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«Bindung – was die Welt zusammenhält»

Freitag, 25. August 2017 Universität Zürich, Standort Irchel

Sichere Bindungen: Offen für die Welt

Klaus E. & Karin Grossmann, Regensburg.

Offenheit für die Welt

Ist nötig für ein kreatives Leben

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Menschliche Kreativität allgemein

Etwas Neues und irgendwie wertvolles wird geschaffen

• Eine Idee: eine wissenschaftliche Theorie, eine musikalische Komposition, ein guter Witz…

• Ein Gegenstand oder Objekt: Eine Erfindung, ein literarisches Werk, eine Skulptur, ein Bild…

• Die Erschaffung neuer nützlicher “Produkte” (Mumford);

• Die Erschaffung von “irgend etwas originellem und wertvollem" (Sternberg)

Zahlreiche (über hundert) verschiedene Definitionen in Psychologie (akademisch und klinisch), Linguistik, in den Kognitions-, Erziehungs-, Geschichts-wissenschaften

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Kreativität und Offenheit für die (soziale) Welt

Kreativität braucht Begabung und eine empfängliche Welt

Interesse an Kreativität (Überblick): 1. Kreative Prozesse2. Entwicklung (Naturgeschichte) der Menschheit: Kreativität in

der Evolution3. Kreativität und Intelligenz4. Kreativität and Kultur

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Interesse an Kreativität

Generell: um die Wirksamkeit von Lehre, Lernen und Wissen zuerhöhen

Für unsere individuelle Kreativität im Alltag:

• Ein besseres Verstehen der individuellen Entwicklung eines kreativenUmgangs mit den jeweiligen Lebensbedingungen “von der Wiege bis zurBahre” (John Bowlby)

• um die kreative Kompetenz anzuregen und zu fördern: Selbst, Kinder, Schüler, Koopersation, Umgang mit Belastungen, Lebensplanung…

• Um dadurch Ängste bei Verunsicherungen zu vermeiden,

• Kreative Lösungen für Probleme finden. 5

Zwei Themenbereiche

1. Kreativität• In der Evolution• In der Wissenschaft• in kulturellem Fühlen und Wissen, und• In kultureller Weisheit („Philosophie“)

2. Offenheit für die Welt als Prozess• In der individuellen Entwicklung• In engen (Bindungs-) Beziehungen • In gleichen und in verschiedenen Kulturen

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Kreativität in der Naturgeschichte (Evolution)

der Menschen

• Große Gehirne: 1330 cm3,

• Intelligente Erfindungen,

• 100 Milliarden Neurone (109),

• 165.000 km myelinisierte Nerven,

• 0.15 quadrillionen Synapsen (1015),

• Reorganisation des präfrontalen Neuhirns (Kortex).

Heather Pringle. Scientific American, March 2003

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Die Verbindung von „limbischen“ Gefühlen und „kortikalen“ sprachlichen

Repräsentationen geschehen auf sozialem Wege

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Vor über 100000 Jahren…

“Der vorgeschichtliche Geist wurde zu einem virtuellen Pulverfass. Er wartete nur auf die richtigen sozialen Umstände, um zu explodieren”

(The ancestral mind became a virtual tinder box, awaiting the right social circumstances to burst into flame. Heather Pringle)

“Es kommt nicht darauf an wie schlau du bist, sondern wie gut du mit anderen verbunden bist”

(It’s not how smart you are. It’s how well connected you are: Mark Thomas)

Lehren, Kulturelle Weiterentwicklung (Ratsche = ratchet) (Michael Tomasello)

Vermittlung von Kultur als natürliche Umwelt (Gehlen, Lorenz)

Über viele Individuen unterschiedlich verteiltes Wissen… (Edwin Hutchins)

das zwischen Personen vermittelt wird (Zahlreiche Autoren).

Folgen für Menschenkinder

zeigen sich in in “guter Kinder-Fürsorge”:

• Äußere Organisation (limbischer) Gefühle besonderer (“Bindungs”-) Personen(z. B. Erkennen und Beruhigen von Angst)

• Durch angemessene und prompte Antworten auf kindlichen Ausruck (Mimik, Gestik, Vokalisationen)

• Kommunikation von Benennungen und „Bedeutung“

• Individueller Gefühle („Hast du Angst?“) und

• Interpretation situativer und kultureller Zusammenhänge (Ist dir nicht gut?)

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Kreativität: Freies Assoziieren („Synthese“) plus zergliederndes Denken („Analyse“)

• Freies Assoziieren: ermöglicht gedankliche Einfälle, die über enge

Anschauungen hinaus führen (analogies breaking out of the box, „Induction“)

• Analytisches Denken: ermöglicht die Vorstellung der wahrscheinlichsten

und relevantesten Erklärungen („Deduction“).

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Kreis der Erkenntnis,

Immanuel Kant Erhard Oeser, 1983

FreiesAssoziieren

AnalytischesDenken

Kreative Prozesse

Aufmerksamkeit gegenüber

• Problemen, Wissenslücken, Mängeln, Unzulänglichkeiten …

• Fehlenden Elementen, Unstimmigkeiten, Wiederholungen…

Schwierigkeiten erkennen

• Nach Lösungen suchen, mutmaßen…

• Hypothesen über Unstimmigkeiten äußern

• Prüfen von Hypothesen

• und sie anpassen und erneut prüfen;

• Und die Ergebnisse mitteilen.

Kants Kreis der Erkenntnis

(Geht Kreativität voraus)

Oeser, 1983

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Regel zum Finden möglichst zutreffender Erklärungen (durch Vermeidung weit hergeholter wie z. B. in

Verschwörungstheorien)

„Sparsamkeitsprinzip“ (Law of Parsimony)

Ockhams “razor”:

Bei konkurrierenden Hypothesen wähle

diejenige mit den wenigsten Annahmen

(wie in wissenschaftlicher Forschung).William von Ockham, Philosoph,

1285-1347

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Intelligenz und Kreativität

Fließende Übergänge: “Injunktion” statt “Definition”

Wichtige Forschungsgebiete:

• Neurologische Prozesse

• Persönlichkeit und kreative Fähigkeiten

• Kreativität und geistige Gesundheit.

Zentral: Wie sieht die individuelle Entwicklung aus?

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Entwicklung der Kreativität beim menschlichen

Kind (“Ontogenese”)

• Kinder werden physiologisch frühreif und hilflos geboren (Portmann)

• Sie sind biologisch mit dem Programm “Bindung” ausgestattet, müssen sichalso binden, an wen auch immer.

• Idealerweise binden sie sich an zuverlässige, fürsorgliche individuelle “Mütter”, (“stärkere und weisere Erwachsene”) die sie schützen und versorgen.

• Sie sind (Hirn)-physiologisch vorbereitet, Kultur und Sprache zu lernen (Colwyn Trevarthen).

• Sie sind kulturelle Westen “von Natur aus” (Konrad Lorenz).

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Entwicklung der Kreativität beimmenschlichen Kind (“Ontogenese”)

• Kinder können sich mimisch, gestisch und körperlich ausdrückenund mitteilen.

• Die erste sozialen Fertigkeiten neugeborener Kinder sind biologischeSignale seiner Bedürfnisse für andere.• Am wirkungsvollsten ist Weinen (Ainsworth).

• Subtiler sind Fertigkeiten Gefühle nonverbal auszudrücken und zu verstehen(Darwin),

• Z.B. durch Körperbewegungen wie Annäherung oder Rückzug (Beebe, Lyons-

Ruth),

• Durch körperliche Anspannung, Hautfarbe, Art der Vokalisation (z.B. gurren“cooing”) Interesse, Ärger (Brazelton)

• Wenn eine Art der Mitteilung nicht funktioniert, probieren sie eine andere.17

Vom Distress zur Beruhigung und sicherer ErkundungBindungspersonen als Hafen der Sicherheit und als Sichere Basis

Feinfühlige Eltern und Erzieher respektieren

• Ausdruck und Kommunikation ihrer Kinder, wenn sie Nähe und

Beruhigung brauchen,

• Und wenn sie zeigen, dass sie die Welt (und was sie bedeutet) kennen

lernen wollen.

• Beides geht Hand in Hand.

• Das Kind teilt mit, was es braucht.

Ich brauche dich,

damit du meinen

Erkundungsdrang

unterstützt

Pass auf mich auf,

hilf mir,

Freu dich mit mir

Ohne dich

bin ich verloren

Beschütze mich,

Tröste mich,

Ordne meine Gefühle

Ich brauche dich

damit du mich willkommen heißt,

und mir Wissen gibst

Hunger,KälteAngst

Vom Distress zur Beruhigung und sicherer Erkundung

entspannen

auftanken

(In Anlehnung an der „Kreis der Sicherheit“ von Cooper, Hoffmann, Marvin, Powell, 2000)

hilflos verloren,Ohne sicheren Hafen

Hilflos bei GefühlenErworbene Gefühlskälte

Lernunwillig für KulturellesOrientierungslos

Hunger,KälteAngst

Bindungsstörung = Verlust der Sicherheit: Wenn Beruhigung und Schutz ausfällt oder blockiert wird

KeineEntspannungErhöhter Stress

KeinAuftankenKaum Freude

VerlustTrennungAbwertungAggressionAngstRollenumkehr

Aggr. Strategien des ÜberlebensRiskante ErkundungenOhne GefahrenbewusstseinOder passiv, depressiv

Keine Orientierung ob gut oder böseKein Stolz in den Augen des anderenMangel an Freude

Wem zuliebe?

Überforderung

3,5J., passiv

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Individuelle Entwicklung (Humanspezifisch) gemeinsamer Aufmerksamkeit:

Das Gefüge von Bindung, Exploration, Perspektive, Sprache und Bedeutung

prüfen

folgen

lenken

Aufmerksamkeit des Kindes

Tomasello, M. (2002). Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt: Suhrkamp.

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Gemeinsame Aufmerksamkeit plus sprachlicher Diskursübertragen individuelle Erfahrungen in mitteilbare persönliche und

kulturelle Bedeutung

• Sind Zentrale Prozesse für die Entwicklung individuelle Repräsentationen, Internaler Arbeitsmodelle (IWM), Mentalisierung, Selbst-Reflexion.

• Menschenkinder sind aufmerksam gegenüber (sprechenden) menschlichen Gesichtern,

• Bindungspersonen interpretieren sprachlich mehr oder weniger angemessen, oder sie lügt, oderschweigt (betonen, verfälschen oder ignorieren wichtiger Zusammenhänge).

• Große kulturelle und individuelle Unterschiede auch beim Vermitteln, Lehren und Ermutigen von Freien Assoziationen und von Analytischem Denken.

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Gute Väter öffnen die Welt für ihre Kinder

Sie sorgen für

• Schutz und Vergewisserung in neuen und verunsichernden Situationen,

• Sie unterstützen vor-sorglich ihr Erkunden,

• Und sie ermöglichen zunehmendesSelbstvertrauen bei freiem Assoziiern

• und beim Analysieren, z. B. bei Problemen,

• Sie sind Vorbilder (“Modelle”), stark und weise, besonders bei Aggression und Gewalt, und beim Umgang mitWidrigkeiten,

• Und engagieren sich unterschiedlich beiTöchtern und Söhnen.

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Lernprozesse in feinfühligen Bindungsbeziehungen (1)

Im sprachlichen Miteinander:

• Erfahrungen und Gefühle werden treffend benannt und aus der Perspektive beider, des Kindes und der Erwachsenen, besprochen.

• Sprachliche Interpretationen von Gefühlen und ihre Bedeutung(“Reflexion”) werden Teil der kindlichen Autobiographie (Katherine

Nelson).

• Kinder lernen nicht Sprache, sondern Kultur (Jerome Bruner).

JEROME

BRUNER

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Lernprozesse in feinfühligen Bindungsbeziehungen (2)

“Internale Kohärenz und externale Korrespondenz”*“Innere Stimmigkeit und äußere Ensprechnung”

• Verbindet Emotionen und Vorstellungen mit äußeren Ereignissen durch sprachliche

Interpretationen (Narrativa),

• Berücksichtigt die Intentionen anderer (assimilation), und bezieht ihre Sichtweise ein (accommodation to

the partners’ orientation) („Mind-mindedness“**: Elizabeth Meins).

*Based on Robert Sternberg’s concept of “Adaptive Intelligence”, includes coherent communication of emotions.

** Neudeutsch: “Theory of Mind”.

Robert J.

Sternberg

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Offen für die soziale und kulturelle Weltdurch feinfühlige linguistische Diskurse

Wechselseitige Charakteristika:

• Aufmerksames Zuhören mit unterstützenden Signalen (Mimik, Gestik…)

• Positive, anerkennende Zuwendung,

• Interessierte, ermunternde Fragen, keine rhetorischen,

• Antworten, die Themen entwickeln und weiterführen,

• Themen sind nicht verengt und können zu anderen Themen springen.

Offen für die soziale und kulturelle WeltFolgen für die kindliche Entwicklung

• Unverfälschte und aktuelle (“updated”) Representation der gegebenen

sozialen uns kulturellen Welt,

• Balance von Gefühlen und Orientierung an der äußeren Wirklichkeit,

• Kreative Sicht = mentales und tatsächliches exploratives Suchen nach

Klärung und Lösungen,

• Aufmerksamkeit auf einfallsreiches Problemlösen gerichtet,

• Offen gegenüber Hilfe, Unterstützung, Wissensvermittlung…

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Durch unterbrochene oder misslingende Kommunikation verschließtsich ein Kind vor der Welt (Karlen Lyons-Ruth)

• Affektive Fehler: Widersprüchliche averbale Signale,

• Keine oder unangemessene Antworten,

• Desorientierung: verwirrt oder verängstigt durch das Kind,

• Plötzlicher Verlust von Gefühlen…

• Aufdringliches (“Negativ-intrusive”) Verhalten: verspotten, verhöhnen, ärgern,

• Rollen Konfusion: Rollenumkehr, Sexualisierung…,

• Rückzug. Körperliche Distanz, sprachliche Distanzierung…

Verschlossen gegenüber der Welt Folgen für die Entwicklung des Kindes

• Eingeschränkt durch alte, nicht aktualisierte Repräsentationen

• Verfälschte oder fehlende Aufmerksamkeit gegenüber der “wirklichen”

Außenwelt,

• Beherrscht von ungelösten Gefühlskonflikten (Unsicherheit, Angst)

• Aufmerksamkeit nach innen gerichtet, von negative Gefühlen absorbiert,

• Möglich: kreative Verarbeitung innerer Konflikte in den Künsten:

Trauer, Einsamkeit, Trennung, Verlust, Krankheit…31

Fazit: Zwei Perspektiven über den (fehlenden) schöpferischen Geist* bei der Lebensgestaltung

Recapitulation: Two perspectives on (lack of) creative minds for a constructive* life

1. Geistige Prozesse in herausfordernd komplexen Lebenssituationen:1. Psychologische Sicherheit ermöglicht spielerisch unbehinderte freie Einfälle

(Assoziationen) und analytisches Denken.

2. Psychologische Unsicherheit bedingt Angst und Furcht und schränkt den Geist ein.

2. Die Fähigkeit zu Analyse und Reflexion (Durch- und Nachdenken)1. ermöglicht Formulieren bedeutungsvoller Interpretationen, und dadurch

2. lösungsorientiertes Kommunizieren mit anderen.

*Nach außen gerichtete Aufmerksamkeit.

Konstruktiver Umgang mit aktuellen Entwicklungsaufgaben und komplexen Herausforderungen;

Unterstützung annehmen und geben können.

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Offenheit und Verschlossenheit im Lebenslauf (1)(Beispiele aus eigenen Forschungen)

• 1 Jahr (Nach kurzen Trennungen in der Fremden Situation) • Eindeutige Wahl des Kindes von Mutter oder Vater als Hafen der Sicherheit und als Sichere Basis

• Gegenüber Vermeidung (A); Angst und Untröstbarkeit (C); Desorientierung/Desorganisation.

• 2 Jahre: (Spielsachen, Bayley Test): • Enthusiasmus, Neugier, gutes Zusammenspiel (Kooperation),

• Gegenüber Teilnahmslosigkeit (Indifference), Verweigerung.

• 3 1/2 Jahre (Schwierige Aufgabe, „Überforderung“): • Konzentration auf die Aufgabe, offene engagierte Kommunikation darüber

• Gegenüber Verweigerung von Aufgabe und Kommunikation, Konfliktverhalten.

• 6 Jahre: (Trennungsangst-Test):• assoziative Einfälle, Situationsanalyse, Fragen dazu,

• Gegenüber Hilflosigkeit in der Sache und in der Kommunikation. 33

Offenheit und Verschlossenheit im Lebenslauf (2)

• 10 Jahre (Interview über belastende Situationen): • Klare Auskünfte

• gegenüber sprachlichem Vermeiden von Antworten über Zurückweisung, Trauer…

• 16 Jahre (Gemeinsame Ferienplanung mit Bp):• Sachliche, die Bp respektierende Auseinandersetzungen

• Gegenüber Respektlosigkeit und persönliche Diffamierung

• 22 Jahre (Interview über Bindungserinnerungen (AAI) und über (Liebes-)Partnerschaft (CRI):

• Nachdenken, Stimmige Antworten, Einbeziehung von Partnern,

• Gegenüber Unstimmigkeit, Mangelhaftes Erinnern, Selbstfokussierung…

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Zusammenfassung: Offen für die Welt: Der freie Geist im Alltag

• Der freie Geist ermöglicht realistischen Umgang („psychologische Anpassung“ an) mit einer komplexen sozialen und kulturellen Welt.

• Menschen sind von Natur aus begabt Sprache, Bedeutung, Kultur durch Kommunikation und Interpretation zu lernen,

• Menschen entwickeln dies am besten in engen emotionalen Beziehungen mit starken und weisen Erwachsenen, an die sie sicher gebunden sind,

• In den meisten Familien erwerben Kinder psychische Sicherheit.

• Sie lernen, ihre Gefühle sachlich und kulturell zu interpretieren und zukommunizieren,

• Sie können sie dann einsichtsvoll und/oder mit Hilfe anderer verändern,

• Ihre Aufmerksamkeit ist offen für einfallsreiches Assoziieren und analytischesDenken, auch bei Gefühlskonflikten.

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Entwicklung psychologischer Gesundheit:

Offenheit für die Welt als beständige und kreative Lebensform*:

Den freien Geist ermöglichen

und emotionale Einschränkungen verhindern bzw. überwinden

• in der gemeinsamen Aufmerksamkeit,

• in der “angemessenen” Interpretation,

• und im Beistand durch ausgewählte andere.

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