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Zwangsheirat ächten – Zwangsehen verhindern! Ein Beispiel Ayses Klassenlehrerin fällt auf, dass die 15-Jährige außerhalb der Schulzeit das Elternhaus nicht verlassen darf. Sie darf auch keine Freundinnen besuchen. Der Lehrerin gelingt es nicht, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Ayse beklagt sich nach anfänglichem Zögern bei der Lehrerin auch darüber, dass sie geschlagen wird, wenn sie trotz des Verbots das Elternhaus verlassen will. Nach Rücksprache mit den innerschulischen Beratungs- und Unterstützungsinstanzen wendet sich die Lehrerin richtigerweise an das Jugendamt und bittet um Überprüfung der Zu- stände im Haushalt der Eltern. Ayse hat schließlich von einer Frei- heitsberaubung und vorsätzlichen Körperverletzung berichtet. Hier darf nicht weggeschaut werden. Dem Jugendamt gelingt es, mit Ayse tatsächlich in der Schule ins Gespräch zu kommen. Sie bestätigt die Angaben der Lehrerin und er- wähnt beiläufig, dass ihre Eltern mit einem wesentlich älteren Cousin die Heirat mit Ayse vereinbart haben. Ayse möchte diese Hochzeit nicht. Bei einem Hausbesuch der Jugendamtsmitarbeiterin reagieren die Eltern empört und verbitten sich jede Einmischung. Das Jugendamt stellt für Ayse den Kontakt her zu einer geeigneten örtlichen Beratungsstelle her – nach Absprache über das für ganz Niedersachsen geltende Krisentelefon Tel. 08 00 - 0 66 78 88 oder per E-Mail: [email protected]. Nach Beratung entscheidet Ayse sich, im Elternhaus zu bleiben. Sie möchte aber dennoch weder heiraten noch ständig zu Hause bleiben und Gewalt erfahren. Das Jugendamt schaltet das Familiengericht ein. Das Familiengericht wird immer dann tätig, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. Zum Schutz des Kindes kann es vielfältige Maßnahmen ergreifen: Die Handlungsmöglichkeiten reichen von der Regelung einzelner Angelegenheiten wie Pass-/Ausweisregelungen bzw. Schulangelegenheiten bis hin zur Herausnahme des Kindes aus dem Elternhaushalt. Das Familiengericht kann auch ohne mündliche Verhandlung vorläufige Regelungen zum Schutz des Kindes treffen. Auch die Weitergabe von Informationen an die Eltern kann unterblei- ben, wenn sonst die Sicherheit des Kindes gefährdet wird. Das Familiengericht macht einen schnellen Termin, zu dem es Ayse, ihre Eltern und das Jugendamt lädt. Außerdem wird für Ayse eine Ver- fahrenspflegerin (Anwältin des Kindes) bestellt. Im Termin macht das Familiengericht den Eltern deutlich, dass Ayse aus der Familie herausgenommen werden könnte, wenn nicht die Rechte des Kindes geschützt werden. Es wird mit den Eltern vereinbart, dass Ayse montags und mitt- wochs am Nachmittag von 15–18 Uhr bestimmte Freundinnen besu- chen darf. Die Eltern erklären sich auch damit einverstanden, dass das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin unangemeldete Testbesuche machen dürfen, um die Einhaltung der Vereinbarung zu überwachen. Außerdem wird im allseitigen Einverständnis der Einsatz eines tür- kischen Familienhelfers vereinbart. Ferner verpflichten sich die Eltern, Ayses Paß beim Jugendamt zu hinterlegen und die arrangierte Heirat abzusagen. Ayse darf weiterhin Kontakt zur Beratungsstelle halten. Handlungsmöglichkeiten Es sollte schnell gehandelt werden. Je früher sich die Betroffene wehrt, desto größer ist die Chance eine Zwangsehe zu verhindern. Wenn die Versprechen gegenüber dem Bräutigam gegeben und die Verwandtschaft über die bevorstehende Hochzeit informiert ist, wird der Gesichtsverlust für viele Familien unerträglich. Wenn Ihnen also auffallen sollte, dass eine Schülerin im Unterricht oft unaufmerksam, verschlossen und nachdenklich ist, wenn viele Fehlzeiten und ein Leistungsabfall festzustellen sind, etc.: Führen Sie mit ihr ein persönliches Gespräch. Sollten Sie den konkreten Verdacht haben, dass es sich um eine Zwangsheirat handeln könnte, sollte der Schülerin deutlich ge- macht werden, dass die Situation nicht so ausweglos ist wie sie zunächst erscheint, denn es gibt Hilfsangebote. Wenden Sie sich an das betroffene Mädchen, nicht an die Eltern oder die Familie. Möglicherweise ist das Mädchen Ihnen gegenüber verschlossen und Sie stoßen auf Widerstände. In diesem Fall können Sie ver- suchen, das Gespräch mit engen Freundinnen zu suchen, dabei sollten Sie aber äußerst vorsichtig und diskret sein. Nutzen Sie die innerschulischen Unterstützungs- und Beratungs- möglichkeiten (Beratungslehrkraft, Sozialpädagogin/- pädagoge, Schulleitung, ggfs. herkunftssprachliche Lehrkraft). Die Möglichkeiten eines pädagogischen Gesprächs an dieser Stelle sind begrenzt. Familiengerichte werden besser gehört und haben weitreichendere Einflussmöglichkeiten. Wenden Sie sich an das „Nds. Krisentelefon GEGEN Zwangsheirat / kargah e.V.“, andere Beratungsstellen, Mädchenhäuser oder Ju- gendämter, um Informationen einzuholen und unter Umständen einen Termin zu vereinbaren. Hier können Ihnen Ratschläge für das weitere Vorgehen mit auf den Weg gegeben werden. Krisentelefon GEGEN Zwangsheirat Niedersachsen / kargah e.V. Tel.: 08 00 - 0 66 78 88 (Anruf kostenlos) E-Mail: [email protected] Kontakte Hier finden Sie die Adressen und Telefonnummern der Frauenhäuser, Gewaltberatungsstellen, Beratungs- und Interventionsstellen sowie der Opferhilfebüros in Ihrer Region: http://www.ms.niedersachsen. de/master/C739637_N2889654_L20_D0_I674 Sämtliche Beratungsstellen für Mädchen in Niedersachsen lassen sich problemlos auf der folgenden Internetseite finden: http://www. kinderschutz-niedersachsen.de/index.cfm?17DDA0F2E08140F9BABC 6AF00A0CBB7F Materialien Der Film „Ich wehre mich gegen Zwangsehe – ein nicht alltägliches Beispiel“ sowie weitere Informationen zum „Krisentelefon Gegen Zwangsheirat“ sind über Kargah e.V. zu beziehen: www.kargah.de/ zwangsheirat Erstmalig steht ein von TERRE DES FEMMES herausgegebener „Hilfs- leitfaden für die Arbeit mit Betroffenen im Kampf gegen Zwangsheirat und Ehrverbrechen“ (März 2008) zur Verfügung. Als PDF-Dokument herunterzuladen bei: www.terres-des-femmes.de Der Flyer mit der kostenlosen Telefonnummer des Krisentelefons Zwangsheirat und weiteren Infos steht in den Sprachen Türkisch- Deutsch, Arabisch-Deutsch und Kurdisch-Deutsch zur Verfügung und kann beim Nds. Sozialministerium unter folgender E-Mail-Adresse kostenlos bestellt werden: [email protected] Worum es geht Von Zwangsheirat Betroffene befinden sich in einem schwierigen Konflikt zwischen den eigenen Vorstellungen und denen der Eltern. Deshalb fühlen sich in vielen Fällen die betroffenen Mädchen und Frauen (in seltenen Fällen auch junge Männer), aber ebenso die außenstehenden Personen, die von der Zwangsheirat erfahren haben, zunächst einmal hilflos. Die Informationen in dieser Beilage sollen dazu beitragen, für dieses schwierige Thema zu sensibilisieren, zielführende Hinweise zur Prä- vention und Hilfe zu geben sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Zum Aushang! Beiheftung zum Schulverwaltungsblatt | Juli 2008 Niedersächsisches Kultusministerium Nach Abnahme: Ablage im SAMMELORDNER der Schule Gedruckt auf 100 % – absolut chlorfrei gebleichtem – Recyclingpapier Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Claudia Schanz und Horst Roselieb (MK) Zwangsheirat und Zwangsehe sind Menschenrechtsverletzungen! Sie verstoßen u. a. gegen Artikel 1 und Artikel 6 des Grundgesetzes und sind nach dem Strafgesetzbuch strafbare Handlungen. Schule Jugendliche Jugendamt Beratungsstelle Freunde / Nachbarn Familiengericht Der Schutz von Jugendlichen kann nur durch das Zusammenwirken aller beteiligten Professionen gelingen

Zwangsheirat ¤chten – Zwangsehen verhindern!

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Zwangsheirat ächten – Zwangsehen verhindern!

Ein Beispiel

Ayses Klassenlehrerin fällt auf, dass die 15-Jährige außerhalb der Schulzeit das Elternhaus nicht verlassen darf. Sie darf auch keine Freundinnen besuchen.

Der Lehrerin gelingt es nicht, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen.Ayse beklagt sich nach anfänglichem Zögern bei der Lehrerin auch

darüber, dass sie geschlagen wird, wenn sie trotz des Verbots das Elternhaus verlassen will. Nach Rücksprache mit den innerschulischen Beratungs- und Unterstützungsinstanzen wendet sich die Lehrerin richtigerweise an das Jugendamt und bittet um Überprüfung der Zu-stände im Haushalt der Eltern. Ayse hat schließlich von einer Frei-heitsberaubung und vorsätzlichen Körperverletzung berichtet. Hier darf nicht weggeschaut werden.

Dem Jugendamt gelingt es, mit Ayse tatsächlich in der Schule ins Gespräch zu kommen. Sie bestätigt die Angaben der Lehrerin und er-wähnt beiläufig, dass ihre Eltern mit einem wesentlich älteren Cousin die Heirat mit Ayse vereinbart haben.

Ayse möchte diese Hochzeit nicht.Bei einem Hausbesuch der Jugendamtsmitarbeiterin reagieren die

Eltern empört und verbitten sich jede Einmischung.Das Jugendamt stellt für Ayse den Kontakt her zu einer geeigneten

örtlichen Beratungsstelle her – nach Absprache über das für ganz Niedersachsen geltende Krisentelefon Tel. 08 00 - 0 66 78 88 oder per E-Mail: [email protected].

Nach Beratung entscheidet Ayse sich, im Elternhaus zu bleiben. Sie möchte aber dennoch weder heiraten noch ständig zu Hause bleiben und Gewalt erfahren.

Das Jugendamt schaltet das Familiengericht ein.Das Familiengericht wird immer dann tätig, wenn das Wohl des

Kindes gefährdet ist. Zum Schutz des Kindes kann es vielfältige Maßnahmen ergreifen: Die Handlungsmöglichkeiten reichen von der Regelung einzelner Angelegenheiten wie Pass-/Ausweisregelungen bzw. Schulangelegenheiten bis hin zur Herausnahme des Kindes aus dem Elternhaushalt. Das Familiengericht kann auch ohne mündliche Verhandlung vorläufige Regelungen zum Schutz des Kindes treffen. Auch die Weitergabe von Informationen an die Eltern kann unterblei-ben, wenn sonst die Sicherheit des Kindes gefährdet wird.

Das Familiengericht macht einen schnellen Termin, zu dem es Ayse, ihre Eltern und das Jugendamt lädt. Außerdem wird für Ayse eine Ver-fahrenspflegerin (Anwältin des Kindes) bestellt.

Im Termin macht das Familiengericht den Eltern deutlich, dass Ayse aus der Familie herausgenommen werden könnte, wenn nicht die Rechte des Kindes geschützt werden.

Es wird mit den Eltern vereinbart, dass Ayse montags und mitt-wochs am Nachmittag von 15–18 Uhr bestimmte Freundinnen besu-chen darf. Die Eltern erklären sich auch damit einverstanden, dass das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin unangemeldete Testbesuche machen dürfen, um die Einhaltung der Vereinbarung zu überwachen.

Außerdem wird im allseitigen Einverständnis der Einsatz eines tür-kischen Familienhelfers vereinbart. Ferner verpflichten sich die Eltern, Ayses Paß beim Jugendamt zu hinterlegen und die arrangierte Heirat abzusagen.

Ayse darf weiterhin Kontakt zur Beratungsstelle halten.

Handlungsmöglichkeiten

Es sollte schnell gehandelt werden. Je früher sich die Betroffene wehrt, desto größer ist die Chance eine Zwangsehe zu verhindern. Wenn die Versprechen gegenüber dem Bräutigam gegeben und die Verwandtschaft über die bevorstehende Hochzeit informiert ist, wird der Gesichtsverlust für viele Familien unerträglich.

Wenn Ihnen also auffallen sollte, dass eine Schülerin im Unterricht oft unaufmerksam, verschlossen und nachdenklich ist, wenn viele Fehlzeiten und ein Leistungsabfall festzustellen sind, etc.: • Führen Sie mit ihr ein persönliches Gespräch. • Sollten Sie den konkreten Verdacht haben, dass es sich um eine

Zwangsheirat handeln könnte, sollte der Schülerin deutlich ge-macht werden, dass die Situation nicht so ausweglos ist wie sie zunächst erscheint, denn es gibt Hilfsangebote.

• Wenden Sie sich an das betroffene Mädchen, nicht an die Eltern oder die Familie.

• Möglicherweise ist das Mädchen Ihnen gegenüber verschlossen und Sie stoßen auf Widerstände. In diesem Fall können Sie ver-suchen, das Gespräch mit engen Freundinnen zu suchen, dabei sollten Sie aber äußerst vorsichtig und diskret sein.

• Nutzen Sie die innerschulischen Unterstützungs- und Beratungs-möglichkeiten (Beratungslehrkraft, Sozialpädagogin/- pädagoge, Schulleitung, ggfs. herkunftssprachliche Lehrkraft).

• Die Möglichkeiten eines pädagogischen Gesprächs an dieser Stelle sind begrenzt. Familiengerichte werden besser gehört und haben weitreichendere Einflussmöglichkeiten.

• Wenden Sie sich an das „Nds. Krisentelefon GEGEN Zwangsheirat / kargah e.V.“, andere Beratungsstellen, Mädchenhäuser oder Ju-gendämter, um Informationen einzuholen und unter Umständen einen Termin zu vereinbaren. Hier können Ihnen Ratschläge für das weitere Vorgehen mit auf den Weg gegeben werden.

Krisentelefon GEGEN Zwangsheirat Niedersachsen / kargah e.V.Tel.: 08 00 - 0 66 78 88 (Anruf kostenlos)E-Mail: [email protected]

Kontakte

Hier finden Sie die Adressen und Telefonnummern der Frauenhäuser, Gewaltberatungsstellen, Beratungs- und Interventionsstellen sowie der Opferhilfebüros in Ihrer Region: http://www.ms.niedersachsen.de/master/C739637_N2889654_L20_D0_I674Sämtliche Beratungsstellen für Mädchen in Niedersachsen lassen sich problemlos auf der folgenden Internetseite finden: http://www.kinderschutz-niedersachsen.de/index.cfm?17DDA0F2E08140F9BABC6AF00A0CBB7F

Materialien

Der Film „Ich wehre mich gegen Zwangsehe – ein nicht alltägliches Beispiel“ sowie weitere Informationen zum „Krisentelefon Gegen Zwangsheirat“ sind über Kargah e.V. zu beziehen: www.kargah.de/zwangsheirat

Erstmalig steht ein von TERRE DES FEMMES herausgegebener „Hilfs-leitfaden für die Arbeit mit Betroffenen im Kampf gegen Zwangsheirat und Ehrverbrechen“ (März 2008) zur Verfügung. Als PDF-Dokument herunterzuladen bei: www.terres-des-femmes.de

Der Flyer mit der kostenlosen Telefonnummer des Krisentelefons Zwangsheirat und weiteren Infos steht in den Sprachen Türkisch-Deutsch, Arabisch-Deutsch und Kurdisch-Deutsch zur Verfügung und kann beim Nds. Sozialministerium unter folgender E-Mail-Adresse kostenlos bestellt werden: [email protected]

Worum es geht

Von Zwangsheirat Betroffene befinden sich in einem schwierigen Konflikt zwischen den eigenen Vorstellungen und denen der Eltern. Deshalb fühlen sich in vielen Fällen die betroffenen Mädchen und Frauen (in seltenen Fällen auch junge Männer), aber ebenso die außenstehenden Personen, die von der Zwangsheirat erfahren haben, zunächst einmal hilflos.

Die Informationen in dieser Beilage sollen dazu beitragen, für dieses schwierige Thema zu sensibilisieren, zielführende Hinweise zur Prä-vention und Hilfe zu geben sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Zum Aushang! Beiheftung zum Schulverwaltungsblatt | Juli 2008

Niedersächsisches Kultusministerium

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Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Claudia Schanz und Horst Roselieb (MK)

Zwangsheirat und Zwangsehe

sind Menschenrechtsverletzungen!

Sie verstoßen u. a. gegen Artikel 1 und Artikel 6 des Grundgesetzes

und sind nach dem Strafgesetzbuch strafbare Handlungen.

Schule

Jugendliche

Jugendamt

Beratungsstelle

Freunde / Nachbarn

Familiengericht

Der Schutz von Jugendlichen kann nur durch das Zusammenwirken aller beteiligten Professionen gelingen