeugungen des gesunden Menschen verstarrdesreproduziert. In der Tat: Beschränkt sich der Soziologe darauf, die· Refle-xionsgegenstände des Alltagsverstandes und die herkömmliche Art und Weiseder Reflexion dieser Gegenstände bloß zu übernehmen, hat er der alltagsprak-tischen Gewißheit nichts entgegenzusetzen, wonach es Sache jedes Menschensei, über alles Menschliche zu sprechen und jede - auch die wissenschaftliche- Aussage an der Elle des Menschlichen zu messen. Wie sollte sich auchnicht jeder wie ein kleiner Soziologe fühlen, da doch die Analysen der"Soziologen" sich vollkommen mit den Äußerungen des Alltagsgeredes dek-ken und die Aussage des Analytikers und die analysierten Äußerungen nurnoch durch die brüchige Schranke der "Anführungszeichen" getrennt sind?Es ist kein Zufall, wenn das Banner des "Humanismus" - unter dem sich 'die Anhänger der Auffassung, daß Mensch sein genüge, um Soziologe zusein, mit jenen im trauten Kreise treffen, die zur Soziologie kommen, um dieallzu menschliche Leidenschaft für das "Humane" zu befriedigen - als Zei-chen zum Sammeln für alle Widerstände gegen die objektive Soziologie dient,mögen sie sich aus der Illusion der Reflcxivitar speisen oder aus dem Insi-stieren auf den unantastbaren Rechten des freien und schöpferischen Subjekts.

Wer es als Soziologe heute an der notwendigen Distanz zu seinem Gegen-stand fehlen läßt, ist immer kurz davor, sich komplizenhafter Nachsicht fürdie eschatologischen Hoffnungen schuldig zu machen, die das breite intellek-tuelle Publikum heutzutage gerne auf die "Humanwissenschaften" _ dieangemessener als Wissenschaften vom Menschen zu bezeichnen wären _überträgt. Sobitld der Soziologe es akzeptiert, sein Objekt und die Funktionenseines Diskurses nach den Anforderungen des Publikums zu definieren unddamit die Anthropologie als ein System von umfassenden Antworten auf dieletzten Fragen nach dem Menschen und dessen Geschick bereitzustellenmacht er sich zum Propheten, selbst wenn Stil und Thematik seiner Borschafrvariieren je nachdem, ob er als "staatlich besoldeter r] oder privi legierter r]kleine[rJ Prophet", als weiser Meister die drängenden, beunruhigenden Frageneines studentischen Auditoriums nach geistigem, kulturellem oder politischemHeil beantwortet, ob er jene theoretische Politik praktiziert, die C. W. Millsden von ihm so genannten "Staatsmännern" der Wissenschaft zuschreibt unddas kleine Reich der Begriffe zu vereinheitlichen sucht, über die und mitdenen er zu herrschen gedenkt, oder ob er als kleiner Außenseiterprophet demgroßen Publikum die Illusion gibt, Zugang zu den letzten Geheimnissen derWissenschaften zu haben. [AI. Ir'eber, Text Nr. 16,. B. M. Beryer, Text Nr. 17]

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