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www.brandeins.de brand eins 15. Jahrgang Heft 11 November 2013 8,50 Euro C 50777

Richtig Schluss machen

Schwerpunkt Trennung

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EDITORIAL

Das böse, schöne Wort

• Ich verdanke die größten Fortschritte in meinem Leben Trennungen. brand eins gäbe es nicht, hätte uns der »Spiegel«-Verlag nicht vor die Tür gesetzt und hätten wir nicht ein Jahr später unser Vorgängermagazin »Econy« verlassen. Vielleicht deshalb war Trennung für mich immer ein Wort, das Aufbruch verhieß, nicht Schmerz.

Damit bin ich als Journalistin eigentlich im falschen Beruf, denn Trennungsdramen sind großes Kino, vor allem auf dem Boulevard (S. 146). Und auch in der Wirtschaft liegen die Ner-ven blank, wenn eine Seite sagt: „Das war’s“ – obwohl das Auseinandergehen hier fast schon Alltagsgeschäft ist.

Unternehmen fusionieren und trennen sich, sie steigen auf und auch wieder ab, Mitarbeiter entwickeln sich und ziehen weiter, oder sie entwickeln sich nicht und müssen gehen: Alles ist immer in Bewegung. Warum ist die Trennung dann immer wieder ein Schock?

Weil eine Kündigung den Betroffenen erst einmal die Stabilität nimmt, sagt die Beraterin Roswita Königswieser. Sie geraten ins Schwanken, die alte Identität ist nach dem Erhalt der Trennungsnachricht verunsichert (S. 56). Das gilt für jeden, auch für den Vorstand (S. 132). Das gilt sogar, wenn einer wie Wolfpeter Hocke den Abschied selbst einleitet und die Trennung will (S. 138). Und das wird schier unerträglich, wenn das Ende ungerecht, ja, willkürlich er-scheint: Die einstigen Mitarbeiter des Handyproduzenten BenQ hadern bis heute – nicht unbedingt mit dem Ende, wohl aber mit dem Gefühl, verschaukelt worden zu sein (S. 80).

Erstaunlich gefasst gehen dagegen die Menschen in der Schlecker-Heimat Ehingen mit der Pleite ihres einst erfolgreichsten Mitbürgers um (S. 74). Und geradezu heldenhaft ist der Widerstand der Belegschaft der havarierten Fluglinie Lloyd Aéreo Boliviano gegen das drohen-de Ende (S. 102). Aber schließlich ist gerade die Wirtschaftsgeschichte voll von angekündigten Toden, die nicht eingetreten sind. Wer hätte zum Beispiel erwartet, dass es die 2004 von IBM abgestoßene PC-Sparte beim chinesischen Lenovo-Konzern zu neuer Blüte bringt (S. 90)?

Trennung klingt noch immer nach Drama und wird auch gern dazu gemacht – zumindest von denen, die wollen, dass alles bleibt, wie es ist. Die anderen kennen zwar auch das Gefühl der Wehmut, wenn man etwas hinter sich lässt, lassen sich davon aber nicht aufhalten (S. 126). Auch dann nicht, wenn es wie bei der Aussteigerin Gabriele Mäule schmerzt (S. 144).

Der Trennung die Schwere zu nehmen, das wäre eine Aufgabe, die in die Zeit passt. Dabei hilft schon mal die digitale Welt, die uns stets und ständig zum Abschied von irgendetwas zwingt (S. 86). Dabei hilft noch nicht das deutsche Kündigungsschutzrecht, das die Kündigung als größten anzunehmenden Unfall sieht (S. 136). Aber dabei helfen ganz sicher Unternehmer wie Zach Klein (S. 70). Der Gründer der Video-Plattform Vimeo betrachtet Leben als Entwick-lungsaufgabe, bei der Sprünge erfreulich und Trennungen notwendig sind. „Es ist verrückt“, sagt er, „dass wir in einer Welt leben, in der sich Menschen in ihrer Karriere eingesperrt fühlen. Sie haben das Wissen gratis vor der Nase, um mehr aus sich zu machen, aber sind zu Geiseln all dessen geworden, was sie in ihren Werdegang gesteckt haben.“

Das wäre doch was, von dem man sich trennen könnte. –

Gabriele Fischer, Chefredakteurin, [email protected]

Redaktion brand eins, Speersort 1, 20095 Hamburg

brandeins.de, facebook.com / brand.eins, twitter.com / brandeins

Foto: Heji Shin

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INHALT

10 Mikroökonomie: Eine Dolmetscherin in den USA

12 Die Welt in Zahlen 14 Gute Frage:

Was bringen Arbeitszeitkonten? 20 Markenkolumne:

Winnetou darf nicht sterben 22 Das geht:

Die wollen nur spielen 26 Wirtschaftsgeschichte:

Der falsche Prinz

Was Wirtschaft treibt

30 Das Prism-ParadoxDer NSA-Skandal ist ein Segen – für die IT-Branche Von Steffan Heuer und Thomas Ramge

42 Der Herr der EngelSeine Mutter hat sie erfunden, Peter Thun hat mit den Keramik-figuren die Welt erobert. Die Geschichte eines Machers von Gerhard Waldherr

52 Besser geht’s nicht Warum Cisco der Konkurrenz davoneilt, zeigt der Blick in die Bilanz von Patricia Döhle

a Schwerpunkt Trennung

55 Prolog

56 PhantomschmerzenTrennungen sind schmerzhaft und notwendig. Ein Essay von Wolf Lotter

64 Noch mal von vornFür Matti Niebelschütz war die Pleite seines Unternehmens das Beste, was ihm passieren konnte. Warum, erklärt Axel Hansen

70 Weiter!Gründen, groß machen und dann gehen: Zach Klein hält es nie lange in seinen Firmen aus.Ein Porträt von Steffan Heuer

74 Der Geist von EhingenWas von Schlecker bleibt: Ein drücke aus der Heimatstadt des gefallenen Patriarchen Von Barbara Bachmann

80 Das Trauma von Kamp-LintfortWarum haben die ehemaligen Siemensianer ihre Entlassung nach sieben Jahren noch nicht ver-wunden? Antworten von Mischa Täubner

86 Bis es wehtutDas Digitale ist flüchtig und zwingt zum Loslassen. Seinen Trennungsschmerz schildert Thomas Ramge

90 In guten Händen Der Verkauf von IBMs PC-Sparte an Lenovo erwies sich als großes Glück für beide. Wieso, weiß Ulf J. Froitzheim

98 Mein Bier ist nicht dein BierDer Konkurrent gehört zur Familie: ein Porträt der Brauerei-Dynastie Unertl von Gerhard Waldherr

102 Bitte anschnallen!Wie Mitarbeiter einer an den Boden gefesselten Fluggesellschaft an ihrem Wiederaufstieg arbeiten. Eine Bildergeschichte von Nick Ballon und Ingo Malcher

112 Trennungen internationalGeschichten aus Russland, Südafrika, China und den USA von Stefan Scholl, Johannes Dieterich, Bernhard Bartsch und Steffan Heuer

Inhalt

a Den Schwerpunkt gibt es als Hörversion unter www.brandeins.de

30 Der NSA-Skandal ist auch ein gigantisches Konjunkturprogramm Illustration: Mauritius Images /dieKleinert

146 Für Prominente ein gutes Geschäft: Rosenkriege Bildquelle: »Hamburger Abendblatt«

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INHALT

120 Die GeschichtenerzählerWenn eine Zentralbank den Chef wechselt, muss das geschmeidig passieren. Warum, erklärt Douglas R. Holmes Ingo Malcher

121 Von hundert auf nullWie Jean-Claude Trichet die Trennung von der EZB erlebte Von Ingo Malcher

126 Die LebenswandlerGekommen, um zu gehen: Drei Job-Nomaden erzählen vom Reiz der Rastlosigkeit. Mitgeschrieben hat Matthias Hannemann

132 Ende einer DienstfahrtHartmut Ostrowski war Vorstands-vorsitzender von Bertelsmann und ging überstürzt. Warum erzählt er aus der Distanz Patricia Döhle

136 Alles, was Recht ist …Kündigungen könnten weniger schmerzhaft sein Von Oliver Link

138 Der lange AbschiedNach dem Verkauf seiner Agentur wollte Wolfpeter Hocke loslassen. Eigentlich Von Dorit Kowitz

144 „Ich gehe, kommst du mit?“Gabriele Mäule wollte ein neues Leben. Eine Frau, die hart gegen sich und andere sein musste, porträtiert Barbara Opitz

146 Ende gut, alles gutSehr lukrative Rosenkriege von Promis beschreibt Michael Kneissler

Was Menschen bewegt

154 Kampf der KulturenWie ein Gastronom am Widerstand eines ganzen Dorfes scheiterte. Eine Reportage von Lu Yen Roloff

162 Der Wein der WeisenVon wegen verkosten – wer mit Chinesen ins Winzergeschäft kommen will, muss bechern. Ein Erfahrungsbericht von Manfred Klimek

167 Leserbriefe 168 Leserservice und Impressum 170 Letzte Seite: Wer hat’s gesagt?

Das brand eins-Gewinnspiel

70 Auf zu neuen Ufern: der vielseitige Zach Klein Foto: David Magnusson

86 Sie war einmal: die Floppy Disc Illustration: Silke Baltruschat

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DAS ORIGINAL – DER KOFFER MIT DEN RILLEN1950 bringt RIMOWA den ersten Koffer mit den unverwechselbaren Rillen heraus. Seitdem hat sich dieser zu einem Kultobjekt entwickelt. Das original Reisegepäck von RIMOWA hat bis heute nichts von seiner Faszination verloren. Es bleibt die Wahl all derer, die das Außergewöhnliche suchen – wie Alessandra Ambrosio.

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EINSTIEG

Anteil der Tschechen an der Weltbevölkerung, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,2Anteil der Deutschen an der Weltbevölkerung, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Anteil der US-Amerikaner an der Weltbevölkerung, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,4Anteil der Websites mit pornografischen Inhalten aus Tschechien, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,2Anteil der Websites mit pornografischen Inhalten aus Deutschland, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Anteil der Websites mit pornografischen Inhalten aus den USA, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Geschätzte Zahl der Worte, die ein Handynutzer in seinem Leben durchschnittlich per SMS verschickt, in Millionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2Zahl der Worte in der Bibel, in Millionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,7

Anteil der Menschen, die sich in Luxemburg nachts auf der Straße unsicher fühlen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Anteil der Menschen, die sich in Mexiko nachts auf der Straße unsicher fühlen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Zahl der Morde pro 100 000 Einwohner in Luxemburg im Jahr 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,5Zahl der Morde pro 100 000 Einwohner in Mexiko im Jahr 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23,7

Geschätzter Preis im Datenhandel für die Adresse eines US-Bürgers, in Dollar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,5Geschätzter Preis im Datenhandel für das Geburtsdatum eines US-Bürgers, in Dollar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2Geschätzter Preis im Datenhandel für den beruflichen Werdegang eines US-Bürgers, in Dollar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Anteil der Deutschen zwischen 51 bis 60 Jahren, die sich einer Schönheitsoperation unterzogen haben, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12,5Anteil der Deutschen zwischen 18 bis 30 Jahren, die sich einer Schönheitsoperation unterzogen haben, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . 30,4

Zahl der Stunden, die ein Ire im Durchschnitt täglich fernsieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3,1Zahl der Stunden, die ein Deutscher im Durchschnitt täglich fernsieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3,5Zahl der Stunden, die ein US-Amerikaner im Durchschnitt täglich fernsieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8,5Durchschnittsgewicht eines Iren, in Kilogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73Durchschnittsgewicht eines Deutschen, in Kilogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75Durchschnittsgewicht eines US-Amerikaners, in Kilogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Höhe der Steuern und Abgaben eines deutschen Singles mit durchschnittlichem Einkommen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49,7Höhe der Steuern und Abgaben eines Schweizer Singles mit durchschnittlichem Einkommen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21,5

Anteil der Deutschen, für die der Gartenzwerg das beste heimische Erzeugnis ist, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Anteil der Deutschen, für die Dichtkunst das beste heimische Erzeugnis ist, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Anteil der Deutschen, für die Bier das beste heimische Erzeugnis ist, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Anteil der Deutschen, für die das Auto das beste heimische Erzeugnis ist, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Durchschnittliche Download-Geschwindigkeit in der Schweiz, in Megabit pro Sekunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10Durchschnittliche Download-Geschwindigkeit in Deutschland, in Megabit pro Sekunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Durchschnittliche Download-Geschwindigkeit in den Niederlanden, in Megabit pro Sekunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

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14 BRAND EINS 11/13

EINSTIEG

Gute Frage

• Nichts ging mehr Anfang August am Mainzer Bahnhof. Tagelang fielen Regio-nalzüge aus, ICEs mussten umgeleitet werden. Es gab nicht genug Personal für das Stellwerk. Ein Teil war krank, der andere im Urlaub. Bitten des Bahnchefs Rüdiger Grube an die Mitarbeiter, früher als geplant ihren Dienst anzutreten, ver-hallten weitgehend ungehört. Man kann es ihnen kaum verübeln: Laut der Eisen-

bahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG hatten sich auf den Arbeitszeitkonten der Fahrdienstleiter rund eine Million Über-stunden angesammelt. Eine Pause war dringend nötig.

Arbeitszeitkonten sollen Unternehmen und Beschäftigte flexibler machen. Die Varianten reichen von den bereits in den Sechzigerjahren in Deutschland eingeführ-ten Gleitzeitmodellen bis zu Lebensarbeits-

zeitkonten, die längerfristige Auszeiten er-möglichen. Das Prinzip, Arbeitskraft nach Bedarf einzusetzen, wird viel gelobt und gern genutzt – hat aber seine Grenzen. Denn es geht darum, eine Balance zu fin-den zwischen den Bedürfnissen der

Was bringen Arbeitszeitkonten?Sie gelten als Lösung für große und kleine Probleme der Arbeitswelt.

Doch ihre Wirkung ist begrenzt.

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16 BRAND EINS 11/13

EINSTIEG

Arbeit geber und -nehmer. Wie im Fall der Deutschen Bahn gelingt das nicht immer.

Mehr als ein Drittel der deutschen Be-triebe nutzt mittlerweile das Instrument; mehr als jeder zweite Beschäftigte in Deutschland hat die Möglichkeit, Über-stunden anzusparen. Wie viele dabei ange-sammelt werden können und in welchem Zeitraum sie wieder abgebaut werden müssen, liegt im Ermessen der Unterneh-men. Die meisten nutzen Ausgleichszeit-räume zwischen einem halben und einem Jahr. Bei guter Auftragslage wird mehr gearbeitet, in schlechteren Zeiten werden die Überstunden wieder abgebaut. Kurz-fristige Schwankungen können ausgegli-chen werden, ohne dass entlassen werden muss. So wird Beschäftigung gesichert, die Unternehmen sparen Kosten und er-halten ihr Know-how.

Überstunden anzusammeln bedeutet zunächst aber eine stärkere Belastung der Belegschaft. „Die Mehrarbeit darf nicht dazu führen, dass die Arbeitnehmer krank werden und so der Faktor Arbeit ge-schwächt wird“, sagt Alexander Herzog-Stein vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böck-ler-Stiftung (IMK). „Wenn die Mitarbeiter überlastet sind, nehmen für die Betriebe die Risiken in der Produktion zu. Außer-dem ist es aus volkswirtschaftlicher Sicht erwünscht, dass die Menschen länger arbeiten. Das werden sie kaum schaffen, wenn sie sich vorher kaputtarbeiten.“

Dass der Grad an Flexibilität, den Ar-beitszeitkonten bieten können, begrenzt ist, zeigte auch die Krise 2008/2009. „Die Möglichkeit, zunächst Überstunden abzu-bauen, verschaffte den Betrieben eine Ver-schnaufpause“, sagt Hans-Dieter Gerner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs-forschung (IAB). Danach seien allerdings andere Instrumente wie die Kurzarbeit für die Beschäftigungssicherung entscheidend gewesen. Die gesammelten Überstunden reichten schlicht nicht, um die Durststre-cke zu überwinden. „Wir finden in unse-ren Daten keine Hinweise, dass Beschäf-tigte eher gehalten wurden, wenn in den

Betrieben Arbeitszeitkonten existierten“, sagt Gerner.

Fraglich ist generell, ob die Konten den Mitarbeitern ebenso viel Flexibilität ermöglichen wie den Firmen. In der Theo-rie sollen die Menschen die geleisteten Überstunden zur freieren Zeitgestaltung nutzen können – vom Zahnarztbesuch zwischendurch bis zum eingeschobenen Studium. Aber: „Die Flexibilität geht für die Beschäftigten häufig nur so weit, wie es mit den betrieblichen Belangen verein-bar ist“, sagt Gerner.

Für viele heißt es: Wir müssen leider draußen bleiben

So stehen laut einer Studie der Hans-Böck-ler-Stiftung in 60 Prozent der untersuchten Unternehmen längerfristige Arbeitszeit-konten erst gar nicht allen Mitarbeitern of-fen. Vor allem geringfügig Beschäftigte und leitende Angestellte seien ausgeschlos-sen. Außerdem haben nicht alle die glei-chen Voraussetzungen, um frei über den Einsatz ihrer Überstunden entscheiden zu können. „Frauen“, sagt Alexander Her-zog-Stein vom IMK, „haben es schwerer, Guthaben anzusammeln, da sie häufig noch immer die Hauptlast der Familien-arbeit tragen.“ Und ihre Überstunden im Alltag rasch wieder abbauen.

Von Nachteil für die Beschäftigten kann auch sein, dass nicht immer klar ge-regelt ist, was mit den Guthaben auf den Arbeitszeitkonten im Fall einer Kündigung oder Insolvenz passiert. Zwar gebe es Möglichkeiten, die gesammelten Über-stunden mitzunehmen, aber das Verfahren sei aufwendig, sagt Hans-Dieter Gerner vom IAB. Einfacher sei es, sie sich aus-zahlen zu lassen. „Dafür muss der Betrieb allerdings auch genügend Rücklagen bil-den. Sonst schaut der Arbeitnehmer unter Umständen in die Röhre.“

Problematisch ist das vor allem bei den sogenannten Lebensarbeitszeitkon-ten. Sie sollen den Beschäftigten ermögli-chen, über einen langen Zeitraum Über-stunden anzusparen. Diese werden in

Form von Geld verbucht, um damit län-gere Auszeiten finanzieren zu können. So kommen teilweise hohe Beträge zusam-men. Ein 2009 in Kraft getretenes Gesetz schreibt zwar vor, dass die Firmen diese Guthaben vor Insolvenz absichern müs-sen. Doch eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass es in der Praxis große Lücken gibt: Knapp ein Drittel der befrag-ten Personalverantwortlichen in den Un-ternehmen gab an, keine Insolvenzversi-cherung abgeschlossen zu haben oder nicht zu wissen, ob man eine habe. Von denen, die eine hatten, entsprach wiede-rum mehr als ein Drittel nicht den gesetz-lichen Vorgaben.

Das mag ein Grund sein, warum die Langzeitkonten kaum im betrieblichen Alltag angekommen sind: Laut IAB boten 2010 lediglich zwei Prozent der Unterneh-men diese Möglichkeit an. Die Forscher vermuten, dass die Lebensarbeitszeitkon-ten noch zu viele Risiken bergen: Der Insolvenzschutz stelle hohe Anforderun-gen an die Unternehmen. Zudem gebe es eine gewisse Unsicherheit, was mit den Guthaben passiert, wenn die Beschäftig-ten den Betrieb verlassen.

Die Politik hat hohe Erwartungen an die Lebensarbeitszeitkonten: Sie sollen das Arbeitsleben flexibler machen und Weiterbildungen, Sabbaticals oder die Pflege von Angehörigen erlauben. Auch ein vorzeitiger Renteneintritt soll damit möglich werden. Zu diesem Zweck müss-ten allerdings erst sehr große Guthaben angespart werden.

Die Frage ist, wie und wann sie erar-beitet werden sollen. „Ich habe Zweifel, ob das zu leisten ist, vor allem, wenn diese Konten verschiedene Aufgaben überneh-men sollen“, sagt Alexander Herzog-Stein vom IMK. Noch dazu konkurrieren mit-unter verschiedene Formen von Arbeits-zeitkonten miteinander: Knapp drei Vier-tel der Unternehmen mit Langzeitkonten verwenden zusätzlich noch Kurzzeitmo-delle. Das bringt mehr Möglichkeiten –aber die müssen durch Überstunden erst einmal geschaffen werden. –

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20 BRAND EINS 11/13

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Was Marken nützt

• Bernhard Schmid wurde in die Welt von Karl May hineingeboren und fühlt sich in ihr offensichtlich wohl. Sein unauf-geräumtes Büro schmücken unter ande-rem eine Statue Winnetous, ein ausge-stopfter Adler und ein Miniatur-Tipi. Der 51-Jährige leitet den Karl-May-Verlag mit Sitz in Bamberg in dritter Generation. Hier wird das Werk des „meistgelesenen deutschen Schriftstellers“ (Schmid) ver-wertet. Auf die Frage, ob der ihn nicht mittlerweile langweile, antwortet er: „Überhaupt nicht. Karl May ist ein faszi-nierender Mensch – sein Leben war selbst ein Roman.“ Ein armer Schlucker, der sieben Jahre im Knast saß, sich dort als Abenteuerschriftsteller neu erfand, sich zäh nach oben arbeitete, berühmt wurde und sich auf seine alten Tage als glühender Pazifist der Weltverbesserung widmete.

Bernhard Schmid trat 1993 auf Wunsch seines Vaters in den Verlag ein. Damals war Not am Mann. Der Senior Lothar Schmid hatte sich mit seinen beiden Brü-dern überworfen, mit denen er die Firma gemeinsam leitete. Sie wollten verkaufen,

er nicht. In einem finanziellen Kraftakt zahlte er sie aus und ging mit dem Junior frisch ans Werk.

Vater und Sohn brachten erstaun-lich viele neue Bücher des 1912 ver-storbenen Karl May heraus. Das war möglich, weil dessen Œuvre gewaltig ist und viele seiner Geschichten in Zeit-schriften wie der »Gartenlaube« er-schienen sind, die nun etwa für The-menbände wie „Karl May und die Religion“ kompiliert werden. Außer-dem ist für Fans des „Phönix an Ver-

kitschtheit“– so der Schriftsteller Arno Schmidt über den von ihm bewunderten Erzähler – allerlei im Programm: von der historisch-kritischen Ausgabe über Bild-bände bis hin zu einem Atlas, mit dessen Hilfe man mit dem Finger zu den Schau-plätzen von Mays Schnurren reisen kann.

Schmid räumt allerdings ein, dass das Thema trotz aller Fantasie endlich ist. Er erzählt von den Sorgen eines Kleinverle-gers, dessen Firma einen großen Namen hat, aber nur wenig Umsatz. Er klagt über Buchhändler, die Karl May nicht mehr vorrätig haben, obwohl jedes Jahr immer-hin noch 3000 Exemplare von Winnetou I verkauft werden und insgesamt rund 100 000 Bände aus Bamberg.

Das Urheberrecht für die Original- Texte des Sachsen ist lange abgelaufen, geschützt sind die vom Verlag sehr stark bearbeiteten Werke samt Titel. Außerdem hat man sich die charakteristischen grü-nen, aufwendig gestalteten Bände als Bild-marke sichern lassen. Schmid tut sein Möglichstes, um den Namen May frisch zu halten. So hat er jüngst einen Schreib-wettbewerb für Kinder („Eine Feder für Winnetou“) organisiert, den er durch den Verkauf einiger Original-Illustrationen fi-nanziert hat. Die besten Abenteuer-Storys des Nachwuchses hat er – natürlich auch in grünem Einband – herausgegeben.

Je härter die Zeiten, desto schöner die Erinnerung an die goldenen Sechziger- und Siebzigerjahre, als das Geschäft dank der Winnetou-Filme lief wie geschmiert. Schmid träumt von einem neuen Streifen samt Karl-May-Renaissance: „Ich bin op-timistisch, dass da etwas kommt.“ –

Winnetou darf nicht sterbenDer Karl-May-Verlag ist wohl der einzige weltweit, der allein auf einen Autor s etzt. Und mehr als hundert Jahre nach dessen Tod immer noch von ihm lebt – wenn auch bescheiden.

Text: Jens BergmannIllustration: Manu Burghart

Karl Mays Witwe, sein Verleger und der Jurist Euchar Albrecht Schmid gründen den Verlag am 1. Juli 1913 in Radebeul. Ab 1921 wird er von der Familie Schmid allein geführt, die ihn geschickt durch alle Krisen und die Nazi-Zeit führt. Nach 1945 orientieren sie sich gen Westen und gründen in

Bamberg eine Dependance, weil mit den neuen Machthabern in Ostdeutschland kein Geschäft zu machen ist. „Eine Karl-May- Produktion“, heißt es in einem Brief des Sächsischen Volksbildungs-ministeriums, „ist vom Standpunkt der Volkserziehung grundsätzlich abzulehnen.“ 1960 kommt es

zu einem Deal: Die DDR lässt den Verlag samt allen Rechten nach Bamberg ziehen und erhält dafür Immobilien und 50 000 D-Mark. Im Westen kann das Unternehmen vor allem dank Gratis-Werbung durch die Winnetou-Filme expan-dieren. Ab 1996 ist es auch wieder in Radebeul vertreten. Lothar

Schmid stirbt am 18. Mai dieses Jahres. Bernhard Schmid hat keine Nachkommen und lässt durchbli-cken, dass für ihn ein Verkauf des Hauses nicht ausgeschlossen ist.

Karl-May-Verlag GmbHUmsatz 2012: rund 1 Million Euro; Gewinn: k. A. Mitarbeiter: 6

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EINSTIEG

• Auf dem Esstisch stehen Laptops, No-tizzettel liegen herum, an der Terrassentür klebt ein Post-it-Mosaik. „Zielgruppe“ steht auf einem der Sticker. „Facebook“ auf einem anderen. Gleich wird zum Mit-tagessen gerufen, aber bis dahin dreht sich alles um Vibratoren und Penisringe, Hand-schellen und Gleitgels. Die Wohnküche von Andreas Stockburgers Elternhaus in Gailingen am Hochrhein, nahe der Schweizer Grenze, dient an diesem Vor-mittag als Firmenzentrale von Vibraa, Deutschlands jüngstem Onlineshop für Liebesspielzeug.

Es ist der ungewöhnlichste obendrein. Nicht nur, weil er Teil des Familienlebens der Stockburgers geworden ist. Nicht nur, weil er sich optisch angenehm vom Rot-licht-Ambiente der Konkurrenz abhebt. Sondern vor allem, weil die Gründer mehr wollen, als nur möglichst viele Produkte absetzen. Vibraa ist ein Experiment.

Die Gründer, Andreas Stockburger, 26, und Marc Schlegel, 27, wollen ihren Laden innerhalb eines Jahres so weit brin-gen, dass sie davon leben können. „Entre-preneurial Year“ haben die Absolventen

der Universität St. Gallen ihr Projekt ge-tauft. Im Grunde ist es ein Planspiel, nur dass alles real ist.

„Es geht uns nicht darum, zu bewei-sen, dass wir das können“, sagt Schlegel. „Wir wollen erfahren, was wir alles noch nicht können.“ Ob Web-Programmierung, die Formulierung von Gebrauchsanweisun-gen oder Gewerbeanmeldung – die Auto-didakten machten alles selbst. „Die größte Herausforderung ist die Unsicherheit“, so Stockburger. „Es gibt niemanden, der sagt, mach das so und so.“

Dass dabei nicht immer alles klappt, gehört dazu. Etwa die Promotion-Aktion „Morgen-Latte“, bei der die beiden Kaffee und Flyer an Frühaufsteher in Friedrichs-hafen verteilten. „Die Leute reagierten abweisend“, sagt Stockburger. Die Erfah-rung: Am Nachmittag läuft’s besser.

Oder die Suche nach Zulieferern. Nachdem kein deutscher Versandhändler mit ihnen zusammenarbeiten wollte, fan-den sie einen spanischen Vertrieb, der ih-nen gefiel: Der hat anspruchsvolle Design-Ware und keine Grabbeltisch-Dildos im Programm. Wer heute eines der 251 Pro-dukte aus dem Shop bestellt, erhält Post aus Spanien. Die höheren Versandkosten trägt Vibraa.

Fehler machen und aus ihnen lernen: Stockburger und Schlegel haben mit dem Entrepreneurial Year einen Rahmen ge-schaffen, in dem sie ausprobieren können, wie Ideen zu Entscheidungen werden. In dem Blog, das das Projekt begleitet, findet sich das Bild von einem Stehaufmänn-chen. Hinfallen und wieder aufstehen. Da-rum geht’s.

Warum eigentlich Sexspielzeug? Stock-burger und Schlegel haben eine lange und eine kurze Antwort auf diese Frage. Die kurze lautet: „eine Bier-Idee“. In der langen wird der feuchtfröhliche Einfall um eine nüchterne Marktanalyse ergänzt: „In der Maslowschen Pyramide kommen die phy-siologischen Bedürfnisse an erster Stelle. Wer sich in diesem Bereich bewegt, hat gute Chancen“, sagt Stockburger. Die Idee setzte sich jedenfalls in ihren Köpfen fest.

Also klickten sie sich durch Shops und Foren, befragten Freunde und Bekannte. „Wir hatten den Eindruck, dass es da viele offene Fragen gibt“, sagt Schlegel. „Das Problem ist, dass man sich nicht über Lie-besspielzeug informieren konnte, ohne in einem Dildo-Urwald zu landen“, so Stock-burger. Einen schicken Shop, gekoppelt mit einem seriösen Ratgeber, gab es nicht. Die beiden witterten eine Marktlücke und tüftelten weiter an ihrer Idee: einer Art Apple-Store fürs Liebesleben.

Mit dem Ende des Studiums wurde ihnen klar, dass sie sich entscheiden muss-ten: jetzt oder nie. Und während ihre Kommilitonen Bewerbungen für Trainee-Stellen verschickten, wurden sie einfach Chefs einer Firma, die sie erst noch grün-den mussten. „Ich will nicht eines Tages sagen müssen: Ich war jung, hatte die Zeit und die Chance – und habe es nicht ver-sucht“, sagt Schlegel.

Ein halbes Jahr nach der Firmengrün-dung stehen Shop und Ratgeber, die Re-aktionen sind positiv, die Verkäufe mager. Doch der Glaube der Gründer an ihr Pro-jekt ist ungebrochen. Die Post-its auf der Terrassentür weisen den Weg zu einer neuen Werbestrategie. Ein halbes Jahr haben sie ja noch.

Sollte ihnen der Durchbruch nicht gelingen, wäre das kein Drama. Um zu sparen, sind sie für die Dauer des Experi-ments wieder zu ihren Eltern gezogen. Etwas Geld für alltägliche Ausgaben hat-ten sie gespart. Ob sie sich einen Investor suchen wollen, wissen sie noch nicht. Bis-her haben sie vor allem Zeit in das Projekt gesteckt. „Im schlimmsten Fall hatten wir ein tolles Jahr, haben viele tolle Leute ken-nengelernt und enorm viel gelernt“, sagt Stockburger. „Wir können also gar nicht verlier en.“ –

Das geht

Die wollen nur spielenNach dem Studium gleich eine Stelle? Andreas Stockburger und Marc Schlegel wollten lieber Erfahrungen als Unternehmer sammeln. Sie gründeten einen Onlineshop für Sexspielzeug – und gaben sich ein Jahr, ihn groß zu machen.

Text: Mathias Becker Foto: Thomas Eugster

Kontakt: Vibraawww.vibraa.deBlog zum Entrepreneurial Year: www.entrepreneurial-year.de

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EINSTIEG

Wie ging das noch mal auseinander? Andreas Stockburger (links) und Marc Schlegel bei der Warenkunde

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26 BRAND EINS 11/13

EINSTIEG

• Wer würde da nicht an das Paradies denken? Ein Land größer als Wales, das Klima mild, die Böden fruchtbar, die Wäl-der voll wertvoller Hölzer. In der Haupt-stadt Saint Joseph gebe es breite Boule-vards, überdachte Kolonnaden und eine große Kathedrale. „Ein freies und unab-hängiges Land, gelegen an den Bergen der Bucht von Honduras, drei Tage mit dem Schiff von Jamaika entfernt, 30 Stun-den von der britischen Ansiedlung Belize und acht Tage von New Orleans“, hieß es in einer Broschüre, die das Wappen der

Regierung zierte. Allein der Name war den wenigsten Menschen bis dahin be-kannt: Poyais.

General Sir Gregor MacGregor, der Prinz von Poyais, war nach London ge-kommen, weil er große Pläne hatte. König George Frederic Augustus I. vom Stamm der Mosquito Shore and Nation habe ihm Poyais übertragen, nun brauche er Kredit und Helfer, um es zu entwickeln.

Es war das Jahr 1823, und die Welt ver-änderte sich. Napoleon war geschlagen, die Wirtschaft Großbritanniens expandierte,

die Löhne der Arbeiter waren hoch und die Zinsen für britische Staatsanleihen niedrig. Für die Bankiers der Londoner City war Letzteres keine gute Nachricht.

Zwischen 1800 und 1825 war die Zins-rate für Schuldtitel der Regierung auf drei Prozent gefallen. Solch geringe Renditen machten die Bankiers leichtsinnig, der Aufschwung machte sie übermütig. Also investierten sie in Papiere von Russland, Preußen und Dänemark, Länder, die als verlässliche Schuldner galten und eine Rendite von fünf Prozent versprachen. > A

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Wirtschaftsgeschichte

Herrscher ohne Land, aber mit Staats-anleihe: General Sir Gregor MacGregor

Der falsche PrinzMit der richtigen Story verkaufen sich sogar Anleihen von Staaten, die es nicht gibt. Wie im Herbst 1823, als General Sir Gregor MacGregor gierige Anleger hinters Licht führte.

Text: Ingo Malcher

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EINSTIEG

Doch gab es noch lukrativere Gelegen-heiten: Lateinamerika. Eine Kolonie nach der anderen erklärte ihre Unabhängigkeit von Spanien, es entstanden neue Staaten, und die brauchten Kredit, um eine Verwal-tung aufzubauen und Rohstoffe zu gewin-nen. Die auf den Schuldscheinen verspro-chenen Zinsen waren deutlich höher als bei anderen Anlagen. Auf mexikanische Staatspapiere wurde eine Rendite von sechs Prozent bezahlt – doppelt so viel wie für britische Schatzbriefe. Schnell waren die Investoren am Royal Exchange vom Fieber erfasst, die Regierungen Süd-amerikas sammelten dort zwischen 1822 und 1825 insgesamt mehr als 20 Millionen Pfund ein (siehe Kasten).

Für General Sir Gregor MacGregor war das die Chance. Er konnte viel von der neuen Welt erzählen. MacGregor war am 24. Dezember 1786 in Schottland geboren worden. Sein Vater war Kapitän der East India Company, und auch der Sohn war ein Abenteurer. Im Alter von 16 Jahren trat er der britischen Armee bei, schon ein Jahr später wurde er zum Leut-nant befördert.

Als er 1811 von den Unabhängigkeits-kämpfen in Lateinamerika erfuhr, verkauf-te er sein Gut in Schottland und schiffte sich nach Venezuela ein. Dort schloss er sich den Truppen Simón Bolívars an, ver-teidigte die belagerte Festung Cartagena und eroberte die vor Florida gelegene Insel Amelia von den Spaniern.

Die Abenteuer bescherten ihm Ruhm und Ansehen, was ihm bei der Suche nach Investoren für Poyais gelegen kam. Selbst der frühere Londoner Bürgermeister Sir John Perring setzte sich für MacGregor ein und half Geldgeber zu finden.

Im Oktober 1822 war es so weit. Ge-neral Sir Gregor MacGregor, der Prinz von Poyais, bot den Bankiers von London eine Staatsanleihe über 160 000 Pfund an. Das Papier war aufwendig gestaltet. Die versprochenen Zinsen betrugen sechs Pro-zent, so viel zahlten auch Peru, Chile oder Kolumbien. Doch die konnten Steuerein-nahmen nachweisen und die Anleihe da-

mit besichern. MacGregor hingegen hatte nur seine Erzählungen. Poyais sei so reich an natürlichen Schätzen, dass die Export-steuern problemlos die Zinszahlungen decken würden, versicherte er.

Wer schwindelt, kriegt mehr

Wenige sahen die Dinge so klar, wie der Oberst Michael Rafter, der mit Mac-Gregor in Venezuela gekämpft hatte. Er schrieb, der frühere Kamerad sei „süchtig nach dem Vergnügen am Spieltisch“. Und tatsächlich liebte MacGregor Partys und Zigarren. Doch seine Geschichten verlie-hen ihm eine Aura, der viele Investoren erlagen.

Ohne mit der Wimper zu zucken, zeich-neten sie die Anleihe eines Staates, den es nicht gab, verkauft von einem selbst er-nannten Sir mit einem erfundenen Prinzen-titel. Es gelang ihm sogar, weitere 40 000 Pfund einzusammeln, und er brachte es auf insgesamt 200 000 Pfund, mehr als die 163 000 Pfund, welche die real existierende Konföderation zentralamerikanischer Staa-ten damals auftreiben konnte.

MacGregor beließ es nicht bei dem Geldschwindel. In Schottland und Lon-don rekrutierte er 250 Auswanderer, die für ein Grundstück in Poyais ihr Hab und Gut verkauften. Sie stachen 1822 auf zwei Schiffen in See.

An Bord waren Arbeiter, Farmer, ein Bankangestellter, dem der Posten des Präsidenten der Zentralbank versprochen wurde, ein Theaterregisseur, der es kaum erwarten konnte, das Opernhaus von Saint Joseph zu sehen, und zwei Ärzte.

Es war für die Auswanderer ein gewaltiger Schock, als sie an der Mündung des Río Neg-ro an Land gingen und feststel-len mussten, dass es Poyais überhaupt nicht gab. Es exis-tierten auch keine Hauptstadt, keine Boulevards, keine Kathe-drale und erst recht kein Opernhaus. Sie waren betrogen worden und auf sich allein ge-

stellt. Mit den wenigen Mitteln, die sie hatten, bauten sie ein Camp. Aber Gelb-fieber, Malaria und Unterernährung setz-ten ihnen zu. Im Mai 1823 kam ein Schiff, um die Siedler nach Belize zu retten, zwei Drittel von ihnen überlebten das Abenteu-er nicht.

Als die Investoren in London davon erfuhren, zog MacGregor, der immer in Großbritannien geblieben war, nach Frank-reich – wo er noch einmal von vorn an-fing. Auch dort suchte er Investoren und Siedler für Poyais und fand 60 Franzosen, die ihr Land verlassen wollten. Aber als sie in Paris Reisepässe beantragten, prüften die Behörden, was das Ziel sein sollte, und stellten fest: Es gibt Poyais nicht. MacGre-gor landete im Gefängnis.

Es blieb ein kurzer und sein einziger Aufenthalt hinter Gittern. Bemerkenswer-terweise hatte ihn die Polizei von Belize in einer Untersuchung bereits von jeglicher Schuld für das Einwanderer-Drama freige-sprochen. Er wurde auch nie wegen seiner Anleihen-Gaunerei in London angeklagt.

Als er wieder freikam, war er hoch ver-schuldet und versuchte noch einmal, An-leihen eines fiktiven Staates zu verkaufen. 800 000 Pfund wollte er 1826 kassieren. Doch in der Londoner City hatte man genug von Investments in Lateinamerika. Zudem war MacGregors Ruf ruiniert.

Schließlich zog er nach Venezuela, wo ihm sein letzter Streich gelang: Er über-zeugte die dortige Regierung davon, ihm die einem General zustehende Rente zu bezahlen, für seine „heldenhafte Teilnah-me“ am Kampf für die Unabhängigkeit des Landes. –

Anleihen, die von jungen lateinamerikanischen Staaten in London zwischen 1822 und 1825 begeben wurden, in Pfund

Argentinien (Buenos Aires) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 200 000Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 000 000Zentralamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 000Groß-Kolumbien (Kolumbien, Ecuador, Venezuela) . . 6 750 000Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 400 000Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 816 000Poyais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 000

Quelle: Marichal (1989); Rogoff/Reinhart (2009)

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _IT-SICHERHEIT

Das Prism-ParadoxWenn sich die Entrüstung über den NSA-Skandal gelegt hat, wird die IT-Branche Kassensturz machen. Und feststellen: Die Aufregung hat sich gelohnt.

Text: Steffan Heuer und Thomas Ramge

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT

• „Es ducken sich gerade alle weg“, sagt er. Mit „alle“ sind IT-Firmen gemeint, die Geheimdiensten zuliefern. Er gehört dazu. Auch er wagt sich nicht namentlich aus der Deckung. Obwohl der Geschäftsführer eines deutschen Unternehmens rechtlich „absolut nichts zu befürchten hätte“, wie er betont. Aber: „Bekanntheit schadet in unserem Geschäft. Das war natür-lich schon immer so. Aber in der jetzigen Stimmung, bei all dem öffentlichen Interesse gilt es besonders.“

Er war lange mit einem Programm erfolgreich, das Ermitt-lungsbehörden weltweit zur Überwachung nutzen. Nun hat er ein neues im Angebot, das Informationen aus unterschiedlichen Datenbanken miteinander verbindet, im Fachjargon spricht man von Datenintegration. Damit können Analytiker zum Beispiel prüfen, ob E-Mails einer bestimmten Person zuzuordnen sind, die man bereits aus einer Telefonabhöraktion kennt.

Die Qualität der Software und ihre Marktchancen können die Autoren dieses Textes nicht beurteilen. Aber der Geschäftsführer ohne Namen wirkt seriös und optimistisch. Der Prism-Skandal, sagt er, habe allen Anbietern „eine Art globale Sonderkonjunktur

beschert. Spione, Polizei-Ermittler und militärische Aufklärer schauen voller Neid und Neugier zur NSA mit ihren scheinbar unbegrenzten Mitteln und sagen: So etwas wollen wir auch. Zu-mindest die kleine Version davon.“ Den Rückstand des Rests der Welt zu den US-Diensten nennt er „den Schmerz des Kunden, der die Kaufentscheidung letztlich auslöst“.

DIGITALES WETTRÜSTEN

Seit sich Edward Snowden im Juni mit Tausenden geheimer Dokumente absetzte und sie nach und nach veröffentlicht, ist erkennbar: Das Wettrüsten hat sich in den digitalen Raum ver-lagert. Wenn alte Waffen stumpf werden, weil die Konkurrenz gleichzieht oder überholt, sind neue gefragt. Auf Rechnung des Steuerzahlers, das hat sich nicht geändert.

Das Geschäft mit der Cyber-Angst ist hoch profitabel. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 haben die Vereinigten Staaten mehr als 500 Milliarden Dollar in Spionage- und Sicher-heitssysteme investiert, allein im laufenden Haushalt sind es 52,7 Milliarden Dollar. Das Geschäft mit der notwendigen Software läuft glänzend – egal, ob es um die Abwehr von Cyber-Attacken, das Ausspähen potenzieller Feinde oder die Auswertung von Daten geht. Weltweit wird es dieses Jahr 67 Milliarden Dollar abwerfen, in fünf Jahren könnten es doppelt so viel sein.

Richard Stiennon, Fachmann für IT-Sicherheit, hält selbst die-se Schätzungen für zu vorsichtig. „So wie Antivirus-Software und Firewalls ein großes Geschäft wurden, wird es der Verschlüsse-lung ergehen. Wenn Abhören zur Alltagsgefahr wird, will sich jede Firma schützen.“ Er prognostiziert, dass das Geschäft mit der entsprechenden Technik binnen Jahresfrist zwei Milliarden Dollar schwer sein werde. Die jährlichen Ausgaben für IT-Sicher-heit insgesamt werden sich ihm zufolge innerhalb von zehn Jah-ren auf 639 Milliarden Dollar verzehnfachen. >Fo

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _IT-SICHERHEIT

Washington hat dank der Branche einen IT-Speckgürtel an-gesetzt. Die Landkreise rund um die US-Hauptstadt von Mary-land bis Virginia sind zu einer der vermögendsten Regionen des Landes geworden.* Und im Silicon Valley haben mindestens weitere 100 Firmen ihren Sitz, die allerlei Schnüffel-Technik im Angebot haben – vom Anzapfen eines Glasfaserkabels bis zur Rasterfahndung in sozialen Medien. Der Geheimdienst CIA päppelt solche Unternehmen mit seiner Wagniskapital-Abtei-lung In-Q-Tel, sie hat in den vergangenen 14 Jahren mehr als 90 finanziert.

DIE MESSE DER SPIONE

Kein Wunder, dass es Ende September auf der Fachmesse ISS World Americas brummte, die der Veranstalter TeleStrategies seit elf Jahren organisiert. Dort bleiben Industrie und Kund-schaft unter sich, ohne Einladung kommt man nicht hinein. Das Fachpublikum konnte sich in einem Hotel in Bethesda, einem Vorort von Washington, drei Tage lang über die neueste Spionagetechnik informieren.

„Wir haben 15 der 16 US-Geheimdienste unter den Gästen sowie mehr als ein Dutzend weitere Regierungsbehörden, dazu die zehn größten Telekom-Unternehmen aus den USA und Kanada“, freut sich TeleStrategies-Chef Jerry Lucas. Jeder dritte Besucher komme aus dem Ausland, aus insgesamt 54 Ländern, und jedes Jahr steige die Zahl der Teilnehmer um 20 Prozent.

Der Whistleblower Snowden und die Fol-gen seiner Enthüllungen seien kein Thema bei der Messe, behauptet Lucas: „In unseren Krei-sen ist keiner von den angeblichen Enthüllun-gen zur NSA überrascht. Wir erteilen anwesen-den Regierungsvertretern keine Lektionen zu politischen Themen.“ Stattdessen konzentrierte man sich auf neue Methoden und Techniken, um auch solchen „Kriminellen und Terroristen“ auf die Schliche zu kommen, die sich nach der Berichterstattung über den NSA-Skandal „der rechtmäßigen Abhörung entziehen“.

Auch der promovierte Physiker Lucas er-wartet, dass der Markt „erheblich wachsen“ werde. „Das ist wie ein Wettrüsten.“ Welche Staaten die Geräte und Programme kaufen, die auf seinen Messen vorgestellt werden, ist ihm offenbar egal. Schon vor Jahren sagte er: „Es ist

nicht mein Job zu entscheiden, ob ein Land gut oder schlecht ist. Wir sind Geschäftsleute, keine Politiker.“

Krisenregionen und Regierungen, die sich vor Unruhen fürch-ten, sind auch für europäische Anbieter von Überwachungstech-nik lukrative Absatzgebiete. Der deutsche Geschäftsführer mit der Datenintegrations-Software berichtet: „Viele Kollegen sind zurzeit viel in Asien unterwegs.“ Auch die arabische Welt und Südamerika gelten als vielversprechend. Doch das ganz schnelle Geld sei, so der Informant, „in unserer Branche nicht zu verdie-nen.“ Das liegt an den Besonderheiten des Geschäftes.

Wir sehen alles. Foto vorige Seite: die NSA-Zentrale in Fort Meade, Maryland

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT

HANDSCHLAGGESCHÄFTE IM STAATLICH

REGULIERTEN MARKT

Zur Aufklärung hat kürzlich die Enthüllungsplattform Wikileaks mit den sogenannten Spyfiles eins bis drei beigetragen – eine Sammlung von IT-Angeboten an Geheimdienste. Aus ihnen lässt sich herauslesen: Oft handelt es sich bei den Zulieferern der Geheimdienste um hoch spezialisierte und eigentümergeführte Nischenfirmen. Die meisten von ihnen kommen aus den USA, Israel, Deutschland, Frankreich und Dänemark. Zwar gibt es in vielen Ländern offizielle Ausschreibungen mit definierten Vergabe-regularien. Nach Einschätzung des Insiders werde aber kein An-bieter diese Regularien „jemals verstehen“. De facto seien „Hand-schlaggeschäfte“ die übliche Vertragsform. Die Schilderungen des Geschäftsführers erinnern an das Hohelied auf den ehrbaren Kaufmann.

Er berichtete, dass die Geschäftsbeziehungen langfristig ange-legt seien und es nur dann zum Abschluss komme, wenn beide Seiten einander vertrauten. Er habe noch nie von einem Fall gehört, bei dem ein Anbieter von einem Geheimdienst verklagt worden wäre oder umgekehrt. Daran hätten beide Seiten ver-ständlicherweise kein Interesse.

Die Umsetzung laufe dann wie bei zivilen IT-Projekten. Der Anbieter muss eine Pilot-Anwendung installieren. Der Kunde kann sie ausgiebig testen, und wenn es zum Kauf kommt, muss der Anbieter das System in die IT des Geheimdienstes integrie-ren und von ihm abnehmen lassen. Der Anbieter muss das Sys-tem dann warten, regelmäßig aktualisieren und in der Regel eine Rund-um-die-Uhr-Service-Hotline für Störungen bieten. Womit der Geschäftsführer beim Pferdefuß des Geschäftes an-gekommen ist.

Weil es bis zur Auftragsvergabe – Stichwort Vertrauen – dau-ert und Sicherheitsbedenken die Einführung eines neuen Systems zusätzlich verkomplizieren, seien die „Verkaufszyklen verdammt lang“. Daher sei auch die Sonderkonjunktur noch nicht richtig abzuschätzen: „Wie groß ein Prism-Effekt in unserer Branche sein wird, werden wir frühestens in zwei Jahren sehen.“

DIE DREHTÜREN DES CYBER-INDUSTRIELLEN

KOMPLEXES

Der vielversprechende Markt zieht derzeit neue Spieler an. Der schwächelnde Computerriese HP gab kürzlich eine neue Marsch-richtung vor: „Sicherheit ist das Thema des Tages. Wir werden da groß vorstoßen“, sagte die Chefin Meg Whitman im amerika-nischen Börsenfernsehen. Das Unternehmen entlässt zwar 29 000 Mitarbeiter, hatte aber Mitte September mehr als 150 offene Stel-len für Sicherheitsfachleute. >Fo

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _IT-SICHERHEIT

Ermöglicht werden die Geschäfte rund um den in den USA sogenannten Heimatschutz durch den Drehtür-Effekt zwischen Regierung und Wirtschaft: Wer im Militär oder einem Nachrich-tendienst gearbeitet hat, kann sich darauf verlassen, in einer jener Firmen eine lukrative Anstellung zu finden, die Kritiker dem cyber-industriellen Komplex zurechnen. Der Begriff ist der legen-dären Rede des scheidenden US-Präsidenten Eisenhower aus dem Jahr 1961 entlehnt, der vor zu engen Verbindungen zwischen Rüstungsindustrie und Staat als „militärisch-industriellem Kom-plex“ warnte. In den einschlägigen Unternehmen handeln ehe-malige Regierungsangestellte dann mit alten Bekannten aus der Verwaltung lukrative Verträge aus.

„Aktuell reiten die Anbieter auf der Big-Data-Wel-le“, sagt der inves-tigative Journalist Pratap Chatterjee, der den Nachrich-tendienst Corp-watch betreibt und die Branche gut kennt. „Sie verkau-fen das Verspre-chen, man könne aus dem elektro-nischen Heuhau-fen auf gleichsam wundersame Wei-se die richtigen Stecknadeln herausfischen, und zwar ohne beim Personal aufzustocken.“ Ob die Schnüffel-Software auch wie be-worben funktioniert und beispielsweise unter Millionen Gesichtern das gesuchte findet, lässt sich schwer prüfen.

Erstens werden viele dieser Aufträge geheim vergeben – mit der Folge, dass mehrere Abteilungen in unterschiedlichen Regie-rungsbehörden versuchen, das Rad jeweils neu zu erfinden. Zwei-tens ist das Vergabeverfahren ein undurchsichtiges Labyrinth, in dem sich ein Anbieter nur mithilfe von Pfadfindern orientieren kann, die den Behördendschungel kennen, weil sie dort tätig waren und für ihre Hilfestellung heute Gebühren verlangen.

„Ohne Kontakte ist das Geschäft mit Sicherheit eine Black-box“, klagt Sascha Meinrath, Direktor des Open Technology Institute in Washington. „Selbst wenn ich eine hervor ragende Software habe, die der Regierung wie gerufen kommt, kann ich ohne Vitamin B gar nicht herausfinden, wo ich mein Angebot einreichen kann. Das sind Verhältnisse, die man in einem Land wie Nigeria als schlimmste Auswüchse der Korruption anpran-gern würde.“

Diejenigen, die bereits gut im Geschäft sind, stört das weni-ger. Große Beratungsfirmen wie Booz Allen Hamilton (BAH), die

rund 14 000 Angestellte vor den Toren Washingtons beschäftigen und die Hälfte ihres Jahresumsatzes mit Aufträgen von Militär und Geheimdiensten machen, setzen mit Erfolg auf den Drehtür-Effekt. So leitet John Mike McConnell, ehemaliger Geheim-dienstchef unter George W. Bush heute die Abteilung Cyberver-teidigung des Unternehmens – die gerade einen 5,6 Milliarden Dollar schweren Auftrag vom Pentagon erhielt. James Clapper, McConnells Nachfolger im Regierungsamt, saß wiederum früher jahrelang bei BAH in der Chefetage. „Man nimmt in Kauf, für ein paar Jahre kein Millionengehalt zu kassieren, weil man es sich später doppelt und dreifach zurückholen kann, wenn alte Kame-raden die Programme auflegen, für die man seine Dienste anbie-

tet“, so der Kommentar des Journalisten Chatterjee.

Kleine Firmen müssen anders vorge-hen. Sie verdingen sich als Subunterneh-mer für einen großen Konzern oder beru-fen einen pensio nierten Militär oder Geheimdienstler in ihre Führungsmann-schaft, der als Beauftragter für „Regie-rungsangelegenheiten“ alte Kontakte akti-viert und als Trumpf bei Ausschreibungen dient. Denn Veteranen werden ebenso wie ethnische Minderheiten in den USA bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevor-zugt berücksichtigt.

Nützlich ist neben guten Kontakten auch geschickte PR. Palantir aus Palo Alto beherrscht sie. In den Medien wird das

Unternehmen seit Jahren dafür gefeiert, in Datenbergen schnell und akkurat Verdächtiges aufzuspüren. So soll ihre Software da-bei geholfen haben, Osama bin Laden ausfindig zu machen. Nachdem In-Q-Tel Wagniskapital spendierte, gehören inzwi-schen neben der CIA das FBI, die NSA und viele andere Regie-rungsbehörden zum Kundenkreis. Geheim dienstchefs und Ge-neräle fungieren als Berater und preisen Palantir. Mit dem Effekt, dass mittlerweile mehr als die Hälfte des auf 450 Millionen Dol-lar geschätzten Jahresumsatzes aus der Privatwirtschaft stammt – die nun auch in den Genuss der magischen Datensichtung kommen möchte.

Der Messe-Organisator Lucas hat noch drei handfeste Argu-mente für eine goldene Zukunft der Branche parat. Zum einen werden seiner Ansicht nach ausländische Regierungen, die es stört, dass Daten ihrer Bürger aus sozialen Netzwerken in den USA gespeichert werden, Konzerne wie Facebook zwingen, diese vor Ort zu hosten – „einschließlich Abhörmöglichkeiten. [Unse-re] Anbieter werden diese Produkte liefern.“ Zweitens machen sich Länder wie Brasilien dafür stark, nur noch einheimische Abhörtechnik zu verwenden. Amerikanische IT-Firmen werden nach Lucas’ Einschätzung deshalb Partnerschaften mit Anbie- > Fo

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _IT-SICHERHEIT

tern in den jeweiligen Ländern eingehen. Er verweist auf den staatlichen Energiekonzern Petrobras, der nach Meldungen über NSA-Ausspähung umgerechnet sieben Milliarden Euro in Daten-schutz investieren will. Drittens werde jeder Versuch, den Einfluss der NSA zu begrenzen, unweigerlich zu höheren Investitionen in Technik führen. „Nehmen wir die Speicherung von Verbindungs-daten. Wenn einzelne Telekomfirmen diese Daten statt der NSA speichern, hätten wir Hunderte statt einer NSA-Datenbank. Ver-bindungsdaten sind das Herzstück vieler Produktportfolios. Je dezentraler diese Daten gespeichert werden, umso mehr Geld wird für solche Produkte fließen“, sagt Lucas trocken.

PRISM = WECKRUF = MEHR BUDGET AUS BERLIN UND BRÜSSEL

In Deutschland werden kleinere Brötchen gebacken, aber in den interessierten Kreisen ist man ebenfalls nicht unglücklich über die aktuelle Debatte. Andreas Könen, Vizepräsident des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), drückt es so aus: „Prism ist ein Weckruf. Den brauchte es offenbar, damit das Thema IT-Sicherheit den politischen und gesellschaftlichen Stel-lenwert bekommt, den es verdient.“ Der Punkt der „nötigen Sen-sibilisierung bei öffentlicher Verwaltung, Unternehmen und priva-ten Nutzern“ sei endlich erreicht.

Man könnte auch sagen: Endlich finden er und seine Kollegen Gehör. Bereits Anfang des Jahres wiesen sie darauf hin, dass meh-rere Versionen des Verschlüsselungsstandards SSL nicht mehr sicher sind. Wenn ein deutsches Amt das öffentlich macht, ist das aber weniger aufregend als die Enthüllungen eines abtrünnigen NSA-Agenten. Könen nutzt jedenfalls die kommunikative Chan-ce, die sich daraus ergibt. Unter anderem, um den politischen Boden für mehr IT-Sicherheitsbudget im Bundeshaushalt zu be-reiten. Ein Blick auf die Zahlen der jüngeren Vergangenheit zeigt: Es geht, zumindest für hiesige Verhältnisse, um viel Geld.

Aus dem Konjunkturpaket II der Bundesregierung flossen in den Jahren 2009 bis 2011 etwa 120 Millionen Euro in IT-Sicher-heitsanwendungen, aber das war nur ein verhältnismäßig kleiner Betrag, den sich vor allem BSI-zertifizierte Firmen wie T-Sys-tems in vergleichsweise raschen Vergabeverfahren sichern konn-ten. Der Bund gibt jährlich rund 18 Milliarden Euro für IT aus. Das BSI kann leider nicht genau herausrechnen, wie groß der Anteil für die Sicherheit ist. Eine branchenübliche Zielgröße sind sieben Prozent. Das wären also mehr als 1,2 Milliarden Euro, die IT-Sicherheitsfirmen allein mit der Bundesverwaltung verdienen könnten.

Deutsche Firmen haben einen Heimvorteil. Auf der Website des BSI sind neun zertifizierte IT-Sicherheitsdienstleister aufgelis-tet. Alle haben ihren Hauptsitz in der Bundesrepublik und sind bis auf eines mehrheitlich in deutschem Besitz. Die Ausnahme gehört zur Unternehmensgruppe des TÜV Austria. Auch hierzu-

lande macht die Vokabel vom „cyber-industriellen Komplex“ die Runde, aber selbst die größten Verschwörungstheoretiker müs-sen einräumen, dass sich der im Vergleich zu den USA zwergen-haft ausnimmt. Nachprüfbar ist: Auch bei größeren Ausschrei-bungen des Bundes gibt oft nur ein einziger Anbieter von dieser Liste ein Angebot ab. Daher dürften, so die Kritiker, die Gewinn-spannen weit über dem Marktdurchschnitt liegen.

Mittlerweile haben auch die mit dem Thema befassten Politi-ker und Beamten der Europäischen Kommission die Chancen erkannt, die sich dank des NSA-Skandals auftun. Politisch bringt er die informationstechnischen Integrationsbemühungen der Kommission voran, zum Beispiel in Form der European Cloud Partnership. Und solche Initiativen sind immer auch mit Budgets verbunden, die EU-Beamte dann verteilen dürfen.

TRANSATLANTISCHE GEWITTER IN DER DATENWOLKE

US-Konzerne sind wegen der Daten, die die NSA bei ihnen abzapft, in Veruf geraten, eu-ropäische Firmen können nun da-von profitieren. Doch diese Rech-nung wird so einfach nicht auf-gehen, weil Face-book, Google & Co nicht untätig sind. Sie haben eine lautstarke

Lobby, die die Regierung in Washington mit düsteren Prognosen unter Druck setzt. Das gestiegene Misstrauen gegenüber Cloud-Diensten, so die in zwei Studien nachzulesende Hiobsbotschaft, werde US-Anbieter in den kommenden drei Jahren zwischen 22 und 180 Milliarden Dollar kosten.

Solche gewaltigen Summen sorgen für Schlagzeilen. Und die Gelegenheit für die Verantwortlichen in den IT-Konzernen, ihr Anliegen zu übermitteln: Sie würden gern mehr über geheime richterliche Anordnungen verraten, mit denen sie zur Weitergabe von Kundendaten gezwungen werden – um sich so als Opfer staatlicher Pressionen darzustellen. Dummerweise geben die Autoren beider Studien zu, den Milliardenschaden infolge von Vertrauensverlust nur Pi mal Daumen auf der Basis einer einzigen kleinen Umfrage hochgerechnet zu haben. „Einen solchen Ein-bruch wird es nicht geben“, räumte der Forrester-Analyst James Staten ein, der die 180 Milliarden Dollar leichtfertig in die > Fo

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So nah, so fern.

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Debatte gebracht hatte. Der etwas vorsichtigere Analyst Daniel Castro vom Industrieverband ITIF machte am Ende seines Papiers klar, worum es bei der Schwarzmalerei wirklich geht: Imagepolitur für amerikanische Cloud-Anbieter.

Dieter Kempf kennt die wirtschaftlichen Interessen auf bei-den Seiten des Atlantiks. Er führt mit der Datev ein deutsches Unternehmen, das mit Datensicherheit einen großen Teil seines Umsatzes macht. Als Präsident des Branchenverbands Bitkom hat er zudem einen guten Überblick über US-Firmen, deren hie-sige Niederlassungen ebenfalls wichtige Mitglieder in seinem Verband sind. Der Interessenkonflikt wird offenkundig, wenn deutsche Firmen für „IT-Sicherheit made in Germany“ trom-meln, um eine „deutsche Cloud“ auf Kosten der US-Konkurrenz steigen zu lassen.

Kempfs Analyse „der aktuellen Sondersituation“ sieht so aus: Das Vertrauen der Internetnutzer – ob privat, in Firmen oder Behörden – in den Datenschutz ist massiv zurückgegangen. Das überrascht wenig und ist gut fürs Geschäft, konkret für fünf Pro-zent Wachstum noch in diesem Jahr. Auf diese Zahl kommt eine Marktstudie vom Bitkom und dem Beratungsunternehmen IDC. Für die kommenden Jahre hält Kempf Raten von acht bis zehn Prozent für realistisch, besonders bei den Verschlüsselungstech-niken, bei Firewalls und der Absicherung mobiler Endgeräte.

Allerdings weiß Kempf auch: „Bei privaten Nutzern ist die Halbwertszeit der Empörung bei Datenschutzskandalen sehr kurz.“ Zumal mehr Sicherheit mit mehr Kosten und weniger Bequemlichkeit einhergehe. In Firmen habe das Thema aber end-lich die Vorstandsebene erreicht. Und entschließt sich ein Unter-nehmen, in IT-Sicherheit zu investieren, trifft es eine strategi-sche Entschei-dung. Dann zie-hen kurzfristige Maßnahmen oft langfristig bin-dende Verträge nach sich, von denen die IT-Sicherheitsanbie-ter auch entsprechend langfristig profitieren, selbst wenn die Auf-regung über Prism längst wieder abgeebbt sein wird.

Vineet Jain hat sich entschlossen, auf der aktuellen Empö-rungswelle zu surfen. „Ich bekomme jeden Tag Mails von ver-unsicherten europäischen Kunden“, sagt der Gründer und Chef des kalifornischen Cloud-Anbieters Egnyte. „Privatheit gibt es nicht mehr, aber verlässlichen Datenschutz sehr wohl. Und damit werben wir, was das Zeug hält!“ Sein Unternehmen bietet File-sharing-Dienste für rund 30 000 Firmen weltweit an, vom Mittel-

ständler bis zum Multi. Ein Siebtel kommt aus Europa, und Jain glaubt, dass er diesen Prozentsatz noch steigern kann.

Das Unternehmen aus dem Sili-con Valley reagierte schnell auf den NSA-Skandal und entwickelte eine Marketingkampagne, die intern nur halb im Scherz als „Snowden-Pro-gramm“ bezeichnet wurde. Dazu gehört das Angebot, die technische Infrastruktur einer Firma kostenlos nach Lücken abzuklopfen. Egnyte hat zu-dem die Bremse bei der Cloud-Euphorie gezo-gen und wirbt damit, dass Firmen ihre Da-ten ruhig komplett hinter der eigenen Fire-wall belassen und sich nur bei der streng geregelten Zugangs-kontrolle aufs Netz stützen sollten. „Endlich hat die Realität unsere Vision eingeholt“, freut sich Jain. Bei der jüngsten Auf-sichtsratssitzung habe er „Super-Zahlen“ vorlegen können.

Wer die Angst vor US-Spionen zum Geschäftsmodell erklärt, rennt bei vielen Firmen offene Türen ein. Allerdings anders, als sich das europäische Anbieter wünschen, die mit „IT-Sicherheit made in Germany“ werben. Besonders die Cloud ist bei vielen europäischen Unternehmen out. So sagte zum Beispiel der obers-te IT-Verantwortliche einer großen deutschen Online-Versiche-rung: „Bei uns muss keiner mehr seine Cloud-Konzepte aus der Schublade holen, um sie dem Vorstand vorzulegen. Er kann sie direkt im Papierkorb entsorgen.“ Was einen deutschen Lobbyis-ten eines großen US-amerikanischen IT-Konzerns in Berlin „kein Stück wundert“.

STEILVORLAGE FÜR BRÜSSEL

Der Mann war einmal Mitarbeiter einer deutschen Sicherheits-behörde. Als deutscher Vertreter von US-Interessen hat er nun einen interessanten Blick auf die Dinge. Er sagt: „Die Debatte um Prism hat zu einer absurden Risikowahrnehmung sowohl in der deutschen Öffentlichkeit als auch unter IT-Verantwortlichen von deutschen Unternehmen geführt.“

Die US-Geheimdienste würden als die größte Bedrohung wahrgenommen. Potenzielle Angriffe auf kritische Infrastrukturen wie Stromnetze und Wirtschafts-Cyberspionage aus Russland und China würden dagegen weiter unterschätzt. Er berichtet von Unternehmen, die sich aufgeregt die Frage stellten, ob ihre Daten vor amerikanischen Diensten sicher seien. Aber genau diese > Fo

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _IT-SICHERHEIT

Dienste hätten über Umwege eben jenen Firmen schon mal den freundlichen Hinweis gegeben: „Ihr habt seit drei Monaten die Chinesen bei euch drin!“ Die Prism-Diskussion erinnert den Fachmann an die Stimmung zur Zeit des Nato-Doppelbeschlus-ses. Europäer profitieren seiner Ansicht nach – trotz Tempora und xKeyscore – sicherheitspolitisch von den Investitionen des amerikanischen Staates in solche Technik.

Die Asymmetrie sei das eigentliche Problem – der deutsche Staat investiere zu wenig in Cyber-Sicherheit. Und beschwere sich aus Undank bei den amerikanischen Verbündeten, von deren Schutzschirm er profitiere. Das ist aus Sicht des Lobbyisten „politisch ärgerlich und kontraproduktiv für die transatlantischen Beziehungen“. Handfester wirtschaftlicher Schaden entstehe aber dann, „wenn deutsche IT-Firmen, die auf dem Weltmarkt erheb-liche Probleme haben, deutsche Politiker davon überzeugen, dass nur deutsche Produkte deutsche IT-Sicherheit herstellen kön-nen“. Und dies alles unter der Überschrift „technologische Sou-veränität“ Deutschlands oder Europas.

Ein Beispiel ist Andromède, der Versuch des französischen Staates, zusammen mit der französischen IT-Industrie einen fran-zösischen Cloud-Dienst aufzubauen. Auf dem sollen zum einen die IT-Anwendungen des französischen Staates laufen – und gern auch die von anderen EU-Ländern. Frankreich hat 4,2 Milliarden Euro in einem Fonds für die digitale Gesellschaft bereitgestellt, aus dem Andromède und andere Projekte finanziert werden.

Und es gibt noch ambitioniertere Träume. Politiker, Beamte und Lobbyisten der europäischen IT-Branche, vorzugsweise mit Dienstsitz Brüssel, fordern „einen europäischen IT-Airbus“. Das hört sich gut an. Denn Airbus wurde nach großen Anlaufverlus-ten langfristig zur sinnvollen Staatsinvestition in den privaten Sek-tor. Doch bei Dieter Kempf, dem Bitkom-Präsidenten, ruft die Idee nur Kopfschütteln hervor: „Unsere Branche ist mit dem Flugzeugbau nicht zu vergleichen. In einigen Bereichen, zum Bei-spiel bei Routern im Massenmarkt, hat Europa einen Entwick-lungsrückstand von Jahren. Milliarden würden nicht reichen, um den aufzuholen.“

EIN UNGEWOLLTES ABLENKUNGSMANÖVER

Etwas überspitzt könnte man die Prism-Geschichte auch so er-zählen: Ein Geheimdienst spioniert mit den Mitteln der Massen-datenanalyse Freunde aus. Damit macht er sich bei den Freunden zum Feind, die ihre eigentlichen Feinde wiederum aus den Augen verlieren. Was aber im Ergebnis nicht so schlimm ist. Denn durch Prism erhöht sich das Problembewusstsein, was russischen und chinesischen Hackern das Leben zumindest ein wenig schwerer macht.

Viktor Mayer-Schönberger, ehemaliger Software-Unterneh-mer, Professor am Oxford Internet Institut, sieht noch zwei Wi-dersprüche: „Die NSA profitiert von ihren Datenanalysen, für die sie nun am Pranger steht, deutlich weniger als andere US-Sicher-heitsbehörden, über die zurzeit niemand redet. Das sind vor allem die Bundespolizei FBI und die Drogenfahnder von der DEA.“ Und die NSA entwickelt sich selbst immer stärker zu einer janus-köpfigen Organisation. Denn: „Es gibt in der NSA eine starke Fraktion, die erkennt, dass der Kurs der aggressiven Datenspio-nage mittelfristig die USA als informationstechnologische Macht schwächt. Insbesondere auch die NSA selbst.“

Die Snowden-Enthüllungen spielen, wenn man Mayer-Schön-felders folgt, auch der Defensiv-Fraktion in der NSA in die Hän-de. Die will weniger Individuen abhören, sondern aus den gigan-tischen Datenmengen künftiges Verhalten von Personengruppen vorhersagen, Risiken abschätzen, um dann präventiv eingreifen zu können.

Der US-Lobbyist spricht davon, „den digitalen IQ des Staates zu erhöhen“. Das koste natürlich. Steuergeld. Aber das ist bei Konjunkturprogrammen ja immer so. –

siehe auch brand eins 02/2002: Spione und Start-ups; b1-link.de/spione_startups

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _UNTERNEHMERPORTRÄT PETER THUN

Der Herrder EngelEs kann ein Schicksal sein, wenn die Mutter eine der bekanntesten Bozener Keramikfiguren erfunden hat. Peter Thun (Foto) hat es angenommen und aus einer Südtiroler Werkstatt ein weltumspannendes Imperium gemacht.

Porträt eines Unternehmers.

Text: Gerhard Waldherr Foto: Monika Höfler

• Das Einkaufszentrum Galleria Verona Uno in San Giovanni Lupatoto, Region Venetien. Bunte Konsumschau, an jeder Ecke eine Palme. Peter Thun sucht seinen Laden. Aber zuvor muss er noch schnell bei Geox reinschauen. Im Geschäft kein einziger Kunde. Die Firma hat im ersten Halbjahr 2013 fast die Hälfte ihres Umsatzes eingebüßt. Gegenüber der Laden von Swarovski. Auch leer. Die liegen bei 20 Prozent minus. Während der Auto-fahrt hatte Thun über die Krise gesprochen: „Die Leute kaufen nicht mehr.“

Der 58-Jährige ist ein Mann, der auffällt, ein sportlicher Typ mit markantem Gesicht und silbergrauem Haar. Er federt vorbei an McDonald’s und Intimissi, Unterhosen für den modebewuss-ten Italiener, und sammelt weitere Indizien für seine These: „Das Einzelhandelssterben wird in Italien noch dramatisch werden.“ Dann stoppt er. Späht durch die Glasscheibe. Kiko: Make-up zu niedrigen Preisen. An der Kasse eine Schlange. „Die haben“, sagt er, „einen durchschnittlichen Kassabeleg von unter zehn Euro, planen 80 Läden in China.“ Das Geschäftskonzept, so Thun, stamme übrigens von einem Mailänder Immobilienhändler.

Solche Leute imponieren ihm, solche Geschichten mag er. „Als Unternehmer bist du immer mit Herausforderungen kon-frontiert. Zu meinen Aufgaben gehört nicht, stehen zu bleiben, wo ich bin.“ Womit wir bei der Thun S.p.a. wären, seiner Firma, die nicht stehen bleiben kann. Das hat primär mit dem Material zu tun, das ihr Image bestimmt: Keramik. Damit hat sie in Italien eine Markenbekanntheit von 78 Prozent erreicht. Jeder zweite Italiener besitzt eines, jeder dritte mehr als sechs Thun-Produkte. Der Unternehmer sagt: „Jeder kennt uns.“ Das ist gut. „Jeder ver-bindet uns mit Keramik.“ Nicht so gut. „Als meine Eltern damit anfingen, war das noch was, aber heute …?“

Mit dem Engel fing alles an

Keramik ist der Chic von vorgestern. Es wirkt klobiger und zer-bricht leichter als Glas oder Porzellan und ist dafür vergleichs-weise teuer, weil aufwendig zu produzieren. Hinzu kommt, dass die Branche, kurz GPK (Glas, Porzellan, Keramik), zu der es zählt, schon bessere Zeiten erlebt hat. Den Hochzeitstisch, einst Garant für solide Umsätze, gibt es kaum noch. Wer schafft sich noch ein 124-teiliges Service an? Gekauft werden heute eher Einzelstücke, Präsente zu besonderen Anlässen. 2012 ging der Umsatz der Thun S.p.a. in Italien um 18 Prozent zurück.

Deshalb sind wir in San Giovanni Lupatoto, sieben Kilometer südöstlich von Verona, und suchen seinen Laden. Dort will Thun zeigen, wie er der Herausforderung begegnet. Wie er mit neuen Produkten den „Markt aufrollen“ will. Nur: Wo ist der Laden? Thun blickt sich um: C&A, Media World, Pasta vom Fernsehkoch Giovanni Rana. Er fragt einen Sicherheitsmann. Der überlegt. „Thun? Ah, gli angeli!“ Der Laden mit den Engeln sei da vorne links. >

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _UNTERNEHMERPORTRÄT PETER THUN

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Otmar Graf von Thun und Hohenstein und Helene Grab-mayr von Angerheim begegnen sich 1949 im Büro eines Bozner Architekten. Er, promovierter Jurist, entstammt einem der ein-flussreichsten Adelsgeschlechter des Trentino und Tirols, das sich auch über Böhmen, Österreich und Süddeutschland ausgebreitet hat. Sie, jung, hübsch, ist die Enkelin eines Bozner Hoteliers, gilt als gescheit, beliebt und wird von allen Lene genannt.

Was das junge Paar verbindet, ist der Wunsch, nach den Zer-störungen des Zweiten Weltkrieges etwas aufzubauen. Er hat Keramikschulen in Umbrien und Perugia besucht. Sie hat schon als Kind gern gebastelt, gemalt und liebt Keramik. 1950 gründen die beiden eine Werkstatt im Keller von Schloss Klebenstein, wo Lene Thun fortan Tier- und Krippenfiguren, Teller, Tassen und Vasen kreiert, verziert mit Ornamenten wie Herzen, Blumen, Granatäpfeln, Sonnenrädern, Bienen, Marienkäfern.

Eines Abends sitzt sie im Keller und formt einen Engel. Er hat ein pausbäckiges Gesicht, die Augen geschlossen, die Lippen ge-spitzt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Er sieht aus, als würde er träumen. Das erdige Material. Die rustikale Gestalt. Die warmen Farben seiner Bemalung. Schwer zu sagen, was seinen Reiz ausmacht. Vielleicht ist es die Melange aus Kitsch und Kunsthandwerk, die heile Welt suggeriert. Jedenfalls wird der Engel zum Verkaufsschlager, schon bald bekannt als Angelo di Bolzano. Bis heute ist der Bozner Engel für Thun, was der Stern für Mercedes ist.

Peter Thun hat seinen Laden gefunden, zwischen Calvin Klein und Wind Infostrada. Er studiert die Auslage, geht rein, überprüft Regale und Tische. Welche Produkte liegen wo? Wie werden sie präsentiert? Und vor allem: Ist das neue Konzept zu erkennen?

Thun hat in den vergangenen Jahren seine Produktpalette ver-größert und neu sortiert. Unter Casa finden sich weiter die klas-sischen, überwiegend dekorativen Keramikartikel vom Kochlöf-felbehälter über die Wanduhr bis zur Stehlampe. Unter Donna neuerdings Damenmode, Schmuck und Accessoires, darunter Handtaschen, Brieftaschen, Schlüsselanhänger. Unter Bimbo Kleidung für Kinder bis 24 Monate, Plüschtiere, Spielsachen. Und unter Momenti werden Artikel zusammengefasst, die sich als Geschenke eignen, natürlich die Engel, aber auch Fotorahmen, Hochzeitsalben, Glückwunschkarten. Die Bomboniera, das Prä-sent, die kleine Aufmerksamkeit, ist beliebt in Italien.

Wer Thun kauft oder schenkt, ist meist weiblich, Mitte 30, verheiratet, Mutter, Mittelstand. „Die Mamma“, sagt Paolo Den-ti, Geschäftsführer in der Unternehmenszentrale in Bozen, „ist immer der Chef, sie gestaltet die Wohnung, sie kauft für die Kin-der, sie kauft für sich, sie kauft für ihre Eltern, Schwiegereltern und Freundinnen.“ Mit den neuen Produktfamilien, so Denti, „haben wir mehr Möglichkeiten, die Kundin zu erreichen“.

Kein Vorteil ohne Nachteil. „Das Problem ist, unsere Identität, unsere Sprache von Keramik auf Materialien wie Leder, Stoff, Gold, Silber zu übertragen“, sagt Peter Thun. „Wie bewahre ich die Anmutung von Keramik, obwohl ich nicht mehr damit oder nur mit Keramikteilen arbeite? Diese Skills haben wir noch nicht.“ Was sie aber wissen: „Wir dürfen dabei auf keinen Fall unsere DNS verlieren.“

Dieses Erbgut stammt von Lene Thun, die bis 1995 die Pro-duktentwicklung leitete. Ihre Handschrift findet sich fast überall, neben dem Bozner Engel bevölkern immer noch ihre Hündchen, Kätzchen und Häschen in unzähligen Varianten, Größen und

Herzig: Mit solchen Figuren wurde Thun groß. Der Geschäftsführer Paolo Denti hat bei sich daheim keine stehen

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Ausdrucksformen die Kataloge. Der Aufschwung der Firma ist das Werk ihres Sohnes Peter. Dank ihm wurde aus einer Keramik-werkstatt mit 35 Mitarbeitern ein Unternehmen mit 172 Millio-nen Euro Umsatz, mehr als 2000 Mitarbeitern und 1700 Ver-kaufsstellen in Europa und Asien. 1100 Läden beliefert Thun allein in Italien. Es gibt jährlich zwei Kollektionen mit jeweils 2300 Artikeln, wobei jeweils 800 neu entworfen werden, darun-ter zahlreiche Sondereditionen für den Thun Club mit 100 000 Mitgliedern.

Peter Thun ist ein wildes Kind. Mit zwölf bestreitet er sein erstes Motorradrennen, mit 16 sein erstes Autorennen. Zusam-men mit seinem älteren Bruder Matteo gehört er zu Europas ersten Drachenfliegern. Thun studiert Wirtschaft. Drei Prüfungen vor seinem Diplom hört er auf. Keine Lust mehr. „Ich wusste, ich würde dieses Wissen nie benutzen, und nicht angewandtes Wissen macht unglücklich.“ Mit 19 gründet er seine erste Firma. Sie heißt It’s Time to Fly und vermietet Drachenflieger, die mit Werbebotschaften bei Events eingesetzt werden. Seine Bekannt-heit als italienischer Meister verschafft ihm die nötige PR. Er ist 21, als er von einem neuen amerikanischen Freizeitsport erfährt und Thun’s Racer gründet, das Skateboards und die dazugehö-rige Schutzkleidung produziert.

1978 übernimmt Thun den elterlichen Betrieb. Er ist 23. „Mein Bruder und ich haben uns immer geschworen, etwas Eige-nes zu machen.“ In einem Familienbetrieb, sagt Thun, „kriegst du als Kind alles mit, die finanziellen Probleme, wie schwer man kämpfen muss, über alles wird ständig gesprochen. Ich habe

immer bewundert, wie meine Mami nach einem harten Arbeits-tag nachts im Atelier sitzen und modellieren konnte.“ Warum er es dennoch gemacht hat, kann er nicht schlüssig beantworten. Matteo Thun ist inzwischen Doktor der Architektur und auf dem Weg, einer der renommiertesten Designer seiner Generation zu werden. Einer musste es machen? Nein, sagt Thun, seine Eltern hätten ihn nicht beeinflusst: „Meine Eltern haben mir immer alle Freiheiten gelassen.“

„So sind die Leute hier“, sagt Josef Negri, Direktor des Süd-tiroler Unternehmerverbandes. „Man fühlt sich dem Familienerbe verpflichtet, und dann geht man aber auch offen und innovativ damit um.“ Peter Thun stehe „stellvertretend für den Unterneh-mergeist der Region“. Trotz nur einer halben Million Einwohner stellt Südtirol eine Reihe international erfolgreicher Firmen wie Leitner (Seilbahnen), Dr. Schär (glutenfreie Lebensmittel) oder Technoalpin (Schneekanonen). Die Produktivität der Region ist laut Negri höher als die Deutschlands. Er erklärt es unter ande-rem mit der Mentalität des Südtirolers, der sei „leistungsorien-tiert, hartnäckig und scheut sich nicht davor, Grenzen zu über-schreiten“.

Auch die Chinesen mögen Kitsch

Nachdem er die Geschäfte übernommen hat, erkennt Thun schnell das Potenzial der Firma. „Ich hatte den Markt, was mir fehlte, waren die Kapazitäten.“ Südtirol ist klein. Hohe Berge, tiefe Täler. Nur ein Sechstel der Fläche kann erschlossen werden. Also verlagert der neue Chef die Produktion in die Poebene und baut Logistikzentren in der Nähe von Mantua auf. Die Umsätze wachsen rasant. Immer häufiger kommen Briefe von Kunden („Ihre Engel helfen mir in Zeiten der Not“), Einladungen zu Hochzeiten, Fotos von Babys mit Thun-Figuren in der Wiege. Ein Häftling schickt Lene Thun Geld und bittet, sie möge seiner Mutter doch einen Engel zu Weihnachten senden. 1998 gründen Mutter und Sohn den Thun Club, für den neben den Sonderedi-tionen ein Magazin namens »Mondo Thun« herausgegeben wird und regelmäßig Feste veranstaltet werden.

Aus der Keramikwerkstatt ist ein mittelständisches Unterneh-men geworden. Eine neue Geschäftszentrale muss her. Allerdings nicht irgendeine. 2002 wird das von Bruder Matteo konzipierte Thuniversum eröffnet: Bürogebäude, Flagship Store, Restaurant, Café. Im Mittelpunkt des Komplexes ein kreisrunder Saal, an des-sen Wand ein Südtiroler Bergpanorama projiziert wird. Steinerne Monstranz. Langsam gleitet die Kamera über den Fels nach oben in den blauen Himmel. In dem schließlich ein Engel erscheint. Inzwischen kommen 300 000 Besucher jährlich, an Weihnachten sind es bis zu 70 Omnibusse täglich. Junge Männer knien im Thuniversum vor ihren Begleiterinnen und machen Heiratsanträge zum Barcley-James-Harvest-Song „Hymn“: Valley’s deep and the mountains so high … >

Die Zielgruppe ist weiblich: Thun-Produkte in einem Einkaufszentrum

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Gleich daneben sind Schaukästen in die Wand eingelassen. Auf Knopfdruck laufen Videos an, in denen Lene Thun die vielen Arbeitsschritte bei der Entstehung eines Keramikengels erklärt. Vom Modell aus Ton über die Herstellung der Gussform, das Füllen der Gussform, das Glätten, Nachbearbeiten, Retouchieren des Gusses, das Bemalen, Brennen, Lackieren des Endproduktes. Das meiste ist Handarbeit.

Der wachsende Erfolg schafft die nächste Herausforderung: ausufernde Kosten. Zunächst sucht Thun in Osteuropa nach bil-ligeren Produktionsmöglichkeiten. Doch die Bürokratie, apathi-sche Arbeiter und träge Fabrikleiter, die absurde Kostenrechnun-gen vorlegen, schrecken ihn ab. Daraufhin orientiert er sich in Richtung China. 1993 gründet er dort eine rein ausländische Kapitalgesellschaft und ist damit einer der Ersten. In der Provinz Fujian lässt er eine Fabrik bauen, die neun Monate nach der Zu-weisung des Grundstücks die Produktion aufnimmt. Die Lohn-kosten liegen im Vergleich zu Europa bei 1 zu 20.

„In Südtirol geboren, in Italien aufgewachsen, durch die Glo-balisierung groß geworden“, sagt Thun heute über sein Unter-nehmen. Paolo Denti wusste nicht viel darüber, als er 2008 als Geschäftsführer dort anfing. „Ich kannte den Namen, den Engel, einige andere Produkte, aber was für eine Firma das genau war – keine Ahnung.“ Denti kam von Benetton, wo er für die Sport-marken Prince und Nordica in den USA zuständig war. „Am meisten“, so Denti, „hat mich die Dimension überrascht.“ Der Generaldirektor der Südtiroler Volksbank, Johannes Schneeba-cher, sagt dazu: „Man fragt sich tatsächlich, wie man mit einem Batzen Dreck – was anderes ist Keramik ja nicht – so viel Geld verdienen kann.“

Denti soll dafür sorgen, dass das so weitergeht. In den vergan-genen Jahren wurde viel Geld investiert in den Aufbau eigener Ladengeschäfte und die Ausbildung des Verkaufspersonals inklu-sive E-Learning, hausintern Thuniversity genannt. Ob es aller-dings ausreicht, künftig eine breitere Produktpalette anzubieten

als die Konkurrenz? Vor allem in Europa, wo die Vitrinen längst voll sind. „Europa“, sagt Denti, „ist nicht unser vorrangiges Ziel. Wenn ich mir einen Markt erschließe, dann einen, der generell wächst. Unser neues Firmenkonzept passt beispielsweise eher zu Märkten wie Brasilien oder die Türkei.“ Und zu Asien. 15 Läden in China gibt es bereits, 30 weitere sind in Planung, auch in Japan und Korea ist man schon präsent.

Auch Alessio Longhini wusste wenig über die Firma, bevor er 2009 vom Reifenhersteller Pirelli kam. Heute leitet er das neue Logistikzentrum bei Mantua. 144 000 Quadratmeter, 36 000 da-von überdacht. 60 000 bis 70 000 Artikel werden täglich von hier aus verschickt. Weil die Anlage eine weit höhere Kapazität hat, arbeitet man auch für Coca-Cola, Weinkellereien, die italienische Post. Der Betrieb ist an einen 500 Meter entfernten Binnenhafen angeschlossen. Die Ware kommt über den Canale Bianco, der parallel zum Po verläuft, beim Wassertransport entstehen 50 Pro-zent weniger Emissionen als auf der Straße. Mit einer Reederei in Triest bietet Thun über Mantua neuerdings weltweite Warenlie-ferungen an, die Kooperation firmiert unter Door2Green.

Der Chef ist schnell. Und hartnäckig

54 Millionen Euro wurden in das Logistikzentrum investiert, an das ein zweiter Flagship Store angeschlossen ist und das schon von Weitem an einer 700 Meter langen rostrotbraunen Mauer aus Ton zu erkennen ist. Thun sagt: „Wir wollten diese massive Investition auch kommunikationstechnisch nutzen.“ Die Idee kam vom Architekten, also vom Bruder.

Raus aus Südtirol. Rein nach China. Der Aufbau eigener La-dengeschäfte. Das Logistikzentrum. Jetzt die neuen Produktfami-lien, die verstärkt beworben werden. Außer dem Engel ist nicht mehr viel, wie es war. Petra Bertagnoll, Thuns Assistentin, sagt: „Bei uns ist permanenter Wandel.“ Francesca Russo, Produkt-managerin, sagt: „Zu den 800 neuen Artikeln pro Kollektion ent-wickeln wir ein Drittel mehr Ideen, die das Licht nicht sehen.“ Was dazu führe, dass sie stets „on the run“ sei. Und was sagt der Chef dazu? Thun sagt: „Als durchschnittlicher Unternehmer kommt man heute nicht mehr weit, nicht in unserem aggressiven Markt, nicht in unserer schnelllebigen Zeit.“

Bei der Weltmeisterschaft der Drachenflieger lag Thun zwi-schenzeitlich weit in Führung. Am Ende wurde er Fünfter. Aus Verärgerung nahm er danach nie wieder an einem Wettkampf teil. Obwohl seine Fabrik in Fujian Brandstiftung zum Opfer fällt, gibt er den Standort nicht auf. Auch nicht, als ein Zulieferer sagt, entweder seine Firma verschwinde oder er. Thun verbringt meh-rere Monate im Jahr in China, arbeitet bis zu 16 Stunden täglich. Thun: „China aufzubauen war reiner Wille.“ Und Grenzen über-schreiten hat bei einem wie Thun nicht nur eine Bedeutung. Seine Frau sagte einmal: „Die Thuns machen alles in einem irr-sinnigen Tempo, daran musste ich mich erst gewöhnen.“

Weiß, wo’s langgeht: Alessio Longhini, Chef des Logistikzentrums

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Noch betreibt Thun zwei Fabriken in China, beide in der Region um Peking. Dass eine dritte hinzukommt, ist unwahr-scheinlich. Ihn störe der rücksichtslose Umgang mit Mensch und Umwelt. Die zunehmende Unsicherheit in der Zusammenarbeit mit chinesischen Behörden und Geschäftspartnern. Die nebulöse Rechtsprechung. Die bürokratische Willkür, die ausländischen Investoren ohne Vorwarnung Sonderausgaben auferlege.

„Ich traue den Chinesen nicht mehr“, sagt Thun, „sie haben keinen Bedarf mehr an Know-how oder Kapital, sie wollen totale Kontrolle. Ich rate inzwischen von China ab, ich würde dort nie ein Joint Venture mit einem einheimischen Partner eingehen, das macht es am Anfang leichter, aber am Ende zahlt man alles mit Zins und Zinseszins zurück.“

Ein Großteil der Produktion wurde bereits nach Vietnam ver-lagert. Dort begegne man westlichen Ausländern offener. Fabrik und Personal least Thun von einer taiwanesischen Firma. 1000 vietnamesische Arbeiter kosten jährlich drei Millionen Euro weni-ger als 1000 Chinesen. Produziert wird aber auch in Slowenien, Bulgarien und Rumänien. In Rumänien betreibt Thun zudem Europas größte Anguszucht mit 2300 Mutterkühen. In Ungarn Ackerbau. Und er ist an einem Wasserkraftwerk bei Brixen betei-ligt; dort wurden 26 Millionen Euro in modernste Turbinen in-vestiert. Wer hinter all dem die Strategie vermisst, dem sagt er: „Man muss auch aus Intuition entscheiden, wenn man alles ratio-nal machen könnte, bräuchte man keine Unternehmer.“

Noch mal Bozen, Thuniversum, der Flagship Store. Gleich hinter Regalen mit Thun-Engeln, die Emily, Melanie oder Rapha-

ela heißen – das Modell Valerie ist einen halben Meter hoch, eig-net sich als Kerzenständer und kostet 415 Euro – hat Petra Pichler ihr Büro. Denti hatte gesagt, bei ihm zu Hause stehe kein Produkt seines Arbeitgebers. Longhini hatte gequält gelächelt. Pichler, groß, schlank, schulterlanges Haar, echauffiert sich hingegen, als sei die Frage unanständig: „Wir hatten schon immer Thun im Haus, wir sind sechs Schwestern, für jede gab es zur Geburt einen Engel, und meine Mutter hat noch etliches mehr.“ Und sie versi-chert glaubhaft, dass sie die Handtaschen aus der neuen Donna-Kollektion toll finde und mehrere Schmuckstücke besitze und benutze. Die Halskette mit dem Herz aus Keramik habe sie schon mehrmals an Freundinnen verschenkt.

Die Halskette ist eine Sonderedition für die gemeinnützige Stiftung Gräfin Lene Thun Onlus, die Pichler leitet. Es war der ausdrückliche Wunsch des Chefs, den Termin wahrzunehmen. Na ja, denkt man, die übliche Nummer. Soziale Verantwortung. Wir denken nicht nur an Profite, wir tun Gutes. Machen alle. Wer Pichler das so erzählt, kann was erleben. Schon referiert sie. 90 Projekte vergangenes Jahr. 1500 Teilnehmer. Junge Mädchen und Frauen in Burkina Faso, die durch einen Keramik-Workshop nun in der Lage seien, Geld zu verdienen. Jugendliche in Bolivien, die über die Stiftung eine eigene Keramikschule aufbauen konn-ten. Pichler spricht über die therapeutischen, heilpädagogischen Aspekte der Arbeit mit Ton bei Krebskranken, Behinderten, Se-nioren oder Strafgefangenen. Sogar in Kunstausstellungen hätten es die Objekte der Stiftung schon geschafft. Ihr Büro ist voll da-von. Schöne Sachen, wirklich.

In der Heimat machte er sich nicht nur Freunde

Wer Pichler besucht, geht nicht ohne ein Buch über die 2004 ver-storbene „Gräfin der Engel“, an deren Leben und Wirken die Stiftung erinnern soll. Das Buch besteht aus sehr privaten Foto-grafien, ein wenig PR-Material und Erzählungen von Familien-mitgliedern, Schulkameraden, Mitarbeitern. Tenor: eine beschei-dene, fleißige, fröhliche Frau, die die Natur liebte, gern auf Berge kraxelte und Ski fuhr. Die gotische Fresken mochte, sich dem Südtiroler Handwerk verbunden fühlte mit seinen Holzschnitze-reien und Bauernaltären samt pausbäckigen Barockengeln. „Ich wünsche mir“, hat sie einmal gesagt, „dass meine Figuren, in de-nen meine ganze Liebe steckt, den Weg in viele Herzen finden.“

Die häufigsten Antworten auf die Frage, warum jemand Thun kauft? Erstens: „Es gibt mir ein gutes Gefühl“; zweitens: „Es bringt mich zurück in meine Kindheit.“

Wer heile Welt verkauft, muss nicht notwendigerweise in einer leben. Der Unternehmer hat sich mit der Auslagerung der Produktion aus Südtirol nicht überall beliebt gemacht. 2009 monierte der Sozialtisch Südtirol, ein Netzwerk aus Vertretern der Sozialpolitik und Gewerkschaften, Thun habe zwar das An-sehen der Region weltweit gefördert, über die Jahre dafür

Die Frau fürs Gute: Petra Pichler, Leiterin der Unternehmensstiftung

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aber mehr als 100 Arbeiter und Angestellte entlassen. Wenig spä-ter versagte ihm die lokale Politik die Unterstützung für sein Pro-jekt Thun City. Auf dem Virgl, einem kleinen Berg südlich von Bozen, der nur durch eine Seilbahn zu erreichen ist, plante er – wieder in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Matteo – einen neuen Firmensitz mit Thuniversum, öffentlichen Einrichtungen für Freizeit, Sport und Kultur, dazu ein archäologisches Museum, Hotel, Tagungszentrum, Büros und ein Denkmal für den sagen-umwobenen Dolomitenkönig Laurin. Laut Thun hätten sich die Gemeindevertreter nicht gegen die „grüne Opposition“ durchset-zen können.

Erst kürzlich geriet er erneut in die Schlagzeilen, nachdem wegen der jüngsten Umsatzeinbußen 22 der in Bozen verbliebe-nen 181 Mitarbeiter entlassen werden sollten. „Es ist richtig“, sagt Thun, „dass wir in Europa Stellen abgebaut und nach China ver-lagert haben, dasselbe findet heute statt, da wir China größten-teils verlassen und nach Vietnam gehen. Fest steht: Wenn wir nicht schnell genug handeln, überrollt uns die Globalisierung, ob wir wollen oder nicht.“

Was bedeutet es ihm, dass er Italiens Unternehmer des Jah-res war?

„Einer meiner Vorgänger sitzt inzwischen im Gefängnis, das beantwortet die Frage.“

Im Mai hat er eine Einladung von Präsident Napoletano, der jedes Jahr einen Ehrenpreis an 26 verdienstvolle Bürger verleiht, abgesagt.

„Von so einer korrupten Mannschaft wie der römischen Poli-tik will ich nicht geehrt werden. Wichtig ist für mich, dass ich über 40 Jahre konsequent meinen Weg gegangen bin und dabei menschlich in Ordnung und finanziell unabhängig geblieben bin.“

Dazu passt, dass die Gesellschaft Eisackwerk, das Wasser-kraftwerk bei Brixen, an dem Thun beteiligt ist, der Südtiroler Landesregierung gedroht hat, Klage einzureichen. Seit geraumer Zeit kursieren Gerüchte um Korruption und persönliche Berei-

cherung durch Politiker bei der Privatisierung öffentlicher Wasser-kraftwerke.

Von San Giovanni Lupatoto nach Verona. Thun schlägt vor, eine Pause zu machen und auf der Piazza delle Erbe, dem Kräu-termarkt, etwas zu trinken. Weil es dort schön ist. Weil er gern Leute beobachtet. Im Straßencafé erzählt er, dass er seinen Kin-dern gesagt habe, sie bekämen drei Jahre Universität bezahlt, und dann müssten sie selbst klarkommen: „Wer etwas erreichen will, muss hinaus in die Welt, da muss Hunger sein.“ Die Tochter, 26, arbeitet inzwischen bei Kraft Foods in Mailand, der Sohn, 24, betreibt E-Commerce in Hongkong. Er, sagt Thun, freue sich, dass die Kinder Interesse am Unternehmen zeigten. Aber er wür-de sie zunächst lediglich als Mitarbeiter einstellen, mit Denti als Vorgesetztem. Durch eine Stiftung, in die er das Unternehmen eingebracht hat, hätten sie „bis zu einem bestimmten Punkt auch keinen Zugriff auf das Vermögen des Unternehmens“.

Er hat viele Ideen. Und Sinn für Details

Vom Kräutermarkt sind es nur ein paar Schritte. Am Corso Porta Borsari, Hausnummer 57, hat Peter Thun einen Laden. Den will er sich noch schnell anschauen. Das Geschäft befindet sich in einem sehr alten Haus. Die Fassade verrußt, das Mauerwerk brü-chig. Thun geht hinein. Plaudert freundlich mit der Leiterin des Ladens. Drapiert hier ein Sofakissen neu, dort eine Handtasche, um sie ansprechender zu platzieren.

Als er wieder draußen ist, moniert er, dass die drei Produkt-familien nicht getrennt präsentiert würden, obwohl der Laden doch über drei Räume verfüge. Und dass ein Radio lief, in dem die Nachrichten übertragen wurden. „Vivaldi würde passen, aber doch keine Nachrichten.“ Thun macht sich Notizen und sinniert laut über seine Idee für die Sparte Momenti. „Ein ‚Herz der Wo-che‘, ein Zuckerl für den Konsumenten, das ihn kontinuierlicher an uns bindet.“

Auf dem Weg zum Parkplatz, wo der Fahrer wartet, entdeckt er das Schaufenster von Petit Bateau. Kindersachen aus Frank-reich, 400 Shops in 60 Ländern. Gefällt ihm sehr. Thun macht Fotos mit seinem Mobiltelefon. Das macht er auch von der Aus-lage bei Fabriano. „Die haben als Papierfabrik begonnen“, erzählt Thun, „machen immer noch das Papier für den Euro, aber an Fabriano kann man sehen, dass man funktionale Ideen braucht, gerade in der Krise.“ Kunterbunte Auslage. Schmuckkuverts, Buntstifte, hochwertige Notizbücher. „Vielleicht“, sagt er, „kön-nen wir das thunisch umsetzen.“

Im Wagen schickt er seine Aufzeichnungen des Tages und die Fotos per Mail an die Produktentwicklung. Unterschrieben mit Grüßen von Peter. Sonst nichts. Wieso hat er keinen Titel? Thun blickt ein wenig ratlos. Das Gesicht des ersten Bozner Engels hat seine Mutter nach dem ihres schlafenden Sohnes Peter model-liert. Thun sagt: „Ich brauche keinen Titel.“ –

Engel werden keine erfolgreichen Unternehmer: Peter Thun

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _BILANZ CISCO

Besser geht’s nichtCisco, einer der weltweit führenden IT-Konzerne, legte Rekordzahlen vor und kündigte trotzdem den Abbau von 4000 Arbeitsplätzen an. Muss das sein?

Text: Patricia Döhle

Das jüngste Geschäftsjahr (Cisco schließt die Bücher Ende Juli) endete für den größten aller Netzwerkausrüster, der für Firmenkunden weltweit das Internet nutzbar macht, mit mehre-ren Rekorden: Nie waren Umsatz (Revenue) und Gewinn (Net income) höher. Letzterer wuchs so stark wie seit drei Jah-ren nicht mehr, um 24,2 Prozent. Die Konkurrenz, die zwar keine Jahres-, aber vergleichbare Quartalszahlen lieferte, tat sich schwerer. Während Cisco im Vergleich zum Vorjahresquartal 6,2 Prozent mehr erlöste, kam der Konkurrent Dell auf 0,2 Prozent, bei Hewlett-Packard (HP) schrumpfte der Umsatz gar um acht Prozent. Cisco wächst nicht nur schneller, Cisco ist auch profitabler: Die Nettomarge (Net income als Anteil am Revenue) liegt aktuell bei 18,3 Prozent. HP schaffte nur rund 5, Dell 1,4 Prozent.

Warum sollen trotzdem fünf Prozent der Stellen wegfallen, also 4000 Jobs? Cisco-Chef John Chamber sitzt die jüngste Krise noch in den Knochen: 2011 ging der Gewinn um 16 Prozent zu-rück, weil die operativen Kosten fast doppelt so schnell gestiegen waren wie der Umsatz. Der Börsenkurs stürzte ab. Dabei lag die Nettomarge immer noch bei gut 15 Prozent, und damit weit vor der von HP (damals 5,5 Prozent), Dell (4,3) oder Juniper Networks (9,5). Einen Absturz will Chambers aber auf keinen Fall noch einmal erleben – und spart vorsorglich.

Im abgelaufenen Geschäftsjahr stieg die Zahl der Mitarbeiter um gut 8000, wenn der Konzern auch den Großteil dieser Jobs nicht neu schuf. Sie stammen von den vielen Firmen, die Cisco jedes Jahr erwirbt, um sich innovative Technologien ins Haus zu holen. Auch das machen die Amerikaner besser als viele ihrer Konkurrenten, was sich an der Höhe des Good-will in der Bilanz zeigt.

Blick in die Bilanz

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WAS WIRTSCHAFT TREIBT

Mit Goodwill – Firmenwert – bezeichnet man den Anteil des Kaufpreises, der den Wert der erworbenen Vermögensgegen-stände, etwa Gebäude oder Maschinen, übersteigt. Er beinhaltet immaterielle, oft schwer zu schätzende Werte wie den Marken-namen oder die Kundenbeziehungen. Je höher der Goodwill, desto teurer wurde eingekauft. Cisco hat 2012 für solche unsi-cheren Werte 4,9 Milliarden Dollar, verteilt auf 13 Unter-nehmen, ausgegeben, das zeigt der Anstieg der Bilanzposition.

Insgesamt weist die Firmenbilanz 21,9 Milliarden Dollar an Goodwill aus. Setzt man diese Zahl in Relation zum Eigenkapi-tal, ergibt sich ein Wert von 37 Prozent – was nahezu muster-haft ist. Analysten sehen alles ab 100 Prozent kritisch, weil dann hohe Abschreibungen auf die Firmenwerte (im Falle einer negativen Entwicklung der übernommenen Unternehmen) das Eigenkapital des Konzerns übersteigen und so das gesamte finanzielle Gleichgewicht bedrohen könnten. Ein Über- oder nur knappes Unterschreiten dieser Grenze ist in der akqui-sitionsfreudigen IT-Industrie nicht selten: Dell liegt bei 86 Pro-zent, HP bei 138 Prozent, IBM gar bei 161 Prozent. Die Deutsche Telekom, die auf einigen Märkten mit den Ameri-kanern konkurriert, kommt auf 151 Prozent.

Durch seine Zukäufe gelingt es Cisco, sich unabhängiger vom hart umkämpften Geschäft mit Standardprodukten wie Routern zu machen. Vor zwei Jahren machten sie knapp 65 Prozent des Produktumsatzes aus, heute sind es nur noch rund 60 Pro-zent. Ihre Rolle übernehmen wachstumsstärkere Hightech- Produkte wie digitale Videokonferenzsysteme, Hochleistungs-server oder WLAN. Eine Gelddruckmaschine ist Cisco so oder so: Die Firma verzeichnet jedes Jahr einen Barmittelzufluss in zweistelliger Milliardenhöhe, das war selbst im vermeint-lichen Krisenjahr 2011 so. Unmöglich, das alles auszugeben – trotz aller Zukäufe und üppiger Dividenden. Also werden Wertpapiere gekauft. Sie firmieren in der Bilanz unter Invest-ments und machen aktuell 42,7 Milliarden Dollar aus. –

Cisco wurde Ende 1984 von For-schern der renommierten Stanford Universität in San Francisco gegründet. Aus den letzten zwei Silben der Stadt leiteten die Gründer den Firmennamen ab. Ihr Ziel war es, die Vernetzung von Computern zu vereinfachen, und bis heute ist Technik, die Kommunikation im Internet ermög-licht, der wichtigste Erlösbringer. Kunden sind vorwiegend Firmen und Institutionen aus Politik und

Wissenschaft. In diesem Segment ist Cisco unangefochtener Welt-marktführer. Der Versuch, sich im Geschäft mit Endkunden zu etab-lieren, scheiterte indes. 1990 ging Cisco an die Börse. Nur ein Jahr später, das Internet war gerade für kommerzielle Zwecke freigegeben worden, betrug die Marktkapitali-sierung bereits eine Milliarde Dol-lar. Heute liegt sie bei rund 122 Milliarden Dollar. Cisco beschäftigt weltweit rund 75 000 Mitarbeiter.

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Schwerpunkt: Trennung

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PhantomschmerzenWer dem Schmerz vorbeugen will, hält

die Abhängigkeiten klein.

Text: Wolf LotterFoto: David Gahr / Getty Images

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

1. YOKO ONO

Die japanisch-amerikanische Performance-künstlerin, Musikerin und Unternehmerin Yoko Ono wurde in diesem Jahr 80 Jahre alt. Mal angenommen, es gäbe eine Art Amt für höhere Gerechtigkeit, eine Stelle, in der Lis-ten geführt werden von Leuten, die von den meisten ihrer Mitmenschen fies behandelt worden sind, dann stünde Onos Name ganz oben. Für die meisten Menschen ist ihr Name gleichbedeutend mit „lästige Wanze, die die Beatles kaputtgemacht hat“. Als In-begriff der sozialen Sprengladung gilt sie auch noch 33 Jahre nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes John Lennon.

Das „Luder“ spannte zunächst, 1966, Cynthia Lennon den Mann aus, den naiven Künstler John. Dessen erste Frau ist seither hauptamtlich als Racheengel tätig. Doch das war erst der Anfang. Yoko Ono drängte sich, wie wir wissen, zwischen die alleraller-besten Freunde John, Ringo, George und Paul. Die hatten überhaupt keine Zeit mehr für ihre bis dahin so harmonische Bezie-hung, die der Welt so viele schöne Melodien brachte. Wo immer John war, klettete Ono dran. Schließlich war er kaum noch präsent, gründete mit Yoko Ono 1969 eine „Plastic Ono Band“. Dort sang sie auch noch. Nicht alles, was einem Angst macht, ist auch Kunst. Und sonst? Die paar Stunden, die John bei den Beatles verbrachte, drängte sich Ono in den Vordergrund. Sie verhan-delte für ihn, sie sprach für ihn. Das konnte nicht gutgehen. Deshalb hat Yoko Ono, wie viele meinen, die Beatles kaputtgemacht.

Das erzählen sich seit dem Trennungs-jahr der Band, 1970, bereits zwei Generatio-nen. Ono ist schuld – das kommt so sicher wie das Amen in der Kirche. Das ist die Sichtweise, die den meisten Menschen liegt. Bei einer Trennung muss jemand schuld sein. Schuld ist der Stoff, nach dem man auch bei Kündigungen und Vertragsauflö-sungen fahndet, bei Scheidungen und über-

all, wo etwas zu Ende geht. Woran liegt es, dass das nicht ewig gehalten hat?

Wie schön, dass es dann Onos gibt.

2. SCHULD

Was Frau Ono angeht, die lange vor der Hochzeit mit John Lennon eine angesehene, weltweit respektierte und sehr gut bezahlte Künstlerin war, war und ist das eine dumme Legende. Allerdings wurde sie gut gepflegt, nicht nur von unbelehrbaren Fans, die nicht verstehen können, was sie nicht verstehen wollen. Es hat mehr als vier Jahrzehnte ge-dauert, bis die Sache mit Yoko Ono klarer wurde. Im November des Jahres 2012 wurde auf dem Sender Al Ja zeera ein Interview ausgestrahlt, das die britische TV-Legende David Frost mit Sir Paul McCartney führte, einst mit John Lennon Kopf der Beatles. McCart-ney hatte bisher, wie auch George Harrison und Ringo Starr, zu den Vorwür-fen gegen Yoko Ono meist geschwiegen. Damit wurde dem Affen Zucker gegeben.

Wie war es wirklich?

Ende August 1967 starb der Beatles-Manager Brian Epstein in London an einer Überdosis Schlaftabletten. Das war mehr als ein tragi-scher Verlust eines engen Freundes und Weg-gefährten. Epstein, einst Plattenverkäufer in Liverpool, hatte die Beat les 1961 entdeckt, seitdem ihre Geschäfte geführt und kannte jede Nische des Pop- Imperiums, zu dem die Band es mittlerweile gebracht hatte.

Die vier Musiker selbst hatten vom Ge-schäft keine Ahnung. Sie schlingerten von indischen Gurus zu merkwürdigen Filmen und lieferten zwischendurch Meilen steine der Musikgeschichte ab. Rund um sie hatte sich eine windige Entourage gebildet, die mit immer neuen Geschäftsideen immer neue Flops produzierte. >

Wenn man sich trennt, ist immer einer schuld. Klar. Mach mir die Ono.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _EINLEITUNG

Die Gründung eines eigenen Unterneh-mens mit Label und Fanartikel-Shops, die Apple Corps im Jahr 1967, war eigentlich eine gute Idee, die noch von Epstein stamm-te. Damit wollte der Impresario jede Menge Steuern sparen. Stattdessen geriet die Fir-mengründung zum Desaster. Alles war auf Epstein ausgerichtet. Und niemand hatte die Fäden in der Hand, keiner einen Überblick, wie es weitergehen sollte. Künstlerisch wa-

ren die Beatles auf ihrem Höhe-punkt, organisatorisch am Ende.

John Lennon suchte verzwei-felt den Rat seines Freundes Mick Jagger. Der Sänger der Rolling Stones empfahl den Amerikaner Allen Klein, der die Stones offen-bar höchst erfolgreich managte. Das wiederum kollidierte mit den

Plänen von McCartney, der seinen Schwie-gervater, den New Yorker Anwalt Lee East-man, ins Geschäft bringen wollte. Die Band stimmte ab. Drei für Klein, einer für East-man. Krieg. Ab sofort ließ sich Paul McCart-ney allein von Lee Eastman vertreten, und im Gegenzug schickten die anderen Allen Klein vor. McCartney warf Klein vor, die Band über den Tisch zu ziehen. Auf dem Album „Abbey Road“ kann man hören: „You never give me your money. You only give me your funny papers.“ Der Klassiker. Kreative streiten eifersüchtig, Manager be-dienen sich an den Einnahmen.

Die Beatles konnten sich Jahre nach ihrer Auflösung gerichtlich gegen Klein durchset-zen, den Stones gelang das nicht. Bis heute kassiert Kleins Firma bei jedem verkauften Stones-Album aus den Sechzigerjahren mit – das sind die, die besonders gut laufen.

Schon lange zuvor, im April 1970, kün-digte McCartney an, nicht mehr mit den anderen Beatles zusammenzuarbeiten. Das war nicht mehr als eine Reaktion auf den De-facto-Ausstieg John Lennons, der mit Yoko Ono höchst erfolgreiche Projekte be-gonnen hatte. Dass Paul McCartney im De-zember 1970 die restlichen Beatles noch auf

Auflösung aller geschäftlichen Beziehungen verklagte, auf vollständige Trennung also, war nur mehr Zugabe. Man darf also fragen: Was hat Ono damit zu tun? Sie ist für die se Vorgänge der Sündenbock, die Schuld ige, die heimtückisch eine gute Männerfreundschaft zerstörte. Das glauben Männer und erst recht Frauen seither gern. Die böse Frau.

McCartney hat ihr letztlich doch Ge-rechtigkeit widerfahren lassen. Bei David Frost stellte er im Vorjahr unmissverständ-lich fest, dass es die Differenzen um Allen Klein waren, die die Beatles sprengten. Und noch etwas: Yoko Ono, sagte er im vergan-genen Jahr, „hat John eine neue Perspektive eröffnet, die für ihn attraktiv war – und weil John das erkannte, wäre er sowieso gegan-gen“. Das ist keine Nebensache. John Len-non hat in der Zusammenarbeit mit seiner neuen Partnerin eine neue Perspektive ge-funden. Es war einer von vieren, der nun wusste, dass es ein Leben nach den Beatles, der größten Popgruppe aller Zeiten, geben würde. Das ist nicht schlecht.

Die anderen drei aber hatten sich, von allen anderen Querelen abgesehen, eine sol-che Perspektive nicht geschaffen. Lennons Neuanfang war ein Neustart, der der ande-ren – auch wenn er bei allen recht erfolg-reich verlaufen sollte – eine Notgeburt, eine ängstliche Reaktion darauf. Lennon ging dank Yoko Ono durch die Vordertür hinaus, der Rest über die Feuerleiter.

Menschen trennen sich oft deshalb nicht, weil sie fürchten, dass es danach noch schlimmer wird, als es schon ist. Schlechte Beziehungen werden notdürftig zusammen-gehalten, aber das Misstrauen und die Vor-würfe wachsen. Man kann nicht mehr mit-einander und wagt es nicht ohne einander. In der Praxis ist die Parole der Bremer Stadtmu-sikanten, „etwas Besseres als den Tod findest du überall“, nicht viel wert. So ein Schrecken ohne Ende passt gut auch in unsere Zeit. Das Selbstbewusstsein der meisten Men-schen hat in unsicheren Zeiten nur Zimmer-temperatur, fürs Rausgehen reicht es nicht.

Die Trennung ist auch die Einsicht, dass es besser geht.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Nicht nur in den meisten Organisationen werden Leute kleinge-halten, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Teams und Gruppen geben Schutz und nehmen dafür Selbstwertgefühl. Das merken die meisten erst dann, wenn es Streit gibt, um Geld, Positionen, Lob und Anerkennung. Die innere Kündigung ist dann schon vollzogen. Und das gilt eben nicht nur für all jene, die für ihr Geld arbeiten müssen, sondern auch für die, die vermeint-lich schon genug davon haben. Die Beatles zum Beispiel.

Dass es auch anders geht, merkt man erst, wenn man es an-ders macht. Der erste Tag nach der Trennung ist der erste Tag des neuen Lebens. Yoko Ono hat dem großartigen Musiker John Lennon gezeigt, dass er auch ohne die Beat les großartige Kunst schaffen kann. Lennon galt stets als Mensch mit geringem Selbst-wertgefühl, der sich in Drogen und Alkohol flüchtete und der, obwohl unzählige Hits der Beatles von ihm stammen, fürchtete, ohne sein Alter Ego McCartney nichts zustande zu bringen. Wer den selbstbewussten Künstler aus dem Jahr 1970 an der Seite Yoko Onos sieht, kann das kaum glauben.

Höchste Zeit, Yoko Ono für diesen guten Job zu danken. Die Frau ist keine Intrigantin, sondern eine Heldin des Neubeginns.

3.DER TOD

Es gibt ein Buch des ehemaligen Deutschland-Chefs des Musik-konzerns Universal Music, Tim Renner, das er geschrieben hat, nachdem er 2004 seinen Job verlor: „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm“, heißt es, und irgendwie sagt der Titel mehr als tau-send Abschiedszeilen. Renner beschreibt darin seine eigene Tren-nung von Karriere und Konzern, aber auch den strukturellen Abschied der Musikindustrie von ihren alten Geschäftsmodellen und die kultivierten Trennungsängste, die im Management des alten Enter tainment-Establishments gelebt werden.

Die Yoko Ono der Musikindustrie ist das Digitale, das Inter-net. Und es ist ganz wichtig, dass es sie gibt. Wenn man keine Ono hätte, man müsste glatt eine erfinden, bevor man selbst in Bewegung gerät. Denn bei Trennungen gilt das Prinzip des Beam-ten-Mikados: Wer sich als Erster bewegt, hat verloren.

Wenn Mitarbeiter kündigen, sind sie Verräter, undankbar und illoyal. Wenn Chefs das tun, sind sie das alles auch – und zusätz-lich noch asozial und grausam. Wie auch in Ehen und bei Liebes-geschichten sieht es in dieser Beziehung immer gleich aus: Schul-dig ist, wer das Weite sucht. Wer sich nicht bewegt, ist hingegen fein raus. Ihm gebührt das ganze Mitgefühl des Publikums, das die eigenen Trennungsängste auf andere überträgt.

Und es gibt immer etwas zu verlieren.Die Frage ist, ob das immer eine Kata strophe sein muss. >

tickt anders.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _EINLEITUNG

Was ist, wenn Menschen nicht zusammen-passen? Sollen sie bis zum bitteren Ende, bis dass der Tod sie scheidet, aneinander leiden? Manche berufen sich bei solchen Ewigkeits-schwüren auf die Natur. Doch die ist da ein ganz schlechter Kronzeuge. Natürlich – im Sinne von Evolution – sind Veränderungen, und damit Trennungen, ein steter Wechsel von Abschied und Neuanfang. Die Evolu-tion differenziert – und das ist immer auch ein Vorgang, bei dem eines vom anderen getrennt wird. Das geschieht nicht, um möglichst viel Leid und Sorge in die Welt zu bringen, sondern um die Chancen der be-troffenen Spezies zu erhöhen. Trennungen sind Verluste, die zu Gewinnen führen kön-nen. Nüchtern betrachtet und im Nachhin-ein ist das nicht schwer zu verstehen.

Doch um zu begreifen, dass der „Tod gar nicht so schlimm“ sein muss, sollte man zu-erst mal fragen, woher die Angst vor der Trennung kommt. Denn es ist schon merk-würdig: Immer mehr Menschen verbringen ihre Lebensarbeitszeit in Projekten, also ab-geschlossenen Prozessen, in denen das Kom-men und Gehen zur neuen Normalität wird. Mit einer Scheidungsrate von 50 Prozent ist auch die einst ewige Bindung zur Fifty-fifty-Chance geworden. Die vielen, die erst gar nicht heiraten, aber in wechselnden festen Beziehungen leben, hat man da noch gar nicht auf dem Zettel. Neue Berufsbilder tau-chen innerhalb weniger Jahre auf und wer-den zu wichtigen Leittätigkeiten, um darauf-hin wieder zu verschwinden.

Die Taktzahl der Trennungen nimmt zu. Das ist aber keine schlechte Nachricht.

Transformation ist Veränderung, und Veränderung ist Trennung von Bewährtem. Die Dynamik der technischen Entwicklung selbst sorgt seit der Industriali sierung für stetes Kommen und Gehen. Alte Methoden werden durch neue Verfahren schnell er-setzt. Das geschieht nun schon lange nicht mehr in Zyklen von einigen Jahrzehnten oder noch längeren Zeitspannen, wie das bis zur industriellen Revolution der Fall war,

sondern in einem immer höheren Tempo. Wir leben ganz ausgezeichnet mit den Er-gebnissen dieser schnellen Abschiede und Neuanfänge, wir haben das Prin-zip von Kommen und Gehen in der Wirtschaft und Gesellschaft optimiert. Unsere Kultur und unsere Persönlichkeiten hinken hinterher. Wie anders ist es er-klärlich, dass wir den Fortschritt, der hinter all den möglichen Trennungen steckt, nicht erken-nen? Dass wir nicht sehen, welche Leistung es darstellt, dass wir uns überhaupt von et-was und jemandem trennen können?

In der alten Welt der Stammesgesellschaf-ten und des Feudalismus, der Ära der engen Familien und Gutshöfe, war eine Trennung tatsächlich eine existenzielle Angelegenheit. Hier war es der Tod, der aus einanderriss. Wer seinen Herrn verlor oder sich von ihm verabschiedete (was nur wenigen möglich war), verlor sein „Auskommen“.

Unter welchen Risiken und Gefahren sich die Auswanderer aus ländlichen Armuts-regionen im 19. Jahrhundert auf den Weg nach Amerika machten, können wir aus heu-tiger Sicht bestenfalls erahnen. Bindungen löste man grundsätzlich unter Lebensgefahr. Scheidungen waren praktisch unvorstellbar – wovon hätte die Frau, die meist weder über eigenes Vermögen noch über eine Aus-bildung verfügte, denn auch leben können?

Dass die hohe Scheidungsrate, bei aller persönlichen Tragik des Einzelfalls, auch ein Zeichen der ungleich besseren materiellen Verhältnisse unserer Zeit ist, also letztlich ein gesellschaftlicher Glücksfall, ist nicht von der Hand zu weisen.

Ganz ähnlich ist es auch in allen anderen Beziehungen. Wer in einer boomenden Branche tätig ist, eine gute Ausbildung hat, gefragt ist, der trennt sich leichter von sei-nem Job – das ist eine grundlegende Lebens-erfahrung jedes Erwachsenen. Eine gute Ökonomie, ein funktionierender Kapitalis-mus sorgen für Selbst vertrauen und die

Trennung ist in der Arbeitswelt ein Tabu – nicht vorgesehen.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

Fähigkeit loszulassen, um neue Chancen zu ergreifen. Kündigun-gen sind dann nicht mehr das Drama, das sie bis heute persönlich und sozial darstellen.

4. DIE KÜNDIGUNG

Freiwillige Trennungen sind ein Zeichen von Fortschritt und Aus-weg, erzwungene Trennungen ein anderes Wort für Amputation – und davon gibt es wesentlich mehr als von den guten Trennun-gen, die uns voranbringen können. Das liegt an jeder Menge Illu-sionen, die sich alle Beteiligten in Beziehungen machen. Natürlich auch im Job.

Das erlebt die Wiener Organisations beraterin Roswita Kö-nigswieser seit Jahren. „Man hört das ja immer wieder: Die Firma ist meine Familie, mein Anker. Aber das ist falsch. Die Firma ist die Firma. Und die Vorstellung, die viele Leute von der Loyalität der Firma haben, ist schlicht eine Illusion.“ Königswiesers Fest-stellung ist nüchtern. Sie kommt ohne moralischen Unterton aus. Das ist, wenn es um Kündigung, die Trennung im Beruf, geht, die Ausnahme, nicht die Regel. Und weil das so ist, sind Kündigun-gen, die oft die materielle Existenz und die soziale Identität infra-ge stellen, ein noch größeres Drama, als sie es pragmatisch be-trachtet ohnehin schon sind. „Es reißt den Betroffenen oft die Stabilisierung weg – und die Menschen geraten ins Schwanken“, sagt sie. Alle vermeiden es, darüber zu reden. Es ist aber unver-meidlich, das zu tun. Veränderungsprozesse bedeuten immer auch Trennung. Der Tag wird kommen. Der Führungskraft graut davor.

Bereits vor zehn Jahren hat die Beraterin einen Aufsatz dem „Überbringen schlechter Nachrichten“ gewidmet. Kündigungen, so argumentiert sie darin, verändern die Identität von Menschen. Die alte Identität ist nach Erhalt der Trennungsnachricht ge-schockt. Dann glaubt man, dass das alles nicht wahr ist – ein Irr-tum, ein Missverständnis. Wenn klar wird, dass die Trennung ein Fakt ist, reagieren die meisten Menschen darauf mit Aggression. Der Wut folgt, wenn die Kräfte verbraucht sind, eine Phase der Niedergeschlagenheit, eine Depression, die in die Trauerarbeit um den Verlust übergeht. Erst mit ihr schließt sich die Trennung ab, hat sich die Identität neu gebildet.

Der Verlust ist „verschmerzt“, eine Phrase, die klarmacht, dass auch unter den besten Bedingungen Trennungen kein Vergnügen sind. Die Frage ist also, wie gelingt es, den Schmerz zu lindern? Trotz aller Veränderungen hat sich seit den Zeiten des Gutshofes am Trennungsdrama nicht viel verändert. Illusionen, Wut, Ver-zweiflung, Apathie und Trauer stehen vor dem Neuanfang. Ha-ben wir das nötig? Muss das sein? >

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _EINLEITUNG

„Wenn man sich das Selbstverständnis der Organisationen, die wir heute haben, anschaut, dann lautet die Antwort ganz klar: ja“, sagt Roswita Königswieser. Denn die wollen einerseits fähige und selbstständige Mitarbeiter, die andererseits maximale Bin-dungsgefühle ans Unternehmen entwickeln, die sich schlagartig ablegen lassen sollten, wenn der Betrieb nicht mehr so viele Leute braucht.

Rein theoretisch wird schon verstanden, dass es Vorteile hat, wenn die eigenen Mit-arbeiter auch anderswo begehrt sind. Und dass es sinnvoll ist, die eigenen Leute in ihrer Entwicklung hin zu größtmöglicher Unab-hängigkeit und Selbstständigkeit zu unter-stützen. Dass es gut ist, wenn die eigenen Leute Angebote von anderen kriegen. Es ist richtig, mit emanzipierten, autonomen Men-schen zusammenzuarbeiten statt mit in vielerlei Hinsicht Abhängigen. Das hört man in jedem Führungskräfteseminar. Aber wer hält sich daran?

Die besten Beziehungen bestehen zwi-schen Menschen, die können und wollen, aber nicht müssen. Aber genau diese Auto-nomie wird in den meisten Organisationen als Bedrohung erlebt. Die alte Organisation redet über Gleichberechtigung und Augen-

höhe. Aber spätestens bei der Trennung zeigt sich, was wirklich los ist.

Die vollständige Schmerzfrei-heit bei der Amputation wird es nicht geben, aber doch eine enor-me Schmerzlinderung durch den Versuch, die Selbstheilungskräfte zu fördern. „Man muss es ernst

nehmen, wenn man sagt: Ich mache dich in der Zeit unserer gemeinsamen Arbeit po-tenter, noch besser für den Markt, weil uns das allen nützt“, beschreibt Königswieser das, was zu tun ist.

Das folgt der Einsicht: Vorbeugen ist bes-ser als heilen.

5. EMANZIPATION

Im Personalersprech heißt das Employabi-lity, also Beschäftigungsfähigkeit. Ungefähr Ende der Neunzigerjahre wurde Employa-bility zu einem wichtigen Ziel der euro-päischen Beschäftigungspolitik. Zumindest theoretisch. Das waren die Zeiten, in denen man es noch gut fand, wenn die Mitarbeiter möglichst selbstständig waren – was ja im-mer auch heißt, dass der Abschied nicht das Drama ist, das er werden muss, wenn die Abhängigkeit vom Job einseitig ist und die Perspek tive danach trist.

Employability bedeutet Emanzipation. Der Begriff ist aus der Politik verschwun-

den, aber in Unternehmen mit laufenden Transformationsprozessen ist er ziemlich präsent. Etwa bei IBM. Lange Jahre galt der Konzern als schönes Beispiel dafür, dass Bü-rokratie weder Amt noch Staat braucht, um voll aufzublühen. Natürlich gab es auch frü-her bei IBM Umbrüche, Trennungen, Kün-digungen. Seit den Fünfzigerjahren war der Konzern zum führenden Großcomputerher-steller geworden, und das bedeutete auch eine geringere Bedeutung für das bis dahin alles überstrahlende Segment der Schreib- und Büromaschinen.

In der ganzen Branche aber war IBM dafür bekannt, für solche Trennungsfälle au-ßergewöhnliche Schmerzmittel bereitzuhal-ten: Das wichtigste Anästhetikum war dabei der goldene Handschlag. Mitarbeiter, die man in den Vorruhestand schickte, erhielten zum Teil erhebliche Barmittel mit auf den Weg, mit denen die Zeit bis zur Rente kom-fortabel überbrückt werden konnte.

In den frühen Neunzigerjahren geriet der Riese ins Trudeln. Der ehemalige McKinsey-Manager Louis Gerstner übernahm im Jahr 1993 das Ruder. Die Verdrängung von Ver-änderung, so stellte Gerstner fest, war das größte Problem der alten IBM – ein für alte, erfolgsverwöhnte Organisationen typisches Problem. Jeder wusste zwar, dass sich alles

Die besten Leute sind die, die bleiben, weil sie nicht müssen.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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ändern würde und man sich von alter Technik und man-chem Mitarbeiter trennen musste – aber niemand sprach es aus.

Gerstner pflanzte in seinen neun Jahren als Vor-standschef einen neuen Pragmatismus in die Unterneh-menskultur: Veränderung findet statt. Trennungen sind normal. IBM verabschiedete sich von den preisum-kämpften Massenmärkten und einem Großteil seiner Hardware-Produktion, also dem, wofür das Unterneh-men einst stand. 1981 hatte IBM den Personal Computer auf den Markt gebracht und die Massencomputerisie-rung ausgelöst. 2005 trennte sich der Konzern kühl von diesem Geschäft und definiert sich seither als IT-Bera-tungsunternehmen. Ein Prozess, der für viele eine „Am-putation war, mit den damit verbundenen Schmerzen“, wie sich Peter Gerdemann, Leiter der Unternehmens-kommunikation von IBM Deutschland, erinnert. Zum einen war da „der Abschied vom Haptischen – was die IBM-Welt bis dahin ausmachte, konnte man zu einem großen Teil sehen und anfassen“. Das erzeugt im Über-gang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft überall heftige Phantomschmerzen – „und hat eigentlich jeden bei uns empfindlich getroffen“, so Gerdemann.

Der Kampf gegen Trennungsschmerzen beginnt mit dem Kampf gegen das Verdrängen. Employability be-deutet letztlich, dass die Mitarbeiter nicht von dem Job, den ihnen ihr aktueller Arbeitgeber gibt, vollkommen abhängig sind, sondern dass sie auch anderswo Chan-cen haben. Aber woher weiß man das, wenn nicht regelmäßig Kollegen, der Mitbewerber oder ein Head-hunter hinter einem her sind? „Jeder Mitarbeiter von IBM“, erzählt Gerdemann, „weiß, wie wir die Lage in seinem Feld einschätzen. Wir erheben regelmäßig, wie die einzelnen Berufsfelder sich in den nächsten Jahren entwickeln. Bleibt die Nachfrage gleich, stagniert sie, oder geht sie nach oben? Diese Einschätzung ist eng verzahnt mit der Unternehmensstrategie.“ Jeder Mit-arbeiter kann sein persönliches Profil mit der Bedarfs-schätzung abgleichen und bekommt von der Firma Vorschläge, welche Weiterbildungsangebote die Beschäf-tigungsfähigkeit erhöhen könnten. „Wir wollen diesen Zugewinn an Expertise“, sagt Peter Gerdemann, „wir wollen Leute, die bei jedem anderen Unternehmen ei-nen Job kriegen würden, die aber genau deshalb bei uns bleiben. Selbst sichere Leute, die sich verändern kön-nen.“

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Noch malvon vornSchneller, höher, weiter war die Devise des Unternehmers Matti Niebelschütz. Bis zur Pleite. Seither lässt er es langsamer angehen.

Text: Axel Hansen Foto: Maria Sturm

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

• Matti Niebelschütz ist auf einer Party, als sein Leben eine plötz-liche und unerwartete Wende nimmt. Der Jurastudent hört ein Gespräch zweier Freundinnen mit. Sie ärgern sich über ein Mäd-chen, das das gleiche Parfüm wie sie trägt. Niebelschütz hat eine Idee: Warum nicht individualisierte Düfte anbieten? Exklusiv komponiert, nur für die jeweilige Kundin? Der junge Berliner fängt an zu recherchieren: Solche Angebote gibt es so gut wie nicht – und wenn, dann von Liebhabern, die Essenzen von Lilie und Mandarine oder frische Minze mit Vetiver mischen. Professi-onell, im großen Maßstab macht das praktisch niemand.

Niebelschütz will eigentlich Diplomat werden, aber sich selbstständig zu machen ist auch eine Option. Könnten persön-liche Parfüms nicht seine große Idee sein? Er begeistert seinen Bruder und einen Freund von dem Plan, im Internet individuell zusammenstellbare Düfte anzubieten.

Da die Gründer – zwei Betriebswirte und ein Jurist – keine Ahnung von dem Geschäft haben, holen sie sich Experten-Hilfe. Eine Parfümeurin entwickelt sogenannte Duftakkorde, aus denen sich Kunden später online ihr Wunschprodukt zusammenstellen

können. Vier Monate nach den ersten eigenen Versuchen mit ätherischen Ölen aus der Apotheke füllen die Jungunternehmer den ersten verkaufsfähigen Flakon ab. Die nötige Infrastruktur stellt die Familie: Das Medizinlabor der Mutter, einer Ärztin, wird zur Parfümwerkstatt. Die vom Gesetzgeber vorgeschriebene fachliche Qualifikation liefert der Vater, ein Chemiker. Das Start-kapital schließlich – rund 25 000 Euro – sind Erspar nisse der Gründer und Zuschüsse von Verwandten. Im Sommer 2008 geht es los.

Matti Niebelschütz kümmert sich um die Pressearbeit und beendet nebenbei sein Studium, Bruder Yannis übernimmt das Marketing, Patrick Wilhelm, ein weiterer Kollege, Finanzen und Technik. Tagsüber verbessern sie die Homepage und wickeln Bestellungen ab. Abends mischen sie die Düfte nach den Vor-gaben der Parfümeurin zusammen. Als Büro dient das frühere Kinderzimmer.

Die durchschnittlich 40 Euro teuren Duftmischungen finden schnell Käufer: Sind es zum Beginn im August ein bis zwei Be-stellungen am Tag, gehen im Dezember bereits mehr als 100

Mittlerweile ganz entspannt im Hier und Jetzt: Matti Niebelschütz baut seine Firma nach der Insolvenz neu auf

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ein. Befeuert wird die Nachfrage durch eine Welle von Medien-berichten. Allein in den ersten fünf Monaten nach der Gründung berichten zehn Radiosender, 21 Onlineportale und elf TV-Sen-dungen. Die Unternehmer sind überwältigt: Laut ihrem Geschäfts-plan sollte der erste Mitarbeiter nach zwei Jahren eingestellt wer-den. Nun ist das schon nach vier Wochen nötig. Aus dem Elternhaus heraus dirigiert Niebelschütz nach wenigen Monaten 30 studentische Angestellte. Nach fünf Monaten haben er und seine Partner 200 000 Euro umgesetzt.

Das Geschäft nimmt in den Folgejahren weiter Fahrt auf, bricht aber auch immer wieder kräftig ein. Parfüms, das wird den Gründern nun klar, sind Saisonware. Im Januar stürzen die Um-sätze manchmal auf ein Zehntel des Dezember-Wertes ab.

2011 schließt sich ein weiterer junger Mann der Gruppe an. Er hat mal geboxt, sein Brustkorb ist immer noch imposant. Chris-tian Schulz wird Partner und kümmert sich als Produktionsleiter um das Abfüllen der Duftstoffe, das Verpacken der Flakons und den Versand. Für Niebelschütz ist der ehrgeizige Schulz, ein Schul-freund, die Idealbesetzung. Er rackert bis zur Schmerzgrenze. Für gewöhnlich ist er bis um 2 oder 3 Uhr nachts im Büro und steht am nächsten Tag um 9.30 Uhr wieder in der Tür. Ein Privat leben hat er genau wie Niebelschütz in dieser Zeit praktisch nicht.

Zeiten der Überforderung – und der Euphorie

Es ist wie ein Rausch. Den Umsatz verdoppeln sie praktisch jeden Monat. Die Zahl der Angestellten schnellt auf 60 hoch. Das Kinderzimmer ist schon lan-ge zu klein: MyParfum hat nun 1000 Quadratmeter angemietet, Niebelschütz nennt sich Chief Executive Officer (CEO) und hat einen Assistenten. Jede Woche werden drei bis fünf neue Mitarbeiter eingestellt. Der CEO läuft eines Tages in die Marketingabteilung und stellt fest, dass er von den 30 Angestellten dort viele nicht mehr kennt.

Das rasante Wachstum beflügelt die Gruppe. My-Parfum wird gefeiert, gewinnt den Gobal Innovation Award in den USA. „Der Erfolg ist eine Droge“, sagt Niebelschütz. 2012 dreht der Berliner ein großes Rad. Wochenlang trifft er Venture-Capital-Fonds, strate-gische Investoren und Banken – MyParfum braucht Kapital, um weiter zu wachsen. Niebelschütz be-kommt es. SevenVentures, die Beteiligungstochter der Münchner ProSiebenSat.1-Gruppe, und ein Privat-investor steigen ein.

Bei Christian Schulz stellt sich in diesen Wochen ein Gefühl ein, das er sonst nicht kennt: Angst. Er erinnert sich an Tage, an denen er 1500 offene Bestellungen hatte und täglich 400 neue dazukamen. Das Team schaffte es aber nur, 300 Parfüms zu mischen und zu verschicken. Er meint damals, mitten in einem

Tornado zu stehen. Es brennt an allen Ecken und Enden. Neue Orders kommen herein, alte gehen nicht schnell genug raus. Das Telefon klingelt, sobald jemand auflegt. Es sind Zeiten der Über-forderung, aber auch der Euphorie. Aber Zweifel am Wachstum, nein, die habe er nicht gehabt. „Wir haben Geld gemacht ohne Ende. Was sollte uns da um die Ohren fliegen?“, fragt Schulz. Um hinterherzukommen, erhöhen die Jungmanager das Tempo, arbei ten schneller und länger. Schulz stellt eines Nachts seinen persönlichen E-Mail-Rekord auf: Er beantwortet 300 Kundenan-fragen in zwei Stunden.

Die vielen Medienberichte – in seiner Pressesammlung hat Niebelschütz mehr als 1500 zusammengetragen – treiben den Absatz weiter an. Als das ProSieben-Fernsehmagazin „Galileo“ zur besten Sendezeit einen Beitrag über die Firma bringt, explo-diert die Nachfrage förmlich. Statt der sonst im Schnitt üblichen 70 bis 100 Tagesbestellungen ordern Kunden innerhalb von vier Stunden 600 Parfüms. Am nächsten Tag rauschen noch einmal 860 Bestellungen rein. Man beginnt, TV-Werbung zu schalten. Jeden Tag werden jetzt 250 bis 300 Düfte bestellt.

Sie feiern den Erfolg, aber eigentlich feiern sie eine Entde-ckung: Wer Geld in die TV-Werbung steckt, bekommt ein Viel-faches an Umsatz wieder heraus. So sieht es jedenfalls zu diesem Zeitpunkt aus. Niebelschütz und Schulz, die schon die Eröffnung von Büros in Großbritannien und den USA planen, versprechen ihren Investoren, den Umsatz mehr als zu verhundertfachen: von

rund 800 000 Euro auf 100 Millionen Euro in fünf Jahren. „Das kam niemandem komisch vor“, erinnert sich Niebelschütz, der in dieser Zeit eigentlich nur noch von Millionen spricht. „Da kön-nen wir ein paar Millionen reinstecken. Und da? Zwei, drei Millionen müssten reichen.“ Verrückt, aber das fällt keinem auf.

Einmalige Düfte: das Angebot von MyParfum

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Die Gründerszene leidet unter Größenwahn. Viele werfen mit wilden Zahlen um sich. „Da hörte man ständig Dinge wie: Der macht jetzt in Asien ein Büro auf. Oder der hat ein neues Millionen- Investment eingesammelt“, erinnert sich Niebelschütz. „Eine komplette Parallelgesellschaft. Aber man dachte, die ganze Welt tickt so.“

„Wir waren gierig at all costs“

Auch die Investoren. Sie wollen nur eines: sich billig in Start-ups einkaufen, deren Produkte sich gut verkaufen. Klingt einfach, ist aber schwierig. Die meisten Neugründungen gehen eher ein, als dass sie die Gewinnzone erreichen. Es gibt wenig verlässliche Zahlen, aber als Faustregel für die Geldgeber gilt: Nur drei von zehn Start-ups überleben. Bei den erfolgreichen Firmen muss sich das Geld also so stark vermehren, dass der Verlust bei den ge-scheiterten ausgeglichen wird und immer noch ein Gewinn dabei übrig bleibt. Deshalb hätten die Investoren sehr hohe Rendite-erwartungen, häufig müsse sich das eingesetzte Kapital mindes-tens verfünffachen, sagt Karin Kricheldorff, Teamleiterin Beratung beim Gründungsservice an der Technischen Universität Berlin. „Vielen Start-ups sind die Konsequenzen nicht bewusst.“

Es entsteht ein sich selbst befeuerndes System. „Wer nicht mit extrem hohen Renditeerwartungen auf die Wagniskapitalgeber zugeht, hat keine Chance“, sagt Kricheldorff. Die Gründer wie-derum fühlen sich geschmeichelt und schreiben großartige Zah-len in ihre Geschäftspläne, an die sie meist sogar selber glauben. „Es ist verlockend, wenn jemand bereit ist, dir sehr viel Geld zur Verfügung zu stellen“, sagt Niebelschütz. Groupon wächst um 1500 Prozent? „Wenn die das können, machen wir das auch“, dachte sich Christian Schulz und war damit nicht allein. Ein Wachstum von 70 Prozent fand er damals „ein bisschen lame“, erinnert er sich im schönsten Gründerjargon.

Niebelschütz jongliert derweil mit Geldbeträgen, als sei der den Investoren versprochene gigantische Umsatzsprung eine aus-gemachte Sache. Entsprechend hoch sind die Fixkosten: Das 1000 Quadratmeter große Büro ist ebenso für einen größeren Umsatz ausgelegt wie die vier Produktionseinheiten für Parfüms, von denen bislang nur eine genutzt wird.

Da Schulz schon immer der Ansicht war, dass „Kindergarten aufbauen“ nie sein Ding war, und Niebelschütz mittlerweile ohnehin in globalen Dimensionen denkt, reift irgendwann ein folgenschwerer Plan: Wenn wir das Werbebudget verzwanzig-fachen, wird sich der Umsatz nicht nur verdoppeln oder verdrei-fachen – er wird zehnmal so hoch sein. Zehntausende Presse-mitteilungen werden verschickt, das Onlinemarketing-Budget aufgepumpt, mehrere Millionen Werbe-Mails und Paketbeileger versendet. Der Großteil des Geldes aber fließt in die Fernseh-werbung, weil frühere Kampagnen den Umsatz schon deutlich erhöht hatten.

Die Jungmanager wählen an diesem Punkt eine Abbiegung, die sie nicht hätten nehmen müssen. Aber sie sind nicht zu stop-pen. „Wir wollten noch viel mehr“, erinnert sich Schulz. Sie setzen alles auf eine Karte. „Wir waren gierig at all costs.“ Ihr Umfeld unterstützt den Kurs. Niebelschütz hat einen Mentor, den in Kalifornien lebenden deutschen Unternehmer Frederik Fleck. Er befürwortet die TV-Kampagne, die einen zweistelligen Millionenbetrag verschlingt. Ein erfahrener Mediaberater gibt zwar zu bedenken, dass auch er nicht ganz sicher sagen könne, was nun passieren werde: Der Umsatz könne durch die Decke gehen – oder auch nicht. Eine Warnung, die sich schon bald als berechtigt herausstellen sollte.

MyParfum berieselt halb Deutschland mit seiner Werbung („So einzigartig wie Sie selbst“), die Bestellungen erhöhen sich aber nicht entsprechend. Die Umsätze liegen konstant unter den Planzielen. Mitte Dezember 2012 ist dem Letzten klar, dass die Gründer ihre Truppe in die Irre geführt haben. Der Höhepunkt des Weihnachtsgeschäfts ist überschritten, aber nicht einmal ein Viertel der geplanten Umsätze erzielt. In zwei Wellen wird der Großteil der Belegschaft entlassen. Niebelschütz ringt mit sich. „Mir wurde plötzlich klar, dass bei diesem großen Abenteuer nicht alle ins Ziel kommen.“ Den Geldgebern schieben er und

Unterstützt den Bruder beim Neubeginn: Yannis Niebelschütz

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seine Partner die Schuld nicht zu: „Wir haben den Investoren den Traum verkauft. Das waren wir“, sagt Schulz. Niebelschütz hatte nur ans Wachstum gedacht, immerzu: „Ich hatte Monate damit verbracht, Investoren für unsere Sache zu gewinnen. War nur noch in Präsentationen und Verhandlungen. Immer mehr Um-satz, mehr Wachstum, mehr Investments. Mitarbeiter einstellen – und bald darauf wieder entlassen.“

Er steht vor einem Scherbenhaufen: MyParfum drücken enor-me Schulden. Und immer wieder gibt es Streit mit den Gesell-schaftern, die sich etwa ärgern, als er zehn Prozent seiner Anteile an die Mitarbeiter verschenkt, weil er sie stärker beteiligen will. Oder wenn er seinen Angestellten offen von den Problemen er-zählt. Im März 2013 Jahres schließlich meldet Niebelschütz Insol-venz an.

„Plötzlich verspürte ich nur noch ein Gefühl voll-kommenen Glücks. Vielleicht konnte meine Psyche den Druck und das Leid nicht mehr ertragen. Oder aber es war die Erleichterung darüber, dass nun aus-gesprochen war, was unausweichlich war.“

Er läuft durch die verwaisten Büroräume, trifft sich mit seinem Bruder, der sich Anfang 2011 aus dem Geschäft zurück gezogen hatte, und überlegt: Wie können wir das Feuer neu entfachen, ohne utopische Wachstumszahlen zu versprechen, die wir am Ende nicht einhalten können?

An dieser Stelle hilft Niebelschütz die Einschätzung eines Mannes, der Schicksal spielen muss. Joachim Heitsch ist Insolvenz verwalter. Er muss entscheiden, ob das Unternehmen weitergeführt werden soll und ob der bisherige Chef der Richtige dafür ist.

Niebelschütz fällt Heitsch sofort positiv auf: „Er hat die Fehler der Vergangenheit gleich offengelegt. Da gab es kein Versteckspiel.“ Heitsch will MyParfum am

Leben erhalten. Das habe im Prinzip funktioniert, „das hatte Hand und Fuß“. Hätten die Gründer doch nur nicht zu viel gewollt. Der Grundfehler für Heitsch: „Sie haben viel zu stark aufs Gas ge-drückt.“ Er rät, es ruhiger angehen zu lassen. Für Niebelschütz ist die Einschätzung des Juristen wichtig. Mehrfach erwähnt er, Heitsch habe ihm ein „vorbildliches Verhalten“ attestiert. Das gibt dem vorerst gescheiterten Gründer Halt.

Er und sein Bruder nehmen schließlich ihr Erspartes und kau-fen die Firma von den Investoren zurück. Den Betrag wollen sie nicht nennen. Aber MyParfum gehört jetzt wieder ihnen, zu 100 Prozent. Mit einer Handvoll Mitarbeiter, einem ersten echten kleinen Laden in Berlin-Mitte, mit bescheideneren Zielen. Niebel-schütz, dem es früher nie schnell genug gehen konnte, sagt jetzt: „Ich hab’s nicht mehr so eilig. Wenn’s 50 Jahre dauert, dann dau-ert es eben so lange.“ Wer weit gehen möchte, müsse langsam gehen. Das klingt nach dem hinduistischen Mönch, bei dem er einen Workshop mitgemacht hat. Er muss selbst ein bisschen schmunzeln, als er seinen neuen Leitspruch zitiert: „Jage nicht dem Geld, sondern deiner Leidenschaft nach.“ Das klingt auch sehr vollmundig, aber er scheint es ernst zu meinen.

Erstmals seit Jahren macht er wieder Urlaub, geht zum Sport. Fährt um 18 Uhr den Computer runter. Er stellt erstaunt fest, wie viel Spaß er wieder an der Arbeit hat. Statt Berichte für Banken und Gesellschafter zu schreiben, diskutiert er mit seinem Produk-tionsleiter über Duftstoffe. Die Arbeit hat sich verändert, und die Ziele haben sich verschoben. Ein Unternehmensverkauf oder Börsengang? Gott bewahre. Stattdessen denkt er manchmal: „Was wäre, wenn das Unternehmen in 50 Jahren an unsere Kinder und Enkel überginge? Jeder Tag auf dem Weg dahin wäre ein besonderer.“ –

Ihre Wege trennten sich: der einstige Mitstreiter Christian Schulz

Helfer in der Not: der Insolvenzverwalter Joachim Heitsch

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• Der Mann ist ein Bastler. Er kann nicht anders. Zach Klein, 31, hat eine verwaiste irische Eckkneipe in San Franciscos Mission-Viertel in eine minimalistische Oase verwandelt. Weiß getüncht bis unters offene Dach, an Seilen abgehängte Paletten dienen als Garderobe. Für den gut zwei Meter langen Esstisch aus massi-vem Holz hat er vier Bänke geschreinert. Da das Gebäude keine Heizung hat, schürt Klein an kalten Tagen einen gusseisernen Ofen. Im Hinterhof wachsen neben sorgfältig gestapelten Holz-scheiten Kräuter und allerlei Gemüse in Hochbeeten, in einem handgefertigten Hühnerhaus dösen drei Legehennen.

Solche handwerklichen Leistungen sind aber nur privater Zeitvertreib, am liebsten bastelt Klein an Geschäftsideen. Am Stück und meistens höchst erfolgreich. So bringt er es auf bislang rund ein Dutzend Firmen, die er entweder gründete, mitbegrün-dete, finanzierte oder als Teilhaber unterstützt – von Websites mit Millionenpublikum über ein Fahrradgeschäft bis zum Restaurant. Geduld ist nicht seine Stärke. In der Regel zieht er nach ein bis zwei Jahren weiter, ist wieder ein bisschen vermögender gewor-den und verwirklicht gleich darauf das nächste Projekt.

Weiter!Es begann mit dem Video-Portal Vimeo – seither gründet Zach Klein immer neue Unternehmen, von denen er sich bald wieder trennt. Warum? Weil das Leben zu kurz ist für nur eine Karriere.

Text: Steffan Heuer Foto: David Magnusson

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Genau so, als Entdeckungsreise, sollte jeder sein Leben leben, sagt er. „Es ist verrückt, dass sich Menschen in ihrer Karriere eingesperrt fühlen. Sie haben das Wissen gratis vor der Nase, um mehr aus sich zu machen, aber sind zu Geiseln des Geldes und all dessen geworden, was sie in ihren Werdegang gesteckt haben. Diese Investi tionen rentieren sich längst nicht mehr für sie – es gibt weder eine Rendite in Sachen Leidenschaft noch in finan-zieller Hinsicht. Wir haben den Punkt erreicht“, doziert Klein, während zwei aus dem Tierheim adoptierte Hunde unter dem Tisch an einem Gummiball zerren, „an dem man sich nicht mehr auf eine Kariere fürs ganze Leben verlassen kann. Wer Erfolg hat, schiebt sich früher oder später selber ins Aus.“ Je weiter man es bringe, umso weniger habe die Arbeit mit Kreativität oder Spaß zu tun: „Man wird ein Manager, man entwickelt ein Ego, man ist erfahren. Und man hört auf, neue Dinge zu tun und Neues zu lernen.“

Große Töne für einen jungen Grafikdesigner aus Indiana. Wo-her nimmt der Mann so viel Zuversicht? Aus zwei Jahrzehnten fast ununterbrochener Bastelei an Dingen, die ihm Spaß machten.

Mit elf Jahren programmierte der Sohn eines Autovermieters seine erste Website. Noch als Student startete er eine Ulk-Seite namens CollegeHumor, aus der quasi nebenbei eine der bekanntesten Video-Plattformen im Web hervorging. Das von Klein 2004 mit-begründete Portal Vimeo ist der seriöse Bruder von Youtube. Dort stellen professionelle Fotografen, Animationskünstler und Filme-macher ihre Projekte vor, teilen Agenturen ihre Rohschnitte mit Kunden und Partnern. Rund 93 Millionen Besucher kommen im Monat auf die Seite, die Klein und sein Kompagnon 2006 an den Internetriesen InterActiveCorp (IAC) verkauften.

Die Tinte unter dem Vertrag war noch nicht trocken, als Klein schon an Abschied dachte. Zwar ist IAC ein Konglomerat aus mehr als 20 Firmen und 150 Marken in aller Welt mit einem Jahresumsatz von 2,8 Milliarden Dollar, das ausreichend Kapital besaß, um die Videoseite richtig groß zu machen. Doch deren Gründer wollte keine Auftragsarbeit verrichten. „Ich bin gegan-gen, sobald am Tag nach der vereinbarten Jahresfrist meine gol-denen Handschellen abfielen. Höchste Zeit, wieder etwas Inte-ressantes zu tun. Auf eigene Faust.“

Bastelt gern: Zach Klein in seinem Zuhause

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Was nach Rastlosigkeit klingt, ist für Klein Lebensart. „Meine Firmen fallen in eine von zwei Kategorien. Entweder sind es ver-nünftige Ideen, deren Zeit gekommen ist und die man einfach jetzt umsetzen muss. Oder es sind autobiografische Firmen wie Vimeo, bei denen mich meine Leidenschaft und Erfahrung antrei-ben.“ Lassen sich Pragmatismus und Passion so säuberlich tren-nen? Klein denkt nach: „Nicht immer. Ich will auch nichts be-schönigen: Manchmal geht man, weil es nicht funktioniert oder man mit anderen Leuten nicht so gut klarkommt.“ Bei Vimeo sei das eindeutig anders gewesen: „Wir wollten ein soziales Netz-werk für Videos schaffen, um unseren eigenen Lebensraum im Internet zu definieren – eine Gemeinde Gleichgesinnter, die nicht alles an die große Glocke hängen wollen. Das bauten wir auf, dann war es Zeit zu gehen. Vielleicht bin ich zu früh ausgestie-gen, aber ich bin immer noch unglaublich stolz auf Vimeo – das war ein erfolgreicher Lebensabschnitt.“

Wie bringt man die Idee der Pfadfinder ins Netz?

Mit 25, als frischgebackener Millionär, entschied sich Klein für ein eher nüchtern durchgezogenes Projekt aus der Kategorie eins. „Seit ich 13 war, hatte ich mehr oder weniger konstant an Web -Ideen gearbeitet. Mein Leben war zu einseitig.“ Also heuerte er 2009 bei einem ambitionierten Start-up namens Boxee an. Die aus Tel Aviv stammende Firma will wie Apple TV und andere eine Brücke zwischen Videos im Netz und dem guten alten Fern-seher schlagen.

Gerade einmal anderthalb Jahre spielte er bei Boxee Chef für Produktdesign, um einen Crash-Kurs in Sachen Management und Hardware-Entwicklung zu absolvieren. „Ich wusste von vornherein, dass meine Zeit dort begrenzt sein würde. Ich wollte unter einem erfahrenen Gründer so viel wie möglich lernen, um es für mein nächstes eigenes Projekt anzuwenden.“

Gleichzeitig hatte Klein ein anderes Eisen im Feuer. Svpply (ausgesprochen wie supply, das Angebot) ist eine jener Websites, die die Warenvielfalt reduzieren. Kenner und Fans listen dort begehrte Konsumobjekte als elektronischen Wunschzettel auf, eine Mischung aus Social Media und Werbung. „Eine Sammlung zu kuratieren war die logische Antwort auf die Qual der Wahl, um online weniger Schrott zu sehen“, sagt Klein. „Bei Svpply wollte ich nur in der Anlaufphase dabei sein: die Firma gründen, die Finanzierung sicherstellen und beim Design helfen. Eine langfris-tige Rolle im Tagesgeschäft wollte ich nie spielen.“

Als Klein dann 2011 bei Boxee den Hut nahm, verschwand er erst einmal für längere Zeit in den Wäldern nördlich von New York. Gemeinsam mit Freunden kaufte er 24 Hektar Land und baute ein Blockhaus, über das er auf dem Blog „Cabin Porn“ be-richtet. „Ich nenne das zwar meine Anti-Internet-Phase“, sagt er, „aber die Idee dazu hat mich das gesamte vergangene Jahrzehnt beschäftigt. Unsere Generation ist die erste, die mit dem Web

aufgewachsen ist und gelernt hat, wie man Online-Gemeinschaf-ten begründet. Aber wie wird das die Art und Weise verändern, wie wir in Offline-Gemeinschaften miteinander umgehen?“

Für Klein ist das wieder einmal eine Aufgabe, aus der sich die nächste Geschäftsidee entwickelt: Wie genau wirken sich die neuen Fertigkeiten der Netz-Generation auf Dörfer, Städte und persönliche Beziehungen aus? „Mich interessiert brennend, wie Zusammenarbeit und Kreativität zu neuen Formen von Gemein-schaften führen. So etwas wie Skype oder einfach nur vor einem Bildschirm zu kleben, das kann nicht die Zukunft des Miteinan-ders sein.“

Tatsächlich entstand in den Monaten des Holzhackens und Hausbaus die nächste Idee, für die er 2012 an die Westküste zog. „Beim besseren Zusammenleben und -arbeiten schwebt mir keine Kommune auf dem Land vor, sondern eine Stadt wie San Francis-co – ein kreativer Ort, der Leute anzieht.“ Mit zwei Mitgründern hob er dort DIY Co (die Abkürzung für Do It Yourself) aus der Taufe, eine Bastelplattform für Kinder und Jugendliche.

Das Logo ist eine schwarze Tatze, und seit dem offiziellen Start haben sich bereits rund 100 000 Kinder angemeldet; erste Schulen in den USA und Indonesien wollen mit dem kostenlosen Dienst ihre Schüler anspornen, selbst etwas zu schaffen. Bei DIY können sie Video-Anleitungen hochladen und kommentieren, etwa wie man Feuer macht, Hühner hält oder Gemüse anbaut.

Diesmal, versichert Klein, ist er wieder mit Leidenschaft da-bei – „für mindestens zehn Jahre“. Denn alle seine vorangegan-genen Projekte, ja seine gesamte Kindheit und Jugend hätten ihn für diese Firma vorbereitet. Beim Selbermachen mithilfe eines sozialen Netzwerks und einer Mobil-App geht es ihm um eine zeitgemäße Variante des Pfadfindergedankens: Lernen fürs Le-ben, das so viel Spaß macht, dass man gar nicht merkt, wenn man etwas lernt.

„Mir ist erst als Erwachsener bewusst geworden, dass mich die Zeit bei den Pfadfindern mehr geformt und mir mehr fürs Leben mitgegeben hat als die Schule. Pfadfinder nehmen Kinder für voll. Wenn man 13 Jahre alt ist, sollte man als richtiger Junge mit einer Axt umgehen und einen Fisch filetieren können. Man sollte Camping-Trips planen und die Vorräte dafür einkaufen. Man sollte seine eigenen Anführer wählen“, schwärmt Klein.

Hand anzulegen und echte Dinge zu bauen statt nur Videos zu teilen und auf „Gefällt mir“ zu klicken – das weckt für ihn die spielerische Kreativität und vermittelt Fähigkeiten, die eine Biogra-fie wie seine ermöglichen. „Es gibt dir das Gefühl, dass es mehr als einen Weg zum Erfolg gibt. Nicht wie im Klassenzimmer mit allen anderen dem vorgegebenen Pfad folgen – etwa denselben Aufs atz abgeben. Wer ein Scout ist, muss sich nicht vor den ande-ren schämen, wenn er etwas selber gebaut hat.“

Am Ende muss Arbeit einfach Spaß machen, davon ist Klein überzeugt. Falls nicht, muss man sein Zelt woanders aufschlagen. „Ich bin ja nicht mehr 20.“ –

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _SCHLECKER

Der Geist von Ehingen

Auch knapp zwei Jahre nach der Insolvenz der Drogeriemarktkette Schlecker ist ihr Gründer am ehemaligen Firmensitz noch sehr präsent.

Text: Barbara Bachmann Foto: Niklas Grapatin

Schleckers ehemalige Firmenzentrale (oben) wird in Ehingen Glaspalast genannt;

das einstige Warenlager in Ehingen-Berg ist verwaist

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

• Egal wohin man kommt in Ehingen, Anton Schlecker ist über-all. Etwa im starren Blick seiner ehemaligen Sekretärin, die im Café Miraval sitzt. 19 Jahre hat sie in der Konzernzentrale gear-beitet, davon 18 in der Abteilung für Expansion. Der Himmel hüllt sich an diesem Morgen in den Schlecker-Farben blau und weiß, und sie rührt an einem der Tische auf der Terrasse in ihrem Cappuccino. Fragt man sie, was übrig blieb von Schlecker, blickt sie hinter der großen, schwarzen Sonnenbrille hervor, lächelt kurz und sagt: „Ich.“ Mehr möchte sie dazu nicht sagen.

Anton Schlecker hat seine Heimatstadt, 25 311 Einwohner groß und 28 Kilometer von Ulm entfernt, ein Leben lang nicht verlassen. 1975 nicht, als er, mit 31 der jüngste Metzgermeister Deutschlands, einen Handel mit Drogerieartikeln gründete; Jahre später nicht, als sein Unternehmen zur größten Drogeriekette Eu-ropas emporstieg; und auch dann nicht, als es wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.

Der Anfang vom Ende begann am 23. Januar 2012. An einem Montagmorgen musste Anton Schlecker beim Amtsgericht Ulm Insolvenz anmelden: für das Einzelunternehmen Anton Schlecker e. K., die Tochtergesellschaften Schlecker XL GmbH und Schle-cker Home Shopping GmbH. Drei Tage später auch für Ihr Platz GmbH & Co. KG. Das Gericht eröffnete das Verfahren am 28. März 2012, die Auslandsfilialen Schlecker International GmbH und die französische Tochtergesellschaft Schlecker >

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _SCHLECKER

SNC wurden verkauft. Stück für Stück trug man Anton Schleckers Lebenswerk zu Grabe. Und da-mit auch einen Teil von Ehingen. Sie sei seither nicht mehr dieselbe, sagen die Bewohner heute über ihre Stadt.

Rund 25 000 Menschen haben mit der Pleite deutschlandweit ihren Job verloren, „gut 1000 waren es in Ehingen“, sagt Alexander Baumann (CDU), seit 2010 Oberbürgermeister.

Für die meisten kam das Ende abrupt, ohne eine Stellungnahme von ganz oben. Unmittelbar nach dem Insolvenzantrag habe die Bundesagen-tur für Arbeit in der Schlecker-Zentrale eine An-laufstelle eröffnet, sagt Baumann. Mitarbeiter packten ihre Sachen am einen Ende des Gangs in

Kartons, um sich am anderen Ende als arbeitssuchend zu melden. Kurz vor der Insolvenz betrug die Arbeitslosigkeit 3,4 Prozent. Heute liegt sie bei 3,9 Prozent. „Im Vergleich mit den Nachbar-gemeinden ist sie bei uns derzeit am höchsten“, sagt der Bürger-meister.

Rund 23 000 Gläubiger haben Forderungen in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro angemeldet. Weil er als Einzel-unternehmer mit seinem Privatvermögen haftete, ist Anton Schle-cker offiziell mittellos. Trotzdem gehe es ihm nach wie vor her-vorragend, heißt es im Ort. Immer noch wohnt er im weiß getünchten Anwesen am Ammerweg 4, 89584 Ehingen. Seine Angehörigen, die ihr Vermögen behalten durften, haben es aus der Insolvenzmasse zurückgekauft, damit sich der beratungsresis-tente Unternehmer von einst hinter den hohen Mauern verschan-zen kann, ohne Ehingen verlassen zu müssen.

Drei Kilometer trennen Schleckers Zuhause im Norden von der Konzernzentrale im Süden der Stadt. Es war sein täglicher Weg, den er mit dem Porsche Cayenne, Kennzeichen UL–AS 1944, zurücklegte – aber auch das gehört zum alten Leben des An-ton Schlecker, im Mai 2013 wurden seine Luxusautos versteigert.

Das Garagentor ist weiß-rosa ge-strichen und trägt ein Schild: „Privat-grundstück – Betreten verboten“. Zehn Meter hohe Birken und Lär-chen bewachen Anton Schlecker wie camouflierte Soldaten. Eine Frau geht vorbei und sagt: „Wundern tut’s mich schon, warum noch niemand eine Bombe aufs Grundstück geschmis-sen hat.“

Nun sollen die ehemalige Kon-zernzentrale und der Lagerkomplex in Ehingen-Berg so bald wie möglich verkauft werden. „Es wäre schlimm, wenn die riesigen Flächen einfach

vergammeln“, sagt Benedikt Maier, Grüner Gemeinderat in Ehin-gen. Fast surreal erhebt sich der Glaspalast, wie die Stadtbe-wohner die siebenstöckige Schlecker-Zentrale nennen, über das 45 000 Quadratmeter große Grundstück.

Die Stimmung in der Zentrale sei zum Fürchten, sagt eine Frau, deren ehemalige Kollegin noch immer dort arbeitet. Nun hat der Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz das Sagen. Gemeinsam mit einer Handvoll ehemaliger Angestellter zerlegt er in Stücke, was sie unter dem früheren Chef aufgebaut haben. Gänge ohne Menschen und leere Zimmer, an deren Türen steht: „Dieses Büro ist nicht besetzt.“

Anton Schlecker habe noch ein Zimmer im Glasbau gemietet, heißt es in Ehingen. Ab und an soll er wie früher mit einem se-paraten Aufzug von der Garage ins Büro fahren.

Anders als für die Konzernzentrale werden für die einstigen Schlecker-Lager in Ehingen-Berg Verhandlungen mit einem ernst zu nehmenden Interessenten geführt. „Mit Rücksicht auf die laufenden Gespräche kann ich weder Namen noch Preise nen-nen“, sagt Geiwitz. Auf dem Areal befinden sich noch Lager-stätten der LDG Logistik- und Dienstleistungsgesellschaft und der BDG Bau- und Dienstleistungsgesellschaft. Unternehmen der Schlecker-Kinder Meike und Lars, deren einziger Kunde ihr Vater war. Im Juni 2012 mussten auch sie den Insolvenzantrag stellen.

Das Pförtnerhäuschen am Eingang der ehemaligen Lager-hallen ist unbesetzt. In ihrem Inneren ragen orange-blau gestri-chene Regale empor. Ein Geräusch. Ist da jemand? Nein, hier arbeitet niemand mehr, es ist nur Wasser, das vom Dach in die Halle tropft. Auf dem Boden liegen alte Schlecker-Tüten, Fußab-drücke zeichnen sich auf ihnen ab, daneben sind Tampons ver-streut und Kartons mit der Aufschrift „Verfallene Ware“. In der Ecke ein Schreibtisch, dahinter ein Bürostuhl. Mappen aus dem Jahr 2012 stapeln sich auf dem modrigen Boden, Wochenpläne von 2011 hängen an der Wand, darüber eine Uhr, sie ist um zehn vor zwölf stehengeblieben.

Stattlich: Anton Schleckers Haus in Ehingen; der ehemalige Bürger-meister, Johann Krieger (oben), hat den Aufstieg Schleckers begleitet

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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„Ach, der Schlecker“, sagt Johann Krieger und fährt sich durch das Haar, „er hat viel zu groß gebaut.“ 24 Jahre lang war Krieger Bürgermeister der Stadt. „Ehingen hat immer von Schle-cker profitiert. Also haben wir ihn expandieren lassen, sonst hät-te er es woanders getan.“ Die Zentrale habe Schlecker für dop-pelt so viele Angestellte gebaut wie dort arbeiteten, sagt Krieger. Der Unternehmer habe darauf spekuliert, dass die Preisbindung für Pharmazieprodukte falle, wie sie in den Siebzigerjahren für Drogerieartikel gefallen ist – damals hatte Anton Schlecker das als einer der Ersten erkannt. An jede Drogerie habe er eine Apo-theke anschließen wollen, sagt Krieger. Aber dazu kam es nie.

Einmal Schlecker, immer Schlecker

„Schleckerland“ nannte Anton Schlecker sein erstes Selbstbedie-nungswarenhaus, das er 1967 in Ehingen eröffnete. Am 6. Febru-ar 2013 wurde der weiße Schriftzug auf blauem Hintergrund ent-fernt, das Schleckerland zum Alb-Donau-Center umbenannt. Wenige Tage vor der Insolvenz hatte es der Hamburger Investor Newport gekauft. Bis heute sagen die Ehinger: „Fahren wir ins Schleckerland“, wenn sie das Einkaufsparadies samt ehemaliger Schlecker-Apotheke und Schlecker- Tankstelle in der Talstraße ne-ben dem Glaspalast meinen.

In einem sind sich Bürgermeister und Opposition einig: So einschneidend die finanziellen und logistischen Folgen der Pleite für die Stadt auch gewesen sein mögen, die emotionalen Nach-wirkungen sind bei Weitem schlimmer. „Anton Schlecker war – neutral gesagt – immer ein sehr besonderer Mensch für Ehingen“, sagt der Grünen-Gemeinderat Benedikt Maier. „Die Leute haben vor Ehrfurcht geflüstert, wenn Anton Schlecker in der Nähe war“, erinnert sich Klaus Nagl, der heute als Beamter der Stadt Ehingen angestellt ist und früher in den Sommermonaten im Schlecker-Lager jobbte. „In jeder Filiale hing sein Bild.“

Kaum ein Ehinger, der keine Meinung über den Mann hat. „Mir tut er unglaublich leid“, sagt eine Frau, die 35 Jahre lang nur in den blau-weißen Läden eingekauft hat, während sie gerade Kleider betrachtet, wo sich einst Klopapierrollen stapelten. „So ein fleißiger Mann, hat nur gearbeitet, und dann für nichts.“ In die Räume des ehemaligen Schlecker-XL-Markts im Zentrum von Ehingen ist im Oktober 2012 das Bekleidungsgeschäft Gerry Weber eingezogen. In der einstigen Schlecker-Filiale nahe dem Markt platz verkauft nun die Boutique Charisma Young Fashion ihre Ware.

Bis zur Insolvenz gehörten die beiden Häuser der Familie Schlecker. In den übrigen Filialen der Republik lautete die Ge-schäftsstrategie mieten statt kaufen, möglichst in zentraler Lage. Heute erinnere nur noch der Geruch an den Besitzer von einst, sagt die Verkäuferin von Gerry Weber. Aus dem Keller ist der Fleischgestank nicht hinauszukriegen, an den Drogeriemarkt war eine Metzgerei angeschlossen. Sie stammt aus einer Zeit, als >

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _SCHLECKER

noch der „alte Schlecker“, wie die Ehinger Anton Schleckers Vater nennen, das Sagen hatte. Damals, als man von der Paula Schlecker, der Mutter, immer eine Scheibe Wurst geschenkt bekam.

„Schlecker hat eine hunds-miserable Öffentlichkeitsarbeit ge-macht“, sagt Johann Krieger. Die Realität aber habe gar nicht so schlecht ausgesehen. „Oder warum arbeiteten sonst so viele Angestell-te Jahrzehnte bei ihm?“ Von eini-gen, die jetzt bei Aldi Süd oder Müller angestellt seien, wisse der Altbürgermeister persönlich, dass die Arbeitsbedingungen dort nicht besser seien als früher bei Schle-cker. „Manche werden sogar schlechter bezahlt.“ Und welcher Unternehmer könne schon von sich behaupten, seine Angestellten nicht zu kontrollieren?

Auch wenn nur noch sein Geist durch die Stadt weht, „ist und bleibt Anton Schlecker ein Ehinger“, sagen mehrere. Und als solcher habe er für den Ort viel Gutes getan. Das Sommerfest habe er gesponsert und der Narrenzunft eine Küche bezahlt. Den Fußballverein TSG Ehingen, bei dem er früher selber spielte, habe er finanziell unterstützt und das Handballturnier Schlecker-Cup organisiert, seine Antwort auf eine ähnliche Veranstaltung des Drogeriehändlers Müller.

„Aber wie er mich andererseits auch geplagt hat mit seiner Sparsamkeit!“, erinnert sich der Bauingenieur Günter Reisch, der in Ehingen und Umgebung für Anton Schlecker den Bau beinahe aller Immobilien ausgeführt hat. Wie jeden zweiten Montag sitzt Reisch mit seinen Freunden in der Kegelstube des Gasthofs „Zur Sonne“. „Ich hab’ ihn Toni genannt“, sagt Reischs Kegelfreund, der weißhaarige Karl. 40 Jahre lang hat er für die Familie Schle-cker gearbeitet. Zuerst als Metzgermeister, dann im Versandhaus des Drogeriehändlers. 1995, zwei Jahre bevor er in Rente ging, sei

dann die Christa, Anton Schleckers Frau, auf ihn zugekommen und habe gesagt: „Karl, ich bin jetzt die Frau Schlecker für dich.“ Die Christa, sagt er, sei nie sein Fall gewesen.

Seit der Insolvenz, erzählen sich die Kegelfreunde, pflege An-ton Schlecker kaum noch Kontakt zu seinen früheren Bekannten. Nicht einmal zum Skat treffe er sich mehr mit ihnen, auch die Saunarunden von früher seien passé. Ganz allein sitze der Toni nun zu Hause. „Seien wir froh“, sagt einer der Kegler, „dass wir noch beisammen sind.“ Die Männer nicken zustimmend.

Einst war die Stadt der ganzen Republik ein Begriff. Aber selbst gegenüber dem Rathaus war Ehingens be-rühmtester Bürger scheu. Verhandlungen hat Anton Schlecker für gewöhnlich über seinen Prokuristen Reinhold Freudenreich führen lassen – den Mann, der schon für Anton Schlecker senior gearbeitet hatte und mehr über das Unternehmen gewusst ha-ben soll als der Inhaber selbst. Arbeitsam und loyal – die idealen Eigenschaften eines Schlecker-Ange-stellten.

Auch der Oberbürgermeister Alexander Bau-mann stand in seiner Amtszeit kaum mit Anton Schlecker in Kontakt. Von der Schlecker-Insolvenz hat er an einem Freitagnachmittag aus den Medien erfahren. Die Nachricht sei ein großer Schock für die Stadt gewesen, erinnert er sich. Aber in Ohn-macht gefallen sei er deshalb nicht. Anhand der Ent-wicklung der Gewerbesteuer, die das Unternehmen auf den Gewinn an seine Gemeinde abführen muss, sei schon Jahre zuvor der Niedergang erkennbar gewesen. „Gehen Sie davon aus, dass ein Unter-nehmen, das Insolvenz anmelden muss, wohl eine Weile vorher keinen Gewinn mehr auswirft.“

Für 2013 rechnet das Ehinger Rathaus mit stattlichen 35 Mil-lionen Euro Gewerbesteuer. Die Stadt hat schon bessere Jahre gesehen, 2007 betrug die Gesamtsumme noch 47,8 Millionen Euro. „Der Rückgang hängt aber nur zu einem geringen Prozent-satz mit Schlecker zusammen“, versichert Baumann. Im Jahr 2003, als das Unternehmen noch florierte, betrugen die Gewer-besteuereinnahmen Ehingens beispielsweise nur 11,3 Millionen Euro. Die Schlecker-Pleite zwinge Ehingen nicht dazu, die Stra-ßenbeleuchtung auszuschalten, scherzt Baumann. Ende 2013 wird die Stadt sogar schuldenfrei sein.

Schlecker sei nie das erfolgreichste Unternehmen Ehingens gewesen. „Gott sei Dank bleibt uns die Firma Liebherr!“ Von sei-nem Amtszimmer aus zeigt Alexander Baumann gen Norden, zum Werk des Unternehmens. Knapp 3000 Angestellte bauen dort Kräne, deren herausragende Qualität weltweit bekannt ist – viel bekannter, als Schlecker es jemals war. Liebherr ist nun Ehingens ganzer Stolz. –

Bleibt trotz der Pleite gelassen: Ehingens Ober-bürgermeister Alexander Baumann

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Freudemuss manteilen.

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Das Trauma von Kamp-LintfortSieben Jahre nach der Pleite von BenQ-Siemens arbeiten die meisten der ehemaligen Mitarbeiter längst in einem neuen Job.

Doch der Verlust des alten hat Spuren hinterlassen.

Text: Mischa Täubner Foto: Hartmut Nägele

Zugesperrt: vor den Toren des einstigen Handywerks in der Kleinstadt am Niederrhein

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _BENQ-SIEMENS

• Über die Trennung von Siemens erzählt man sich in Kamp-Lint-fort Geschichten, die nicht aufgeschrieben werden können, ohne dass man umgehend Post von den Rechtsanwälten des Münchner Konzerns bekommt. Obwohl die Mitarbeiter der einstigen Sie-mens-Mobilfunksparte, die erst an BenQ weitergereicht und dann arbeitslos wurden, heute fast alle wieder in Lohn und Brot sind und sich ihr einstiger Arbeitgeber am Ende durchaus großzügig zeigte, ist kaum einer gut auf ihn zu sprechen. Warum?

„Weil wir uns hintergangen fühlen“, sagt Peter Bachmann. Er geht über das ehemalige Werksgelände in der niederrheinischen Kleinstadt. Zehn Jahre hat er hier in der Handyproduktion gear-beitet. Ende 2006 war Schluss, doch bis heute hat er keinen Frieden geschlossen mit der Art, wie Siemens sich der Mobilfunk-sparte samt aller Mitarbeiter entledigte.

Es begann im Juni 2004 mit den Verhandlungen über eine Ausnahmeregelung vom Tarifvertrag der Metaller. Die Siemens-Führung wollte die Kosten senken, und darum sollten die Mit-arbeiter an den Standorten Bocholt und Kamp-Lintfort künftig 40 statt bisher 35 Stunden in der Woche arbeiten, bei gleichem Lohn. Zudem sollten sie auf Weihnachts- und Urlaubsgeld ver-zichten. Sollten sich die Arbeitnehmervertreter weigern, so die Drohung der Konzernleitung, würden 2000 Arbeitsplätze nach Ungarn verlegt werden.

Um dieses Horrorszenario zu verhindern, lenkten die Ver-treter der Gewerkschaft IG Metall schweren Herzens ein – zum Unmut vieler Mitarbeiter, bedeutete die Einigung für die meisten doch rund 25 Prozent weniger Lohn. Und es kam noch schlim-mer. Die Kürzungen waren nur der Anfang einer Ereigniskette, die im Nachhinein wie ein abgekartetes Spiel anmutet.

Nur ein Jahr später, im Juni 2005, trat Siemens seine Mobil-funksparte inklusive aller Patente an den taiwanesischen High-tech-Produzenten BenQ ab. Der Münchner Konzern verkaufte die Sparte nicht, sondern zahlte sogar noch drauf – mehr als 400 Millionen Euro betrug die Mitgift. Die Taiwanesen führten ihre unter dem Namen BenQ Mobile (Markenname BenQ- Siemens) firmierende Deutschlandtochter ein knappes Jahr weiter – dann beantragte das Unternehmen Insolvenz.

Kurz vor Ablauf der Beschäftigungsgarantie, die ihnen Siemens als Gegenleistung für die Lohneinbußen 2004 gegeben hatte, ver-loren somit rund 3300 Mitarbeiter ihren Job: 1400 aus der Verwal- tung und der Entwicklung in München, 300 aus der Reparatur- einheit in Bocholt, 1600 aus der Produktion in Kamp-Lintfort.

„Das war wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt Bachmann. Er ist an diesem Septembertag zum ersten Mal wieder am Ort des Ge-schehens, dreht jetzt schon die dritte Runde um die fußballplatz-große Halle, in der früher die Handys gefertigt wurden. Unkraut erobert zunehmend das Terrain. Keine Menschenseele weit und breit. Bachmann erinnert sich genau, wie Joe Kaeser, damals Finanzchef der Mobilfunksparte, heute Vorstandschef von Sie-mens, nach Kamp-Lintfort kam, um den Verkauf an BenQ zu

verkünden. „Eiskalt war der“, sagt Bachmann. Er selbst sei da-mals ans Mikrofon gegangen, um Kaeser zu fragen, auf welcher Münchhausenkugel er eigentlich hierhergeflogen sei. „Man muss sich das einmal deutlich vor Augen führen: Erst verzichten wir auf viel Geld, und dann werden wir kurz darauf abserviert. Das stinkt doch zum Himmel.“

Wenn man von dieser Enttäuschung absieht, hätte es für Bachmann nicht besser laufen können. Er hat längst einen neuen Job, in dem er mehr Verantwortung trägt als früher und auch mehr Geld verdient. In Trennungen, das hat Bachmann selbst er-fahren, liegt auch eine Chance. Das ändert jedoch nichts an seiner tief sitzenden Verbitterung, eine Verbitterung, die viele Kamp-Lintforter mit ihm teilen. Obwohl am Ende BenQ das Geschäft gegen die Wand fuhr, richtet sich der Groll der ehemaligen Mit-arbeiter allein gegen Siemens. Der Konzern war ihr Leben, für ihn aber waren sie am Ende nichts als ein lästiger Kostenfaktor.

Ihr Schicksal bewegte die gesamte Republik und beschädigte das Image von Siemens nachhaltig. „Es darf kein zweites BenQ geben“ lautet bis heute ein geflügeltes Wort.

Die Verzweiflung ging, die Verbitterung blieb: Peter Bachmann

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Wenn Loyalität in Wut umschlägt

Für Loyalitäten gebe es in der modernen Arbeitswelt immer weniger Platz, lautet eine These des Saarbrücker Organisations-forschers Christian Scholz. Unter Renditedruck stehende Mana-ger scheuten sich nicht, Mitarbeiter bei nachlassender Konjunktur oder internen Umstrukturierungen zu feuern. Umgekehrt gingen gefragte Mitarbeiter kurzerhand von Bord, sobald ein besserer Job winkt. Egoismus auf beiden Seiten. Hatten die Kamp-Lintforter also schlicht unzeitgemäße Erwartungen, als sie sich im Herbst 2006 im Stich gelassen fühlten? „Nein“, sagt Scholz. Betrogen fühlen sich gefeuerte Mitarbeiter immer dann, wenn ihnen vorher vonseiten des Arbeitgebers Loyalität abverlangt und im Gegenzug auch versprochen worden ist. Das Problem besteht kurz gesagt darin, dass nicht mit offenen Karten gespielt wird.

Bachmann heuerte 1996 bei Siemens an. Er hielt seinen Arbeits vertrag für ein Treuebekenntnis auf Lebenszeit. „Unser Personalleiter pflegte bei Neueinstellungen immer zu sagen: ,Wenn du keine goldenen Löffel klaust, wirst du hier alt‘.“ Dass er, ein gelernter Stuckateur, im Werk binnen acht Jahren vom Verpacker zum Materialbereitsteller, zum organisatorischen Unterstützer und schließlich zum Verantwortlichen für eine der 24 Produktionslinien aufsteigen konnte, war einer der Gründe, wa rum er sich gegenüber Siemens so verpflichtet fühlte. Er ließ sich in den Betriebsrat wählen – nicht um den Leuten an der Konzernspitze Paroli zu bieten, sondern weil er sich stärker ein-bringen wollte für die Firma, bei der auch seine Frau, sein Bruder, seine Schwägerin und sein Patenonkel arbeiteten.

Kamp-Lintfort war von 1963 an Siemens-Produktionsstand-ort. Im Laufe der Jahrzehnte wechselten immer mehr Bergleute von der Zeche zum Konzern. Hier verdiente man besser, hier fühlte man sich auf der sicheren Seite – und gut behandelt. Wenn Bachmann als Betriebsrat zu einem mehrtägigen Arbeitsrechts-seminar an den Tegernsee fuhr, wohnte er in noblen Hotels. Er wurde von Siemens mit einer grünen American-Express-Karte ausgestattet, die kein Ausgabelimit hatte und für einen betuchte-ren Kundenkreis geschaffen wurde. Alle privaten Ausgaben, die Bachmann damit bezahlte, wurden später von seinem Konto abgezogen. Dennoch erzielte das Statussymbol die erhoffte Wir-kung: „Wenn ich die Karte auf den Tresen legte, um meine Tank-rechnung zu begleichen, fühlte ich mich privilegiert.“

Ein stolzer Siemensianer, das war lange Zeit auch Manfred Kant. Der 40-jährige Halbspanier sitzt auf einem Hocker im Café „Madrid“, zwei Kilometer vom alten Werksgelände entfernt im Zentrum von Kamp-Lintfort. Stierkämpfer an den Wänden, Schal-ke-04-Schals auf den Sofalehnen. Das Café ist seins. Die ganze Abfindung steckt darin. „Mit der Firma bin ich durch“, sagt er. Seit seiner Entlassung hat er kein einziges Siemens-Produkt gekauft.

Er kam 1996 vom Bergbau in die Handyproduktion, er konn-te sich fortbilden und machte an der Abendschule eine Ausbil-

dung zum Technischen Betriebswirt. Zuletzt arbeitete er als kauf-männischer Angestellter im Qualitätsmanagement. „Ich habe mich für die Firma zerrissen.“

Bis heute macht es ihn wütend, wie der Konzern rund 3300 Mitarbeiter „einfach so verschachert hat“. Als er hörte, dass die Sparte an BenQ gehen sollte, war er noch hoffnungsfroh. Er wuss-te ja nicht, dass Siemens dafür noch Geld auf den Tisch gelegt hatte. Ebenso wenig war ihm bewusst, dass er und seine Kollegen gar nicht in den BenQ-Mutterkonzern übergehen sollten, sondern in eine Tochtergesellschaft fast ohne Eigenkapital. Wie sollte er ahnen, dass schon wenige Monate danach die Not so groß wer-den würde, dass die Taiwanesen offene Rechnungen nicht mehr beglichen? „Das Ding wird fliegen“, hatten Siemens-Manager vor dem Betriebsübergang behauptet. Und der damalige Konzernchef Klaus Kleinfeld hatte die Verbindung mit BenQ als „weitsichtige Lösung“ für Kunden, Mitarbeiter und Aktionäre gepriesen. Viele Mitarbeiter glaubten daran. Heute sind sie überzeugt, dass der Deal einem einzigen Zweck diente: ihrer Entsorgung.

Tränen, Ratlosigkeit, Verzweiflung

Den Organisationsforscher Scholz würde das nicht wundern. „Personalabbau“, sagt er, „gilt in den meisten Unternehmen generell als gut und wird entsprechend kreativ angegangen.“ Absurderweise habe man dabei ausschließlich die Kosten, die Mitarbeiter verursachen, im Blick – als hätten deren Wissen und Können keinen Wert. Ihm zufolge gehört zu einem guten Trennungs management, dass Unternehmen bei der Aufgabe eines Geschäftszweigs prüfen, wie sie das Potenzial der Mitarbeiter an anderer Stelle nutzen können. Das sei auch betriebswirtschaftlich sinnvoll. „Weil man sonst – wie etwa Siemens bei der Abgabe seines Handygeschäftes – Humankapital versenkt.“

Hinzu kommt der Imageschaden, der nach der BenQ-Insol-venz für Siemens entstand. Er war auch deshalb so immens, weil man bei der Abwicklung des Unternehmens die Mitarbeiter weder frühzeitig informierte noch angemessen betreute.

Am Freitag, dem 29. September 2006, gegen 10 Uhr hatte BenQ für sein Deutschlandgeschäft Insolvenz beantragt, um 14 Uhr traf sich Insolvenzverwalter Martin Prager in der Münchner Zentrale zur Geschäftsübergabe mit dem BenQ-Siemens-Chef Clemens Joos. Um 17 Uhr traten beide in der Betriebsversamm-lung in München auf, die live in die Werke Bocholt und Kamp-Lintfort übertragen wurde. Die Mitarbeiter erfuhren, dass die versprochene Finanzspritze in Höhe von 400 Millionen Dollar von der Muttergesellschaft in Taiwan ausgeblieben war und jetzt die Suche nach Investoren beginne.

Angelika Scheer, 56, wird diesen Tag „nie vergessen“. Sie sitzt heute in Kamp-Lintfort am Empfang des Rathauses. Ihre zuvorkommende Art und eine Fortbildung in Sachen Büro-management haben ihr diesen Job beschert. Zuvor hatte sie, >

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eigentlich eine ausgebildete Friseurin, viele Jahre an einer der Linienstationen im Werk Handys montiert. Später stieg sie zur Qualitätsprüferin auf. „Die Arbeit hat unheimlich viel Spaß gemacht.“

Umso schlimmer war das Ende. Tränen, Ratlosigkeit und Verzweiflung, so beschreibt Scheer das Aus im September 2006. Sie blättert in einem dicken Aktenordner, in dem sie Zeitungs-artikel zu dem Ereignis wie einen Schatz aufbewahrt. Von der Insolvenz erzählte ihr ein Kollege, der die Nachricht im Radio gehört hatte. In der Woche darauf musste sie von einem auf den anderen Tag ihren Spind räumen.

„Unternehmen lassen bei Trennungen allzu oft Anstand und Respekt vermissen – mit schweren Folgeschäden für die Gesund-heit der Entlassenen, das Image der Unternehmen und die Moti-vation der verbleibenden Mitarbeiter.“ Das sagt Laurenz Andrze-jewski, Managementberater und Autor des Standardwerks „Trennungs-Kultur und Mitarbeiterbindung“. Das Wichtigste sei, dass man Entlassene nicht wie eine Nummer behandle, sondern persönlich auf sie eingehe. Darum müsse der Vorgesetzte das Trennungsgespräch führen und nicht – wie in der Praxis üblich – irgendein Personaler, der den Mitarbeiter kaum kennt. Bei einer Insolvenz müsse eine funktionierende Kommunikation von oben nach unten sichergestellt sein, sodass jede Abteilung von ihrem Leiter davon erfahre, bevor die Medien berichteten.

Das schlechte Trennungsmanagement kann man Siemens nicht vorwerfen. Das lag in den Händen von BenQ. In den Tagen danach aber geriet der Konzern in Verdacht, sich aus der Verant-wortung stehlen zu wollen, auch wenn Joe Kaeser sich fürsorg-

lich gab: „Wir sind wirklich betroffen von der Entwick-lung und wollen uns jetzt darauf konzentrieren, wie wir die deutschen BenQ-Mobile-Beschäftigten unter-stützen können.“

Die Mitarbeiter hatten vor dem Werkstor ein Zelt der Solidarität errichtet. Drei Monate lang kamen sie täglich dorthin – „um zu zeigen, dass wir uns nicht einfach abschieben lassen, und um uns gegen-seitig zu trösten“, sagt An-gelika Scheer.

Der Druck auf Siemens wurde immer größer. Politi-ker aller Parteien solidarisier-ten sich mit den Entlasse-nen, bei Spiegel Online war

von einem „Drecksjob“ zu lesen, den die Taiwanesen für Siemens erledigt hätten.

Betriebsräte fanden heraus, dass man den Mitarbeitern im Juni 2005 fälschlicherweise mitgeteilt hatte, dass sie in den BenQ-Mutterkonzern übergehen würden – die Entdeckung sorgte da-für, dass ein Großteil der Mitarbeiter nachträglich Wider spruch einlegte. Siemens drohte zur Wiedereinstellung von rund 2000 Beschäftigten verpflichtet zu werden. In dieser Situation machte der Konzern großzügige finanzielle Zusagen.

Bachmann, Scheer und alle ihre Kollegen konnten für ein Jahr in eine Transfergesellschaft (siehe Kasten) wechseln, sie bekamen währenddessen einen Großteil ihres letzten Nettogehalts, profes-sionelle Beratung und die Möglichkeit, sich weiterzuqualifizieren. Wer vor Ablauf des Jahres einen neuen Job fand, wurde mit einer sogenannten Sprinterprämie in Höhe von 24 000 Euro belohnt. Wer hinterher noch arbeitslos war, bekam eine Abfindung. Das alles kostete Siemens einen dreistelligen Millionenbetrag.

Mehr als 80 Prozent der Menschen, die Anfang des Jahres 2007 in die Transfergesellschaft gewechselt waren, fanden spä-ter wieder Arbeit. Die Verzweiflung verschwand, aber ihr Groll blieb. Peter Bachmann hatte sich in der Transfergesellschaft zur Fachkraft für Lagerlogistik ausbilden lassen. Heute ist er Leiter Wareneingang in einem mittelständischen Betrieb. Durch ein verdrecktes Fenster wirft er einen letzten Blick in die verwaiste Produktionshalle. Allein für ihn dürfte Siemens nach der Insol-venz 50 000 Euro hingeblättert haben, sagt er. „Viel Geld – aber von der eigenen Familie will man auch für 50 000 Euro nicht verkauft werden.“ –

Ex-Siemensianer: Angelika Scheer arbeitet am Empfang des Rathauses, Manfred Kant hat ein Café eröffnet

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

Transfergesellschaften

Drohen in einem Betrieb Massenentlassungen, wird häufig eine sogenannte Transfergesell-schaft gegründet. Sie soll die Trennung sozial-verträglicher machen, indem sie die betroffenen Mitarbeiter auffängt und in neue Beschäfti-gungsverhältnisse vermittelt. Im Fall BenQ gab es zwei davon: die PEAG in Dortmund sowie TRAIN in München. 2500 der 3300 von Arbeitslosigkeit bedrohten Mitarbeiter wechsel-ten in eine der beiden Gesellschaften – in ein Arbeitsverhältnis, das laut Gesetz auf maximal ein Jahr befristet ist. Die Mitarbeiter erhalten während dieser Frist rund 80 Prozent ihres letzten Nettolohns. Den Großteil (60 Prozent bei Alleinstehenden, 67 Prozent ab einem Kind) zahlt die Bundesagentur für Arbeit. Den Rest steuert der alte Arbeitgeber bei.Transfergesellschaften bringen den Beteiligten allerlei Vorteile. Das Unternehmen, das Mitarbeiter loswerden will, spart sich teure Pro-zesse vor dem Arbeitsgericht sowie Lohn-fortzahlungen während der Kündigungsfrist. Die

Betriebsräte können der Belegschaft eine Perspektive aufzeigen. Die Arbeitsagentur ver-meidet Zugänge in die Arbeitslosenstatistik. Und auch die Beschäftigten profitieren: Sie gel-ten nicht als arbeitslos. Mit dem Wechsel in eine Transfergesellschaft verdoppeln sie zudem den Zeitpuffer vor dem drohenden Abstieg in Hartz IV. Trotzdem sind Transfergesellschaften umstritten. Sie vermittelten nicht effektiver als die Arbeits-agentur, vielmehr würden die Entlassenen darin zulasten der Sozialkassen nur geparkt, sagen die Kritiker. Tatsächlich ist die Qualität der Transfergesellschaften sehr unterschiedlich. Manche bieten kaum mehr als Bewerbungstrai-nings. In einen neuen Job vermitteln lassen sich die Transferierten aber oft erst nach auf-wendigen Qualifizierungsmaßnahmen.Im Fall BenQ gab es dafür ungewöhnlich viel Geld – weil auch Siemens und der Europäische Globalisierungsfonds (EGF) der EU welches beisteuerten. 90 Prozent der Mitarbeiter, die zu TRAIN gewechselt waren, konnten nach

Ablauf der Jahresfrist vermittelt werden. PEAG war mit 61 Prozent weit weniger erfolgreich. Das lag zum einen daran, dass die Belegschaft in Nordrhein-Westfalen zu einem hohen Anteil aus Ungelernten bestand, während in München viele Entwicklungsingenieure und andere Hochqualifizierte gearbeitet hatten, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt waren; zum anderen hatten die Gewerkschaften für die in der Produktion in Kamp-Lintfort tätig gewesenen Mitarbeiter hohe Abfindungen ausgehandelt. Die bekam nur, wer nach dem Ausscheiden aus der Transfergesellschaft noch arbeitslos war. Der Anreiz, vorher in ein neues Beschäfti-gungsverhältnis zu wechseln, wurde dadurch stark gemindert. Dank der EGF-Gelder konnten die Qualifizierungsmaßnahmen um ein halbes Jahr verlängert werden – mit dem Ergebnis, dass am Ende auch in Nordrhein-Westfalen die Vermittlungsquote über 80 Prozent lag.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _DIGITALISIERUNG

• Zwei Balken, ein eckiger Ball auf dem Fernseher. Ping, pong, ping, pong. Grundig nannte es Tennis. Damit ging ein regneri-scher Samstagnachmittag genau-so schnell vorbei wie ein sonni-ger auf dem Fußballplatz.

Er tat weh. Der erste Ab-schied von einer digitalen Gerät-schaft. Es muss 1982 oder 1983 gewesen sein. Ich war elf oder zwölf. Meine Eltern kauften ei-nen Philips-Fernseher, weil der alte von Grundig seinen Geist aufgegeben hatte. Der neue hatte keines jener seltsamen Schub fächer, in dem man die Fernbedie-nung, Tele-Pilot genannt, verstauen konnte. Das Fach für den Tele-Piloten war zugleich die Docking-Station für das „Telespiel 1“ gewesen. Also für jene erste deutsche Spielkonsole, mit der Grundig den Computerspiel-Urtyp für Kinder und Jugendliche ins Wohnzimmer geholt hatte. Und dann stand da also plötzlich jener neue Fernseher mit besserer Bildqualität – aber ohne Schub-fach und inkompatibel mit dem Lieblingsspielzeug. Das Telespiel 1 war Elektronikschrott. Allein die vage Aussicht auf einen Com-modore 64 linderte den Schmerz.

Der Trennungsschmerz ist sicher nicht vergleichbar. Aber es gibt Freunde mit iPhones, die sagen heute: „Wir vermissen unser iOS 6.“ Das sei kein guter Tag gewesen, als sie aufwachten, das Telefon hochfuhren und mit iOS 7 plötzlich alles ganz anders

aussah. Die Freunde sagen auch: „Es ist eigentlich eine Unver-schämtheit, dass uns Apple den Weg zurück versperrt.“

Die Digitalisierung versprach, dass wir im digitalen Raum alles für immer aufheben können. Weil wir für unser Hab und Gut keinen größeren Keller brauchen, sondern nur mehr Speicherplatz. Und der wird immer billiger. Fotos, Texte, Musik, digitalisier-te Erinnerungen, so das Verspre-chen, werden für immer bei uns bleiben. Theoretisch ist das mög-

lich. Doch in der Praxis gilt: Die Digitalisierung erzieht uns zur permanenten Trennung.

Der Abschied vom Telespiel 1 war nur der Anfang. Selbst-verständlich war es sinnvoll, die Datasette des Commodore 64 durch ein Floppy-Laufwerk zu ersetzen. Aber leider gingen dabei wichtige Spiele verloren. Auf dem ersten PC im Studium lief WordPerfect. Ein Textverarbeitungsprogramm, das in Design und Menüführung eine Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte, die dem Schreibenden half, sich auf den Text zu konzentrieren. Word verdrängte das perfekte Programm. Die Ruhe und Gelassenheit kehrten bis heute nicht zurück.

Den Umstieg von der 5-Zoll-Diskette auf die kleinen 3,5-Zol-ler verband ich 1993 mit dem Umzug in die Apple-Welt. Ich behielt den alten PC, um immer wieder auf die alten Dateien

Bis es wehtut Wir können alles archivieren. Das hat uns die Digitalisierung versprochen. Aber in Wahrheit erzieht sie uns zum Abschiednehmen.

Text: Thomas Ramge Illustration: Silke Baltruschat

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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zurückgreifen zu können. Ich habe ihn nie wieder hochgefah-ren. Die Migration war de facto ein Steuerbefehl: Lösche digitale Vergangenheit! Den Platten folg-ten die Kassetten, den Kassetten die CDs, den CDs die MP3s. Ich kann mich an keinen Träger-Wechsel ohne erheblichen Ver-lust an Repertoire erinnern.

Früher dachten nur Familien-unternehmen über Generations-wechsel nach, seit es digitale Endgeräte gibt, tun wir es alle. Mein erstes Handy behielt ich vier Jahre. In den vergangenen drei Jahren hatte ich vier. Das ist immerhin eine eigene Entscheidung. Niemand drängt dazu.

Beim Tablet ist das anders: „Das Startvolumen ist fast voll“, sagt es immer wieder. Das klingt wie ein Vorwurf. Das Tablet scheint nicht zu wissen, dass Speicherplatz immer billiger wird. Natürlich könnte man alles auch auf einer externen Festplatte sichern. Das Terabyte kostet nur noch 50 Euro. Aber wozu? Wir wissen ja, dass die Terabyte-Platte schneller voll sein wird, als eine Zahl mit zwölf Nullen vermuten lässt. Und dass dann wei-tere Festplatten im Regal herumstehen und so voll sind, dass wir auf ihnen ohnehin nichts mehr wiederfinden.

„Das Startvolumen ist voll“, und schon schmeißen wir Apps weg, die wir selten nutzen. Obwohl wir für sie bezahlt haben. Wir ziehen Ordner mit Bildern in den Papierkorb, die wir nicht

einmal gesichtet haben. Eben -so Musikalben, von denen wir nicht wissen, ob sie uns irgend-wann vielleicht doch wieder gefallen werden. Dann könnten wir uns zu den Songs natürlich wieder über einen Streaming-Dienst wie Spotify Zugang ver-schaffen. Aber dass es so kommt, ist unwahrscheinlich. Wir haben bis dahin vergessen, welche Band wir damals gelöscht ha-ben. Selbst speichern bedeutet im Zeitalter der Massendaten trennen.

Und dann wäre da natürlich noch die brachiale Form der di-gitalen Trennung. Wenn es richtig kracht zwischen Mensch und Maschine. Eine Kollegin und ein Kollege wurden kürzlich, unab-hängig voneinander, von ihren Festplatten verlassen. Beide haben länger darüber nachgedacht, wie viel Geld sie in die Datenrettung investieren wollten. Die Kollegin brachte mehr als 2000 Euro auf, der Kollege knapp 1000. Beide wissen nicht, ob und wenn ja welche Informationen die Datenretter wiederfinden. Sie können nichts versprechen, aber ihr Honorar wird auf jeden Fall fällig. So ist das üblich, offenkundig ein gutes Geschäftsmodell und im Grunde ein Treppenwitz der Digitalisierung. Sie verspricht, dass wir alles behalten können. Dann versagt sie. Und wir müssen teuer bezahlen. Ohne Garantie. Au. –

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _IBM/LENOVO

In guten HändenDer IBM-PC war ein Betriebsunfall, der Industriegeschichte schrieb. Die Mutter liebte den Bastard nie. Nach 24 Jahren gab sie ihn endlich zur Adoption frei. Das war das Beste, was sie tun konnte. Und was Lenovo passieren konnte.

Text: Ulf J. Froitzheim; Mitarbeit: Bernhard Bartsch

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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• Was sagt Lenovo jemandem, der das Wort zum ersten Mal hört? Das neue Lenor, jetzt novemberfrisch? Ein Auto aus Korea? Der neueste Online-Klamotten-laden der Samwer-Brüder aus Berlin? Wer häufiger in Elektronikmärkten ist, dürfte immerhin wissen: Es handelt sich um eine Computermarke. Dass die neuerdings die deutsche und weltweite Verkaufs-Hitliste anführt, ahnt kaum jemand. Der unauffäl-lige Branchenprimus aus China kommt sel-ten in den Medien vor. Und steht übrigens auch hinter der Aldi-Technikmarke Medi-on, die ebenfalls keine Schlagzeilen braucht, um gute Geschäfte zu machen.*

Die International Business Machines Corporation (IBM) – jener multinationale Konzern, der vor 32 Jahren zwar nicht den PC erfand, wohl aber den Gattungsbegriff Personal Computer prägte – hat einen ganz anderen Charakter. Zu Weltrang auf-gestiegen war die IBM als Maschinen-bauer für die Bürowelt. Das Unternehmen tickte lange im gemächlichen Takt der Mechanik. Nachdem die Kunden 1981 angefangen hatten, ihre Briefe auf dem PC zu schreiben, baute der IT-Riese noch fünf Jahre lang seine uralte Kugelkopfschreib-maschine „Selectric“ weiter. Doch als der Konzern vor 20 Jahren am Abgrund stand, verordnete ihm der Sanierer Lou Gerstner eine neue Identität. IBM wurde zu einer IBS: S wie Software oder Service. Die PCs sind Geschichte; Großcomputer gibt es noch, doch zum Kerngeschäft gehören sie nicht mehr.

Dass IBM so weit gekommen ist, liegt auch an Lenovo. Die beiden Unternehmen sind wie Tag und Nacht. Und ergänzen sich daher perfekt. Lenovo ist geworden,

was die IBM nie sein konnte – ein erfolg-reicher PC-Anbieter – und half der IBM, das zu werden, was sie längst sein wollte: ein Dienstleister ohne Altlasten. Ende 2004 schloss Gerstners Nachfolger Sam Palmisano mit Lenovos starkem Mann Yang Yuanqing einen Pakt, wie ihn sich Tausende bei BenQ und Nokia Networks gestrandete Siemensianer wohl gewünscht hätten. Die Personal Computing Division, bei IBM seit je das fünfte Rad am Wagen, bekam nach 24 verlorenen Jahren einen neuen Eigentümer, der wirklich etwas mit ihr anzufangen wusste.

Die Trennung war ein Segen für alle Beteiligten, denn die PC-Sparte steckte schlichtweg im falschen Firmenkörper. Die Mitarbeiter bekamen einen neuen Arbeitgeber, der klare Ziele hatte und eine Vorstellung, wie er diese erreicht. Der chinesische Partner bekam eine gut geteerte Auffahrtsrampe zum Weltmarkt. Palmisano konnte sich auf das lukrative Kerngeschäft mit Software und IT-Dienst-leistungen konzentrieren, ohne jene Stammkunden zu verärgern, die Wert auf One-Stop-Shopping legten, also Soft-ware, Hardware und Service aus einer Hand. Die PC-Produkte blieben lieferbar,

nur war IBM nun Vertriebspartner und nicht mehr Hersteller.

Dass die Sache wirklich funktionieren würde, war damals vor neun Jahren kei-neswegs klar. Beobachter in Europa und in den USA, die sich nicht sehr gut mit chinesischen Elektronikfirmen auskann-ten, konnten mit dem Namen des Käufers nichts anfangen. Schnell sprach sich he r-um, dass es sich um einen Hersteller aus der zweiten Liga handelte, der kurz zuvor noch als Legend firmiert hatte. Mit diesem Allerweltsnamen hatte der Vorstand keine Chance gesehen, auf dem Weltmarkt voranzukommen, und sich deshalb die Marke Lenovo ausgedacht, ein Kunstwort für „Legende neu“.

Die alte Legend hatte gerade mit der Produktion von Notebooks angefangen und war immerhin Marktführer bei Tisch-PCs in China. Da sich erst wenige Chine-sen Computer leisten konnten, hieß das aber nicht viel. Die harten Zahlen waren ernüchternd: Der Umsatz lag bei drei Mil-liarden Dollar, IBMs PC-Sparte war fast viermal so groß. Auf dem Weltmarkt ver-trieb Legend unter der Marke QDI Mo-therboards – Hauptplatinen für PCs – an kleinere Hersteller. Der Neuling hatte

Ein Jumbo-Tablet für Spiele mit der ganzen Familie: der „Horizon“ von Lenovo. Mit dem Ur-PC von IBM (rechts) fing alles an

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also nicht viel vorzuweisen: Ein kleiner Fisch sollte einen großen schlucken. Und dann waren da noch die unterschied-lichen Firmenkulturen – keine gute Vor-aussetzung für eine fruchtbare Zusam-menarbeit.

Wer so dachte, unterschätzte Yang. Mit dem chinesischen Staat als Anteilseig-ner hatte der damals 40-jährige Lenovo-Chef nicht nur die nötige Kreditwürdig-keit für die Transaktion, bei der er zum Schnäppchenpreis von 650 Millionen Dol-lar plus 18,9 Prozent der Lenovo-Aktien zugreifen konnte. Yang, dem Protégé des Legend-Gründers Liu Chuanzhi, war auch amerikanisches Denken vertraut. So be-wunderte er nicht nur den in den USA üblichen Managementstil, sondern prakti-zierte ihn bereits vor der Fusion im eigenen Unternehmen. Als die Sache perfekt war, verlegte er die Zentrale seiner neuen Com-puterfirma nicht nach Peking oder Hong-kong, sondern zog selbst um nach North Carolina zu seinen Ex-IBMlern. Bewährte Führungskräfte tauschte er nicht aus, wenn er sie zu Verbündeten machen konnte. In Interviews mit westlichen Medien nahm Yang – sehr untypisch für einen chinesischen Geschäftsmann – kein Blatt vor den Mund. So machte er keinen Hehl daraus, dass ihn die Angewohnheit vieler seiner Landsleute störe, auf Anwei-sungen zu warten, statt selbst die Initiative zu ergreifen.

Chinas erster globaler Konzern

Die internationale Expansion hatte der Sohn eines Ärzte-Ehepaars von langer Hand vorbereitet. Der Mann, dessen De-vise „protect and attack“ heißt, wartete nur auf eine gute Gelegenheit, groß einzu-steigen. Der erste Schritt war das Rebran-ding 2003. Auf der Cebit 2004 hatte die Marke Lenovo dann ihren ersten Auftritt vor großem Publikum. Yangs Mann fürs Internationale, Mike Chan, verriet der Fachpresse, man werde sich mit Note-books als „A-Brand aufstellen“ – und wur-de prompt so missverstanden, dass nun

noch ein zusätzlicher Fernost-Anbieter auf den bereits rappelvollen PC-Markt drängen werde und sich dabei auch noch anmaßt, als x-ter No Name gegen IBMs Thinkpad und Apples Macbook anzutre-ten. Offenbar war die Show in Hannover aber als Signal an potenzielle Partner ge-dacht, dass es da jemanden gibt, der es ernst meint mit dem Weltmarkt und gern auch per Akquisition oder Fusion wach-sen würde. Dass die Pekinger Staatsfüh-rung Yang gewähren ließ, konnte Sam Pal-misano als Wohlwollen deuten.

Wer gefürchtet hatte, das chinesische Unternehmen sei nur scharf auf IBMs Notebook-Marke Thinkpad und die Kun-denkontakte, rieb sich bald die Augen: Statt die um den Erdball verstreuten Akti-vitäten so weit wie möglich in China zusammenzuziehen, nutzte Lenovo die globale Präsenz, um sich als erster echter multinationaler Konzern zu positionieren, der nur eben seine Wurzeln in China hat. Der ehemalige IBM-Standort für Forschung und Entwicklung in Raleigh (North Carolina) fungiert als Zweit-Hauptquartier. Das Unternehmen produ-ziert viel in eigenen Fabriken. Thinkpads werden nicht nur in China gebaut, son-dern auch in den Hochlohnländern Japan und USA. In Deutschland kaufte Lenovo Medion, in Brasilien den Unterhaltungs-elektronik-Hersteller CCE.

Das US-Magazin »Fast Company« druckte Ende 2011 eine Weltkarte mit den Arbeitsplätzen der Lenovo-Führungsriege. Nur die Hälfte von Yangs zehnköpfigem Team waren Chinesen mit Büro in Peking oder Hongkong. In den USA arbeiteten (neben Yang) je ein Australier, Israeli und Kanadier, in Singapur ein Amerikaner, in Paris ein Niederländer, der Europachef Milko van Duijl. Dieser habe binnen eines Jahres mehr als eine halbe Million Flug-kilometer zurückgelegt, weit mehr als Yang selbst. Die Belegschaft wuchs seit 2005 von 19 000, davon mehr als die Hälf-te ehemalige IBMler, auf 35 000 Mitarbei-ter an. „IBM and Lenovo – New Leader-ship in Global PCs“ hatte IBM bei

Abschluss des Deals im Dezember 2004 mutig verkündet. 2013 ist dieses Ziel er-reicht, was allerdings auch daran liegt, dass die Ex-Champions Hewlett-Packard und Dell Chinas erstem Multi bei dessen Aufstieg entgegenstolperten.

Seit seinen Anfängen als kleiner, loka-ler Importeur hat Lenovo einen langen Marsch hinter sich. Eine starke Heimat-basis hat Lianxiang, so der chinesische Name, noch immer. 43 Prozent des Um-satzes von fast 34 Milliarden Dollar macht das größte Elektronikunternehmen Chi-nas in dem Riesenreich, wo es sich als Luxusmarke etabliert hat. Allein der In-landsumsatz mit PCs übertrifft mit knapp zwölf Milliarden Dollar bereits das welt-weite Geschäft von IBMs PC-Sparte zur Zeit des Zusammenschlusses. Das ge-meinsame Asiengeschäft hat sich – wie auch das globale Geschäft – mehr als verdoppelt.

Trotz der hohen Preise für seine Note-books und Tablets liegt das Unternehmen in China auch nach Stückzahlen an der Spitze. Den Erfolg verdankt der Konzern unter anderem seinem weitverzweigten Vertriebsnetz und eigenen Ladengeschäf-ten. Dass Lenovo Chinas Platzhirsch ist, sieht man auch bei Dazhong Electronics, einer großen Handelskette, auf den ersten Blick. Das Tablet „Ideapad“ wird mit roten Schleifen und Feuerwerksbildern beworben. Aufsteller zeigen ein Rentner-paar, das sich über das in alle Richtungen faltbare Touchscreen-Gerät „Yoga 11“ freut. Und auf großen Postern hält US-Basketballstar Kobe Bryant ein Smart-phone in die Kamera, das auf dem über-sättigten europäischen Handymarkt nicht erhältlich ist.

Mit seinen mehr als 40 Android- Modellen hat Lenovo es in China schon auf Platz zwei hinter dem Weltmarktführer Samsung geschafft. 50 Millionen Exem-plare will er dieses Jahr dort absetzen, außerdem zehn Millionen Tablets. Mit einer Fabrik, die derzeit im zentralchinesi-schen Wuhan gebaut wird, soll die Pro-duktionskapazität verdreifacht werden. >

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Computer-Geschichte

1911 Die spätere IBM entsteht durch die Fusion der Tabelliermaschinenfirma von Herman Hollerith mit Konkurrenten.

1935 IBM baut elektrische Schreibmaschinen.1954 Der erste programmierbare Rechner als Massenware kommt auf den Markt.

Er arbeitet mit Röhren, Transistoren gibt es noch nicht.1961 IBM präsentiert das Produkt, das die Wahrnehmung der Marke prägen wird:

die Selectric mit Kugelkopf statt Typenhebeln. Sie bleibt bis 1986 im Programm, fast unverändert bis auf eine kleine, lukrative Innovation, die Wegwerf- Farbbandkassette.

1964 Die Großrechner-Familie System/360 begründet die Dominanz der IBM in den EDV-Abteilungen von Industrie und Behörden.

1976 Während IBM mit voluminösen, teuren Text- und Datensystemen den Mittelstand anpeilt, erfinden Jungunternehmer in den USA, allen voran die Apple-Gründer Steve Jobs und Steve Wozniak, den kompakten Mikrocomputer. IBMs Entry Systems Division (ESD) schafft es in vier Jahren nicht, ein marktfähiges Gerät zu entwickeln.

1980 Apple, Commodore und Radio Shack (in Europa: Tandy) machen den Mikro -computer zum Milliardenmarkt. Eine Task-force der ESD entwickelt den PC. IBM hat weder Know-how noch billige Komponenten. Das Innenleben des persönlichen Computers kommt deshalb von Newcomern wie Intel und Microsoft.

1981 Der PC kommt auf den Markt und verkauft sich recht gut. IBM bringt weitere Modelle, und versucht eine Kette mit eigenen Ladengeschäften und Shop-in-shop- Dependancen in Warenhäusern zu etablieren. Das misslingt. Neue Konkurrenten wie Compaq und später Dell bringen IBM-kompatible Geräte heraus, die besser und billiger sind. Mit Abstand am meisten verdienen aber die Exklusiv-Zulieferer Microsoft und Intel.

1988 Der Erfolg kleinerer Computer bremst das Wachstum von IBMs Umsatzbringer, der Großrechnersparte. Der Trend geht weg vom Rechenzentrum, hin zu dezentraler IT.

1991/92 IBM zerstreitet sich mit Microsoft und stattet seine PCs mit dem eigenen Betriebssystem OS/2 aus statt mit Windows. Der Versuch, sich unabhängig zu machen, scheitert. Die Kunden wollen den „Industriestandard“, also Microsoft.

1992/93 Binnen zwei Jahren macht IBM 13 Milliarden Dollar Verlust. Louis Gerstner kommt als Sanierer ins Unternehmen, forciert Investitionen in Software und Service, die PC-Sparte stutzt er zurück. Deren Notebook Thinkpad erweist sich allerdings als Bestseller.

2002 Gerstners Nachfolger Sam Palmisano kauft die Consulting-Sparte von Price Waterhouse Coopers.

2004 Palmisano verkauft die PC-Sparte an Lenovo.1984 Chinas Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping fördert Investitionen in Hightech.

An der Akademie der Wissenschaften gründet Liu Chuanzhi mit zehn Kollegen die Neue-Technologie-Entwicklergesellschaft, die später zu Legend umfirmiert. Der Staat hält die Anteilsmehrheit. Anfangs importiert die Firma Fernseher, Toshiba-Notebooks und HP-Drucker.

1990 Legend versucht sich am Bau von PCs, schreibt vier Jahre lang Verluste, investiert in eine aufwendige Werbekampagne. Die Regierung stilisiert den Kauf eines Legend-Computers zur staatsbürgerlichen Tugend, Medien pushen die Marke.

1994 Legend geht in Hongkong an die Börse, der Staat behält die Mehrheit.2003 Legend ist die Nummer eins im Geschäft mit PCs in der Volksrepublik und registriert

für die Expansion auf den Weltmarkt die Marke Lenovo.2004 Lenovo präsentiert sich auf der Cebit. Noch stammt der Umsatz zu 100 Prozent aus

dem Raum Asien/Pazifik. Im November wird der Deal mit IBM publik.

Seit 2008 verkauft der Konzern auch kleinere Server an den Mittelstand. Sie tra-gen die von IBM lizenzierte Marke Think. Im Frühjahr machte das Gerücht die Run-de, Lenovo verhandle mit IBM über den Kauf der schwächelnden Abteilung für Intel-Server. Als sich abzeichnete, dass ein solcher Deal wohl nicht zustande kom-men werde, kommentierte der Fachdienst Tecchannel dies mit Bedauern: „Beide Hersteller hätten von dem Deal profitiert.“

Tatsächlich dauerte es nur wenige Wo-chen, bis eine Bloomberg-Meldung diese Einschätzung bestätigte: Die IBM-Chefin Virginia Rometty habe den nordamerika-nischen Beschäftigten der Hardware-Spar-te STG (Systems and Technology Group) für den August eine Woche Kurzarbeit verordnet. Der Grund: ein zweistelliger Umsatzrückgang, besonders bei den klei-neren Servern, für die sich Lenovo interes-siert haben soll. Diese sind technisch eng mit PCs verwandt.

Es regiert das Baukastenprinzip

Damit holt IBM ein altes Dilemma ein: Die Firma ist seit Lou Gerstners Zeiten strikt marketing-getrieben. So hatte Romettys Vorgänger Sam Palmisano den Verkauf der PC-Sparte auch damit begründet, IBM wolle nicht im Geschäft mit Endkunden mitmischen, sondern sich auf Firmen kon-zentrieren. Aber es wird immer schwieri-ger, eine Grenzlinie zwischen Geräten für Profis und solchen für Amateure zu ziehen. Der Trend heißt Consumerization. Der Fortschritt wird von jungen Technik- Enthusiasten getrieben, die immer das Neueste kaufen, ohne auf Abschreibungs-tabellen zu schauen. Apple macht keinen Unterschied mehr zwischen Macbook und Macbook Pro, es gibt auch nur ein iPad. Büroangestellte bringen oft ihre eigenen Mobilgeräte mit zur Arbeit, denn ein aktu-elles Produkt für Privatleute ist einem drei Jahre alten für Geschäfts leute fast immer überlegen. Die Zeit, in der es sich rechnete, Geräteserien für kleine Zielgruppen zu entwickeln, geht zu Ende. Fast jedes >

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Den Unterschied zu anderen Wirtschaftsmagazinenkann man jetzt auch hören.

Der brand eins-Schwerpunkt als Audioversion auf brandeins.de:auswählen,herunterladen, hören.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Lenovo im Vergleich mit IBM und dessen Wettbewerber Hewlett-Packard (HP)

Lenovo IBM HPWie groß?Mitarbeiter 35 026 434 246 331 800 Umsatz in Mrd. Dollar 33,9 104,5 120,4Börsenwert in Mrd. Dollar 9,5 198,7 30,8

Wie profitabel?Ergebnis nach Steuern in Mrd. Dollar 0,63 16,6 -12,7Umsatzrendite1 1,9 % 15,9 % -10,5 %Eigenkapitalrendite 2 23,5 % 87,4 % -55,7Bruttomarge (Gross margin):Software – 88,7 % 17 %Hardware 12 % 39,1 % 11 %

Wie solide?Nettoschulden 3 in Mrd. Dollar keine 22,9 17,1Eigenkapitalquote 4 16 % 16 % 21 %

Wie dominant?Rang unter IT-Konzernen nach Umsatz 12 4 3

Wie dynamisch?Umsatzentwicklung 14,5 % -2,2 % -5,4 %Gewinnentwicklung 34 % 5 % -181 %

Wie innovativ?F&E-Ausgaben in Mrd. Dollar 0,6 6,3 3,4F&E-Anteil am Umsatz 1,8 % 6 % 2,8 %

Wie global?Amerika (Lenovo + HP: Nordamerika) 15 % 43 % 35 %Europa/Afrika/Nahost 22 % 30 % k. A.Asien/Australien (Lenovo: mit Lateinamerika), 63 % 25 % k. A.davon China 43 % k. A. k. A

1 Gewinn nach Steuern als Anteil vom Umsatz2 Gewinn nach Steuern bezogen aufs Eigenkapital3 Gesamtfinanzschulden abzüglich Cash und kurzfristig verkäufliche Wertpapiere4 Eigenkapital als Anteil an der Bilanzsumme

Quellen: aktuelle Geschäftsberichte; das Lenovo-Geschäftsjahr endete zum 31.3.2013, das IBM-Geschäftsjahr zum31.12.2012 und das HP-Geschäftsjahr zum 31.10.2012

Bedürfnis lässt sich mit Standardkompo-nenten erfüllen. Bei Elek tronik sind Skalen-effekte alles – die Masse macht’s.

Lenovo beherrscht dieses Geschäft. Mit dem Know-how von IBMs Think-pad-Konstrukteuren entwickelte die Fir-ma zwei weitere Modellreihen – die Life-style-Serie Ideapad und eine billige namens Essential, die sich ausdrücklich auch an Kleinunternehmer richtet. Die Produkte unterscheiden sich in Design, Ausstattung und Preis, haben aber im In-nern viel gemeinsam. Lenovo leistet sich auch skurrile Geräte wie den „Horizon“, ein 1800 Euro teures Jumbo-Tablet im Format eines mittleren Fernsehers, mit dem die ganze Familie gemeinsam elek-tronische Brettspiele spielen kann. Auf-recht gestellt, dient es als Windows-8- Computer mit Touch-Bedienung.

Unter IBM-Regie wäre solch ein Pro-dukt undenkbar gewesen. Der Konzern hätte nicht gewusst, wie man es vermark-tet. Das war von Anfang an das Problem der PC-Sparte. Der „persönliche“ Compu-ter IBM 5150, mit dem im August 1981 der Siegeszug des PC begann, war eine holter-dipolter aus konzernfremden Bauteilen zusammengelötete Notlösung. Erstmals war eine IBM-Maschine „Not Invented Here“ – ein Sakrileg. Schlimmer noch: Sein einziges Alleinstellungsmerkmal war das Renommee seiner Marke, das konser-vativen Kunden die Angst vor dem Rech-ner nahm. Er war leicht kopierbar, es ent-standen neue Hardware-, Software- und Zubehörhersteller, und mit der dominie-renden Stellung von IBM war es vorbei.

Diese Probleme hat der Konzern hinter sich, und er hat aus der guten Erfahrung mit Lenovo gelernt. 2012 trennte man sich wieder von einer Sparte. Die Kassensys-teme für den Einzelhandel gingen an To-shiba. Die Konstellation ist ähnlich: Die beiden Unternehmen kommen sich nicht in die Quere, deshalb sind die Kassencom-puter genau wie die Thinkpads nach wie vor auf der Website von IBM zu finden. Das Verbindende ist stärker als das Tren-nende. – * siehe brand eins 01/2000: b1-link.de/_medion

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• Wenn man Alois Unertl, 59, heute fragt, was damals vorgefal-len ist, sagt er nur: „So war das halt damals.“ Er sitzt im „Bräustüberl“ in Haag in Oberbayern, rund 30 Kilometer entfernt von Mühldorf, das sein Vater 1948 samt angeschlossener Klein-brauerei übernommen hat. Holzgetäfelte Wände. Dielenfußbo-den. Lampen aus Schmiedeeisen. Über der Bar hängt ein halber kupferner Sudkessel. Das Bräustüberl erinnert immer noch an die Zeit, als 30 Kilometer eine halbe Weltreise waren und Männer

wie sein Vater, der auch Alois hieß, sich mit 40 Mark in der Ta-sche eine Existenz aufbauen konnten. Dass er das musste, hat mit den damaligen Gepflogenheiten zu tun. Damals erbte der Älteste, also der Bruder Josef. Und als Alois 1948 aus der Kriegsgefangen-schaft heimkehrte, sagte man ihm: In der elterlichen Brauerei in Mühldorf am Inn gebe es für ihn keinen Platz.

Damit beginnt, was bis heute anhält: die Spaltung einer Fami-lie und eine eigenwillige Konkurrenz. Zwei Brauereien aus einer

Mein Bier ist nicht dein BierEine Familie, zwei Firmen, zwei Marken. Das ist in Kürze die Geschichte der Brauerei-Dynastie Unertl. Die ausführliche Version erzählt von einem uralten Konflikt. Und einer Familie, die gelernt hat, mit ihm zu leben.

Text: Gerhard Waldherr Foto: Elias Hassos

Der Bodenständige: Alois Unertl setzt in Haag die Familientradition mit der dortigen Brauerei (oben links und oben rechts) fort

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

Familie, die Weißbier produzieren und dabei das gleiche Grundrezept benutzen. Min-destens 70 Prozent Weizenmalz statt der üblichen 50 Prozent. Das verlängert den Maische- und Läuterungsprozess, da das Weizenmalzkorn, anders als das Gersten-malzkorn, keinen Spelz mehr hat, aber ein besonderes Aroma erzeugt. Nach der Tank-gärung kommt die zeitintensive Flaschen-gärung hinzu. Und beide Unertls konservie-ren nicht, stabilisieren nicht, pasteurisieren nicht, was ihr Produkt nur bedingt haltbar macht. Das alles ist nur möglich, weil die Brauereien klein sind. In Haag werden 27 000 Hektoliter jährlich produziert, in Mühldorf 14 000 Hektoliter. Zum Vergleich: Der weltgrößte Weißbierhersteller, Erdinger Weißbier, produziert jährlich 1,5 Millionen Hektoliter.

Kurzum, ein extravagantes Nischenprodukt, begrenzt verfüg-bar, überwiegend im Umkreis von 50 Kilometern vertrieben und

unter Liebhabern Gegenstand heftiger Debatten. Im Internet wird Unertl beständig zum weltbes-ten Weißbier ernannt, angereichert mit Attributen wie „einzigartig“ oder „Nonplusultra“ – gemeint ist das Bier mit dem blauen Schriftzug und dem Haager Schlossturm auf dem Etikett. „Wer kein Unertl trinkt“, sagt der Münchner Feinkosthänd-ler Gerd Käfer, „ist selber schuld.“ Käfer meint das Bier aus Mühldorf mit dem roten Schriftzug

und dem Familienwappen. Das klingt nach Konkurrenz, Zank und – angesichts der Vorgeschichte – auch dauerhaftem Familien-streit.

Alois, der Sohn, ist ein kräftig gebauter Mann mit Händen, die man in Bayern Pratzen nennt. Früher, heißt es, bevor sie die neue Abfüllanlage hatten, 10 000 Flaschen pro Stunde, eine halbe Mil-lion Euro teuer, habe er in einer Stunde 5000 Bügelflaschen ver-schlossen. Hart arbeiten hat er als Kind gelernt. Auf die Frage, wie er denn so war, sein Vater, sagt er: „Sehr streng, aber er war auch zu sich selber so.“ Anders wäre es nicht gegangen, zumal die Haa-ger das Bräustüberl und den neuen Bräu der Zugereisten zunächst boykottierten. Obwohl seine Eltern damals in der kleinen Brauerei

keine langfristige Zukunft sehen, den Buben aufs Gymnasium nach Wasserburg schicken, damit er später Zahnarzt werden kann, ist der fasziniert vom Bierbrauen. Mit 14 schmeißt er den Laden erstmals allein. Da ist der Haager Weißbräu längst bekannt für sein bernsteinfarbenes, naturtrübes, malz- und hefearomatisches Weißbier.

Die Mühldorfer Weißbräu Unertl GmbH & Co. KG liegt in der Weißgeberstraße, Hausnummer 7 bis 15. Es ist ein Sammel-surium aus betagtem Gemäuer, Lagerhallen und Garagen. Das Gebäude, in dem der Fir-mengründer damals angefangen hat, trägt auf dem Giebel ein morsches Türmchen. Hier ist der Großvater mit 82 Jahren noch zwischen Sudkessel und Gärtank herumge-laufen und hat Anweisungen gegeben. Über-geben hat er die Brauerei an seinen Sohn Josef erst, als dessen Sohn Wolfgang schon

erwachsen war. Anders als in Haag, wo die Brauerei kontinuier-lich wuchs, stagnierten die Mühldorfer in ihrer Entwicklung. Was auch daran lag, dass die Familie mehr in ihr Hotel „Jägerhof“ >

Die familiären Konkurrenten in Mühldorf

Der Ambitionierte: Wolfgang Alois Unertl hat ungewöhnliche Braumethoden eingeführt

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _UNERTL

investierte, dem ersten Haus am Platz, 56 Zimmer, geführt von Wolfgangs Frau Ingrid.

Noch heute schwärmen die Mühldorfer von der begnadeten Gesellschafterin und fulminanten Köchin Ingrid Unertl, deren Tafelspitz legendär war, deren Lehrlinge mitunter Sterneköche wurden und die die Reichen, Schönen und die bayerische Polit-prominenz nach Mühldorf lockte. Auch Starköche wie Eckart Witzigmann und Alfons Schuhbeck kamen oft und gern. Noch heute beliefert Ingrid Unertl die Münchner Edelgastronomie mit ihren ausgefallenen Kreationen, darunter Weißbiergelee, Preisel-beer-Weißbier-Marmelade und Weißbiersenf, aber auch Weiß-bierbrand.

Prost, CSU!

Erst als der Jägerhof 1989 verkauft wurde, widmete sich die Familie wieder verstärkt der Brauerei, die fortan saniert und modernisiert wurde. 1993 über-nahm Wolfgang Alois Unertl, der Sohn von Wolfgang und Ingrid, die Ge-schäftsleitung. Was nicht heißt, dass der Kontakt zur CSU-Spitze abgebro-chen wäre. Im Büro der Brauerei hän-gen sie gerahmt an der Wand, in Trach-tenjanker und aufgeräumter Stimmung: der junge Stoiber und Guttenberg, als er noch Minister war. Seehofer war erst kürzlich wieder da. Auf einer über-dimensionalen Visitenkarte gratuliert Franz Josef Strauß Ingrid Unertl zum 40. Geburtstag. Ingrids Großmutter, Viehhändlerin und Metzgereibesitzerin war eine der bedeutendsten Frauen Mühldorfs. Einer ihrer Schulfreunde war Josef Schörghuber, der in München zunächst als Baulöwe Furore machte und später die Traditionsbrauereien Hacker-Pschorr und Paulaner kaufte. Schörghubers Nähe zur CSU ist hinreichend dokumentiert. So schließt sich der Kreis.

Während Alois in Haag von vorn anfangen musste, waren die Mühldorfer, wenn man so will, stets Teil des Establishments. Haag beliefert 400 Wirte, alle ohne vertragliche Bindung, und 1000 Getränkehändler, sie haben keine Außendienstmitarbeiter und besuchen ihre wichtigsten Kunden regelmäßig persönlich. Wenn sie nicht in der Brauerei sind, sitzen sie im Auto. „Die Wir-te freuen sich einfach, wenn der Bräu kommt“, sagt der jüngste Alois, 36, Diplom-Braumeister auch er, „wir legen Wert darauf, dass unser Bier Volksgetränk bleibt.“

Die Mühldorfer hingegen lassen gern durchblicken, dass sie Münchner Sterne-Restaurants wie das „Tantris“, den „Königshof“

oder Nobelherbergen wie das Hotel „Villa am See“ beliefern. Karin Löw, die Lebensgefährtin von Wolfgang Alois Unertl, die in Mühldorf die Pressearbeit macht, schwärmt von den Auszeich-nungen, die ihre Biere gewonnen haben. Löw, gelernte Kondito-rin, Bäckermeisterin, Diplombetriebswirtin und Biersommeliere, versichert, erst jüngst habe der frühere Leiter der Berliner „Paris Bar“, ihr Unertl zum „Champagner der Weißbiere“ gekürt.

Mag sein, dass die Haager und die Mühldorfer verbunden sind in der Mission, eine besondere Weißbiertradition am Leben zu erhalten. Doch ihren Weg gehen sie getrennt. Was wiederum den Vorteil hat, dass sie sich trotz der geografischen Nähe nicht

in die Quere kommen. Der jüngste Alois sagt: „Wir machen nur eine Sa-che, die aber machen wir gescheit.“ Das Haager Weißbier gibt es als Origi-nal, in der sogenannten NRW- und in der Bügelflasche („Weil das“, so der jüngste Alois, „einfach Tradition ist“), als Leichte Weiße, Alkoholfreies Weiß-bier und – allerdings nur in der kühlen Jahreszeit – Weißer Bock.

Bei Wolfgang Alois Unertl in Mühl-dorf gibt es inzwischen neben den Stan-dardsorten zusätzlich Versionen wie Gourmet Weisse, Bio-Dinkel Weisse oder Franz-Xaver Unertl Weisse, die der Bräu seinem Großonkel Franz- Xaver Unertl gewidmet hat – einem Gastwirt und Viehhändler, der sich in der Nach-kriegszeit als schlitzohriger Bundestags-abgeordneter einen Namen machte, auch weil er für die Wieder einführung der Todesstrafe für Mörder plädierte. Und dass Wolfgang Alois Ambitionen hat, die Brautradition der Familie neu

zu interpretieren, beweist er mit seiner Neuheit „Fitaminn“, einem alkoholfreien, isotonischen Durstlöscher aus Weizen-, Gersten- und Dinkelmalz sowie Apfelsaft und Zitronenmelisse.

Wer neben dem jungen Alois, Sweatshirt mit Firmenlogo, Jeans, durch die Haager Brauerei läuft, erfährt viel über die His-torie des Braugewerbes, Hefezellen, Mikrobiologie und wie man Lactobacillus brevis wirksam begegnet, ein Milchsäurebakterium, das als „Feind des Bierbrauers“ gilt. Man erfährt, wie die offene Gärung funktioniert und dass Umwelttechnik in Haag für opti-male Gärluft und die Harmonisierung des Brauwassers sorgen. „Wir machen ein sensibles Lebensmittel“, sagt er, „wir machen keine Konserve.“

Und weil sich dieser Prozess nicht beliebig steuern und kon-trollieren lasse, wollten sie nicht wachsen, auch wenn „wir sofort doppelt so viel verkaufen könnten“. Das erklärt auch, warum sie

Fürs Volk: Unertl Weißbier aus Haag

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keine Werbung machen. Alois sagt, er würde an der Brauerei nicht ein einziges Rohr verändern: „Ich bin gerne Sohn hier, für mich ist das alles stimmig hier.“

Wer neben Wolfgang Alois, rote Ray-Ban-Brille, roter Woll-pullover, durch die Mühldorfer Brauerei läuft, tut sich ein biss-chen schwer zu folgen. Der Chef zitiert Goethe, Faust I: „Euch ist bekannt, was wir bedürfen / Wir wollen stark Getränke schlür-fen.“ Unertl kritisiert die Agrarindustrie. Er kritisiert das Reinheits-gebot als bürokratische Behinderung kreativer Braukunst und empfiehlt die Bücher des indischen Mystikers Ramesh Balsekar.

Irgendwann sitzt er in einem Raum, in dem Malzsäcke gela-gert werden. In der Mitte des Raumes ein Bergkristall, der für „Reinheit und Klarheit“ stehe. An der Wand ein Ge-mälde, das einen Energiekreislauf dar-stellt. Es geht um viel Energie, wobei auch der hauseigene artesische Brun-nen ins Spiel kommt, mit dessen Was-ser in Mühldorf gebraut wird. Zur Har-monisierung des Wassers hat Wolfgang Alois zusätzlich Edelsteine in den Brau-ereitanks anbringen lassen.

Wüsste man nicht, dass der lebhaf-te, stabil gebaute Mann mit 24 bester Brauerlehrling Bayerns war, dass er ein Diplom der renommierten Doemens Fachakademie für Brau und Getränke-technologie hat, man könnte auf komi-sche Gedanken kommen. Ingrid Un-ertl, 70, sagt, ihr Mann, 73, und sie hätten sich anfangs auch gewundert, als der Sohn anfing, über Wassermole-küle zu dozieren, die Verwirbelung des Brauwassers nach Viktor Schauberger einführte und die Etiketten der Bier-flaschen mit Zitaten von Carlos Castaneda bedrucken ließ. „Das war für uns nicht leicht am Anfang.“ Als er dann auch noch anfing, die Brauerei mit Musik von Mozart, Beethoven und Ober-tönen zu beschallen, hätten sie gedacht: „Der spinnt!“ Inzwi-schen sagt sie: „Es ist ein Glück, dass der Bub das mit so einer Liebe und Hingabe macht.“

Interessant ist, dass die Brauer trotz gemeinsamer Tradition und unterschiedlicher Entwicklung nicht übereinander reden. Jedenfalls nicht, solange sie nicht darauf angesprochen werden. Auf der Website der Haager wird der Großvater Alois zwar als Gründer erwähnt, aber nicht, dass die Brauerei in Mühldorf noch existiert.

Auf der Website der Mühldorfer werden wiederum die Haa-ger mit keinem Wort erwähnt, auf einem Familienfoto vom Großvater und seiner Frau Philomena mit den Kindern fehlt der

Sohn Alois. Interessant auch, dass keiner den Reporter fragt, ob er nicht auch beim Namensvetter vorbeischaut. Wäre das nicht naheliegend? Allerdings reden sie, wenn sie gefragt werden, nicht schlecht übereinander. Der 59-jährige Alois sagt: „Wichtig ist, dass er ein gutes Bier macht.“ Karin Löw sagt: „Gut ist, dass beide Brauereien auf Qualität achten.“

Man meidet sich – und verträgt sich

„Man sagt uns immer nach, dass wir Streit hätten“, sagt Ingrid Unertl, „aber das stimmt nicht.“ Josef und Alois, die beiden

Söhne des ersten Alois in der Bier-brauerdynastie, hätten sich trotz des ungleich verteilten Erbes gut verstan-den. Alois sei auch der Patenonkel von ihrem Sohn Wolfgang Alois gewesen. Auch bei der Feier zu ihrem 70. Ge-burtstag seien die Haager geschlossen dabei gewesen. Und wären sie zerstrit-ten, würden sie dann zusammenar-beiten? Dreiliterflaschen kaufen die Brauereien zusammen. Sie besprechen Preiserhöhungen, sie versuchen, sich von Getränkehändlern nicht ausspie-len zu lassen, sie informieren sich über säumige Kunden. Die Haager vertrei-ben einige Sorten der Mühldorfer. Und wenn denen bei ihrem Herbstfest das Bier ausginge, würden die Haager schon aushelfen. Das gilt natürlich auch andersherum. Auch in Haag gibt es ein Herbstfest mit einem Unertl-Zelt.

In Zeiten der Not, sagt Ingrid Un-ertl, „würden wir als Familie zusam-

menhalten“. Da sei sie sich ganz sicher. Sie sagt es aber so, dass man herauszuhören glaubt: nur dann. Dass die fünfte Generation so weitermachen wird, davon gehen sie in Haag wie in Mühldorf schon heute aus. Der Sohn des jüngsten Alois und seiner Frau Ilona ist vier Jahre alt und heißt – Alois. Der Sohn von Wolfgang Alois Unertl und Karin Löw ist drei und heißt Luis. Ganz egal, was die später vorhaben mit den Brauereien ihrer Familien, eines sollten sie schnell begreifen: „Die Mühldorfer“, sagt Ingrid Un-ertl, „würden nie das Haager Bier trinken, und die Haager nie das Mühldorfer.

Und dabei wird es immer bleiben.“ –

Für die Schickeria: Unertl Weißbier aus Mühldorf

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _BOLIVIANISCHE FLUGGESELLSCHAFT

Alles begann im Juli 1925 mit einer Junkers F 13 und einem BMW-Motor mit sechs Zylindern. Ein deutscher Pilot brachte die Einzelteile der Maschine in Kisten verpackt in die Stadt Cochabamba, auf 2560 Meter Höhe gelegen. Deutsche Einwanderer hatten die Maschine mit Platz für vier Passagiere bezahlt und angeregt, eine Fluggesellschaft zu gründen. Das war naheliegend: Bolivien ist mit einer Million Quadratkilometer fast dreimal so groß wie die Bundesrepublik, der Straßenbau im Gebirge mühsam. Die Gründer nannten die Airline Lloyd Aéreo Boliviano (LAB).

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Bitte anschnallen!

Lloyd Aéreo Boliviano ist eine der ältesten Fluggesellschaften der Welt.Nachdem die bolivianische Airline privatisiert wurde, geriet sie in finanzielle Turbulenzen.

Die Flugzeuge blieben am Boden. Heute gehört die Firma den Angestellten. Und die wollen nur eines: fliegen.

Foto: Nick BallonText: Ingo Malcher

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _BOLIVIANISCHE FLUGGESELLSCHAFT

Lloyd Aéreo Boliviano (LAB) hat viele schwierige Jahre hinter sich. 1941 war das Unternehmen praktisch pleite und wurde verstaatlicht. Anfang der Neunzigerjahre priva-tisierte die Regierung die Fluggesellschaft. Seither gab es mehrere Eigentümerwechsel, keiner schaffte es, mit ihr Geld zu verdienen. Der Kapitän Zabalaga (vorige Seite) streikte und verlangte, dass die Firma ihm seinen ausstehenden Lohn zahlte. Als das Unternehmen sich weigerte, kündigte er. Um seine Lohnschulden bei allen Mitarbeitern zu begleichen, hat der frühere Besitzer ihnen inzwischen das Unternehmen übertragen. „Jetzt werden wir es wieder aufbauen“, sagt Orlando Nogales, seit 2012 der Chef. 140 Millionen Dollar Schulden hat die LAB. Aber viele Ersatzteile (rechts). Nogales und seine Kollegen sind dabei, die alten Maschinen wieder flott-zumachen. Bald sollen sie wieder abheben.

Zwei Boeing 727 sind flugtauglich. Die unten abge bildete Maschine trägt den Namen Ezechiel 36:36, nach dem Bibelvers: „Dann werden die Völker, die rings um euch noch übrig sind, erkennen, dass ich, der Herr, das Zer-störte wieder aufgebaut und das Ödland wieder bepflanzt habe. Ich, der Herr, habe gesprochen, und ich führe es aus.“

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Schon 1927 hat die LAB Piloten aus-ge bildet. Auch später hat sie ihre Flug-zeugführer selbst geschult und dabei manchmal auch recht eigen willig improvisiert, wie etwa beim Piloten-training für die Boeing 727 (oben). Vier dieser Jets gehören der Firma noch immer. Über drei weitere, deren Besitzver hält nisse unklar sind, wird verhandelt.

Orlando Nogales (links) ist Chef der LAB und hat einen harten Job. Seit Dezember vergangenen Jahres kann die Firma keine Gehälter bezahlen.„Einige von uns haben Hunger“, sagt er. Aber sie haben viel geschafft: Es fehlt nur noch die Genehmigung der Regierung. Allerdings wollen die Gläubiger ihr Geld zurück. Mit ihnen verhandelt Nogales über einen Abschlag: „Nur wenn wir die Mög-lichkeit haben zu arbeiten, verdienen wir Geld und können anfangen, unsere Schulden zurückzuzahlen.“

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _BOLIVIANISCHE FLUGGESELLSCHAFT

Auch wenn die Schulden drücken: Die LAB hat Vermögen. Nogales schätzt die Sachwerte des Unternehmens auf 500 Millionen Dollar: Flugzeuge, Werkzeuge, das 23 Hektar große Firmengelände am Flughafen von Cochabamba. Dazu gehört der Flugsimulator für die Boeing 727. Auch der wird gerade repariert. Bei einem Gewitter brannte die Hauptplatine durch.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Ein wichtiges Etappenziel wurde erreicht, als die LAB wieder für Dienst-leistungen am Boden zuge lassen wurde. Das Unter nehmen darf also Flugzeuge be- und entladen und reinigen. Auch Wartungsarbeiten wer-den angeboten (links).

Damit hofft Nogales wieder ins Geschäft zu kommen. Er rechnet vor, dass ein Flugzeugmechaniker in Bolivien zehn Dollar in der Stunde verdiene. „Im Rest der Welt sind es mindestens 60 Dollar. Damit können wir konkurrieren.“ Allerdings hält sich die Nachfrage noch in Grenzen (unten).

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _BOLIVIANISCHE FLUGGESELLSCHAFT

Viel Betrieb ist nicht am Flug hafen von Cochabamba (oben). Und leicht wird es nicht, sich in Bolivien durchzusetzen. Inzwischen hat die Regierung eine neue staatliche Fluggesellschaft aufgebaut. Von politischer Seite dürfen die Arbeiter daher auf keine zu große Unter stützung hoffen.

Der Staat verpflichtet die Fluggesell-schaften in Bolivien, gebrauchte Tickets mehrere Jahre lang auf zuheben. Daran wird der Neustart der LAB nicht scheitern: Alle Flugscheine sind noch vorhanden (rechts).

Der britisch-bolivianische Fotograf Nick Ballon lebt in London. Er hat sechs Monate lang mit der Kamera die Arbeit bei Lloyd Aéreo Boliviano dokumentiert. Daraus ist im Eigenverlag der Bildband Ezekiel 36:36 entstanden. Weitere Informationen: www.nickballon.com

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Freddy Vargas (rechts) kommt wie seine Kollegen jeden Tag ins Büro. Er hofft, dass sie bald wieder den regulären Betrieb aufnehmen werden. Der Chef Nogales zeigt sich zuversichtlich, vor allem wegen der gut ausgebildeten Mitarbeiter und der großen Hangars, in dem sie ein Flugzeug komplett auseinandernehmen und wieder zu-sammensetzen könnten. „Wir haben eine lange Tradition, in anderen Ländern Südamerikas hat man uns immer um unsere technische Aus-rüstung beneidet“, sagt er. Wenn alles nach Plan geht, könnte man schon ab Januar von Miami aus Charterflüge anbieten. Aber nach Plan läuft es bei der LAB schon lange nicht mehr.

Trotzdem arbeiten sie daran. Gerade wird auch eine ganz besondere Maschine wieder flottgemacht (unten): Die sechste von Boeing konstruierte 727, die einst in den Dienst der LAB gestellt wurde. Der Hersteller soll schon angefragt haben, ob er die haben könne, um sie in ein Museum zu stellen. Das kam nicht infrage. Der Oldtimer soll wieder abheben.

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Anteil der Beschäftigten, denen im Jahr 2011 gekündigt wurde, in Prozent: 14,5

Anteil der Beschäftigten, die im Jahr 2011 selbst gekündigt haben, in Prozent: 27,3

Weitaus mehr als nur Zahlen

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _KORRESPONDENTENBERICHTE

• In dem Perestrojka-Film „Cloud-Paradise“ denkt sich ein jun-ger Fabrikarbeiter aus Langeweile aus, er werde demnächst nach Ostsibirien verschwinden. Seine angekündigte Abreise erschüt-tert das ganze Städtchen, der Jüngling wird zum Held, die Frauen himmeln ihn an, man bereitet ihm ein rauschendes Abschiedsfest und begleitet ihn dann zum Autobus: Trennungen sind für die Russen so außerordentlich wie Begräbnisse.

Dabei ist Russland statistisch betrachtet trennungswütig: 4,7 Scheidungen auf 1000 Einwohner, die russische Ehe-GAU-Rate ist Weltspitze, zweimal höher als in Deutschland. Auch meine Olga krönte in unseren beiden Ehejahren alle Streitigkeiten mit der Drohung: „Ich nehme das Kind und fahre nach Tschebok-sary.“ Mit anderen Worten: heim, zur Mama. Wie ein Großteil der russischen Scheidungen wäre ihr Abschied eine fluchtartige Rück-kehr gewesen – zurück in den warmen Schoß der Familie.

Die Russen empfinden Trennung als Flucht, als Endgültigkeit. Aber das russische Wort für „verlassen“ hat auch denselben Stamm wie das für „sitzen lassen“ oder „reinlegen“. Scheidung heißt auf Russisch „Raswod“, im aktuellen Slang bedeutet das inzwischen auch „austricksen“.

Die Menschen hier haben sich mit Trennungen immer schwer-getan. In Westsibirien lernte ich ein Tanzlehrer-Ehepaar kennen, das in seinem Taigadorf eine Kindervolkstanzgruppe aufgebaut hatte, die landesweit Preise gewann. Aber irgendwann wurde ihnen das Leben ohne fließendes Wasser und Zentralheizung zu hart, sie zogen Richtung Omsk. Zwei Jahre später gingen sie zu-rück, um ihre Tanzgruppe wiederzubeleben. Russische Rockstars

oder Fußballlegionäre geben ebenfalls oft ihre Karriere auf, um ins vertraute Kollektiv zurückzukehren. Und Wladimir Putin, wirklich kein Gefühlsdusel, gesteht, es gebe für ihn nichts Unangenehme-res, als sich von einem treuen Mitarbeiter zu trennen.

Auch geopolitisch mag Russland keine Partnerwechsel. Es steht fest zu den Verbündeten der entschlafenden UdSSR, von Castro bis Assad, egal, wie schwachbrüstig oder zwielichtig die geworden sind. Mit allerlei Zollunionen und Militärallianzen wird versucht, die Ex-Sowjetrepubliken beisammenzuhalten. Und man ist tief be-leidigt über den Flirt der ukrainischen Brüder mit der EU.

Eigentlich ist jede Trennung ein Axthieb in die russische Seele. Unter den Zaren strafte man Mörder mit Verbannung, mit Vorlie-be ins ferne Sibirien. Im Unterschied zu westlichen Dramaturgien bedeutet räumliche Trennung in russischen Epen keine Zeit der Prüfung oder der Hoffnung auf umso glücklichere Wiedervereini-gung. Sondern Scheitern, Schmerz und Untergang: Tolstois Hel-din Natascha Rostowa warf sich aus Frust über eine Auslandsrei-se ihres Fürsten Andreis einem Weiberhelden in die Arme, dem Fürsten blieb nur letale Selbstverwirklichung auf dem Schlachtfeld. Pasternaks Doktor Schiwago siechte nach der Trennung von sei-ner Lara kraftlos dem finalen Herzinfarkt entgegen.

Jahrhunderte sah die Chemie Russlands nicht vor, dass sich ihre Elementarteilchen trennen und neu verbinden. Bis 1861 war die Masse der arbeitenden Bevölkerung durch Leibeigenschaft an Scholle und Herren gebunden, danach durch Schulden. Viele Kolchosen verweigerten ihren Bauern noch ein Jahrhundert spä-ter Personalausweise und damit Freizügigkeit.

Nestwärme, ein Leben lang

Früher galt jede Trennung als Axthieb in die russische Seele. Heute fällt der Abschied leichter, weil er sich lohnt.

Text: Stefan Scholl Illustration: Ika Künzel

1. Russland

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

So blieben Russlands rustikale Großfamilien zusammen, von der Wiege bis zum Sarg, unfreiwillig, aber einträchtig. Selbst das Weite suchte man mit Vorliebe kollektiv, ganze Dörfer entflohen der Leibeigenschaft Richtung Sibirien. Auch heute kaufen Provinzrussen, die in Moskau oder Petersburg Fuß gefasst haben, bald Zug- oder Flugtickets für ihre Ver-wandten in Perm, Pskow oder Petropawlowsk-Kamtschatski. Es verlangt sie weiter nach lebenslanger Nestwärme.

Aber aus Russland ist inzwischen russland.ru geworden. Außer mit Kameraden aus dem Sandkasten oder der Eisho-ckey-C-Jugend gilt es jetzt, mit immer neuen Unbekannten und Gruppen zurechtzukommen und Partner zu wechseln. Trennung wird auch in Russland alltägliche Notwendigkeit.

Viele wehren sich dagegen. Wer es geschafft hat, kann sich das auch leisten. In der Forbes-Liste der reichsten Russen versammeln sich immer mehr Datschennachbarn aus Putins Petersburger Zeit. Seine Getreuen kommandieren monströse Staatskonzerne wie Gasprom oder Rosneft, die immer weiter wachsen, sich immer neue Unternehmen einverleiben, aber praktisch keine Aktiva abstoßen.

Nach außen aber zeigt die bäuerliche Loyalität des kleinen Kreises eiserne Stacheln. Zu viele Fremde, zu viele Ausländer, denen man nicht vertrauen kann. Und das Misstrauen gegen alle, die nicht zur eigenen Bluts- und Wodkabruderschaft gehören, kippt oft in Untreue. Jetzt trennt man sich, wenn es sich lohnt. Einen Geschäftspartner sitzen zu lassen, ihn um seinen Anteil zu bringen, das ist zum unfeinen, aber üblichen

Geschäftsmodell geworden. Oder wie ein Schweizer Hotelier mit Petersburg-Erfahrung

seufzt: „Mit den Russen kannst du wunderbar zusammenarbeiten. So lange, bis die ersten Gewinne fließen.“

Danach werden die Tischtücher gern zer-schnitten. Vor allem in den „wilden Neunzi-

gern“ heuerte man oft Auftragsmörder an, inzwischen schmiert man auch Staats-anwälte, um das Opfer etwa mit einer

fingierten Vergewaltigungsklage loszuwer-den. Oder die Umweltbehörden werden aktiv.

Wie 2005/2006, als der russische Staat dem ausländi-schen Konzern Shell unter Androhung von Lizenzentzug wegen angeblicher Wasserverschmutzung die Aktienmehrheit an dem Gas- und Ölförderprojekt Sachalin 2 abnahm.

Auch privat trennt man sich jetzt berechnend. In der spä-ten Sowjetunion pumpte man mangels Bargeld und Bank-krediten Freunde und Nachbarn an. Inzwischen haben die Großstadtrussen entdeckt, wie rentabel es ist, seinesglei-

chen zu prellen. „Er hat mich reingelegt“, klagte meine Freundin Natascha, die einem gemeinsamen Bekannten ein

günstiges Jahresabo in einem Fitnessklub organisiert hatte. Der aber antwortete auf alle Fragen nach den 700 Dollar: „Kriegst du später.“ Mit anderen Worten: „Meine 700 Dollar sind mir mehr wert als deine Freundschaft.“ Nie waren die Russen so reich wie heute. Aber auch nie so einsam. – >

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _KORRESPONDENTENBERICHTE

• Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich mit meinem Sohn und meiner Tochter nicht einmal auf einer Parkbank sitzen können. Die hatten kleine Schildchen, auf denen „Sleg vir Blankes“ oder „Europeans only“ stand: Hinweise, die eigentlich gar nicht nötig gewesen wären, weil es sich von selbst verstand, dass Nichtweiße auf einer Parkbank nichts zu suchen hatten.

Man ahnt es schon: Meine Kinder und mich unterscheidet etwas, das nicht nur einst und nicht nur in Südafrika als eines der gravierendsten Trennungsmerkmale der Menschheit betrachtet wird: die unterschiedliche Pigmentierung der Haut. Schwarz und Weiß sind nicht nur in der Farbenlehre Pole – Licht und Finster-nis, Zivilisation und Wildnis, Vertrautheit und Exotik, wir und die. In Südafrika wurde diese Trennung zur Staatsdoktrin erho-ben, denn nur so vermochten die Bleichgesichter die Mehrheit der Bevölkerung in Schach zu halten. Trenne und herrsche.

Wer unsere Familie im Ganzen sieht, dem fällt zudem auf, dass unsere Kinder adoptiert sind. Meine Tochter ist dunkelbraun, mein Sohn hellbraun, meine Frau schweinchenrosa wie ich. Der Unterschied zu unseren Kindern ist offensichtlich. Jeder reagiert mehr oder weniger ostentativ darauf, in der Regel freundlich. Da es selbst in der sogenannten Regenbogennation äußerst wenige solcher merkwürdigen Familien gibt, dominiert zunächst die Neu-gier: Kellner prüfen nach, wie unsere Verbindung beschaffen sein mag, indem sie unsere Kinder auf Zulu ansprechen. Die reagieren darauf, indem sie so laut wie möglich deutsch mit mir reden.

Sprache war eines der Kriterien, mit deren Hilfe die Bürokra-ten des Apartheidstaates die Bevölkerung sortierten. Schwarze

wurden je nach Sprache in Reservate gezwängt, selbst Südafrika-nern indischer Abstammung wurden separate Wohnquartiere zugewiesen. Für alles Uneindeutige dachte man sich die Katego-rie „Mischling“ aus, wobei die größte Herausforderung war, diese von den Weißen abzugrenzen. Dafür wurde der Bleistifttest eingeführt: Man steckte dem Prüfling einen Stift ins Haar – blieb er stecken, handelte es sich um einen Mischling, fiel er zu Boden, durfte er sich weiß bezeichnen.

Unsere Kinder hätten die Rassen-Gutachter vor erhebliche Pro-bleme gestellt. Im Haar unserer Tochter bliebe der Bleistift stecken, auch wenn sie weder Zulu noch eine andere afrikanische Sprache spricht – unsere Kinder weigerten sich vehement, für den Erwerb einer weiteren Sprache länger die Schulbank zu drücken. In unserer Familie spricht ohnehin niemand Zulu, und auch im weiteren Bekanntenkreis kommt man mühelos mit Englisch aus.

Tatsächlich ist das Land immer noch parzelliert: In den Town-ships leben nach wie vor nur Schwarze, während in den trendigen Kaffeehaus-Meilen wie der Fourth Avenue im Johannesburger Stadtteil Parkhurst kaum eine dunkle Nase auszumachen ist. Weiße wählen die Demokratische Allianz, Schwarze den ANC. Nelson Mandelas Kinder spielen Fußball, Jan van Riebeecks Ur-enkel raufen um den ovalen Rugby ball. Und wenn in unserem – durchaus liberalen – Bekanntenkreis ein Geburtstag gefeiert wird, sind unter den Besuchern nicht viele, die die biologischen Eltern unserer Kinder sein könnten.

Vielleicht ist das nur eine Frage der Zeit. Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und wir Deutschen wissen, dass selbst

2. Südafrika

Hinter dem Regenbogen

Die Apartheid hat Südafrika geprägt – und prägt das Land bis heute. Das spürt besonders, wer wie unser Autor als Weißer schwarze Kinder hat.

Text: Johannes Dieterich Illustration: Ika Künzel

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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was zusammengehört, nicht so schnell wieder zusammenkommt, wenn es erst ordentlich auseinander-dividiert wurde. In Südafrika gehör-te noch nie etwas zusammen – und längst ist nicht ausgemacht, ob das für die Zukunft wirklich gewünscht wird. Der derzeitige Präsident ge-wann den internen Machtkampf im ANC mithilfe von Leuten, die auf ihren T-Shirts die Aufschrift „100 Prozent Zuluboy“ trugen. Dunkelhäutige Geschäftsleute oder Juristen schließen sich im Black Business Council oder der Black Lawyers Association zusammen. Und die Regierungspartei hält schon deshalb an der Trennung zwischen Schwarz und Weiß fest, um ihre Wähler vom „Programm der wirtschaftlichen Ermächti-gung von Schwarzen“ profitieren lassen zu können.

Ins Gesicht gesagt hat uns das noch niemand. Doch aus den Debatten in den Medien wissen wir, dass die Adoption dunkel-häutiger Kinder durch bleiche Eltern keineswegs auf allgemeine Zustimmung stößt. Die wehrlosen Kreaturen würden ihrer Wur-zeln entrissen und ihrer Identität beraubt, wenden vor allem schwarze Intellektuelle ein: Bei der interkulturellen Adoption handele es sich in Wahrheit um ins Mäntelchen der Wohltätigkeit gehüllte neokoloniale Akte. Was eine dunkle Haut hat, gehört zu uns. Was bleich ist, zu den anderen. Wenn ihr ein Kind adoptie-ren wollt, schaut euch gefälligst im eigenen Lager um.

Und weil man schließlich am Kap der Guten Trennung lebt, hat man auch schon eine Kategorie für die Produkte des neo-kolonialen Aktes gefunden. Unsere Kinder werden im hiesigen Sprachgebrauch Kokosnüsse genannt: außen braun und innen weiß. Sie verfügten zwar über die auf dem Kontinent vorteilhaf-ten Hautpigmente, doch ihrem Wesen, ihrem Denken und ihrer Kultur nach seien sie Weiße. Das Bild setzt allerdings voraus, dass es den weißen Kern ebenso klar definiert, wie es die braune

Hülle gibt. Neben der aus Europa stammenden Sprache soll dazu etwa die Arroganz gehören, die Pünktlichkeit, der Agnostizismus, dass man Kartoffel- statt Maisbrei mag – und seine Eltern irgend-wann ins Altersheim abschiebt. Umgekehrt weiß hierzulande noch immer (fast) jedes weiße Kind, dass Schwarze gewalttätig, undis-zipliniert und abergläubisch sind

und sich von ihren Trieben beherrschen lassen – deshalb können sie auch so gut tanzen.

Unsere Kinder können tanzen, und wie! Sie sind arrogant, un-pünktlich, mögen Maisbrei und werden uns gewiss eher früher als später ins Altersheim abschieben. Statt sich auf ein über Genera-tionen vermitteltes kollektives Selbstverständnis stützen zu kön-nen, müssen sie sich das ihre selbst zusammensetzen: Nicht Tren-nen, sondern Verbinden ist in ihrem Fall gefragt. Ganz gewiss kein leichtes Unterfangen, aber wenn es gelingt, sind sie im wahrsten Wortsinn selbstbestimmt – und gehören zum erlauchten Kreis der auserwählten hundertprozentigen Regenbogenkinder.

Ganz allein sind sie dabei nicht, auch wenn der südafrikani-sche Mainstream noch immer auf Trennung ausgerichtet ist. Unsere Kinder gehen in eine Schule, die sich schon zu Apartheid-zeiten dagegen wehrte, ihre Zöglinge nach der Hautschattierung aufzuteilen. In den Klassenzimmern tummeln sich Schwarze, Inder, Chinesen, Mischlinge und Weiße – und mittendrin so manche Kokosnuss. Nicht nur im Ethikunterricht versuchen die Lehrer, ihren Schülern Werte wie Individualität, Respekt vor dem anderen und Verantwortung beizubringen: Zum Heritage-Tag, der die kulturelle Vielfalt feiert, sollten die Kinder in traditionellen Gewändern ihrer Eltern erscheinen. Einen Tag lang glich die Schule einem Spielplatz der Vereinten Nationen. Und zwischen-drin zwei schokoladenbraune Kids mit Lederhose. –

SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _KORRESPONDENTENBERICHTE

Ein Volk, zwei Länder

Demokratie in China? Kulturell unmöglich, behauptet Pekings Kommunistische Partei.

Doch das abtrünnige Taiwan beweist das Gegenteil – und beflügelt Chinas Freigeister.

Text: Bernhard Bartsch Illustration: Ika Künzel

3. China

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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• Er wollte nur mal gucken. Aber so fängt es ja immer an. Drei Jahre ist es her, da stellte Zhou Shuguang in seiner zentralchine-sischen Heimatprovinz Hunan einen Reiseantrag für Taiwan. Die spezielle Genehmigung müssen Chinesen beantragen, weil Pe-kings Regierung Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet. Wer sie besuchen will, braucht einen triftigen Grund. Der 29-Jährige hatte einen: Er war seit Kurzem mit einer Taiwanerin verheiratet und wollte ihre Heimat kennenlernen. Allerdings hatten Hunans Be-amte einen nicht minder triftigen Grund, seinen Antrag abzuleh-nen: Zhou Shuguang ist in China ein populärer Blogger, der unter dem Pseudonym Zola über Korruption und Zensur schreibt und Zehntausende Leser hat. Nicht auszumalen, was er über seine Be-obachtungen im demokratischen Taiwan berichten würde!

„Die Ablehnung hat meine Frau und mich furchtbar geärgert“, erzählt Zhou mit einer Mischung aus heiligem Zorn und buben-haftem Vergnügen. „Aber wie so häufig bewirkten die Repressa-lien das Gegenteil.“ Einige Monate später stellte er einen erneuten Antrag, und da die Beamten offenbar glaubten, der Blogger habe ihre Warnung verstanden, ließen sie ihn diesmal reisen. Doch inzwischen wollte Zhou nicht mehr nur gucken: Mittlerweile lebt und bloggt er seit zwei Jahren im anderen, demokratischen China – einem China, von dem viele seiner Leser nur das Zerrbild ken-nen, das die Propaganda der Kommunistischen Partei entwirft. Denn für Peking passen westliche Demokratie und chinesische Kultur nicht zusammen. „Das ist natürlich Unsinn“, sagt Zola.

Zwei Generationen ist es her, dass Taiwan und das chinesi-sche Festland sich entzweiten. Die Trennung fand auf dem Schlachtfeld statt: Als Mao Zedong 1949 nach langem Bürger-krieg die Volksrepublik ausrief, verschanzte sich der unterlegene General Chiang Kai-shek mit seinen Getreuen auf der Insel. Dass er die Kommunisten damit um den vollständigen Sieg brachte, beschäftigt Chinas Militär bis heute. Auch politisch war die de facto unabhängige „Republik China“ ein Stachel, der noch im-mer sticht. Der Westen sah in Taiwan das bessere China, das bis 1971 sogar den chinesischen Sitz im Uno-Sicherheitsrat inne-hatte. Mittlerweile wird die Insel zwar nur noch von wenigen Ländern als Staat anerkannt, darunter dem Vatikan, doch für den Fall eines chinesischen Angriffs haben sich die USA vertraglich verpflichtet, Taiwan zu verteidigen. Heute ist Taiwan vor allem aber auch eine gesellschaftliche Provokation. Denn in den ver-gangenen 20 Jahren hat sich auf der Insel eine lebhafte Demo-kratie entwickelt, die in der Volksrepublik die Fantasie politi-scher freier Geister beflügelt.

„Früher dachte ich wie alle Chinesen, dass sich die Taiwaner nichts sehnlicher wünschen als eine Wiedervereinigung mit dem Festland“, erzählt Zhou amüsiert. Was soll man auch anderes glauben, wenn man in der chinesischen Provinz aufwächst und der Vater ein lokaler Funktionär ist? Trotzdem merkte Zhou früh, dass sich seine Lebenswirklichkeit in Chinas Staatsmedien nicht wiederfand. Mit Mitte 20 begann er, als Ein-Mann-Investigativ-medium durchs Land zu reisen und über Amtsmissbrauch oder Vetternwirtschaft zu schreiben. Seine Unerschrockenheit und flotte Schreibe machten ihn bekannt und begründeten eine treue Leserschaft, die ihm bis heute folgt, obwohl sie dafür den chine-sischen Zensurwall, die „Great Firewall“, austricksen muss.

Wer Zhous Blog verfolgt, kann lesen, dass laut Umfragen vier von fünf Taiwanern für eine formelle Unabhängigkeitserklärung wären, wenn dies in Peking nicht automatisch als Kriegserklärung verstanden würde. Er erfährt, wie taiwanesische Bürgerrechts-organisationen gegen Atomkraft mobil machen oder gegen um-strittene Bauprojekte demonstrieren. „Natürlich gibt es auch in Taiwan Probleme, aber weil es Transparenz und Bürgerbeteili-gung gibt, gehen die Menschen damit entspannter um“, so Zola. „Demokratie ist eben kein Endzustand, sondern ein Prozess.“

In der Volksrepublik will man davon nichts wissen. Dort ist Taiwan den Staatsmedien nur dann eine Meldung wert, wenn es im Parlament wieder einmal zu Prügeleien kommt. Demokratie führt zu Chaos, so die Botschaft. Immerhin: Dass Zhou über-haupt in Taiwan leben kann, ist ein Fortschritt. Mehr als ein hal-bes Jahrhundert lang war Festland-Chinesen die Reise auf die Insel verwehrt, obwohl schon seit den Achtzigern Hunderttau-sende Taiwaner als Geschäftsleute in die Volksrepublik kamen. Doch seit 2008 herrscht politisches Tauwetter. Seitdem gibt es Direktflüge, Tourismus und chinesische Austauschstudenten. Den Besuchern wird zwar vor der Abreise oft eingebläut, dass sie sich in Taiwan von politischen Veranstaltungen fernhalten, Journalis-ten meiden und Avancen der Falun-Gong-Sekte ignorieren sol-len. Doch man müsse kein politischer Rebell sein, um dem Charme Taiwans zu erliegen, sagt Zhou.

Die Trennung habe dazu geführt, dass sich dort viele chinesi-sche Traditionen erhalten hätten, die in der Volksrepublik dem Revolutionsfuror der Kommunisten zum Opfer fielen. Klassische Bildung, familiäre Traditionen und alte Kultur werden deshalb viel stärker gepflegt. Für Zhou ist die Insel deshalb zur neuen Hei-mat geworden: „In vieler Hinsicht ist Taiwan heute viel chinesi-scher als die Volksrepublik.“ – >

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _KORRESPONDENTENBERICHTE

• Drew Patterson ist 37 und seit seiner Geburt zwölfmal umge-zogen – sechs Städte, sechs Bundesstaaten, ein Dutzend Woh-nungen. Seine Frau Nancy King bringt es mit 38 auf ebenso viele unterschiedliche Adressen, nur die letzten zwei teilte sie mit ihrem Mann. Seit Anfang des Jahres hat das Ehepaar ein Haus in San Francisco gemietet, vorübergehend. „Wir wollen etwas kaufen. Wahrscheinlich in einem anderen Stadtteil“, sagt der Internet-Unternehmer. Also wieder einmal einpacken und umziehen.

Große Abschiedsszenen gab es im Leben der beiden weit gereisten Eheleute nicht. Man wohnt ein paar Jahre in einem Gebäude und spricht eigentlich nur mit dem Doorman, jenem freundlichen, livrierten, aber unnahbaren Türsteher, der zu jeder guten Adresse in einer Großstadt gehört und die Anonymität teu-rer Wohnsilos kaschiert. „Hier in San Francisco haben wir zum ersten Mal die Nachbarn getroffen. Der eine hat uns mit einem gebratenen Huhn willkommen geheißen, die andere Nachbarin hat uns ihre Schlüssel gegeben, als sie in Urlaub fuhr“, sagt Pat-terson, verwundert über die unerwartete Kontaktaufnahme.

Mit ihrer unsteten Biografie liegen Patterson und King (noch) im statistischen Mittel. Der US-Bürger zieht in seinem Leben 11,7-mal um, wurde bei der jüngsten Volkszählung 2010 ermit-telt. Demnach machen sich jährlich 37,5 Millionen Menschen oder jeder neunte Einwohner auf den Weg. Die drei wichtigsten Gründe sind der Wunsch nach einer besseren oder anderen Blei-be, der Arbeitsplatz und die Familie.

Je höher der Schulabschluss, desto lieber zieht der Amerika-ner um. Er lässt sein Elternhaus meist Tausende von Kilometern hinter sich, um aufs College zu gehen, und springt anschließend wie eine Flipperkugel von Stadt zu Stadt, von Wohngemeinschaft

zu Wohngemeinschaft, Mietwohnung zu Mietwohnung, Eigen-heim zu Eigenheim. So hat fast die Hälfte aller Hochschulabsol-venten bis zum 30. Geburtstag ihren Heimat-Bundesstaat verlas-sen. Und auch Eigentum verpflichtet nicht zur Sesshaftigkeit. Auch wer eine Immobilie kauft, ist immer auf der Pirsch nach etwas Größerem, Besserem. Oder will einfach Kasse machen, wenn die Preise steigen. Jeder vierte Eigentümer trennt sich in den ersten fünf Jahren von seiner Immobilie. Persönliche Bezie-hungen zu den Menschen nebenan baut man nur selten auf und kann sie noch seltener am Leben erhalten, wenn die nächste Adresse ein paar Auto- oder Flugstunden weiter liegt.

In Schmelztiegeln wie New York ist der stete Wechsel zum perfekt durchorganisierten Geschäft geworden. Dass ein aufstre-bender Manager und angehender Unternehmer wie Patterson in 13 Jahren siebenmal in derselben Stadt umzieht, ist keine Ausnah-me. Wohnungen sind darauf ausgelegt, wie Hemden gewechselt zu werden: Der vorübergehende Mieter muss keine persönliche Note einbringen, die ihm den Abschied schwer macht – vom Wandschrank, den hellgrauen Lamellenvorhängen und fest einge-bauten Deckenlampen bis zur komplett eingerichteten Küche ist alles da. „Ich habe mir nie groß Gedanken darüber gemacht, eine Wohnung nach meinem Geschmack herzurichten. Man weiß ja nie, wann es weitergeht“, sagt Patterson.

Die Entscheidung für eine neue Wohnung fällt meist inner-halb von 14 Tagen. Dann springt die gut geölte Umzugsmaschine an: Kartons gibt es an jeder Ecke, willige Packer mit Minivan heften ihre Zettel an Strom- und Telefonmasten, und was nicht in die neue Bleibe passt, wird bei einem Storage-Anbieter mit Vorhängeschloss weggesperrt. Eine Putzkolonne der Verwaltungs-

Fliegender Wechsel

Wer ständig neue Nachbarn finden will, ist in Amerika in guter Gesellschaft. Tapetenwechsel gilt als Erfolgsnachweis.

Text: Steffan Heuer Illustration: Ika Künzel

4. USA

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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gesellschaft hat die Woh-nung in ein, zwei Tagen wiederhergerichtet, sprich: einmal getüncht. Und als Nachmieter stehen junge Nomaden mit Papieren, Kreditauskunft und Blanko-scheck bereits Schlange.

Doch Ökonomen und Demografen beobachten auch einen gegenläufigen Trend: So hoch die Mobilität in den höheren Schichten auch ist, insgesamt geht sie beständig zurück. So zog noch 1985 jeder fünfte US-Bürger einmal im Jahr um, etwa doppelt so viele Men-schen wie heute.

Früher führten Landnahme, externe Schocks wie eine Depres-sion und die Suche nach dem Glück im mythischen Westen zu massiven Bevölkerungsverschiebungen; das 20. Jahrhundert aber, sagt Lisa Prior, die sich für ein Buch über die Geschichte der Industriestadt Naugatuck in Connecticut mit dem Mythos des rastlosen Kontinents beschäftigte, sei „die Ära, in der die meisten Amerikaner sesshaft wurden“. Dennoch hielten vor allem Akade-miker an der Mär von der immer mobileren Bevölkerung fest: „Entwurzelt zu sein passt einfach zu gut zu unserem Bild der modernen gegenüber der traditionellen Gesellschaft.“

Dem neuen Trend zur Sesshaftigkeit konnte auch die jüngste Rezession nichts anhaben. Steigende Arbeitslosigkeit nach dem Finanzkrach 2008 war kein entscheidender Trennungsgrund. Zudem nötigten die gesunkenen Immobilienpreise die amerika-

nischen Eigenheim-besitzer, ein paar Jah-re länger als gewohnt in ihren eigenen vier

Wänden zu bleiben.Der moderne Sozialstaat,

steigender Lebensstandard und individuelle Fortbewegungs-mittel erlauben es immer mehr Menschen zu bleiben, sodass vor allem die springen, die we-

gen ihres Talents gefragt sind. Sie ziehen weiter weg als je zuvor und fragen nicht, ob das Angebot aus einer Metropole im In- oder Ausland kommt. Überflieger wie Patterson und King verzerren das Bild, wenn sie zwischen New York und Kalifornien pendeln.

Würde man die Biografien von Wissensarbeitern zwischen 20 und 40 aufzeichnen, ergäbe sich ein Geflecht, das dem Routen-netz einer Fluggesellschaft ähnelt. Im Falle Nancy Kings heißt das: Kindheit in Iowa, Internat in Connecticut, Uni in Washing-ton, Jobs in Colorado, San Francisco, Südamerika, New York und vorerst wieder San Francisco. „New York ist eine spannende Stadt, in der man einfach einmal gewohnt und gearbeitet haben muss. Aber zu Hause habe ich mich dort nicht gefühlt. Es war eine Station mit vielen Zwischenstopps in unterschiedlichen Stadtteilen.“ Ihr Mann hat ebenso wenig ein Problem damit, nirgendwo Wurzeln schlagen zu können. „Mobil und flexibel zu sein ist Ausdruck einer dynamischen Kultur“, erklärt er. „Das gehört zu Amerika und seiner Wirtschaft.“ –

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120 BRAND EINS 11/13

brand eins: Herr Holmes, Zentralbanker bestimmen über das Wohl von Millionen Menschen. Wie gefährlich ist es, sie während einer Krise auszutauschen, wie es 2011 die Europäische Zentralbank (EZB) getan hat und dieses Jahr die Bank of England und die Federal Reserve?

Douglas R. Holmes: Das ist in der Tat heikel. Aber sowohl bei der EZB 2011, als Mario Draghi Jean-Claude Trichet ersetzt hat, als auch bei der Bank of England, wo Sir Mervyn King abtrat und Mark Carney kam, ist die Sache sehr gut ausgegangen. Das liegt auch daran, dass Zentralbanken sehr starke Institutionen sind.

Die GeschichtenerzählerZentralbanken bewegen die Märkte und entscheiden über das Schicksal ganzer Volkswirtschafte n. Daher sind Wechsel an ihrer Spitze heikel.

Wie sie eingefädelt werden, hat der Anthropologe Douglas R. Holmes (unten) untersucht.

Interview: Ingo Malcher Foto: Heji Shin

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BRAND EINS 11/13 121

SCHWERPUNKT: TRENNUNG

Von hundert auf null

Jean-Claude Trichet (oben) wurde während der Krise als Chef der Europäischen Zentralbank abgelöst. Ein Risiko für die Bank und für ihn.

Text: Ingo Malcher

Es war im Jahr 2003. Jean-Claude Trichet musste in Brüssel den Wirtschafts- und Wäh-rungsausschuss des Europäischen Parlaments davon überzeugen, dass er der Richtige sei für den Posten als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB). Er sagte: „Das Erbe der Vergangenheit war gut; und es ist wichtig, dass wir das beibehalten. Wir hatten Erfolg unter der Führung von Wim Duisenberg.“ Was er sagen wollte: Es mag bald einen neuen Chef geben, aber sonst bleibt alles beim Alten. Trichet ist inzwischen 70 Jahre alt, er ist Vorsit-zender der G 30, einer Organisation von früheren und aktiven Bankmanagern, und hat ein Büro in der Französischen Nationalbank in

Paris. An der EZB-Spitze hat er zwei Trennun-gen erlebt: Er folgte 2003 auf Wim Dui- senberg und räumte 2011 sein Büro für Mario Draghi. „Und, wenn ich das hinzufügen darf, ich habe bei der Französischen Zentralbank Jacques de Larosière abgelöst, und ich war der Vorgänger von Christian Noyer.“ Keine Trennung aber war derart heikel wie jene im Jahr 2011. Ausgerechnet während der schwersten Krise in Europa seit Ende des Zwei-ten Weltkriegs löste die EZB turnusgemäß ihren Chef ab. An Jean-Claude Trichet hatte man sich gewöhnt. Er fiel mit seiner blumigen Sprache auf, verwendete bestimmte Code-wörter, die Bank war unter ihm berechenbar – und die Trennung ein Risiko. „Wenn Zentral-banken ihre Präsidenten auswechseln, dann muss das immer unter dem Motto der Kontinui-tät geschehen“, sagt Trichet. „Da die Beschlüsse von einem Komitee getroffen werden, in dem kluge, erfahrene und gut informierte Beamte sitzen, die nicht wechseln, ist die Figur des Präsidenten aber nicht allentscheidend. Er ist der Sprecher und der Vorgesetzte.“Gemäß dem Vertrag von Maastricht über die Europäische Union ist es Aufgabe der EZB, die Preisstabilität in der Eurozone zu überwachen. Die Bank soll die jährliche Inflationsrate bei unter zwei Prozent halten. Zu diesem Zweck kann sie die Zinsen, zu denen sich Geschäfts-banken bei ihr Geld leihen, senken oder erhöhen. Sie kann dadurch Vermögen vernich-ten oder schaffen, sie kann die Aktienmärkte bewegen oder den Eurokurs – und sie kann die Volkswirtschaft anheizen oder abkühlen. Daher werden Zentralbanker auch genau beob- achtet. Routiniert versuchen sie die Akteure an den Märkten und die Bürger in Europa zu beruhigen. Darum bezeichnete Mario Draghi 2011 kurz nach seinem Amts antritt Jean-Claude Trichet als sein Vorbild. Die letzten Monate Trichets im Amt waren tur-bulent. Die Banken misstrauten sich gegen -seitig und wollten sich untereinander kein Geld mehr leihen. „Es war eine schwierige Phase“, sagt Trichet. Und dann griff auch noch die »Bild«-Zeitung in die Geldpolitik ein. Sie warnte

vor dem Kandidaten Draghi und behauptete, dass Ita lien und Inflation zusammengehörten wie Pasta und Tomatensoße. Diese Wort-meldung von fachfremder Seite macht Trichet heute noch wütend. „Mario Draghi ist ein exzellenter Präsident, und es ist überhaupt nicht akzeptabel, dass jemand sich derart über eine Nationalität äußert. In der EZB sind wir Europäer, wir vertreten die Interessen von 335 Millionen Mitbürgern, denen wir Preisstabilität garantiert haben.“Für Trichet war es keine Überraschung, dass der Übergang von ihm zu Draghi problemlos verlief. Draghi war Präsident der Italienischen Notenbank gewesen und damit schon Mitglied des EZB-Rates. „Wenn man in einer solchen Situation einen Nachfolger aus dem inneren Kreis sucht, gewinnt man wertvolle Zeit, weil er schon über alles informiert ist und bereits Entscheidungen mitgetroffen hat“, sagt er. „Er muss sich dann nicht mehr einarbeiten und sich durch dicke Dossiers durcharbeiten, um zu erkennen, wie schwierig die Situation ist.“ Eine allgemeingültige Regel will er daraus jedoch nicht ableiten. „Aber in Krisenzeiten scheint mir das sinnvoll zu sein.“ Am 1. November 2011 war Trichet nicht mehr Präsident der EZB. „Das war eine psychologisch interessante Erfahrung“, sagt er. „Davor wurde ich zu den wichtigsten Menschen der Welt gezählt – ich beziehe mich auf die angelsächsi-schen Medien, wo ich einmal in einem Ranking als viert- oder fünfwichtigster Mann der Welt bezeichnet wurde –, und von einem Tag auf den nächsten hat man kein Amt mehr.“ Trichet beobachtet weiterhin die Eurozone, die Geldpolitik, die Entscheidungen der Noten-banken. Aber die Trennung sei richtig gewesen. „Dass man nach acht Jahren aufhören muss, ist gut für die Unabhängigkeit der Institution“, sagt er. Doch bis man ganz abgeschlossen hat, dauere es. „Innerlich befasse ich mich immer noch mit der Bank. Aber ich habe jetzt nicht mehr den Stress und die Verantwortung. Ich würde es so formulieren: Ich habe noch immer die Konzentration und das Bewusstsein. Aber nicht mehr das Adrenalin der Position.“

Die Verantwortlichen dort wollen bei einem Wechsel an der Spitze Überraschungen vermeiden. Wenn es um ihr Geld geht, wollen die Bürger, die Unternehmer, die Akteure an den Finanz-märkten wissen, dass sie vertrauen können. Denn sie müssen voraus planen und wollen Verlässlichkeit. Deshalb wurde in den

USA auch Janet Yellen neue Fed-Chefin und nicht Lawrence Summers. Intellektuell ist Summers Yellen sicherlich ebenbürtig. Aber sie steht für das Vertraute. Sie ist Vizepräsidentin der Fed, arbeitet mit dem ausscheidenden Chef Ben Bernanke zusammen, sitzt im geldpolitischen Komitee, hat Entscheidungen mitge- >Fo

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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troffen. Daher ist es vorhersehbar, wie sie als Chefin handeln wird. Auch bei Summers hätte man ziemlich sicher vor-aussagen können, was er als Fed-Chef tun würde. Aber es gibt eine klitzekleine Unsicherheit. Und das reicht, um nicht Chef zu werden.

Wie wichtig ist der Chef überhaupt? Glauben die Menschen an die Institution? Oder an die Person?In erster Linie glauben die Menschen an die Institution. Erst dann kommt der Chef einer Zentralbank. Es gibt eine starke institutionelle Kultur, die einen bestimmten Typ Mensch formt. Neh-men Sie Ben Bernanke von der Federal Reserve: Er hat einen außergewöhnlich großen Wissensschatz, er ist hellwach und wusste, wie er der Krise in den USA begegnen musste. Aber das hat auch die Institution aus ihm gemacht. Paul Volcker, der Vorgänger von Alan Green-span auf diesem Posten, ist das Gegenbeispiel. Er war eine beson-dere Führungsfigur. Es ist ihm damals gelungen, mit der Hoch-zinspolitik die Inflation in den Griff zu kriegen. Das war auch eine Führungsfrage.

Also ist es doch nicht ganz egal, wen man zum Chef der Notenbank macht?Ich würde sagen, dass die institutionelle Kultur sehr stark ist. Aber ich würde auch sagen, dass man es sich gut überlegen muss, wen man auf einen solchen Posten setzt. Es kommt darauf an, was für eine Führungspersönlichkeit man sucht.

War Mario Draghi der richtige Mann, um Jean-Claude Trichet an der Spitze der EZB abzulösen?Ganz gewiss. Er ist eine besondere Figur. Er kann Dinge tun, die seine Vorgänger nicht so leicht hätten tun können. Das liegt an seiner Geschichte …

… weil er beide Seiten kennt: die Welt der Privatbanken bei Gold-man Sachs, wo er unter anderem Vizepräsident war, und den öf-fentlichen Dienst als Gouverneur der Italienischen Notenbank?Während der Neunzigerjahre war er Direktor im Finanzministeri-um in Italien und in dieser Funktion Vorsitzender der Kommis-sion, die das italienische Steuer- und Unternehmensrecht refor-miert hat. Ohne diese Arbeit würde Italien heute noch schlechter dastehen. Er wusste, welche Risiken Italien drohten. Ich glaube, er hatte keine Illusionen darüber, wie die Banken in Europa dastehen.

Daher war er in der Lage, die Krise zu verstehen, und wusste, was zu tun war. Er hatte erkannt, dass man bei der EZB einige Dinge neu justieren musste. Im Vertrag von Maastricht über die Europäi-sche Union wurde die EZB nach dem Vorbild der Bundesbank modelliert. Das hat viele Jahre lang gut funktioniert. Aber in der Krise kamen Probleme auf – etwa die Staatsschuldenkrise, die Schwierigkeiten auf dem Interbankenmarkt, die Depression in ei-nigen Ländern – mit denen die Bundesbank kaum Erfahrungen hatte. So bot ein neuer Mann auf dem Posten auch die Möglich-keit, einige Dinge zu verändern. Und das hat er getan.

Lawrence Summers kündigte vor wenigen Wochen in einem Brief an, dass er nicht mehr für den Vorsitz der Fed kandidieren werde, und machte so den Weg frei für Janet Yellen. Axel Weber trat 2011 als Chef der Bundesbank zurück, und Mario Draghi konnte Präsi-dent der EZB werden. Warum geht es bei Trennungen und Neu-besetzungen von Zentralbankposten meist zivilisiert zu?Vielleicht weil es ein Job ist, bei dem man sich immer fragt: Warum habe ich mir das angetan? Die Verantwortung ist enorm. Aber es sind eben sehr zivilisierte Institutionen. Für meine Forschungen habe ich bei der Bundesbank mit Jens Ulbrich, dem Leiter des Zen-tralbereichs Volkswirtschaft, gesprochen, ich habe gesprochen mit Vertretern der EZB, der Bank of England, der Federal Reserve. Überall bin ich auf Leute gestoßen, die ihre Aufgabe sehr ernst genommen und sich als Staatsdiener im Wort sinne verstanden haben. Was mich während der Finanzkrise momentan sehr beein-druckt, ist, mit welcher Sicherheit die Noten banken agieren.

Douglas R. Holmes ist Professor für Anthropologie an der State University of New York. Er beschäftigt sich mit dem Landleben in Italien und den Zentralbanken. Dieser Tage erscheint sein Buch: Economy of Words – Communicative Imperatives in Central Banks (University of Chicago Press)

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _INTERVIEW MIT DOUGLAS R. HOLMES

Nur den Konflikt zwischen der Bundesbank und der EZB wird man vielleicht erst in einigen Jahren richtig verstehen können.

Anders als früher stehen Zentralbanker heute stark unter Beobach-tung. Im deutschen Bundestagswahlkampf mischten sich Parteien in die Geldpolitik ein, die ja laut Lehrbuch Sache der unabhängigen Zentralbank sein sollte. Muss jemand, der heute eine solche Institu-tion leitet, andere Fähigkeiten mitbringen als früher?Eine Kollegin, auch eine Anthropologin, berichtete kürzlich von einer Forschungsreise nach Irland. Sie erzählte, dass sie irgendwo auf dem Land in einen Pub ging und den Gästen zuhören wollte. Und worüber wurde diskutiert? Über die Maßnahmen der EZB. Früher kannte man oft noch nicht mal den Namen des Präsiden-ten einer solchen Bank, geschweige denn hat man ihre Entschei-dungen verfolgt. Heute hingegen werden Debatten über Mario Draghi oder Ben Bernanke geführt. Und in der Tat sind wir in einer Zeit, in der Zentralbanken mehr Aufgaben auf sich laden müssen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten vor der Finanz-krise haben sie versucht, sich als extrem unabhängig zu präsen-tieren. Aber heute reicht es eben nicht mehr, nur auf die Inflati-onsrate zu achten. Und so kommt es, dass die Entscheidungen in der Presse kommentiert und manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht kritisiert werden.

Was muss ein guter Zentralbankchef mitbringen?Er muss ein guter Geschichtenerzähler sein.

Wie bitte?Im Ernst: Er muss ein guter Geschichtenerzähler sein. Mario Dra-ghi zum Beispiel versucht, den Euro zu retten, indem er sich an die europäische Öffentlichkeit richtet. Er sendet Signale aus, die eine von ihm beabsichtigte Stimmung erzeugen. Es ist eine sehr disziplinierte Art des Geschichtenerzählens. Zur Grundlage hat sie die Analysen zur Lage der Volkswirtschaften des Euroraums, des Finanzsystems, des Arbeitsmarktes, der Energiepreise …

Aber gerade wenn man Leuten wie Draghi zuhört, versteht man doch kaum ein Wort.Das würde ich nicht sagen. Nehmen Sie Draghis berühmten Satz: „Innerhalb unseres Mandates ist die EZB bereit, alles Erforder-liche zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird reichen.“ Das ist ein sehr starkes Statement, das jeder verstehen kann. Dadurch leitet man Erwartungen – die der Ak-teure an den Finanzmärkten, der Unternehmen und der Bürger. Die Glaubwürdigkeit der Bank basiert darauf, überzeugende Geschichten erzählen zu können.

Überzeugende Geschichten? 2011 sagte Draghi in einer Rede: „Die Erfolge in vielen Ländern der Eurozone waren ganz außerge-wöhnlich.“ Ehrlicherweise muss man doch sagen, dass der Konti-

nent gegenwärtig nicht gerade eine Region ist, in der Milch und Honig fließen.

Richtig. Aber in allen Krisenländern, sei es Spanien, Portugal oder Griechenland, werden Reformen angegangen. Und es verändern sich die Dinge zum Positiven. Das wird oft übersehen. Daher ist es wichtig, eine Wachstumsgeschichte zu erzählen: Haben wir Informationen darüber, dass es besser wird? Dann müssen wir sie verbreiten. 2012 hat Draghi das zum ersten Mal gemacht. So werden wir alle zu Akteuren der Zentralbankpolitik. Wenn wir generell das Gefühl haben, dass sich die Dinge verbessern, geben wir auch mehr Geld aus und stabilisieren die Wirtschaft. Unser Opti mismus wird die emotionale Basis künftiger wirtschaftlicher Akti vität. Die Wachstumsgeschichte der Bank liegt dann unserem Handeln zugrunde.

Vor wenigen Wochen hat Mark Carney an der Spitze der Bank of England Mervyn King ersetzt. Ist er ein guter Geschichtenerzähler?Auf jeden Fall. Bei der Bank of England hat das Tradition. Sie lei-tet dadurch die Erwartungen von Bürgern, Unternehmern und Investoren. Tatsächlich wächst Großbritannien jetzt wieder. Und Carney ist für diesen Aufschwung ein guter Mann. Es war sehr clever, Sir Mervyn King durch ihn zu ersetzen. Man dachte wohl, dass man die Trennung dazu nutzen könne, jemanden mit neuen Ideen und anderen Erfahrungen zu bringen. Und diesen Jemand fand man in Carney. Er hat sehr erfolgreich die Notenbank von Kanada geleitet und wurde dort quasi abgeworben.

Wäre es vor zehn Jahren denkbar gewesen, dass ein Kanadier Chef der Bank of England werden würde? In London herrscht nicht ge-rade ein Mangel an Finanzexperten.Das wäre in der Tat undenkbar gewesen. Stellen Sie sich einmal vor, die Bundesbank würde einen Kanadier zu ihrem Präsidenten machen! Aber die Bank of England ist sehr offen. Im geldpoliti-schen Komitee, wo die Entscheidungen getroffen werden, gibt es auch externe Mitglieder. Einer davon ist Donald Kohn, der früher Chefökonom der amerikanischen Federal Reserve war. Die Bank of England wollte sich die Perspektive von anderen Zentralban-ken ins Haus holen.

Sie sind Professor für Anthropologie. Wie kamen Sie überhaupt auf das Thema Zentralbanken?Das sind Institutionen, die unser Leben mitbestimmen. Sie wirken nicht nur auf dem Feld der Ökonomie, sondern auch auf jenem der Alltagskultur. Es lassen sich viele Dinge untersuchen: die Spra-che, der Umgang mit Erwartungen, die Probleme der Datenerfas-sung, die Frage, wo man verlässliche Informationen herkriegt. Das sind wichtige Themen, und trotzdem weiß man in meinem Fach mehr über Erdnussanbau im Amazonas als über Zentralbanken. Und daher habe ich 2001 angefangen, darüber zu forschen. –

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _MODERNE NOMADEN

Die LebenswandlerDie Welt ist zu aufregend, um an einem Ort zu verharren. Das ist jedenfalls die Überzeugung moderner Nomaden, die hier ihre Geschichten erzählen.

Protokolle: Matthias Hannemann

„Live in New York City once, but leave before it makes you hard; live in Northern California once, but leave before it makes you soft. Travel.

Accept certain inalienable truths.“

Baz Luhrmann: Everybody’s Free (To Wear Sunscreen)

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

Das Duo mit FlügelnEin Büro in Hamburg. In den Regalen liegen Bild -bände, am Schaufenster lehnen Skateboards. Das Ledersofa wird von einer amerikanischen Flagge bedeckt. Der letzte Sonnenstrahl des Tages fällt auf die Schreibtische. Sven Hoffmann, 42, ist Designer und Fotograf. In Monaco arbeitete er für Rainer Engels „High Society“, in Karlsruhe gründete er die Agentur Büro am Meer, in Hamburg war er Dozent der Miami Ad School, am Chiemsee arbeitete er für Martin Imdahl, in Fuschl als Kreativdirektor der Red Bull Inhouse Agentur. Und auch heute, zurück in Hamburg, könnte er sich einen Orts-wechsel vor stellen, obwohl sich sein Büro gerade als Restaurant gestalter einen guten Namen macht. Los Angeles lockt.

Foto: Elias Hassos

„Das klingt etwas platt, wenn man das zusammendampft. Aber die meisten Menschen brauchen einen festen Job, Freunde, die ständig greifbar sind, und eine Stadt, in der sie sich auskennen. Vor großen Reisen bekommen sie Schweißausbrüche, weil ihnen all die Dinge einfallen, die unterwegs nicht funktionieren könn-ten. Dass man die Kündigung einreicht oder sogar frei arbeitet, ist in ihrem Lebensentwurf nicht vorgesehen.

Ich kann das nachvollziehen. Aber so bin ich nicht. Ich will nicht irgendwann alt sein und denken, zu wenig von dem ver-sucht zu haben, was für mich möglich gewesen wäre. Und ich brauche ständig Impulse.

Natürlich habe auch ich Bedürfnisse, die sich manchmal im Weg stehen: eines nach Freiheit und neuen Begegnungen und ei-nes nach einer glücklichen Beziehung, einem Nest. Letzteres ist über die Jahre sogar stärker geworden. Ich würde heute nicht noch einmal so an eine funktionierende Fernbeziehung glauben wie früher. Da habe ich aus beruflicher Neugier im Privaten alles mitgemacht, was man sich vorstellen kann – auch diese endlosen nächtlichen Telefonate.

Andererseits bin ich wirklich von dieser ungezwungenen amerikanischen Art fasziniert, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Sie ist mir oft begegnet, seit ich als Teenager in Palo Alto und New York war. Mein älterer Bruder ging am Tag nach dem Abschluss ins Silicon Valley, um für Firmen wie Sun Microsys-tems und Google zu arbeiten. In Amerika gehen sie offen mit ihren Biografien um, selbst mit dem Scheitern. Wenn man jung und ungebunden ist, fallen einem die Wechsel natürlich leicht.

Als ich an der Modeschule studierte und einen Aushang von Rainer Engel sah, der in Monaco Mode für die Neureichen ent-warf, dachte ich: Man muss mindestens einmal am Meer gelebt haben. Also bin ich dorthin, und das Leben war großartig, wenn man die richtigen Türsteher kannte – bis mich der deutsche Staat zum Zivildienst bei den Naturfreunden in Karlsruhe-Durlach zwang. Das war schlimm. Diese Fremdbestimmung muss ich nicht noch einmal haben.

Kurz nachdem ich mich selbstständig gemacht hatte, traf ich dann eine Frau. Sie war mir wichtig. Also zog ich ihr hinterher, wenn sich ihre beruflichen Stationen änderten. Für die Arbeit, das Gestalten eines Brillenkatalogs zum Beispiel, brauche ich schließ-lich kaum mehr als einen Computer oder die Kamera. Irgend-wann landete sie aber in einer Stadt, in der ich es nicht aushielt. Ich dachte: Mensch, wir arbeiten beide so viel, da wird auch die Fernbeziehung klappen. Und zog wieder los. Wobei ich nicht naiv bin. Ich trenne mich nicht von einem Tag auf den nächsten von einem Ort oder Job. Bei dieser Entscheidung geht es jedes Mal um ein kleines Leben.

Das mit der Fernbeziehung klappte nicht. Das war hart. Mei-ne damaligen Erfahrungen kamen allenfalls Christiane zugute, meiner heutigen Frau. Die ging für „Red Bull Air Race“ gerade nach Amerika, als ich mich in sie verliebte. In diese Liebe steckte ich alles, was ich an Energie und Geld hatte. Ich ging mit Chris-tiane sogar nach Fuschl in die österreichische Provinz, wo das Red-Bull-Hauptquartier steht – ohne dass klar gewesen wäre, dass ich bald darauf ebenfalls für Red Bull arbeiten würde. Und als das erste Kind kam, schob ich meinen Traum auf, mit ihr ge-meinsam nach Amerika zu gehen, um mich dort als Fotograf auszuprobieren.

Wir einigten uns auf Hamburg. Wir kauften eine Eigentums-wohnung, die wir jederzeit vermieten können. Von hier kann Christiane für Red Bull arbeiten, es gibt eine Kita und einen Zug zu Christianes Eltern. Und ich habe beruflich schon wieder erfah-ren, dass sich die Dinge ergeben, wenn man dafür offen ist. Wo-bei ich nicht nach Ruhm und Ehre strebe. Ich kann der Versu-chung widerstehen, mein Büro weiter auszubauen und wilde Aufträge anzunehmen, wenn das für meine Kinder und die Fami-lie mehr Zeit bedeutet. Denn die kommt nicht zurück. Ich weiß, was ich an ihnen habe.

Das heißt nicht, dass wir in Deutschland bleiben werden. Wir haben gerade ein Haus in Venice gemietet, um es einige Monate in Los Angeles zu versuchen. Aber länger? Das diskutieren wir oft. Christiane hat nicht weniger Fernweh als ich. Aber sie will „erst mal was aufbauen“, eine Station, zu der wir immer wieder zurückkehren können. Mit Kindern ist die Heraus forderung, das Maximale aus der uns möglichen Freiheit herauszuholen, ein bisschen größer als bisher. Aber das wird uns nicht davon abhal-ten, immer wieder aufzubrechen.“

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _MODERNE NOMADEN

Der Mann mit dem KickEin Café in Köln. Die Domglocken dröhnen. Tino Bahr, 36, schaut auf die Uhr. Es ist der einzige Wochentag, an dem er nicht in der Firma des aktuellen Kunden sein muss. So ist es als freier Pro-jektleiter und Berater. Innerhalb weniger Jahre arbeitete er in Hamburg für eine Terminalfirma, trieb die Rationalisierung bei einer Opel-Tochterin Rüsselsheim voran, verlagerte die Reste nach Indien, ging für die Deutsche Bahn in die Wüste nach Katar, für Bombardier nach Siegen und für die Post nach Bad Godesberg. Und auch der aktuelle Job läuft bald aus. Dann kommt der nächste.

Foto: Thekla Ehling

„Ich arbeite gern auf Projektbasis. Und die Firmen schätzen Personal, das sie zügig auf- und wieder abbauen können. Wenn es freie Mitarbeiter als Puffer gibt, stabilisiert das die eigentliche Belegschaft. Außerdem haben die Externen noch nicht diesen Tunnelblick, den jeder langjährige Mitarbeiter irgendwann be-kommt. Oder sie können etwas, das es im Unternehmen derzeit nicht gibt. Das bringt uns zusammen.

Ob den Firmen bewusst ist, was das emotional bedeutet, weiß ich nicht. Man wird nicht wirklich integriert. Wir haben we-niger Rechte als die festen Mitarbeiter, das fühlt man ständig, und die Netzwerke im Betrieb, die einem unter die Arme greifen kön-nen, kann man in der Regel auch nicht aufbauen. Wir werden nicht mal gefragt, ob wir mit in die Kantine gehen möchten.

Aber mir ist das bewusst, wenn ich mich auf diesen Lebensstil einlasse. Für mich ist das okay. Denn mit den Jobs ist es wie mit einer Mathe-Aufgabe: Die Spannung schwindet, sobald der Lö-sungsweg klar ist – dann kann man die Aufgabe nur noch mit anderen Zahlen wiederholen. Ich finde die Suche nach dem Lö-sungsweg spannend. Ich darf immer wieder neue Probleme ken-nenlernen, arbeite mich ein, und wenn alles läuft, ziehe ich weiter. Und was die Netzwerke betrifft: Die knüpft man natürlich auch, nur eben anders, wobei das Internet gute Dienste leistet.

Von außen sieht es manchmal aus, als würden Leute wie ich nur so leben, weil sie keine feste Stelle finden. Ich hatte mal eine bei einer Bank in der Schweiz. Dort hätte ich irgendwie die nächs-ten 40 Jahre abreißen können. Aber dann stand ich rauchend vor dem Foyer und grübelte über den überschaubar spannenden Arbeitsalltag und die Schweiz nach.

Mir fehlte der Kick. Ich mag die Routine nicht. Also kündigte ich, um fortan nur noch das zu machen, worauf ich Bock hatte.

Was nicht heißt, dass jeder Job hielt, was ich mir von ihm erwartete. Einige Erfahrungen waren durchaus negativ. Aber es waren Er-fahrungen.

Ich merkte erst spät, dass mir möglicher-weise eine private Basis fehlt, um diese Pro-jektarbeit weiter stemmen zu können. Zwar finde ich immer wieder Kumpel, mit denen ich Spaß haben und bei denen ich jederzeit anrufen kann. Mittlerweile weiß ich aber, wie es sich anfühlt, eine Verlobung zu lösen oder verliebt zu sein. Je länger ich in Köln lebe, umso mehr wachsen mir meine hiesigen Freunde ans Herz. Das ist kaum möglich, wenn man nur auf Zeit vor Ort ist, und noch schwerer ist es, wenn man wie ich mit einem angeborenen Schutzpanzer herumläuft.

Dass ich in Köln bin, hat einen Grund. Denn so machen es die Freien, die ich für zu-frieden halte: Sie haben eine Basis, zu der sie immer wieder zurückkehren. Sie führen ihr Privatleben an den Wochenenden, um wäh-rend der Woche zu den Firmen zu fahren. Manche Ehen funktionieren mit dieser räum-lichen Trennung sogar besser als ohne, habe ich mir sagen lassen.

Wobei dieser Lebensstil trotzdem nur dann funktioniert, solange man die Initiative ergreifen und Jobs auswählen kann, die ei-nem der Aufgabe oder Bezahlung wegen in-teressant erscheinen. So ist das bei mir. Wenn man zur Projektarbeit verdammt ist, ohne dass einem das liegt, dürfte es die Hölle sein. Die Projektstellen in der IT-Branche sind gut bezahlt. Aber als Gegenleistung wird rund um die Uhr unter Hochdruck gearbeitet und signalisiert, dass wir austauschbar sind. Das gehört zum Deal.

Ich glaube, dass es in meiner Generation, also unter den 30- bis 50-Jährigen, viele gibt, denen das Wechseln liegt. Ich bin ein Wende-kind. Ich will die nach dem Zusammenbruch der DDR gewonnenen Freiheiten nutzen. Vielleicht spielt auch mit rein, dass viele Freie ohnehin nicht an einen verlässlichen Ar-beitsplatz oder ein funktionierendes Sozialsystem glauben. Das klingt abgefuckt, sorry. Aber so ist das.

Ich habe mich lange wie ein moderner Abenteurer gefühlt, der nur mit einer kleinen Kiste unterwegs ist, in die er Erinnerun-gen steckt. Ich habe lange bis zum Umfallen nur für die Arbeit gelebt.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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So verwurzelt wie jetzt in Köln war ich noch nie. Ich fange sogar an, meine Wohnung einzurichten. Aber ich werde auch diese Basis verlassen. Das wird mir schwerfallen. Doch ich habe eine Idee im Kopf, die ich ausprobieren will. In der Freizeit mache ich eine Ausbildung zum Berufspiloten. Wenn das klappt, bin ich vielleicht zufrieden genug, um mich wirklich auf private Bindun-gen einlassen zu können. Ich kann gut loslassen, wie gesagt. Aber irgendwann brauche ich ein Zuhause.“

Die Familie mit Hummeln im HinternEin Häuschen in der Nähe von Frankfurt. Auf der Terrasse entspannen sich drei Hunde. Im Wohn-zimmer sitzt ein Teenager vor dem Laptop. Auf dem Kissen, das auf der Couch liegt, sind die Koordinaten von Åkersberga zu lesen, einem Ort bei Stockholm. Bianca Moberg, 48, bringt Kaffee und Kekse. Sie war früher Flugbegleiterin, und als ihr Mann einen Job im Ausland bekam, ging sie mit – um später mit ihm eine Bäckerei aufzumachen. Aber auch das ist Ge-schichte, er arbeitet derzeit in einer Bank, sie fängt in einem Möbelhaus an. Wir sollen uns aufschreiben, lässt er mitteilen, dass ein Leben aus vielen Ver ände-rungen besteht. Ist notiert.

Foto: Michael Hudler

„Als wir Kinder bekamen, hängte ich meinen Beruf als Flugbe-gleiterin der Lufthansa an den Nagel. Das fiel mir nicht schwer, ich war eine Glucke. Wir bauten ein Haus in Zellhausen, und die Leute nickten, als sei nun alles klar. Aber wie kann ein Ort ein Lebensmittelpunkt sein? Die Familie ist der Lebensmittelpunkt, den man braucht, und nicht irgendein Haus. Das haben wir oft gesagt, und viele in unserem Umfeld haben es nicht verstanden. Wenn wir ihnen erzählten, irgendwann noch einmal ins Ausland gehen zu wollen, sobald die Gelegenheit da ist, winkten sie ab. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass man das eigene Haus wieder verkauft. Sie reden, als könnte man Freundschaften nicht auch über Entfernungen pflegen, wenn man sie ernst nimmt.

Wir haben nie in diesen Kategorien gedacht. Mein Mann und ich zählen zu den Leuten, die schon beim Spaziergang niemals den Weg zurückzugehen versuchen, auf dem sie einen Ort er-reicht haben. Wir finden es schade, wenn man nicht aus dem Pudding kommt. Veränderungen machen ein Leben reich. Das ist wichtiger als das Bauchgrummeln, das mit dem Abschied von einem lieb gewonnenen Ort, gewohnten Routinen oder Freun-den verbunden ist. Wenn man Träume hat, sollte man zumindest herausfinden, was an ihnen dran ist. Sonst kommt der Frust.

Wir träumten davon, eine andere Kultur kennenzulernen. Mein Mann arbeitete damals für den Finanzdienstleister Fidelity in Frankfurt. Als sich die Möglichkeit zum Wechsel nach England bot, von jetzt auf gleich, war er neugierig auf das Arbeitsklima in der Londoner City. Und ich mochte den Gedanken, ein neues Kapitel aufschlagen zu dürfen. So fiel die Entscheidung am >

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Geht Liebeauf denersten Blickimmerins Auge?

Jetzt auchals App

Das Leben stecktvoller Unmöglichkeiten

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Telefon. Er rief an, ich sagte „super, Vollgas“ – und los. Dass wir drei schulpflichtige Kinder hatten, emp-fand ich nicht als Problem. Ganz im Gegenteil: Das alles ist doch gut für ihren Charakter.

Das heißt nicht, dass uns die Tren-nung von Zellhausen leichtgefallen wäre. Im Auto nach Calais heulten wir wie die Schlosshunde. Aber traurig ist so eine Situation in erster Linie für diejenigen, die zurückbleiben. Zu den Kindern sagten wir: ,Bald werdet ihr nicht nur einen Freundeskreis haben, sondern zwei.‘ Und so kam es auch, schon weil es in London eine deut-sche Schule und Community gibt.

Dass es uns Erwachsenen nicht ganz so gefiel, lag zum Teil allerdings auch an der deutschen Community: Das Leben unterschied sich nicht son-derlich von dem in Deutschland. Also begannen wir nach einem knappen Jahr, unseren Traum von einigen Jah-ren im Ausland mit einem anderen Traum zu verknüpfen: Wir wollten ein Unternehmen aufbauen, das wir ge-meinsam führen konnten. Wir hatten beide bis dahin nur Angestellten-verhältnisse erlebt. Wir zogen nach Schweden weiter, in ein kleines Haus außerhalb von Stockholm. Dort kün-digte Jörg seinen Job – und wir er-öffneten eine Bäckerei, die Dutzende Läden in Stockholm mit deutschem Sauerteigbrot versorgte. Für die Kin-der, die in England gerade Wurzeln geschlagen hatten, war das hart. Aber auch das klappte. Wir wa-ren mutig, weil es schon einmal funktioniert hatte. In Schweden sagt man ,Det ordnar sig‘, das regelt sich schon.

So hätte es noch eine Weile bleiben können. Uns gefiel es so gut, dass meine Eltern ihr Haus in Deutschland verkauften und nach Schweden zogen. Aber allen war klar, dass wir bald zurück-gehen würden – schon allein der schlechteren medizinischen Ver-sorgung wegen. Als Erster ging mein Mann, weil er näher bei seiner Mutter sein wollte. Das Jahr, in dem er in Deutschland lebte und ich mit den Kindern in Schweden, weil sie nicht schon wieder wechseln mochten, war schwer. Umso leichter fiel es uns, die Bäckerei loszulassen. Wir verkauften sie. Ich arbeitete noch eine Weile angestellt weiter.

Jetzt sind wir mit Ausnahme unseres ältesten Sohnes in Deutschland zurück. Wir leben natürlich in einem anderen Haus als früher; das alte fehlt uns nicht, es gehörte zu einem anderen Lebensabschnitt. Schweden fehlt mir ein bisschen, aber es ist auch schön, wieder bei den alten Freunden zu sein. Jörg wechselt gerade von der Bank zurück zu Fidelity. Ich habe mich bei einem Möbelhaus beworben, auch das will ich mal ausprobieren. Und den Rest wird man sehen. Die Kinder sagten neulich, sie könnten sich nicht vorstellen, ihr Leben an einem Ort zu verbringen. Sie kennen bereits drei Gesellschaften: die deutsche, die englische und die skandinavische. Sie haben schon jetzt so viele Erinnerun-gen. Das finde ich toll. Jörg und ich werden auch wieder aufbre-chen, wenn sich die Chance ergibt.“ –

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _INTERVIEW MIT HARTMUT OSTROWSKI

Ende einer Dienstfahrt

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

• Er kommt zu Fuß, der ehemalige Konzernchef. Kein Fahrer mehr, keine Limousine. Seine Berliner Wohnung liege gleich um die Ecke, sagt Hartmut Ostrowski, deswegen gehe er oft und gern hierher, ins Café Einstein in der Kurfürstenstraße. Er ist eine unauffällige Erscheinung, mittelgroß, schlank, aschblonde Haare. Nicht der Typ wichtiger Stammgast, kein großer Auftritt. Einen Kaffee und Wasser möchte er, mehr nicht, der Tisch ist ihm recht, den Platz am Fenster lässt er sich vom Fotografen bereitwillig zuweisen.

Er wirkt ein wenig unsicher, die Interviews sind selten gewor-den, seit er nicht mehr Vorstandsvorsitzender ist. Anfangs fragten noch viele nach, wie es denn nun wirklich gewesen sei mit dem für die Öffentlichkeit vollkommen überraschenden Abschied von Bertelsmann im Oktober 2011. Er ziehe sich wegen eines drohen-den Burn-outs zurück, hatte es geheißen. Gleichzeitig kursierten Gerüchte, das sei nur vorgeschoben. Vor was? Ostrowski hatte bis dahin in einer extrem schwierigen Zeit, der weltweiten Fi-nanzkrise, einen guten Job gemacht, die Zahlen sprachen für ihn – genauso wie in den 23 Jahren, bevor er Bertelsmann-Chef wur-de. Warum also kam es zur Trennung? Ostrowski blockte ab. Er brauchte Distanz, damals.

brand eins: Herr Ostrowski, wären Sie noch Bertelsmann-Chef, säßen wir nicht im Café, sondern in der eleganten Konzern-Resi-denz Unter den Linden. Vermissen Sie den Luxus?Hartmut Ostrowski: Vieles damals war schön, mein Berliner Büro war sogar sehr schön. Aber heute genieße ich es, hier zu sitzen.

Ihre Amtszeit von 2008 bis Herbst 2011 war nicht nur von der Finanzkrise überschattet, sondern auch von unternehmensinternen Konflikten, unter denen Sie am Ende auch gesundheitlich litten. War es im Rückblick ein Fehler, den Job anzunehmen?Dass in einem Unternehmen kontrovers diskutiert wird, liegt in der Natur der Sache. Mit dem Abstand, den ich heute habe, kann ich sagen: Vorstandsvorsitzender zu sein war eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Wenn ich es nicht gemacht hätte, hätte ich mich immer gefragt: Warum bist du es nicht geworden? Hät-test du das gekonnt?

Bei Ihrem Abschied Ende 2011 stand Bertelsmann besser da als bei Ihrem Start. Waren Sie mit sich zufrieden?Ich glaube, dass ich während meiner Amtszeit meine Aufgabe gut erfüllt habe. Sie war allerdings noch nicht beendet, als ich ging. Das Wachstum war noch nicht zurückgekehrt.

Genau deswegen machte sich bereits Ende 2009 Unmut breit, erste Medienberichte nahmen Ihre Schwächen aufs Korn. 2010 begann die Suche nach einem Nachfolger – hinter Ihrem Rücken. Wie sehen Sie das heute?Wer damals mit wem welche Gespräche geführt hat, ist für mich heute nicht mehr relevant. Aber dass in einem Unternehmen unterschiedliche Meinungen über die Führung existieren, kommt vor. Wir sind zu einer guten Lösung gelangt.

Das kann für Sie keine leichte Zeit gewesen sein.Es war eine sehr schwierige Zeit, eine Belastung, die dann auch zu psychosomatischen Problemen führte. Zum Beispiel in Form von Beklemmungsgefühlen, plötzlichem Herzklopfen, Angst-

Hartmut Ostrowski war mehr als zwei Jahrzehnte lang ein überaus erfolgreicher Manager. Bis er auf einen Posten berufen wurde, der ihn überforderte: den Vorstandsvorsitz von Bertelsmann.

Ein Gespräch über einen Aufstieg, der zu weit führte, einen Rücktritt, der keiner war. Und einen gelungenen Neustart.

Interview: Patricia Döhle Foto: Oliver Helbig

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Hartmut Ostrowski, 56,Sohn eines Bielefelder Handwerkers, zog es nach dem Studium direkt zu Bertelsmann. Er startete im Druck- und Dienstleistungsbereich, der heute unter Arvato firmiert. Wegbegleiter beschreiben ihn als Unterneh-mertyp mit exzellentem Gespür für Zahlen. 2002 gelangte er an die Spitze und machte die Tochter zum größten Erlösbringer des Konzerns mit knapp fünf Milliarden Euro Umsatz. 2008 berief ihn die Bertelsmann-Eigentümerfamilie Mohn als Nachfolger von Gunter Thielen zum Konzernchef. Man wollte damals einen verlässlichen, der Familie treu ergebenen Manager. Ostrowski erfüllte dieses Profil, senkte während der Finanzkrise auch erfolgreich die Kosten und die hohe Verschuldung, blieb aber eine Wachstumsstrategie schuldig. Seit seinem Abschied 2011 ist er als Business Angel tätig, investiert mit einem Zeithorizont von vier bis sieben Jahren in junge Firmen, die innovative digitale Dienstleistungen anbieten. Außerdem sitzt er in diversen Aufsichtsräten.

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _INTERVIEW MIT HARTMUT OSTROWSKI

zuständen bis hin zu Panikattacken. Ich hatte diese Symptome Mitte der Neunzigerjahre das erste Mal, dann wieder 2001.

Wann kehrten sie zurück?Ab Anfang 2011 hatte ich permanent damit zu tun. Die Heraus-forderung als Manager besteht darin, dass man das sozusagen bei laufenden Motoren in den Griff bekommen muss. Ich musste Vorstandssitzungen leiten, ohne mir etwas anmerken zu lassen. In einem Konzern kann man sich nicht mal zwei oder drei Mo-nate ausklinken. Aber ich habe das im Großen und Ganzen mit-hilfe von Gesprächstherapien, hin und wieder auch Medikamen-teneinnahme und regelmäßigem Sport ganz gut hinbekommen.

Im Oktober 2011 stand die Verlängerung Ihres Vertrages an, statt-dessen wurde Ihr Ausscheiden bekannt gegeben. Im August hatten Sie noch gesagt, Sie würden weitermachen.Als Obersekundaner habe ich einen Aufsatz über verschiedene Arten von Lügen geschrieben. Eine davon war die Notlüge, die ist zulässig. In einer derart exponierten Position können Sie, um ein Bild aus dem Skatspiel zu benutzen, nicht ouvert, also offen spielen. Sie müssen Ihr Blatt in der Hand behalten. Sonst sind die Gazetten voll. Alle Beteiligten wollten einen ruhigen, geregelten Übergang. Der Oktober war dann der passende Zeitpunkt.

Auch Ihr engstes Umfeld wurde überrascht. Viele verloren ihre Jobs, während Sie in den Aufsichtsrat einzogen. Warum taten Sie das?Ich denke, dass es gut ist, wenn im Aufsichtsrat jemand sitzt, der dieses Unternehmen profund von innen kennt. Nach dem Aus-scheiden von Gunter Thielen bin ich neben den Mitgliedern der Familie Mohn der Einzige, der dieses Profil besitzt. Also hat man mich gebeten, und ich mache es gerne. Bertelsmann und ich, wir hatten und haben eine gute Zeit miteinander.

Frühere Mitstreiter sind darüber verbittert.Viele sind gut, manche sind sehr gut untergekommen, aber nicht alle. Ich weiß das, und es tut mir leid. Aber ein Konzernlenker hat nur geliehene Macht. Verliert er seinen Job, gehen auch in seinem engsten Umfeld Jobs verloren. So funktioniert ein Konzern.

Hatten Sie sich Gedanken darüber gemacht, welche Herausforde-rungen mit dem Job des Bertelsmann-Chefs verbunden sind? Öf-fentliche Auftritte und Reden beispielsweise, bei denen Beobachter den Eindruck gewannen, dass Sie sich oft nicht wohl dabei fühlten.Jeder neue Job bringt zusätzliche Anforderungen mit sich. Man passt sich an, erwirbt zusätzliche Fähigkeiten. Wenn Sie das The-ma Rhetorik nehmen: Ich bin nicht mit großem Talent als Redner gesegnet, habe aber über die Jahre gelernt und auch hart trainiert. Wenn ich mich sehr gut vorbereite, bin ich gut, wenn nicht, ist es schwieriger. Das Problem ist, dass man nicht immer die Zeit hat, sich ausreichend vorzubereiten. In jedem Fall aber liegen Welten

zwischen den Reden, die ich zu Anfang meiner Karriere gehalten habe, und dem, was ich heute kann.

Hätten Sie die Chance gehabt, den Job abzulehnen? Theoretisch könnte man Nein sagen, aber das kommt selten vor. Ich hätte dann schon ein oder zwei Jahre früher signalisieren müs-sen, dass ich an einem weiteren Aufstieg kein Interesse habe. Das entspricht nicht meiner Mentalität. So ein Angebot ist ja ein Ver-trauensbeweis, eine Anerkennung. Man ist froh und dankbar und stolz über die neue Aufgabe.

Sie wussten aber, dass es eine Grenze der Belastbarkeit gibt. Ja, ich habe auch darüber nachgedacht, habe mit Vertrauten ge-sprochen. Einer hat mir gesagt: „Mach’s lieber nicht.“

War der Karrieresprung so, wie Sie ihn sich vorgestellt hatten?Nein, viel größer. Die Umstellung war riesig. Man ist plötzlich in einer anderen Welt. Die Einsamkeit nimmt zu. Man steht mit ei-nem Mal im Mittelpunkt des Interesses ganz vieler Gruppen: Die Gesellschafter erwarten große Erfolge, die Analysten gute Zahlen, die Mitarbeiter eine Gallionsfigur, und die Journalisten suchen nach Fehlern. Diese Dimensionen habe ich unterschätzt, und das geht, wie ich weiß, vielen anderen Konzernchefs anfangs genauso.

Mit Ihrer Antrittsrede setzten Sie sich selbst unter Druck. Sie gaben ungeheuer ehrgeizige Ziele aus, Umsatz wie Gewinn sollten sich nahezu verdoppeln. Warum?Ich wollte schon deutlich machen, dass alle hart anpacken muss-ten, um die Firma weiterzuentwickeln. Ein Fehler war es, konkre-te Zahlen vorzugeben, die dann mit dem Ausbruch der Finanz-krise nicht mehr zu erreichen waren.

Was haben Sie unterschätzt?Der Druck ist enorm, zumal Sie immer schneller reagieren müs-sen. Sich mit der Antwort etwa auf einen Pressebericht zwei Tage Zeit zu lassen wie noch vor zehn Jahren ist heute unmöglich. Sie werden aus Ihrem Tagesrhythmus immer wieder herausgerissen. Früher oder später kommt da jeder an seine Leistungsgrenzen. Ungefähr 50 Prozent des Jahres waren durch Routinetermine ver-plant, bevor das Jahr überhaupt begonnen hatte. Natürlich haben Sie dann noch einen gewissen Spielraum, aber egal, wie Sie’s drehen: Der Terminkalender ist immer voll. Vor 23 Uhr war ich selten zu Hause, und freie Abende gab es pro Monat ein oder zwei, oft auch gar keinen. Ich glaube, dass man einen solchen Job heute nicht mehr so lange durchhalten kann wie früher, als zwei Amtsperioden – also zehn Jahre – oder sogar mehr üblich waren.

Warum tut man sich das an?Diese großen Jobs müssen ja gemacht werden. Und es ist eine ungeheuer herausfordernde, einmalige Aufgabe. Sie treffen sehr

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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interessante Menschen, diskutieren mit ihnen, bekommen Ein-blick in spannende Geschäftsmodelle und Firmen. Man lernt dazu, entwickelt sich weiter. Ich bin sehr dankbar, dass ich das erleben durfte.

Waren Sie nach Ihrem Ausscheiden erleichtert?Nein, erst ging es mir schlecht. Aber nach einigen Wochen wurde es besser.

Und heute?Geht es mir gut. Ich teile mir meine Zeit selbst ein, arbeite maxi-mal bis 18 oder 18.30 Uhr, mache acht Wochen Urlaub im Jahr, manchmal auch mehr. Kurz: Ich stresse mich nicht mehr so.

Von den Gründern, die Sie als Business Angel unterstützen, werden Sie als nahbar beschrieben. Hat der Aufstieg Sie nicht verändert?Doch, ich glaube schon. Man kommt zu Wohlstand, und auch das gesellschaftliche Umfeld verändert sich. Aber ich habe immer versucht, den Kontakt zur Basis nicht zu verlieren – zum Beispiel bin ich seit vielen Jahren zweiter Vorsitzender beim TuS Dorn-berg, einem kleinen Bielefelder Sportverein.

In den Unternehmen, in die Sie investieren, sind Sie offenbar sehr direkt und diskutieren operative Details genauso wie die Bedeutung des Dreisatzes für die Gewinn- und Verlustrechnung.Ich kann nun mal nicht aus meiner Haut. Ich lasse nicht präsen-tieren. Ich diskutiere sehr gern mit, von Anfang an.

Haben Sie eine Zielrendite?Zehn Prozent pro Jahr sind in Ordnung, 20 oder 30 Prozent müssen es nicht werden.

Ist die Geldanlage Ihr Hauptmotiv?Ich bin da zwar ehrgeizig, aber das allein ist es nicht. Wirtschaft war schon immer meine Leidenschaft. Es macht mir einfach mehr Spaß, über Unternehmen nachzudenken als über orientali-sche Kultur oder andere Themen, die andere vielleicht interessie-ren. Dank meiner Investitionen habe ich ständig mit jungen Un-ternehmern und neuen Geschäftsmodellen zu tun und kann dazu beitragen, sie erfolgreich zu machen. Das macht mir eine unge-heure Freude. Ich würde sogar sagen: Das ist meine Bestimmung.

Ostrowski verlässt das Café, wie er gekommen ist: zu Fuß, in der Hand eine zerknautschte schwarze Aktentasche. Der ehemalige Bertelsmann-Chef ist jetzt 56. Aber mit seinem schiefen, immer noch etwas unsicheren Lächeln wirkt er beim Abschied wie ein großer Junge. Er ist schon halb raus, da hält er inne, als hätte er etwas vergessen. Dann dreht er sich noch einmal um, hebt die Hand, ruft über die Tische: „Und danke für den Kaffee!“ –

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _ARBEITSRECHT

I. Regeln, Regeln, Regeln

Das Kündigungsschutzgesetz kommt auf den ersten Blick mit seinen gerade mal 26 Paragrafen klein und harmlos daher. Doch das Gesetz ist ein Zwerg, der viele Freunde mitbringt, sobald man sich ihm nähert. Sie steigen einander auf die Schultern und bauen sich zu dem fürchterlichen Riesen namens Kündigungsschutz-recht auf. Das Kündigungsschutzgesetz ist nur eines von mehr als 30 verschiedenen Bundesgesetzen, die bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen einschlägig sein können.

„Das Kündigungsschutzrecht ist in der Tat recht unüber-sichtlich“, sagt Joachim Vetter, Vorsitzender des Bundes der Ar-beitsrichter. Deshalb sei die Richterschaft sehr stark dafür, die arbeitsvertraglichen Regelungen in einem einheitlichen Arbeits-vertragsgesetzbuch zusammenzufassen.

Diese Forderung erheben Arbeitsrechtler seit Anfang der Neunzigerjahre. Und sie verweisen dabei auf nichts Geringeres als den Verfassungsauftrag des Einigungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, in dem der gesamt-deutsche Gesetzgeber nach Artikel 30 die Aufgabe hat, „das Arbeitsvertragsrecht möglichst bald einheitlich zu kodifizieren“. Nun mag man sich streiten, was „möglichst bald“ genau heißt. Jedenfalls ist der Einigungsvertrag vor 23 Jahren in Kraft getreten und seither nichts geschehen.

Für Fachanwälte und Arbeitsrichter, so Vetter, sei die Zer-splitterung allerdings nicht das Hauptübel. Spezialisten durchstei-gen die komplizierte Materie. Viel mehr leide das Arbeitsrecht „unter unbestimmten Rechtsbegriffen, die oftmals sehr weit und

allgemein formuliert sind. Was zum Beispiel heißt ,erforderlich‘, was ,unzumutbar‘?“, fragt Vetter. Davon ist vieles durch die Urteile von Arbeitsrichtern im Einzelfall geklärt; ein einheitlich zusammengefasstes Arbeitsvertragsrecht wäre insbesondere dann sinnvoll, wenn es die in der Praxis aufgestellten Grundsätze und Konkretisierungen berücksichtigte, so der Richter.

Doch das zeichnet sich nicht ab. Es wird erst einmal dabei bleiben, dass das Kündigungsschutzrecht „für den normalen Arbeitnehmer und Arbeitgeber kaum zu verstehen ist“. Nicht zuletzt deshalb, so Vetter, machten vor allem Arbeitgeber aus kleinen und mittelgroßen Unternehmen bei Kündigungen oft-mals Fehler.

Um den Gang zum Gericht zu vermeiden und Anwalts- und Prozesskosten zu sparen, betrauen sie gern den Hausanwalt mit dem Fall. Der ist mit dem unübersichtlichen und teilweise sehr vage formulierten Gesetzeswerk oft überfordert – und am Ende ist für so manchen Arbeitgeber kaum absehbar, ob seine Kündi-gung nun wirksam ist, ob es zum Prozess kommt und, falls ja, wie dieser ausgehen wird.

All das hat dazu geführt, dass die Kündigungsschutzklagen von Arbeitnehmern nur noch selten ihren eigentlichen Zweck erfüllen, „festzustellen, ob eine Kündigung unwirksam war“, sagt Vetter. „Die allermeisten Gekündigten sehen die Kündigungs-schutzklage als eine Art Abfindungsklage.“ Deshalb endeten „90 Prozent der Gerichtsverfahren nicht mit einem Urteil, sondern mit einem Vergleich, in dem letztlich nur noch die Höhe der Ab-findung ausgehandelt wird“.

II. Verhindert das Arbeitsrecht neue Jobs?

Es kommt darauf an, wen man fragt. Arbeitgebernahe Parteien und Verbände sehen im Kündigungsschutz eher ein Einstellungs-hemmnis, das unterm Strich zu weniger Stellen führe, während arbeitnehmernahe Organisationen diesen Zusammenhang zu-meist bestreiten.

Dass beide Seiten das Kündigungsschutzrecht aus verschiede-nen Perspektiven betrachten, liegt in der Natur der Sache. Denn es ist auf der einen Seite eine Art Sozialrecht, das vor will kürlichen Entlassungen bewahrt und genau dafür im Jahr 1951 ein geführt wurde; auf der anderen Seite ist es aber auch ein Wirtschafts-recht, das die Arbeitgeber in ihrer Freiheit der Unternehmensfüh-rung einschränkt.

Unbestritten ist: Das Kündigungsschutzrecht kostet die Fir-men Geld, laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirt-schaft (IW) immerhin rund fünf Milliarden Euro für Anwalts- und Gerichtskosten und vor allem für Abfindungen. Im Schnitt zahlen die Unternehmen hierzulande rund 12 000 Euro an jeden entlas-senen Mitarbeiter. Aber belasten die Abfindungen die Unterneh-mer so stark, dass sie aus Angst davor auf die Schaffung neuer Stellen verzichten?

Alles, was Recht ist …… muss nicht gut sein – wie der Umgang mit Kündigungen hierzulande zeigt.Viel besser gehen die Österreicher mit Entlassungen um.

Text: Oliver Link

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

Dagegen sprechen zunächst einmal die verhältnismäßig gerin-gen Kosten: Gerade einmal 0,4 Prozent der gesamten Personal-kosten der Unternehmen aus produzierendem Gewerbe und Dienstleistungen fließen in Abfindungen. Stärker ist die psycho-logische Wirkung: In der IW-Studie gaben 36,8 Prozent der be-fragten Personalverantwortlichen mit mehr als zehn Angestellten zu Protokoll, sie verzichteten auf Neueinstellungen, weil sie fürchteten, diese nur schwer wieder entlassen zu können. Und rund 40 Prozent der Arbeitgeber erklärten, dass sie wegen des Kündigungsschutzrechts auf Entlassungen verzichteten, die aus ihrer Sicht eigentlich erforderlich gewesen wären.

Weil auf zehn nicht ausgesprochene Kündigungen 15 unterlas-sene Neueinstellungen kommen, so hat das IW in seiner Studie ausgerechnet, sorgen beide Effekte zusammen unterm Strich für 41 000 theoretisch nicht geschaffene Jobs pro Jahr. Bei knapp 30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutsch-land wäre das eine Quote von knapp 1,5 Promille.

Für Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, geht es aber gar nicht um die schlichte Frage: einstellen oder entlassen? Unternehmen stünden Möglich-keiten der Flexibilisierung zur Verfügung, von der befristeten Beschäftigung über Leiharbeit bis hin zu Arbeitszeitkonten. Im-merhin sind inzwischen knapp neun Prozent aller Jobs befristet, die Quote der Leiharbeit liegt bei rund drei Prozent.

Walwei hat noch ein weiteres Argument dafür, dass die recht-lichen Regelungen „für die Unternehmen nicht der entscheidende Faktor“ sind. Er erzählt von jener Gesetzesänderung der Regie-rung Kohl im Jahr 1996, die die Schwelle, ab der das Kündi-gungsschutzgesetz in Betrieben gilt, von fünf auf zehn Angestell-te ange hoben hatte, sodass mehr Menschen aus dem strengen Kündigungsrecht herausfielen und hätten entlassen werden kön-nen. „Ein paar Jahre später hat die Regierung Schröder das rück-gängig gemacht und die Schwelle wieder auf fünf gesenkt.“

„Das war wie ein Experiment“, sagt Walwei. Was pas sierte in den Unternehmen, als ein und dieselbe Regelung erst verschärft und dann wieder gemildert wurde, also einmal mehr, einmal we-niger Kündigungsschutz galt? „Es ist so gut wie nichts passiert.“

III. Felix Austria – kann man vom Nachbarn lernen?

Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt, dass mehr als 40 Prozent der Deutschen sich Sorgen um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes machen – und das, obwohl das deutsche Kündigungsschutzrecht seit Jahren nicht gelockert wurde und die Arbeitslosenquote so niedrig ist wie selten zuvor.

Wie passt das zusammen?Im Prinzip gar nicht. Die Bundesrepublik hat im Vergleich zu

anderen Ländern zwar einen stark regulierten Arbeitsmarkt und dem jüngsten Beschäftigungsausblick der OECD zufolge sogar

den strengsten Kündigungsschutz aller OECD-Länder, doch das trägt offenbar nicht dazu bei, dass sich die Deutschen subjektiv tatsächlich vor einer Entlassung sicher fühlen.

Die Angst vor einer Kündigung mag irrational sein und nicht die vergleichsweise gute Lage auf dem Arbeitsmarkt widerspie-geln, doch wenn der komplexe Arbeitsplatzschutz den Menschen hierzulande kein Gefühl von Sicherheit gibt, wäre es sinnvoll, nach Alternativen zu suchen.

Zum Beispiel beim Nachbarn Österreich. Dort wird ein in Europa einzigartiges Modell praktiziert, das den Arbeitnehmern im Fall der Trennung eine deutlich höhere finanzielle Sicherheit verschafft: die sogenannte Abfertigung, eine Art Anspruch auf Abfindung, über die der Angestellte nach seiner Entlassung ver-fügen kann, sobald er mehr als drei Jahre lang gearbeitet hat.

Ein Anspruch auf Abfindung ist dem deutschen Arbeitsrecht dagegen fremd. Es gehört zu den verbreiteten Irrtümern, dass der Arbeitgeber hierzulande verpflichtet sei, einem entlassenen Mit-arbeiter eine Abfindung zu zahlen. Die bekommt er in aller Regel nur über einen Umweg: Er muss Kündigungsschutzklage einrei-chen und vor Gericht ziehen, wo das Verfahren meist mit einem Vergleich und einer Abfindungszahlung endet. Doch selbst das passiert selten: Nur zwölf Prozent der Gekündigten verklagen hierzulande ihren Arbeitgeber.

Wer dagegen in Österreich zum ersten Mal eine Stelle antritt, erwirbt eine finanzielle Anwartschaft (die Abfertigung). Jeder Arbeitgeber ist ab dem zweiten Monat des Arbeitsverhältnisses gesetzlich verpflichtet, für seinen Mitarbeiter eine Summe in Höhe von 1,53 Prozent des Bruttomonatsgehalts an eine soge-nannte Betriebliche Vorsorgekasse abzuführen, die das Geld der Angestellten verwaltet und anlegt.

Wenn es zur Kündigung durch den Arbeitgeber kommt, tritt sozusagen der Versicherungsfall ein, und der Arbeitnehmer kann zwischen zwei Varianten wählen: Entweder er lässt sich das an-gesparte Geld auszahlen und hat so neben seinem Anspruch auf Arbeitslosengeld ein weiteres finanzielles Standbein. Oder er ent-scheidet sich, das Geld unangetastet zu lassen, um seinen An-spruch zum nächsten Job mitzunehmen und die Summe weiter anwachsen zu lassen.

Das kann er bei jedem Jobwechsel wiederholen bis zur Rente, um sich dann den angelegten Gesamtbetrag auszahlen zu lassen. In dieser Variante gleicht die Abfertigung der betrieblichen Alters-vorsorge.

Selbst wenn der Arbeitnehmer selbst kündigt oder das Ende des Arbeitsverhältnisses durch sein Verhalten selbst verschuldet, verliert er den Anspruch auf Abfertigung nicht – er kann ihn sich in diesen Fällen zwar nicht auszahlen lassen, aber er kann ihn auch dann zum nächsten Job mitnehmen.

Die Trennung verliert so ihren Schrecken. –

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _NACHFOLGER

Der lange AbschiedDer ideale Nachfolger ist gefunden. Und doch schmerzt Wolfpeter Hocke der Rückzug aus seiner PR-Agentur. Darum arbeitet er einfach weiter.

Text: Dorit Kowitz Foto: Hartmut Nägele

So schön kann Rollenwechsel sein: Agenturgründer Wolfpeter Hocke während einer

Oldtimer-Rallye durch Usbekistan und sein Nachfolger Frank Rettig (rechts)

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

Der Alte

Wenn Wolfpeter Hocke seiner Vergangenheit davonfährt, dann in einem 40 Jahre alten Mercedes 350 SL, mit 195 PS und acht Zylindern unter der Haube, einem stahlverstärkten Unterboden und einem guten Freund an der Seite. Seit fünf Wochen brettern die beiden Unternehmer a. D. die Seidenstraße entlang, als Teil-nehmer einer Oldtimer-Rallye. Hocke stieg im September in Taschkent zu Peter Kruse in den Wagen. Er löste dort den ehe-maligen Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski (siehe auch S. 132) als Co-Piloten ab. Hockes Ziel nach 8000 Kilometern ist in die-sen Tagen Schanghai.

Kein übles Entree ins Rentenalter. Andere Männer seiner Ge-neration mögen ein Lebtag von so einem Trip träumen. Hocke dagegen, Rennradler, Mountainbiker und daheim in Westfalen Fahrer eines antiken Porsche, tat das nie. Wenn er sich mal zehn Tage am Stück freigenommen habe in den vergangenen 25 Jah-ren, sagt er, sei das viel gewesen.

Aber jetzt, mit 65, hat er sich gezwungen, das lange Unvor-stellbare zu wagen: Er überlässt seine Public-Relations-Agentur Ad Hoc, die er vor einem Vierteljahrhundert in Gütersloh ge-gründet hat, seinem Nachfolger Frank Rettig. Und ist weg. In seinem Dunstkreis sind das Breaking News.

Zwar hat Hocke die Übergabe seiner Agentur zum Januar 2012 jahrelang vorausgeplant; er hat sie mithilfe von Ratgebern und Fachleuten durchdacht und sich den vermutlich bestmögli-chen Nachfolger ausgeguckt. Und doch kann Hocke schwer von ihr lassen. Darum redet er darüber. Reden hilft ihm. Und es verrät ihn, er weiß das. Er sagt über die Entscheidungen seines Nach-folgers zu oft: „Ich hätte das vielleicht etwas anders gemacht.“ Verdächtig vorsichtig sagt er auch, dieses oder jenes „war sicher die richtige Entscheidung von Frank“. Sicher?

Dabei ist nicht mal etwas schiefgegangen seit der Übergabe an Rettig. Hocke weiß auch das und sucht Erklärungen für >

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140 BRAND EINS 11/13

SCHWERPUNKT: TRENNUNG _NACHFOLGER

seine Haltung, mit blumigen Worten, denn die sind sein Metier: „Es ist wie beim Angeln. Wenn Sie einen großen Fisch an der Rute haben, geben Sie die nur ungern aus der Hand, aus Sorge, einer könnte dabei zittern und den Fisch verlieren.“

Hocke ist einer von diesen Medienfüchsen der alten Bertels-mann-Schule, die mit sonorer Stimme gern eine Geschichte zum Besten geben, aber durchaus zum Punkt kommen können, weil Zeit Geld ist und der Kunde König. Bevor er Anfang der Achtziger Sprecher bei Bertelsmann wurde, hatte er das Zeitungmachen beim »Kölner Stadtanzeiger« und »Express« gelernt. Als sein Chef das Unternehmen verließ, riet er dem damals knapp 40-jährigen Hocke, nicht abzuwarten, was mit ihm geschähe, sondern sich als PR-Berater selbstständig zu machen.

Der Plan ging auf. Und wie. In ihren fetten Jahren, den Neun-zigern, fuhr die Agentur Renditen von 30 Prozent und mehr ein. Mittelständler und Konzerne aus dem Technik- und dem Logis-tik-Markt sowie der Autoindustrie waren Hockes Kunden ge-worden. Bald hatte er zwei, dann sechs, schließlich zehn Mitar-beiter, „alles Journalisten, darauf lege ich Wert“. Die Abnehmer ihrer Themen waren und sind die Fachmagazine und Wirtschafts-blätter der Republik.

Das gute alte Geschäft warf viel Geld ab, aber man weiß nicht, ob und wie lange es noch so weitergeht. Von Ad Hoc gibt es Zeitungsbeilagen, Jahrbücher und Firmenkundenzeitschriften; sie machen Öffentlichkeitsarbeit, Web-Auftritte und Marketing-konzepte. Hockes Mantra war: „Die Journalisten sind unsere wichtigsten Kunden.“ Hockes Masche: Geschichten anbieten, statt glatt gebügelte Meldungen über Quartalszahlen oder hoch-glänzende Pressemappen.

Er pflegt seine Kontakte in die Redaktionen und Wirtschafts-eliten. Peter Kruse zum Beispiel, der Mann neben ihm im Mer-cedes, war mal im Vorstand der Deutschen Post. „Kommunika-tion“, sagt Hocke, „ist mein Leben. Ich habe keine Hobbys, von Oldtimern mal abgesehen.“ Damit ist klar, warum er nicht ohne Weiteres aus der Firma verschwinden kann: Es würde ihn, sozu-sagen, das Leben kosten.

Der Neue

Frank Rettig fährt Kleinbus statt Porsche. Er hat wie Hocke als Journalist für Zeitungen angefangen und versteht auch einiges von Technik, aber sonst ist ziemlich viel an ihm anders. So scheint es zunächst. Rettig, Jahrgang 1969, hätte als ehemaliger Lokalre-porter, Ringer und Katholik aus Sachsen-Anhalt das Zeug zu ei-ner Figur aus einem John-Irving-Roman, spräche er nicht den etwas überhastet wirkenden, monotonen Dialekt seiner Heimat, der Altmark. Der klingt noch nicht nach Berlin und schon nicht mehr nach Anhalt, aber immer, als ob es da einer eilig hat.

Doch der Eindruck täuscht. Rettig ist, anders als Hocke, geduldig. Dafür plaudert er nicht so gern, er kommt lieber zur Sa-

che. Es käme ihm nicht in den Sinn, mitten aus dem Gespräch mit einem Journalisten heraus einen seiner Mitarbeiter per Telefonat anzuweisen, er möge mal dieses Papier und jene Zahlen heraus-fischen und dafür die Arbeit, an der er gerade sitzt, liegen lassen. So etwas hat Hocke gern mal gemacht, was Rettig weiß, weil er einige Jahre lang sein Mitarbeiter war, von 2001 bis 2006.

Er leitete den Bereich Auto, Technik, Medien, und das erfolg-reich; in diesem Punkt sind sich der Alte und der Neue einig. Nach fünf Jahren fragte er Hocke deshalb, ob er nicht Geschäfts-führer werden könne. An den ungefähren Ablauf der Gespräche erinnern sich beide Männer unterschiedlich:

Hocke sagt: „Ich war von der Idee damals nicht so begeistert. Dann hätte in Zukunft jeder Bereichsleiter dasselbe fordern kön-nen. Ich wusste nicht, wie sich das Geschäftsfeld entwickelt. Am Ende hätten wir neue Kosten gehabt, aber womöglich nicht die nötigen Renditen.“

Rettig sagt: „Ich habe ihm damals eine Partnerschaft vorge-schlagen. Wolfpeter hatte ja schon kommuniziert, dass er sich über seine Nachfolge Gedanken macht. Ich wäre mit ins Risiko gegangen.“

Ein stiller Beobachter des Generationswechsels

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Es sind Nuancen, Nebensätze, Nichtigkeiten scheinbar, die ein Gegenüber anders wahrnimmt und erinnert. Wenn sie sich häufen, können aus Kleinigkeiten Missverständnisse werden und schließlich Ärger. Das hätte Rettig und Hocke passieren können. Tat es aber nicht. Noch nicht.

Rettig, 37 damals, verließ Ad Hoc 2006 ohne Zorn, um sich selbstständig zu machen mit seiner Frau, die auch PR-Redakteurin ist und bei einer Bertelsmann-Firma gearbeitet hatte. Sie passten ihre Arbeit ihrer Lebenssituation an. Denn statt der zwei Kinder, mit denen sie um die Jahrtausendwende aus Salzwedel nach Gü-tersloh gezogen waren, hatten sie jetzt vier. Ein neues Haus war gekauft. Rettig nahm von Ad Hoc einen großen Kunden aus der Logistik-Branche mit. Hocke ließ ihn ziehen. Er sagt, angeblich frei nach Karl V.: „Wer nicht gibt, vergibt viel.“ Aus den Augen verloren sich die beiden nicht, weil das in Gütersloh unmöglich ist und sie sich zudem gegenseitig bei Aufträgen halfen.

Trotzdem kam Hocke nicht sofort auf Rettig, als er bald da-rauf begann, nach einem Nachfolger zu fahnden.

Die Suche

Eine Lösung in der Familie brauchte Hocke nicht zu suchen. Sein einziger Sohn ist in Brasilien bei Hockes erster Frau aufgewach-sen und dort Ingenieur geworden. Er sah sich darum in seiner Wahlfamilie um, der Agentur. Als Erstes gewann er eine Kollegin, die bereit war, Kinder und Karrieresprung zu vereinbaren. Hocke übertrug ihr Teile der Geschäftsführung, trotz ihrer reduzierten Arbeitszeit. Ein Verkauf von Anteilen war nicht im Gespräch.

Aber leider – so schildert es Hocke, der Workaholic – sei die Frau, die er ausgesucht habe, überfordert gewesen mit dem Management von Beruf und Familie, „rein zeitlich“.

Als Nächstes guckte er sich einen jungen Juristen aus. Man kannte sich von einem Logistik-Projekt, das die Agentur für die Bundesregierung gestemmt hatte. Aber der Kandidat hatte Angst vor der eigenen Courage; außerdem störte er sich am Standort. „Für viele ist Gütersloh keine Destination“, sagt Ho-cke unsentimental, „in der Branche muss es Hamburg, Berlin oder Köln sein.“

Der Unternehmer aber war nun 63. Er wurde unruhig. Wie dann im Jahr 2011 plötzlich seine Wahl auf Rettig fiel, ist wieder eine schöne Geschichte: Er sei auf seiner jährlichen Rennradtour mit einem Freund, einem Arzt, gewesen, erzählt er. Sie fuhren das Main-Ufer entlang. Den ganzen Abend zuvor habe er dem Sports-freund in den Ohren gelegen mit seinen Sorgen. Aber dann, 40 Kilometer vor Würzburg, „die Sonne schien herrlich“, sei ihm der Gedankenblitz gekommen.

Hocke sagt: „Ich rief ,Mensch, ich hab’s!‘ Ich hab’ da einen super Mann! Ich frage den Frank Rettig.“

Rettig sagt: „Kann gut sein, dass Wolfpeter genau dort die Eingebung hatte. Es war aber wohl auch so, dass ihn in den

Wochen davor Mitarbeiter an mich erinnert hatten. Weil ich ja schon einmal einsteigen wollte.“

Passte nicht alles wunderbar? Rettigs Berufserfahrung, die Kenntnis der Firma, die Bereitschaft zum Unternehmertum, „die Bodenständigkeit durch seine Familie, die Bindung an die Schol-le“ Gütersloh, wie Hocke das nennt?

Der Alte lud den Jungen sofort zum Essen ein. Zum Rotwein in einem angesagten Restaurant kredenzte er seinen Vorschlag. Rettig sagt: „Mir fiel jetzt nicht die Gabel aus der Hand. Aber etwas überrascht war ich schon.“ Er bat sich zwei Wochen Be-denkzeit aus.

Als am siebten Tag noch immer kein Anruf kam, wurde Ho-cke nervös. Nach neun Tagen war er dicht davor zu drängeln. „Aber ich habe es mir verboten! Dieses eine Mal wollte ich mich in Geduld üben.“

Am zehnten Tag rief Rettig zurück und sagte Ja – unter Bedingungen: Er wollte von Beginn an die einfache Mehrheit der Firmenanteile haben und der alleinige geschäftsführende Gesellschafter sein. „Es war auch eine Probe. Will er wirklich verkaufen? Oder ist ihm die Kröte noch zu groß, die er da schlu-cken muss?“

Hocke zuckte nicht zurück. Er hatte schon vor Jahren etwas Weises getan: Er hatte einen Beirat für seine Agentur installiert, ein kleines Aufsichtsgremium. Ehrenamtlich beraten ihn da unter anderen ein Jurist, eine Controllerin und der Chefredakteur des privaten Senders „Radio Gütersloh“, Carsten Schoßmeier. Der 48-Jährige arbeitet außerdem als Business Coach. Sie alle hatten Hocke dringend von seiner ersten Eingebung abgeraten, einem Nachfolger erst mal nur 25 Prozent zu verkaufen. „Bloß nicht!“, hätte jeder Kandidat gerufen.

Hocke, der Fakten liebt, erfuhr: Firmenverkäufe, bei denen die Befugnisse sofort eindeutig auf neue Eigentümer übergehen, ver-liefen deutlich erfolgreicher als jene, bei denen die Altvorderen nur scheibchenweise Macht und Anteile abgeben.

Die Verhandlung

Den Wert einer PR-Agentur kann man nicht taxieren wie den einer Zahnarztpraxis oder einer Maschinenfabrik. „Man verkauft und kauft in unserer Branche Vertrauen“, sagt Hocke. Er ver-traute: Den Vertrag ließ er die Anwälte und den Beirat aushan-deln. „Ich wollte nicht um Details feilschen und mich im Klein-Klein verbeißen. Das wäre mir nicht gut bekommen.“ Gerührt zeigt er sich davon, wie sich sein Nachfolger um seine Rente kümmert. Hocke hatte jahrelang Geld in eine Altersvorsorge gesteckt, die aber jetzt, als es darauf ankam, nicht den prognos-tizierten Ertrag abwarf. Frank Rettig legte das Geld für Hocke nicht nur neu an. Er verpflichtete die GmbH außerdem, den Fehlbetrag in der Pensionszahlung auszugleichen – und noch etwas oben draufzulegen. >

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Rettig kaufte zum Januar vergangenen Jahres 51 Prozent der Anteile. Der Übergang der anderen 49 Prozent auf ihn im kom-menden Jahr ist besiegelt. Manchmal offenbart sich, dass der Alte das noch nicht verinnerlicht hat. Neulich berieten sie über eines ihrer Geschäftsfelder, das Corporate Publishing. Rettig hat dafür der Konkurrenz in Gütersloh einen guten Mann abspenstig ge-macht und ihn in die Geschäftsführung aufgenommen. Hocke dachte laut darüber nach, ob man diesem Experten nicht eine Beteiligung in Aussicht stellen könnte? Da musste der neue Inha-ber ihn daran erinnern: „Wolfpeter, du kannst ihm keine Anteile mehr anbieten, weil du sie schon mir verkauft hast.“

Der Wechsel

Eigentlich stimmte alles, vieles jedenfalls. Die Verträge. Die Auf-träge. Das Geld. Und doch kamen die Zweifel, das Zaudern, dieses Ziepen in der Seele. Trennungsschmerz. Der meldete sich erstmals am 2. Januar 2012, dem ersten Arbeitstag im neuen Geschäftsjahr – dem ersten Montag seit 25 Jahren, an dem Ho-cke nicht mehr der Chef war.

„Früher stand ich um sieben auf, frühstückte und ging sofort ins Büro. Das brauchte ich plötzlich nicht mehr zu tun. Es war seltsam, ein echter Einschnitt.“ Er übte sich darin, erst um 7.30 Uhr aufzustehen, was ihm irgendwann gelang. Aus seiner Fünf- bis Sechstagewoche zwischen Hamburg, München, Köln und Gütersloh von früher ist jetzt eine Dreieinhalbtagewoche gewor-den. Denn im Ruhestand befindet sich Hocke nicht. Niemand hat ihm sein Leben genommen. Er arbeitet immer noch, nur jetzt auf Honorarbasis.

Hocke sagt: „Ich mache das eben weiter, solange meine Birne noch leuchtet.“

Rettig sagt: „Wir tun ihm keinen Gefallen. Wir brauchen ihn.“Schwerer tat sich der Gründer der Agentur mit Veränderun-

gen, die er erst mitbekam, als sie schon beschlossene Sache waren. Wie die Sache mit den neuen Büros. Frank Rettig hat sie gleich um die Ecke angemietet. Sie sind moderner, bieten viel mehr Licht und Platz, kosten pro Quadratmeter aber weniger und darum in der Summe nicht viel mehr als die alten. Hocke sagt darüber einen seiner Sicher-Sätze: „Die Räume sind wunder-schön, das hat Frank sicher richtig gemacht.“ Doch mit umgezo-gen ist er nicht mehr.

Und dann die Sache mit dem Großauftrag, der in den ersten Monaten nach der Übergabe unerwartet storniert wurde. Hocke machte sich Sorgen um die Einnahmenseite, er fragte sich: Schafft es Frank, genügend neue Kunden zu akquirieren? Ist er, was man Hocke zufolge sein muss in dieser Branche: „ein Mammutjäger“?

Der Neue ist jedenfalls nicht um Entscheidungen verlegen. Er trennte sich beherzt von einer Assistentin, stellte dafür einen Fachmann für digitale Kommunikation ein. Und einen angehen-den Bürokaufmann als Sekretär. Der junge Mann wirkt schüch-

tern und trägt einen stattlichen Ohrring. „Das geht gar nicht!“, ruft Hocke. Ans Telefon, das Herz der Agentur, sagt Hocke, ge-höre eine Frau mit charmanter Stimme, die dem Kunden schnell weiterhelfe. Rettig beschwichtigt: Das wird er lernen, jeder fängt mal an. Und der Ohrring? Der junge Kollege sei doch nicht im Außendienst, keine Sorge.

Redebedarf

Hocke sagt: „Ich hätte mir gewünscht, dass Frank vorher auch mal fragt, wie seht ihr das? Dass er sich mehr Rat holt, nicht nur von mir. Ich habe das immer so gemacht.“

Rettig sagt: „Sicher habe ich einige Entscheidungen bewusst allein getroffen. Ich wollte Akzente setzen. Es war ein Signal an die Mitarbeiter und nach außen, dass sich wirklich ein Führungs-wechsel vollzogen hat.“

Mitunter begegneten sich Hocke und Rettig über ein oder zwei Wochen lang gar nicht. Rettig gibt zu: „Ich wollte ihm nicht aus dem Weg gehen, aber ihn manchmal umgehen.“ Anderen fiel das zunächst nicht auf. Im April gab es eine große, schöne Party anlässlich des 65. Geburtstags von Wolfpeter Hocke. Alte Weg-gefährten und wichtige Kunden kamen.

Rettig sagt: „Deine Verabschiedung.“Hocke sagt: „Wir haben sie extra nicht Verabschiedung ge-

nannt. Sondern ,meine Befreiung von operativen Zwängen‘.“Aber bei der nächsten Sitzung des Beirates, als Hocke eigent-

lich dessen Vorsitzender werden sollte, traten die Ausmaße des Informationsdefizits zutage. Der Kandidat erkannte: „Da kann ich mich nicht wählen lassen.“ Sein Weggefährte Carsten Schoß-meier, der Radio-Mann und Business Coach, sprang ein. Im Krisenmanagement geschult, erkannte er sofort, was los war: Bei Ad Hoc, den Kommunikations-Profis, herrschte Redebedarf. Er bot an zu vermitteln.

Kleinigkeiten und Missverständnisse hatten sich angesammelt und drohten zu Ärgernissen zu werden. Das sei typisch für Tren-nungsprozesse, sagt Schoßmeier, „eigentlich geschieht es zwangs-läufig“. Eine Firma abzugeben habe ja etwas Endgültiges, ähnlich dem Moment, wenn Kinder das Haus verlassen und Eltern wie-der allein wohnen. „Da beginnt die Abnabelung, und die hat mit Trotz zu tun und mit Trauer.“

In den zwei, drei Gesprächen, die der Coach mit Hocke und Rettig seither führte, haben sie ein paar Regeln festgelegt, die dadurch besonderes Gewicht bekamen, dass beide sie sich wie Gebote aufschreiben mussten. Ein Gebot lautet: Der alte und der neue Chef treffen sich jetzt alle zwei Wochen zum Jour fixe. Und reden über Projekte, Pläne, auch Privates. Das ließ Hocke beherzt aufbrechen zu seinem Abenteuer durch Usbekistan, immer die Seidenstraße entlang. 8000 Kilometer, fünf Wochen. Der Start in sein neues Leben? Eher eine Etappe auf seiner schwierigen Reise dorthin. Rasend lernt Hocke loszulassen. –

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG _FAMILIE

• Es war schon lange alles klar. Sie musste sich nur noch über-winden. „Hier möchte ich leben“, sagte sie. Ihr Mann sagte: „Ich nicht.“ Er ging ganz dicht neben ihr. Aber nie schien er ihr so weit weg wie an diesem Oktobertag 2010 in Schottland.

Zweimal war Gabriele Mäule, heute 51, schon ohne ihn hier gewesen. In Edinburgh, „meiner Stadt“. Diesmal sollte er endlich mit. Doch Werner konnte mit den Schotten nichts anfangen. Mit dem Essen nicht. Mit der Stadt nicht. Den Rest des Urlaubs ver-brachten Gabriele und Werner Mäule schweigend. Es gab nicht viel zu sagen. Sie hatte sich entschieden.

Ihr altes Leben war kein schlechtes. Rimbach im Odenwald, Fachwerkhäuser mit Giebeldächern und Geranien vor dem Bal-

kon. Mäules gingen nicht oft aus, sahen lieber die „Sportschau“ oder den „Tatort“. Man traf sich im Tischtennis- oder Reitverein. Manchmal ging Werner mit ihr und den beiden Töchtern in die „Krumm Stubb“. Dann bestellten die Frauen den Salat „Krumm Stubb“, und er aß Steak vom heißen Stein. Vielleicht, denkt Ga briele Mäule, hätte sie einmal etwas anderes bestellen sollen.

Sie hätte etwas merken müssen, damals, als sie von Berlin nach Rimbach zog, Werners Heimat. Der Schwiegervater, ein Taubenzüchter, war streng, zeigte ihr, dass er sich für seinen Sohn eine bessere Frau vorgestellt hatte. Nur wenn er die Tauben flie-gen ließ, war er sanft, sagt sie. Dann wich diese Strenge aus sei-nem Gesicht. Und als sie Werners Motorrad, das seit Jahren

„Werner, ich gehe, kommst du mit?“

Warum Gabriele Mäule beschloss, ihr altes Leben hinter sich zu lassen.

Text: Barbara Opitz Foto: Olivier Hess

In der neuen Heimat: Gabriele Mäule vor dem Schloss in Edinburgh

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

ungenutzt in der Garage stand, reparieren ließ, den Führerschein dafür machte und immer sonntags, wenn er zu seinen Tischten-nisturnieren fuhr, sich in die Kurven der Odenwaldstraßen legte, verstand das niemand. Warum fuhr sie nicht mit zu den Turnie-ren, wie die anderen Frauen auch? Irgendwann ging das Motor-rad kaputt. Sie ließ es gut sein. Da waren die Kinder. Und sie hatte ja noch die Pferde.

Sie hatte ihr altes Leben nicht geplant, es hatte sich einfach entwickelt. Gabriele Mäule war 18, als sie Werner, einen angehen-den Lehrer, kennenlernte. Sie redeten die halbe Nacht. „Dabei ist Reden gar nicht seine Stärke.“ Sein Vater hatte in Rimbach ein Café am Marktplatz. Das Paar zog direkt darüber ein. Im zweiten Stock wohnten die Schwiegereltern. 2000 dann das Haus am Waldrand. „Wie man das so macht“, sagt sie, wie man halt so lebt im Odenwald. „Man guckt bis zum nächsten Berg, weiter nicht.“

Die Schotten sind anders, rau, vielleicht ein wenig laut und spröde. Aber offen. Ehrlich. Auch Gabriele Mäule ist spröde. Mehr der burschikose Typ. Nicht sehr weiblich. Dafür ehrlich. Verdammt ehrlich. Zu ehrlich für die Rimbacher. „Ich habe mich nie so lebendig gefühlt wie in den letzten beiden Jahren.“

Werner hatte sie nicht ernst genommen. Nach dem Urlaub wartete sie noch ab. Weihnachten, Silvester, der Familie wegen. Anfang Januar las sie in einem Auswanderer-Forum, dass sie, um in Schottland in ihrem Beruf als Krankenschwester zu arbeiten, eine Zulassungsnummer brauchte. Mitte Januar stellte sie den Antrag. Ende Januar dann sagte sie: „Werner, ich gehe, kommst du mit?“ Er nahm sie immer noch nicht ernst. Die jüngere Toch-ter, Kristin, war 19. Sie sagte nicht viel. Sie sagte danach generell nicht mehr viel, genau wie Werner Mäule. Nur die ältere sprang auf, schrie: „Du machst die Familie kaputt – ich hasse dich.“ Die-ser Satz tat weh.

Gabriele Mäule war 49 Jahre alt. Zu alt, dachte sie, um zu warten, bis die Kinder aus dem Haus wären. „Manchmal muss man Dinge tun, weil man weiß, sonst geht man kaputt“, sagt sie nüchtern. „Gefühle sind da wenig hilfreich.“

Sie belegte einen Englisch-Kurs, im März verkaufte sie das Motorrad, im April das Pferd. Das war der Moment, als ihr Mann anfing, sie ernst zu nehmen. „Ich weiß nicht. Hätte er gekämpft, vielleicht“, sagt sie. Aber er schwieg. Im Juni verpfändete sie den Ehering. „Heftig“, sagt sie. „Aber anders ging es vom Kopf her nicht.“ 80 Euro bekam sie dafür. Im September kam das Schrei-ben, sie werde als Krankenschwester in Schottland anerkannt.

Am 18. Oktober, ein Jahr nachdem sie mit ihrem Mann in Edinburgh gewesen war, stieg sie frühmorgens in ihr Auto. Der Rest von ihrem alten Leben lag in zwei Koffern verpackt im Kof-ferraum. Kleidung und ein Radio mit Weckfunktion, mehr nicht. Die Kinder waren aufgestanden, blieben aber im Haus. Werner Mäule kam noch mit nach draußen. „Tschüss“, sagte er. Irgend-wie unbeholfen. „Tschüss“, sagte sie und fuhr. Weiter und weiter. Nach einer Stunde hielt sie an einer Raststätte und schlief. Als

müsste sie all die Nächte, in denen sie wach lag, auf der Stelle nachholen.

Es hat wehgetan. Am nächsten Tag aber war der Schmerz mit jedem Kilometer einem Gefühl gewichen, mit dem sie auch heu-te noch jeden Tag aufwacht: Erleichterung.

Klar hatte sie es sich leichter vorgestellt, das Auswandern. Sie hatte sich 20 000 Euro von ihrer Mutter geliehen. In den ersten Wochen fuhr sie von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten. Aber ihr Englisch war miserabel, vor allem fehlte die „UK-Expe-rience“, Erfahrung in Großbritannien also, nach der jedes Mal gefragt wurde. Irgendwann klappte es doch. Ausgerechnet an ihrem 50. Geburtstag.

Welch ein Glücksgefühl. Da war so eine Zufriedenheit, diese Ruhe. Sie war endlich angekommen. Am Abend saß sie am Fens-ter, vor ihrem Laptop. Karina und Kristin hatten tatsächlich an-gerufen, über Skype, um zu gratulieren. Auch wenn die Töchter wütend auf sie waren. Sie sprachen noch mit ihr.

Dann der Anruf aus Berlin. „Dein Vater liegt im Sterben.“ Gabriele Mäule kündigte, fuhr zu ihrer Mutter, blieb einige Wo-chen, bis alles geregelt war. Sie hatte ihre Mutter gefragt, ob sie bleiben soll. „Geh zurück“, hatte die gesagt, „hier wirst du nicht mehr glücklich.“

Wieder Vorstellungsgespräche in Schottland, wieder diese verdammte UK-Experience. Vielleicht sollte sie erst nach Eng-land gehen. Nur für ein Jahr. Gesagt, getan. Easington, eine ehe-malige Zechen-Stadt, Leerstand, Arbeitslosigkeit. Sie hauste einen Winter ohne Heizung. Die englischen Kollegen waren nett, sie lernte einen Mann kennen. Einmal die Woche kochten sie zusam-men. Irgendwann sagte er: „I’m falling in love with you.“ Aber sie musste gehen. Zu viel hatte sie für Schottland aufgegeben. Sie wollte ihr Leben nicht mehr nur geschehen lassen, nicht nur „die Frau vom Mäule“ sein. Auch nicht die Frau von irgendwem. Sie wollte selbst bestimmen.

Seit einigen Wochen hat sie endlich den Job in Schottland, als Agency-Nurse. Sie hat eine kleine Wohnung am Meer, möbliert, mit Bett und Ledercouch, Kamin. 20 Minuten vom Zentrum von Edinburgh entfernt. Jeden Morgen läuft sie zum Fenster, blickt auf das Meer, spürt Glück. Ganz vorsichtig hat die Große, Kari-na, begonnen, den Kontakt zu ihr wiederherzustellen. Vielleicht würde sie hier studieren? Wer weiß.

Jeden Abend verfolgt Gabriele Mäule auf Facebook das Leben ihrer Töchter. Im Sommer hat Kristin, die jüngere, ein Foto von sich gepostet, in einem weißen Cocktailkleid, mit Vater Werner eng umschlungen. Abi-Ball. Immer wieder sieht sie sich das Bild an, und jedes Mal gibt es ihr einen Stich. „Wie hübsch sie ist.“

Aber Gabriele Mäule gehört nicht mehr dorthin, nach Rim-bach. Karina hat an diesem Abend noch ein Foto gemailt, auf dem Kristin in die Kamera strahlt und ihr eine Kusshand zuwirft. Sie schrieb: „Für Dich Mama!“ –

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• Am letzten Abend des Jahres 2012 kam es in der Hamburger Penthouse-Wohnung von Rafael und Sylvie van der Vaart zu einem Fall häuslicher Gewalt. Das niederländische Ehepaar gab eine Silvester-Party, an deren Ende er seine Frau vor den Augen der Gäste schubste und schlug, bis sie „mit einem lauten Rums“ zu Boden ging. Rafael van der Vaart gab den Vorfall zu und be-zeichnete sich selbst als „Idiot“.

Das weiß man so genau, weil »Bild« darüber berichtete. Er-staunlicherweise konnte das Blatt schon 24 Stunden nach dem Vorfall Details und Statements der beiden veröffentlichen, die so staatsmännisch klangen, als habe sie ein PR-Berater verfasst.

Der Fußballprofi Rafael van der Vaart (HSV, 30) sagte »Bild«: „Ich bin unendlich traurig, dass es mit uns nicht geklappt hat. Wir sind die Schuldigen. Allein Sylvie und ich haben es zu verantwor-ten, dass unsere Ehe nicht funktioniert.“

Die Fernsehmoderatorin Sylvie van der Vaart (RTL, 35) sagte: „Wir haben uns leider im Laufe der Zeit auseinandergelebt. Es war ein schleichender Prozess, der einfach nicht aufzuhalten war.“

Und selbstverständlich fügten sie die Standardfloskeln für sol-che Fälle hinzu. Sie sagte, trotz der Schläge: „Auch wenn es sich merkwürdig anhört, aber wir lieben und respektieren uns.“ Er dagegen übernahm die Rolle des fürsorglichen Vaters: „Damian soll nicht zu sehr unter der Trennung der Eltern leiden. Dafür werden wir uns einsetzen.“

Auf den ersten Blick sah das alles ziemlich einstudiert aus, was es vermutlich auch war. Denn in diesen Kreisen trennt man sich nicht einfach so, sondern business-optimiert. Schließlich geht es um viel Geld. Rafael van der Vaarts Marktwert als Fußballprofi wurde von der Expertenplattform Transfermarkt.de zum Zeit-punkt der Trennung auf 15 Millionen Euro geschätzt. Für Mode-ratorinnen gibt es keine entsprechenden Daten. Aber auch Sylvie van der Vaarts Marktwert dürfte im Millionenbereich liegen. Sie

moderiert, war neben Dieter Bohlen Jury-Mitglied beim „Super-talent“ auf RTL und modelt. Allein für das Cover auf dem Otto-Katalog soll sie eine Million Euro erhalten haben. Solche Ver-dienstmöglichkeiten riskiert man nicht für ein unbedachtes Beziehungsende. Bei geschickter Krisen-PR kann man ganz im Gegenteil seinen Marktwert trotz Trennung noch steigern.

Im Fall van der Vaart ist das nahezu optimal gelungen. Es war vermutlich der einträglichste Abschied der jüngsten Zeit. Natür-lich hätten die beiden nach sieben Jahren Ehe diskret auseinander-gehen können. Rafael hätte das wahrscheinlich gefallen. Er ist in einer Wohnwagensiedlung aufgewachsen und wollte immer nur Fußball spielen, sonst nichts. Aber seine Frau Sylvie ist ehrgeizig. Sie vermarktet alles, was sich vermarkten lässt: ihre Hochzeit, ihre Urlaubsreisen, ihre Dessous, ihre Krebserkrankung und so-gar die Herzprobleme ihres Sohnes Damian. Sie hat erkannt, dass für Prominente nicht Leistung, sondern Aufmerksamkeit zählt. Und sie hat es, obwohl sie noch nicht einmal fehlerfrei vom Teleprompter ablesen kann, bis zur Co-Moderatorin der RTL-Show „Let’s Dance“ gebracht. Zum Zeitpunkt der Trennung stand eine neue Staffel des Tanzspek-takels bevor – da konnte ein Skan-dälchen nicht scha-den.

Ende gut, alles gutWenn normale Menschen sich trennen, wird das teuer. Bei Prominenten ist es ein Geschäft.

Ein Lehrstück über Rafael und Sylvie van der Vaart.

Text: Michael Kneissler

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Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht von einem Beispiel „für die Totalvermarktung von Extremereig-nissen im Leben Prominenter. Geburt, Gewalt, Trennung und Tod – alles ist nur noch Brennstoff für den Motor der Aufmerk-samkeitsindustrie.“ Eine besonders effiziente Technik, um Auf-merksamkeit zu erregen, sei die Selbstskandalisierung, die die van der Vaarts in der Silvesternacht mit Schubsen und Hauen in Szene setzten.

„Allerdings“, sagt Pörksen, „kann das außer Kontrolle gera-ten, und am Schluss bleiben die Beteiligten als finstere Unsympa-then übrig.“ Die Kunst sei es, „eine echte Normverletzung zu inszenieren, die dem Publikum skandalös erscheint, gleichzeitig aber Werbepartnern und Sponsoren zu signalisieren: Alles halb so schlimm, war doch nur gespielt.“

Diesen Spagat haben die van der Vaarts prima hinbekommen. Nach dem geradezu maßgeschneiderten Prügelauf-takt zogen sie sich, beraten von dem gemeinsamen Anwalt Robert Geerlings in Amsterdam, erst einmal zurück und überließen die Schmutzarbeit anderen.

Zunächst outete sich eine gewisse Sabia Boulahrouz als neue Geliebte des Fußballspielers. Besser hätte es gar nicht kommen können, denn bis zu ihrem Outing galt die dunkelhaarige Frau als beste Freundin von Sylvie. Nun wechselte sie die Fronten, verriet die Gefährtin und schnappte sich deren Mann. Blond gegen Dunkel, Schwarz gegen Weiß, Ehefrau gegen Ehebre-cherin. Damit auch wirklich jeder kapierte, wer in diesem Spiel

die Rolle der Guten und wer die Rolle der Bösen hatte, trug Sylvie van der Vaart demonstrativ ein T-Shirt mit der Aufschrift

„Bitch“. »Bild« klärte unverzüglich auf, für wen das B-Wort stehe: selbstverständlich für die dunkle Nebenbuhlerin.

Und so ging es weiter: Mütter, Schwestern und ent-täuschte Ex-Lover packten aus. Ein bizarres Sittenge-

Die prominentesten Trennungen 2013

Richard Gere und Carey LowellClint und Dina EastwoodMichael Douglas und Catherine Zeta-JonesGeorge Clooney und Stacy KeiblerNicole Scherzinger und Lewis HamiltonNaomi Campbell und Vladimir DoroninKaty Perry und John MayerJustin Bieber und Selena GomezBritney Spears und Jason Trawick

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mälde aus Seitensprüngen, gehörnten Ehemännern, geilen Tänzern, betrogenen Frauen, Sex und Verrat

wurde sichtbar. Allerdings fiel es so komplex aus, dass schließlich keiner mehr genau wusste, wer wann wen mit

wem betrogen hatte und warum. Aber vielleicht war das ja der Sinn der Sache: Alle Konturen verschwam-men im Strudel der veröf-fentlichten Banalitäten und Eskapaden. Schließlich wa-ren Täter und Opfer kaum noch voneinander zu unter-scheiden.

Inzwischen war das Ni-veau der Trennungsveranstaltung so tief gesunken, dass selbst der völlig unbeteiligte Boris Becker eine Chance witterte, mal wieder groß rauszukommen, dieses mal als Beziehungsberater. Ungebeten twit-terte er: „Liebe Van Der Vaarts, ich habe euch bei-de sehr gerne! Bitte keine schnelle Scheidung, viel-leicht gehts in 6 Monaten wieder …“ Und zuletzt

bekam auch noch ein Zwischendurch-Lover aus Paris seine 15 Minuten Ruhm (und vermutlich eine als Honorar getarnte Schmutzzulage). Er plauderte nicht nur intime Details der kurzen Liaison mit Sylvie van der Vaart aus, sondern will jetzt sogar ein Buch darüber schreiben.

So hatten letztendlich alle etwas von der Trennung: • Rafael van der Vaart konnte seinen Marktwert zunächst hal-

ten, erst in den vergangenen Monaten sank er auf 13 Millio-nen Euro ab. Aber das hatte mehr mit der schlechten Leis-tung seines Vereins zu tun als mit der Trennung.

• Sylvie van der Vaart ist endlich vom C- zum B-Promi aufge-stiegen und jetzt in Deutschland mit ihrem niederländischen Akzent eine Marke, wie Frau Antje, die Werbefigur des nie-derländischen Molkereiverbandes, oder früher Rudi Carrell.

• Sabia Boulahrouz spielte zwar die unappetitliche Doppelrolle der Ehebrecherin und Verräterin, aber immerhin kennt man jetzt auch ihren Namen. Vielleicht reicht es für einen Aufent-halt im Big-Brother-Container oder einen Auftritt auf RTL II. Falls nicht, auch nicht so schlimm: Den auf 20 Millionen Euro Vermögen geschätzten Rafael van der Vaart hat sie ja schon abgegriffen.

• Schwestern, Mütter, falsche Freunde und echte Liebhaber (und sogar einmal die Ex-Freundin eines Liebhabers) ver-markteten sich selbst.

• Anwälte und PR-Berater konnten ansehnliche Rechnungen stellen.

• Dutzende von Journalisten verdienten an der Trennungsstory, Fernsehanstalten und Zeitungen sowie Zeitschriften machten

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SCHWERPUNKT: TRENNUNG

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Quote und Auflage (indirekt profitieren auch brand eins und der Autor dieser Geschichte).Der volkswirtschaftliche Effekt durch die Van-der-Vaart-Saga

beträgt schätzungsweise mehr als 100 Millionen Euro. Genau beziffern lässt er sich nicht. „Das ist symptomatisch für diese Art der Berichterstattung“, sagt Bernhard Pörksen. „Auf der Hinter-bühne der öffentlichen Inszenierung wird eine Art Pakt geschlos-sen, der Exklusivinterviews, Interpretationshoheit, Kommunika-tionsstrategien und Sponsoreninteressen umfasst.“

Der Medienwissenschaftler hält Storys wie die über die van der Vaarts für „einen kollektiven Publikumsbetrug“. Die Tren-nung mag ja noch echt sein, die Inszenierung ist es nicht. „Dass Reise- und Autojournalismus strukturell korrupt sind“, sagt Pörk-sen, „das weiß man mittlerweile. Wie korrupt aber der People-Journalismus ist, das können wir nur ahnen. Mächtige Medien und mächtige Prominente versuchen, jeden Einblick in Zahlungs-flüsse und Einflussnahmen zu verhindern.“

Glück ist schön, der Skandal ist besser

Das Geschäft mit den Promis funktioniert, weil das Publikum die-se Geschichten liebt. Bereits in der Steinzeit war Klatsch das Lieb-lingsthema am Lagerfeuer, und am größten war das Interesse an Storys über Häuptlinge und deren Frauen. Wenn man ihr Verhal-ten analysierte, so die Hoffnung der Zuhörer, könne man wo-möglich davon lernen und seine Karriere- und Überlebenschan-cen verbessern. Später übernahmen Götter und Adelige diese Rollen, heute sind es die Prominenten. Sie bieten allerdings wenig Erkenntnisgewinn, stattdessen Banalitäten und Skandälchen.

Die Medienforscherinnen Kerstin Fröhlich, Helena Johansson und Gabriele Siegert von der Universität Zürich halten das für ein äußerst erfolgreiches Geschäftsmodell: „Bei dem Zusammenspiel von Prominenten und Medien handelt es sich um ein symbioti-sches Arrangement zur Schaffung von Aufmerksamkeit: Die pro-minenten Personen nutzen die Medien, um Aufmerksamkeit für ihr Angebot – die eigene Persönlichkeit – zu generieren, und die Medien nutzen die Prominenten, um Aufmerksamkeit für ihre Angebote – Sendungen, Zeitschriften und Tonträger – zu schaf-fen. Dieser Handel ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf und eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.“

Die Figuren in diesem Schauspiel sind austauschbar. Die For-scherinnen beschreiben ihren Lebenszyklus wie den eines Pro-duktes: vom Rising Star über die Cash Cow bis zum Poor Dog.

Im Moment stehen die van der Vaarts durch die gut orches-trierte Trennung auf dem Höhepunkt ihrer Medienkarriere. Es ist eindeutig die Phase der Cash Cow. Aber wenn die Wissenschaft-lerinnen recht haben, ist es nicht mehr weit bis zum Absturz in die Poor-Dog-Zone. Und dann werden Promis gnadenlos aus-gemustert und durch neue Kunstfiguren ersetzt. Es sei denn, es fällt ihnen ein neuer Dreh für die Öffentlichkeit ein. Nach der

schmutzigen Schlammschlacht zum Eheende wäre die optimale Fortsetzung eine gut inszenierte Versöhnung mit nochmaliger Heirat. Das könnte die Cash-Cow-Phase um ein paar Jahre ver-längern und wäre so etwas wie ein Happy End. Das mag das Publikum fast so gern wie einen handfesten Skandal.

Beim Happy End wird das Bedürfnis nach heiler Welt gestillt, beim Skandal dagegen das nach Relativierung: Wir mögen keine Leute, die mehr Glück, schönere Partner und mehr Geld haben als wir selbst. Das entrückt sie uns. Indem sie scheitern, werden sie greifbar. Nur ein Star, der fällt, gibt uns die Hoffnung, selbst einer werden zu können. Und außerdem ist es beruhigend zu wis-sen, dass auch die Reichen und Schönen alltägliche Probleme haben: Mal ist das Geld weg, mal der Führerschein, mal die Hoff-nung – und mal eben Mann oder Frau oder beide.

So gesehen, haben die van der Vaarts bisher alles richtig gemacht. Nur nicht für sich selbst. –

Trennen, aber richtig

Wenn Promis sich trennen, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder gar nichts sagen oder alles. Die meisten entscheiden sich für die zweite Möglichkeit. Deshalb sind sie ja prominent geworden und nicht etwa Bankangestellte. Hier sind die Regeln für das Trennungsmarketing:• Trennungen erzeugen Aufmerksamkeit, entweder aus Mitleid oder aus Schadenfreude. Diese Aufmerksamkeit gilt es zu nutzen. Man kommt damit wieder in die Schlagzeilen, wenn es (zu) lange ruhig war. Oder man kann damit etwas verkaufen. Den neuen Film, die neue CD, die neue TV-Show.• Aufmerksamkeit bekommt man nicht für einen in wohlgesetzten Worten verfassten Briefwechsel der Anwälte. Man braucht dafür einen Skandal. Bewährt haben sich häusliche Gewalt (auch gegen Haustiere) und alles, was mit Sex zu tun hat: Seitensprünge, Perversionen, Impotenz. Es ist sinnvoll, darauf zu achten, dass der Skandal authentisch wirkt. • Eine Trennung muss vorbereitet und inszeniert werden. Am bes-ten ist eine Art Drehbuch: Wer sorgt für den Eklat? Wer ist das Opfer, wer der Täter (das kann im Laufe der Inszenierung noch ein-mal umgedreht werden)? Wer spricht als Erster (und über was)? Wie ist die Reaktion darauf (schockiert, wütend, souverän)? Wer nimmt die Schuld auf sich? Gibt es Kinder (dann sind reflektierend-verantwortungsbewusste Statements vorzubereiten)? Gibt es Außenstehende, die in die Inszenierung passen (neue Lover, alte Lover, beste Freunde, die plötzlich auspacken)? Gibt es genug Schmutzwäsche, die gewaschen werden kann? Gibt es kompromit-tierende Fotos?• Schön ist eine überraschende Wendung am Schluss: Die Tren-nung ist gar keine und wird rückgängig gemacht, die beiden Protagonisten waren gar nie zusammen (Fake-Ehe), der vermutete Täter ist in Wirklichkeit das Op fer.

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Kampf der Kulturen

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Der Koch Uwe Meßner eröffnete im schleswig-holsteinischen Schönberg ein Restaurant. Die Gourmets liebten es, die Schöneberger boykottierten es.

Die Geschichte eines Missverständnisses.

Text: Lu Yen Roloff Foto: Jens Umbach

Trügerische Idylle: Das alte Hotel (rechts) wollte Uwe Meßner (unten) zu einem lokalen Treffpunkt machen. Doch in Schönberg und Umgebung (links) haben sie nicht auf ihn gewartet

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• Die Drohanrufe begannen im Oktober 2012, das „Aarngard“ hatte noch nicht einmal einen Monat geöffnet. Wenn Uwe Meß-ner morgens in seinem Büro den Hörer abnahm, schimpften dort anonyme Anrufer, Männer wie Frauen, zumeist ältere Leute: „Vollidioten! Arschlöcher! Das wird nie was mit euch hier! Wir sorgen schon dafür, dass ihr bald wieder weg seid!“

„Bis heute geht das so, manchmal ein- bis zweimal pro Wo-che“, sagt Meßner. Neun Monate nach dem ersten Anruf führt er vorbei an den leeren Tischen des Gastraums seines Restau-rants Aarngard in Schönberg und sagt: „Ich weiß bis heute nicht, was ich den Leuten hier getan habe.“

Meßner ist 44 Jahre alt, ver-heiratet, hat zwei Töchter und ist von Beruf Koch. Ausgebildet im Hamburger Hotel „Atlantic“, dann Stationen bei Alfons Schuh-beck und Johann Lafer. Er hat mit Eckart Witzigmann zusam-mengearbeitet, mit Heinz Wink-ler und stand zuletzt im Hambur-ger „Tafelhaus“ von Christian Rach in der Küche.

Eine ehemalige Angestellte be schreibt Uwe Meßner als hilfs-bereiten Chef, als einen, der Gas-tronomie mit großer Leiden-schaft betreibe.

Er ist ein Profi, der zehn Köche gleichzeitig führen kann, wenn diese mit schweißnasser Stirn an dampfenden Töpfen sautieren, schäumen, blanchieren oder po-chieren. Ein Mann, der hochkon-zentriert zwischen den Stationen rotiert, mit dem Löffel Aromen abschmeckt und Texturen prüft und sein nadelfeines Digitalther-mometer ins Fleisch und in den Fisch sticht. So erkochte Meßner als Chef de Cuisine für das Hamburger Tafelhaus einen Michelin-Stern und 16 Punkte im einflussreichen Restaurantführer Gault-Millau.

Dass Meßner nun in seiner leeren Diele ohne Mittagsgeschäft steht, liegt also nicht daran, dass er schlecht kocht. Auch nicht daran, dass er zu teuer ist. Wer sich mit Gastronomie auf diesem Niveau auskennt, der weiß, dass ein Mittagstisch für weniger als zehn Euro und ein Rumpsteak im Hauptgang für 14,50 Euro für die gebotene Qualität günstig sind. Nein, das Restaurant bleibt leer, weil Meßner Mitte Juni dieses Jahres in einem Theaterstück den Prozess gegen das historische Schöneberger Thing-Gericht verloren hat.

Bei dem alljährlichen Kulturfest im Heimatmuseum wird stets eine historische Gerichtsverhandlung nach germanischem Brauch in plattdeutscher Sprache nachgespielt. Dieses Jahr stand dort ein Koch vor Gericht, dessen feine Menüs den Bauern der Region nicht zusagen und die ihnen zu teuer sind. Im Laufe des Stücks eskaliert die Verhandlung, der Koch wird von einer Magd überwältigt und gewaltsam mit jener Grütze gefüttert, die er sich aus Dünkel zu kochen geweigert hat. Die »Kieler Nachrichten« berichteten danach: „Alles frei erfunden, hieß es wie immer im Abspann. Aber die meisten Zuschauer auf den

Bänken dachten bei dieser Ge-schichte unweigerlich an die vor einem Jahr veränderte und viel kritisierte Praxis im einstigen Bahnhofshotel, der ehemaligen Spielstätte des AWO-Theaters. Denn die Theaterleute sind we-gen der finanziellen Forderungen des neuen Betreibers seit einem Jahr ohne Übungsstätte.“

Uwe Meßner klingt verbittert, als er von dem Stück erzählt. „Dadurch, dass der Thing-Tag in der Presse so extrem auf uns gemünzt wurde, ist uns das Mit-tagsgeschäft komplett wegge-brochen. Plötzlich standen wir mittags mit null Gästen da. Da haben wir den Sozialdruck schon gemerkt. Es hat sich niemand mehr getraut zu kommen.“

Der Schauprozess auf der Laienbühne ist der vorläufige Höhepunkt eines Konfliktes, in dem die Schönberger nicht nur Meßners Restaurant boykottie-

ren, sondern auch die Frage nach der wirtschaftlichen Zukunft ihrer Heimat – und welche Rolle die Gastronomie dabei spielen soll. Uwe Meßners Antwort auf diese Frage war sein Restaurant Aarngard.

Ein Projekt mit den besten Absichten, gespeist aus der Sehn-sucht nach Ruhe und Einfachheit. Nach 25 Jahren im Beruf und drei Jahren im Tafelhaus hatte Meßner 2012 genug vom Innova-tionsdruck, der in der Großstadt-Sterneküche herrscht. Er sehnte sich zurück nach dem Landleben seiner Kindheit; wünschte sich mehr Zeit für seine Töchter, die inzwischen sieben und elf Jahre alt sind, für deren Theateraufführungen und Fußballspiele.

An den seltenen Urlaubstagen, die er sich mit der Familie gönnte, fuhren sie oft nach Schleswig-Holstein und durchquerten dabei immer wieder die Probstei, so heißt die Gegend rund um

Im Dorf besser bekannt als Bahnhofshotel: das Hotel „Am Rathaus“

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Schönberg, unweit von Kiel. Sie ist leicht hügelig, es gibt Korn-felder, Flüsse, Seen und kleine Dörfer. An der Ostseeküste liegen lange Sandstrände, mit Namen wie „Kalifornien“ oder „Brasili-en“. Es ist eine Gegend zum Radfahren, Baden, Zelten und Durchatmen.

Sie hat nur einen Makel: die mäßige Gastronomie. Landgast-höfe haben entweder geschlossen oder bewerben mit grellen Schildern die Spezialität des Hauses: Schnitzel, Pommes und Salat. Im Mittagsangebot für um die sechs Euro mit Suppe vor-neweg und Dessert. Lieblose Angebote für die 70 000 Sommer-touristen, die jedes Jahr rund um Schönberg Urlaub machen.

Meßner wusste schon damals, dass das auch anders ginge: Die Menschen lieben jetzt wieder das Ursprüngliche. Sie lesen Magazine wie »Landlust«, »Landleben« oder »Liebes Land«. Sie stehen Schlange auf Wochenmärkten und kaufen im Hofladen. Viele dieser Menschen machen an der Ostsee Urlaub, manche leben dort sogar. Allein in Schönberg sind 2000 Zweitwohnsitze gemeldet, viele der 6000 Einwohner pendeln tagsüber zur Arbeit nach Kiel. Viel städtische Kaufkraft also, ohne eine hochwertige Gastronomie, wie man sie etwa in Plön, Sylt oder Timmendorfer Strand findet. „Wir wollen den Menschen etwas bieten, was wir selbst vermissen“, beschloss Meßner damals mit seiner Frau.

So war es immer, so muss es auch bleiben

Das ehemalige Hotel „Am Rathaus“ schien dafür genau der rich-tige Ort zu sein. Das denkmalgeschützte Gebäude von 1899 mit elf Zimmern und einem großen Festsaal liegt im Zen trum der Ortschaft und war vor Kurzem erst saniert worden. Der Eigen-tümer ist ein ortsansässiger Familienunternehmer, der mit dem Restaurant seine liebe Not hatte. In zwei Jahren hatte er drei

Küchenchefs und machte dennoch Monat für Monat Verluste. Er suchte händeringend einen Profi, der ihm die Verantwortung für den Betrieb abnahm. Meßner kam wie gerufen, er wurde als Ret-ter begrüßt. Per Handschlag übernahm er zwei Monate vor seiner Konzessionierung im August 2012 den Betrieb.

Es war das erste eigene Restaurant von Meßner, er gab ihm den Namen Aarngard. Eine Wortschöpfung, die sich zusammen-setzt aus Aarnt, Plattdeutsch für Ernte, und dem englischen gar-den für Garten – Erntegarten. Geplant war eine Bio- Küche mit Grünkohl, Ostseescholle, Sylter Austern und Zutaten von Bau-ern und Fischern aus der Gegend. Keine Sterneküche, sondern Qualität „aus der Region – für die Region“, beschreibt Meßner den Ansatz und fügt hinzu: „Da ist meine Romantik auf eine Realität getroffen, die ganz anders ist.“

Was Meßner zum Zeitpunkt der Übernahme noch nicht wusste: Das Haus ist in der Probstei eine Institution und allen als Bahnhofshotel bekannt. Kaum einer, der hier noch keine Hoch-zeit gefeiert hat, keinen runden Geburtstag, keine Konfirmation. Rustikal ging es bei den rauschenden Bällen der Schweinegilde zu. Damals waren die Säulen im Saal noch mit Teppich um-wickelt, damit beim feuchtfröhlichen Miteinander kein Abrieb am Putz entstand. Zwei Millimeter dick klebte das Nikotin vor der Renovierung an der Saaldecke. Landfrauen, Jagdhornbläser, Chöre und Theatergruppen gingen ein und aus. Freiwillige Feuerwehr, Sozialverband, Sportverein trafen sich. Parteien und Verbände tagten – kurz, das gesamte ländliche Gesellschaftsleben spielte sich seit Jahrzehnten im Bahnhofshotel ab.

Zu den Stammgästen gehörte seit jeher auch die plattdeut-sche Theatergruppe Lampenfewer, die seit mehr als 30 Jahren die mauen Wintermonate für Proben und Aufführungen nutzte. Jedes Jahr lockte der Ortsverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO)

rund 2500 Senioren aus dem Umkreis als Zuschauer an. Von Anfang an dabei sind zwei Probsteier Brüder, Ingo Lage und Hans-Ulrich („Ulli“) Lage, die im Ort nur die Lage-Jungs ge-nannt werden. Von ihnen stammt das Theater-stück vom Thing-Tag, in dem sie sich mit allen Mitteln der Kleinkunst gegen den Koch gewehrt haben.

Besuch beim Autor Ingo Lage. Er wohnt in einem Haus an der Dorfstraße von Bendfeld, fünf Kilometer entfernt von Schönberg. Davor ein kleines Schild: „Bürgermeister von Bendfeld“. Dieses Ehrenamt führt der Sparkassen-Angestell-te nach Feierabend aus. Der 58-Jährige kümmert sich dann um das traditionelle Flechten der Ernte-krone, die Aktion „Saubere Gemeinde“ und den Dorfhaushalt.

Neben der plattdeutschen Kultur und der Geschichte der Probstei liebt er die regionale

Wer darf hier zu welchem Preis rein? Der Saal im Aarngard wurde zum Politikum

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Küche, sagt er. Mit einem Zwinkern fügt er hinzu: „Ich interes-siere mich für alles, was spannend und neu ist.“

Auch fürs Aarngard? Lage schüttelt den Kopf: nein, dafür nicht! „Wenn dir jemand den Stuhl von heute auf morgen vor die Tür stellt, dann musst du erst mal schlucken.“

Die gestörte Idylle

Lage ging, seit er Jugendlicher war, im Bahnhofshotel ein und aus, hatte lange Zeit sogar einen Schlüssel zum Gebäude. Nun fühlt er sich vertrieben. Er hat Meßner nie persönlich getroffen, sein Bruder Ulli, der Regisseur der Theatergruppe, hat ihm nur erzählt, wie das Gespräch mit dem Wirt abgelaufen ist. Im Oktober 2012 trafen sich sieben Vertreter von Lampenfewer und der AWO in der neu renovierten Lounge den Gastronomen. Lages Bruder, der die Leute „locker angeht“ und so auch Geschäfts leute „aus dem Anzug rausbekommt“, ging so auch auf Meßner zu. Der siezte höflich. „Streng“ und „kaufmännisch“ wirkte das auf Ulli Lage.

Der Wunsch der Theatergruppe: alles wie bisher weiter-führen. Rund zehn kostenlose Proben und bei den zwölf Wochenend-Aufführungen für jeden Gast ein trockenes Stück Beerdigungskuchen und ein Stück Mandarinenschmandtorte sowie Kaffee satt. Umsatz für den Gastwirt pro Aufführung: 6,50 Euro pro Gast.

Uwe Meßner, dessen Vater ebenfalls Vorsitzender eines AWO-Ortsvereins ist, wollte der Theatergruppe entgegenkom-men, er kalkulierte sein Angebot so billig wie möglich. Doch sein Lokal muss einiges einspielen, um überhaupt die Ausgaben zu decken: Personal und Betriebskosten, Arbeiten am Gebäude und Instandsetzung verschlingen im Jahr etwa 350 000 Euro. Allein für die Beheizung des Saals mit 250 Quadratmetern Grundfläche, 15 Meter hohem Holzgewölbe und den ungedämmten Wänden fallen pro Abend 350 Euro Energiekosten an. Meßner wollte um das Verständnis der Gruppe werben, indem er diese Kosten ganz genau vorrechnete: Wenn also der Saal geheizt, bestuhlt und gereinigt vermietet werden sollte, die Servicekräfte frisch geba-ckenen Kuchen statt aufgetauter Tiefkühlware auftischten, benö-tigte er 12,50 Euro pro Gast und Aufführung. Dazu einen fest-gelegten Mindestumsatz und für die Proben eine Saalmiete, die die Heizkosten deckt.

Theatergruppe und AWO waren geschockt: 12,50 Euro für Kaffee und Kuchen! „Da hätten wir noch Geld mitbringen müs-sen“, sagt Ingo Lage. „Wir sind doch keine Meßner-Diener, die dem sein Geschäft bezahlen.“ Sie wollten höchstens 8,50 Euro geben. Dafür boten sie an, wie in der Vergangenheit üblich, den Kaffee selbst aus großen Pumpflaschen auszuschenken und bei den Proben einfach die Heizung auszulassen. Meßner überschlug im Kopf: Das wären 480 Euro Verlust pro Abend gewesen, 4800 Euro insgesamt, also sagte er: „Das funktioniert nicht zu dem

Preis. Auch wenn es die vergangenen 10 oder 20 Jahre so gewe-sen ist, es tut mir leid, wir können uns das nicht leisten.“

Ein Jahr später kann sich Ingo Lage immer noch echauffieren: „Mich hat geärgert, dass ihm nicht zu vermitteln war, wo wir leben. Nicht nur mich, sondern auch tausend andere Leute. Man hatte so das Gefühl, wir alten Ländler hier waren nicht mehr gut genug für den Laden. Da holt er sich sein Publikum aus Hamburg, die zu ihm Wallfahrten machen, um seine Cuisine zu genießen. So’n spinnerten Kram liest man immer in Hochglanz-magazinen.“

Meßners Idee, mit dem Restaurant die Region zu stärken, hochwertige Produkte zu verarbeiten, erscheint Lage „blauäugig“ und an der Realität vorbeigeplant: „Wenn der so auf seiner Web-site schreibt: Gemüse und Fleisch aus der Region und Fisch vom Kutter, dann ist das für mich Heile-Welt-Geschwafel“, schimpft er. „Muh und Mäh und Kikeriki auf’m Dorf, wie man das so lauschig kennt, ist nicht. Hier gibt es Biogasanlagen, Monokultu-ren, das sind alles fatale Entwicklungen. Und was ist mit den Menschen hier?“

Seit Jahrzehnten erlebt Lage, wie die Kleinbauern in der Nach-barschaft nach und nach aufgeben. Großbetriebe haben die Flä-chen übernommen. Der Strukturwandel hat der Gegend, die seit Jahrhunderten durch einen starken Bauernstolz, die plattdeutsche Sprache und das Dorfleben geprägt war, ihre Identität und wirt-schaftliche Grundlage entzogen. Viele Dörfer der Probstei haben sich zu „Schlafdörfern“ entwickelt. Gerade die jüngeren Men-schen nutzen Schönberg nur noch zum Einkaufen, so Lage. „Das Denken und Leben verstädtert, und die alten Strukturen sind nicht mehr aufrechtzuerhalten“, sagt er. Zwei Drittel der Einnah-men von Schönberg kommen aus dem Tourismus. Und beide, Touristen und Zugezogene, wollten vom dörflichen Miteinander nur noch das Hübsche und Plüschige, ohne sich wirklich zu engagieren. „Und dann schmiert das ab in Folklore.“

Nach diesem Gespräch könnte man denken, dass Ingo Lage und Uwe Meßner eigentlich am gleichen Strang ziehen. Beide wollen die Region stärken. Doch stattdessen greift ein Mecha-nismus, der in der Stadt mit dem Schlagwort Gentrifizierung bezeichnet wird: die Aufwertung von Stadtteilen und die Ver-drängung der dort lebenden Menschen. Der Wandel im Bahn-hofshotel erscheint vielen Schönbergern ebenso, vor allem den älteren. Seit Jahrzehnten erleben sie, wie die reetgedeckten Katen im Ort Funktionsbauten weichen, wie die alte Meierei und der Krämerladen durch Döner-Imbiss und Kik-Filiale er-setzt werden.

Und nun besetzt da ein Neuer den wichtigsten Treffpunkt der Gegend und krempelt den Betrieb komplett um. Was – nüchtern betrachtet – lediglich unvereinbare wirtschaftliche Interessen und ein Preisunterschied von vier Euro pro Person sind, wird in der Gerüchteküche Schönbergs zum Konflikt zwischen dem „Buten-dörper“, wie Auswärtige auf Plattdeutsch genannt werden, und

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den Probsteiern; zwischen Arm und Reich, Wandel und Tradi-tion, zwischen Kopf und Herz.

Über Meßner heißt es plötzlich pauschal: „Er will die Vereine nicht.“ Die Schönberger stapfen lauthals schimpfend in die Redaktion der Lokalzeitung »Probsteier Herold« und klagen: „Die Tradition verschwindet!“ Die Zeitung verteilt in der Folge in einigen Artikeln Seitenhiebe an das Aarngard. In dem Dorf, in dem ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre ist, fast jeder in einem Verein Mitglied ist und viele miteinander verwandt sind, erhitzen sich die Gemüter: „Aarngard, was soll das überhaupt heißen?“, fragen jene, die platt-deutsch aufgewachsen sind. „Es ist zu teuer“, finden die Rentne-rinnen. „Arrogant“ sei der Wirt, haben andere gehört.

In der Fußgängerzone, beim Einkaufen in der Apotheke, auf dem Parkplatz des Sky-Marktes – überall wird Uwe Meßner als Wucherer dargestellt, der die alteingesessenen Dorfbewohner von ihrem letzten Treffpunkt vertreibe: „Der neue Kröger will Stuhl- und Heizungsgeld.“ Wo-raus im Stille-Post-Prinzip wird: „Er will von seinen Gästen ei-nen Euro für den Toilettengang“ – was nicht stimmt, wie so vie-les andere auch nicht.

Als Meßner dem Vorsitzen-den einer Wählerinitiative we-gen einer Doppelbuchung den gewünschten Termin für eine Weihnachtsfeier absagen muss, ätzt dieser per E-Mail zurück: „Es entsteht der Eindruck, dass Sie mit uns genauso wenig zusammenarbeiten wollen wie mit anderen lokalen Vereinen und Verbänden. Natürlich werden wir unseren circa 200 Gästen über Ihre Ablehnung berichten. Es wird sie in der in Schönberg weitverbreiteten Meinung bestärken, dass Sie an einer lokalen Verwurzelung Ihres Hauses nicht interessiert sind.“

So verliert Meßner seine potenziellen Gäste in Scharen. AWO, CDU, SPD, FDP, die Landfrauen und sogar der Lions-Club: Alle waren sie früher Stammgäste im Bahnhofshotel. Aber keiner von ihnen will sein Geld im Aarngard ausgeben. Auch ihre Familien, Freunde und Bekannte nicht.

„ ,Das war nie so‘, ,das war immer umsonst‘, solche Aussagen sind ein Augenverschließen vor der Realität und für uns absolut

existenzbedrohend“, sagt Uwe Meßner an einem Sommerabend im Juli 2013. Er trägt seine weiße, zweireihig geknöpfte Koch-jacke und hat nur noch kurz Zeit, denn in der Küche ist viel los. Kurze Zeit später parken vor der Tür des Aarngard Autos der Marken Mercedes-Benz, BMW und Porsche. An den Tischen in Restaurant und Garten sitzen Paare, Familien und Grüppchen aus Hamburg, Kiel und Plön, aus Konstanz und Frankreich bei küh-lem Weißwein, sautierten Jakobs muscheln auf Zucchinigemüse und Filet vom Ibérico-Schwein. Was die Schönberger herauf-beschworen haben, ist Realität geworden: Meßner kocht jetzt für

Butendörper.„Wir sind notgedrungen

nach draußen gegangen“, sagt er. Magazine wie »Geo Saison« und »Mohltied!« hatten ihn emp fohlen, auch der Gault-Mil-lau hat ihn über seine Aufnah-me informiert.

Eine Broschüre des Touris-musverbandes Schleswig-Hol-stein stellt das Aarngard auf Platz eins der gastronomischen Empfehlungen. Das Bundes-land setzt in seiner Tourismus-Vermarktung auf sogenannte „Best Ager“ und „anspruchs-volle Genießer“. Für beide, so ergaben Studien, ist eine gute Gastronomie noch wichtiger als der Strand. Genau an diese Gruppe wendet sich Meßner jetzt. Den Mittagstisch als An-gebot für Gäste aus der Umge-bung hat er eingestellt.

Er weiß inzwischen, dass das nicht ungewöhnlich ist. Auch Robert Stolz, Sternekoch im nahen Plön, begrüßt nach eigenen Schätzungen in seinem

Restaurant höchstens zehn einheimische Besucher im Jahr. Meß-ner sagt: „Viele Gastronomen kommen an einen Punkt, wo sie ihr Publikum überregional finden müssen, weil es die Kaufkraft auf dem Land mit der Akzeptanz von realistischen Preisen nicht mehr gibt.“ Er weiß aus Gesprächen mit Biobauern und regiona-len Produzenten aus dem Verein Feinheimisch e.V., dass sie ihr Publikum ebenfalls hauptsächlich in den Ballungsräumen Kiel und Hamburg finden.

Es hat eine gewisse Ironie, dass Uwe Meßner als Auswärtiger vorhatte, gerade mit diesen Biobauern und Händlern zusammen-zuarbeiten, während deren Nachbarn lieber in das neue Ge-

Wollen sich die Heimat nicht nehmen lassen: Ingo und Ulli Lage

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werbegebiet von Schönberg fahren, um ihr Geld im Backshop-Café, bei Aldi oder Lidl zu lassen – den Discountern, die jene Produkte aus der Massenlandwirtschaft verkaufen, die den Struk-turwandel der Region nur weiter vorantreiben.

„Wer immer alles umsonst haben will, sorgt dafür, dass in der Region immer weiter Dinge kaputtgehen“, sagt Meßner. Er ist ernüchtert, er spricht über die „Billig- und Viel-Mentalität“ vor Ort. Dieser durch Preissenkungen entgegenzukommen sei aber falsch. Denn die Gegend sei zu dünn besiedelt, um wirklich Mas-se zu machen. Und wo Renovierungen und neue Verordnungen vom Brandschutz bis zur Wärmedämmung die Kosten in die Höhe treiben, bedeutet jedes unter Preis verkaufte Gericht nicht nur ein Geschenk an die Gäste – sondern ein Zehren an der eigenen Substanz.

Keine Frage des Geldes

Wo das enden könne, sehe man an dem anderen großen Veran-staltungssaal im Ort, dem inzwischen insolventen und geschlos-senen Hotel „Stadt Kiel“. Dort sprießt auf der Terrasse inzwi-schen das Unkraut, drinnen ist das unnütz gewordene Mobiliar verhüllt. „Jahrzehntelang ist alles verfallen und an einen Punkt gekommen, an dem der Gastronom nur zugezahlt hat, um seine Freundschaften zu erhalten, um den Menschen hier nach dem Mund zu reden“, sagt Meßner. In einem Leserbrief an den »Probsteier Herold« hat der frühere Küchenchef des Hotels Stadt Kiel, Dieter Radde, die Situation mit dem Bahnhofshotel vergli-chen: „Auch im Hotel Stadt Kiel sollte möglichst alles umsonst sein, vor allem der Saal bei allen Versammlungen und Vorführun-gen! Statt Einnahmen für die hohen Energie- und zusätzlichen Servicekosten brachten die Aufführenden bei den Vorbereitungen teilweise noch ihre eigenen Getränke und Kuchen mit!“

Uwe Meßner hat den Zeitungsausschnitt aufgehoben. Er ist ihm eine dringende Mahnung, dass die Rezepte der Vergangen-heit nicht für die Zukunft geeignet sind: „Wenn man die Region entwickeln will, dann durch Qualität.“ Gerade weil der Touris-mus eine wichtige Geldquelle sei, müsse man Betriebe aufbauen, die mit denen in den neu renovierten und pittoresken Ostsee-bädern in Mecklenburg-Vorpommern konkurrieren können: „Si-cherlich, es sind einige, die auf der Strecke bleiben, weil sie die Neuerungen nicht wollen oder können – aber die Region wird davon profitieren. Ich glaube nur, dass die Bevölkerung hier das nicht akzeptiert.“

„Es ist eigentlich gar nicht so sehr ums Geld gegangen“, sagt Ulli Lage, Regisseur der Theatergruppe Lampenfewer. „Das Geld hätten wir vielleicht zusammenbekommen.“ Er empfängt abends in seiner maritim eingerichteten Wohnung in Kiel, im Bücherregal steht ein Kochbuch von Tim Mälzer. Nachdem sich die Gruppe den Ärger vom Leib gespielt hatte, hat der Regisseur während seines Urlaubs nachgedacht. Er wollte erneut das Gespräch mit

Meßner suchen, erzählt er. Nach 35 Jahren sei es vielleicht wirk-lich Zeit für Neuerungen. Auch andere Veranstaltungsräume in der Gegend, so hat die Gruppe herausgefunden, berechnen in-zwischen Saalmiete – so schön wie der Saal im Aarngard sind sie nicht.

Aber da ist es bereits zu spät. Lage hat in der Zeitung gelesen, dass plötzlich Schluss ist mit dem Aarngard. Zum 1. August die-ses Jahres machten die »Kieler Nachrichten« mit der Schlagzeile auf: „Sternekoch dreht Herd ab.“

Einige Wochen später steht Uwe Meßner im Wohnzimmer seines Einfamilienhauses in Schönberg. Draußen prasselt Regen auf die Terrasse, drinnen trocknen auf einem Wäscheständer Mädchensachen. Umzugskisten stehen im Flur. Zehn Monate nach dem Umzug nach Schönberg packt die Familie erneut ihren gesamten Hausstand zusammen. Die Restaurantmöbel sind be-reits eingelagert.

Am 24. Juli hatte Meßner den Termin für die Anschlussfinan-zierung bei der Bank, gemeinsam mit dem Steuerberater und dem Eigentümer. Die Zahlen waren den Umständen entsprechend gut, hätten die Experten laut Meßner bestätigt. „Die Entwicklung war richtig, es wäre jetzt losgegangen“, sagt er. Doch am Abend kündigte ihm der Eigentümer fristlos, wirksam zum 31. Juli. „Wirtschaftlich sinnvoll war das nicht“, sagt Meßner.

Der Eigentümer ist als Vertreter der ältesten Unternehmer-familie Schönbergs Mitglied in vielen Vereinen und Verbänden. Und hat vielleicht ein paar Mal zu oft gehört: „Mensch, was hast du da für einen Idioten geholt?“ Er will den Betrieb unter altem Namen wieder aufnehmen, die Preise senken, einen Mittagstisch anbieten, alle Schönberger ansprechen. Meßner schüttelt den Kopf: „Das hat doch vorher auch nicht geklappt. Ich bin ge-spannt, wie das weitergeht.“

Eine SMS piepst auf seinem Mobiltelefon. Er greift nach dem Apparat, schaut auf das Display. „Seit Schluss ist, bekomme ich täglich Nachrichten von Menschen aus der Gegend, die mir ihre Sympathie aussprechen. Es sind Hunderte. Man könnte meinen, wir sind richtig beliebt hier“, sagt Meßner.

Es bestärkt ihn darin, das Aarngard an einem anderen Ort weiterzuführen. Er sucht eine neue Immobilie, näher am Bal-lungsraum. Uwe Meßner geht Richtung Tür, zögert, bleibt wie-der stehen: „Eins noch.“ Ihm sei von den Schönbergern oft emp-fohlen worden, sich mehr wie der ehemalige Wirt des Hotels Stadt Kiel zu verhalten. „Das war ein richtig toller Gastwirt, sagen die Leute. Sehr beliebt! Hoch angesehen!“ Meßner pausiert und setzt fort: „Dass der mit 900 000 Euro in die Privatinsolvenz gegangen und arm gestorben ist, das weiß kaum einer. Wenn das in Schönberg Erfolg ist, bin ich froh, ihn nicht zu haben.“ –

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WAS MENSCHEN BEWEGT

Der Wein der Weisen China will den Weltmarkt für Rebensaft erobern. Ich leiste Schützenhilfe und trinke auf ex.

Eine Geschichte mit viel Gesichtsverlust.

Text: Manfred Klimek Illustration: Jan Robert Dünnweiler

Kolumne

• Ich steige nur selten in Flugzeuge, weil ich sicher bin, dass mehrere Hundert Ton-nen Stahl auch mithilfe domestizierter Raketen nicht fliegen können. Mit dieser Gewissheit ertrage ich nur Kurzstrecken. Und die auch nur mit Medikamenten, die aus mir ein willenloses Nichts machen.

Nach Amerika fuhr ich mit dem Schiff. Ungelogen! Und in den Iran mit dem Zug. In China war ich noch nie. Da fährt zwar auch ein Zug hin, doch das testosteronge-schwängerte Putin-Regime hat den wun-derbaren altsowjetischen Funktionärs-Schlafwagen abgeschafft. Den mit Bad und Toilette im Abteil. Jetzt liegt man auf harten grünen Pritschen, und die hygieni-schen Verhältnisse gleichen jenen im Bal-kan-Orient-Express der späten Siebziger-jahre. Das tue ich mir dann doch nicht an.

Aber irgendwann muss ich nach Chi-na. Ich beobachte ein chinesisches Wein-unternehmen namens Changyu, das es schon seit 1892 gibt und das den letzten Kaiser, die marodierenden Japaner und auch die maoistische Kulturrevolution überlebt hat. Merke: Auch die größten Verbrecher wollen saufen (außer der aus Braunau), Alkoholverbote werden immer

nur von gottgefälligen Puritanern ausge-sprochen, und erst die Prohibition ließ die Mafia eine Weltmacht werden.

Die Chinesen trinken Alkohol, um dem allgegenwärtigen Druck zu entkommen. Unterordnung, Fetisch und Tausende Ver-pflichtungen machen das Leben des ge-meinen Bürgers tagtäglich zur selbstlosen Herausforderung. Deswegen trifft er sich nach Sonnenuntergang gern zum Abspan-nen mit Freunden aus dem geschäftlichen Umfeld und kippt gleich zu Beginn des gemeinsamen Essens mehrere Schnäpse auf ex. Die Welt, sie soll verschwinden.

Das klingt tragisch. Und ist es auch. Trinken in China heißt die Bewusstlosig-keit suchen. Schnell. Das ist bislang das einzige Ziel der Alkoholisierung. Trotz-dem soll China so etwas wie eine Wein-kultur bekommen. Dafür sorgt Sun Liqi-ang, der Chairman von Changyu, der seinen Landsleuten die Bräuche der Euro-päer einbläuen will. Uns Europäern hinge-gen will er zeigen, wie großartig chinesi-scher Wein schmecken kann. Das geht nur in Schritten.

Sun Liqiang lädt zum ersten Schritt in ein chinesisches Restaurant in Düsseldorf.

Mit ihm kommt seine Entourage, ohne die sich Mr. Chairman nicht außer Landes begibt. Die Begleiter sollen erzählen, wie weit es Sun Liqiang gebracht hat, wie an-gesehen er im Ausland ist, wie respektvoll ihm seine Gesprächspartner begegnen.

Man sitzt im Rund am Tisch, Wein-händler, -makler und -journalisten, eine Platte mit Speisen kreist, und jeder nimmt sich runter, was er essen will. Aufgegessen wird nicht, denn das bedeutet, dass der Gastgeber zu wenig aufgetragen hat. Die Chinesen wissen inzwischen, dass der Deutsche keine halb vollen Teller zurück-gehen lassen kann und sehen darüber hinweg, obwohl es einen Gesichtsverlust darstellt, die wohl größte Sünde.

Überhaupt Gesichtsverlust: Der droht dauernd. Politische Belehrung: Gesichts-verlust. Ansprechen der Menschenrechte: Gesichtsverlust. Kritik an der Louis-Vuit-ton-Rolex-Kopierindustrie: Gesichtsver-lust. Am Tisch sitzt heute auch ein Deut-scher, der in China Wein macht. Seine Spitzenkreation wird sich am Ende des Abends als die beste herausstellen. Ge-sichtsverlust. Leider weiß er von seiner Überlegenheit und erklärt die Gründe, ohne gefragt worden zu sein. Also: sauber arbeiten, die Leute mehr fordern, mehr auf die Böden achten, die Fässer selber mit-bringen. Gesichtsverlust. Ich beende den Horror mit einem Trinkspruch.

Überhaupt Trinkspruch: Der chinesi-sche Toast ist tradierte Trinkkultur und verschafft den Anwesenden die Gelegen-heit, etwas schneller gesellig zu werden. Ich trinke auf „das Gedeihen der chinesi-schen Provinzen“ (da macht man nichts falsch), alle heben ihre Gläser und lassen sie in der Mitte zusammenkrachen. Dazu schreien wir „Ganbei“ und stürzen den Wein mit einem Schluck hinunter. Das macht man mit Plörre genauso wie mit einem Château Latour, Jahrgang 1961. Die Welt, sie soll verschwinden. Ist sie weg, droht kein Gesichtsverlust.

Chairman Liqiang wiederholt das Ri-tual von nun an jede Viertelstunde. Und weil bei ihm und seiner Entourage das für

Ganbei!

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WAS MENSCHEN BEWEGT

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Saufgelage überlebenswichtige Enzym Aldehyddehydrogenase 2 nicht richtig ar-beitet, sind sie nach drei Ganbeis schon or-dentlich breit. Nach dem fünften dämmern sie ein. Schulter an Schulter. Das sieht niedlich aus: Chinesen, die leise schnar-chend, aneinander lehnend ihren Rausch in Windeseile ausschlafen. Wer jetzt Fotos macht und sie in sozialen Netzen teilt, kann sich seinen Millionenauftrag an den Hut stecken. Gesichtsverlust.

Der Konzern Changyu hat mehrere Weingüter in vielen chinesischen Provin-zen. In die Mitte jedes dieser Weingüter hat die Firma ein Schloss hingestellt. Über die Schönheit und Zweckmäßigkeit dieser Neuschwansteins sollte man nicht zu dis-kutieren beginnen. Gesichtsverlust.

Toast und prost!

Sun Liqiang hat sich für den langen Marsch nach Westen einen Österreicher an seine Seite geholt: Laurenz Moser V., genannt Lenz, Abkömmling einer großen Weinbaufamilie. Der dritte Moser erfand die in unseren Breiten übliche Hochkultur der Rebenerziehung und prägte so das europäische Landschaftsbild.

Wer einen solchen Verbündeten hat, ist auf dem richtigen Weg, denn die kon-fuzianische Lehre schreibt vor, dass man Älteren und Weisen stets gehorchen soll. Moser ist zwar nicht alt, er zieht sich mitunter auch nicht ehrenwert an (lila Ho-sen). Doch Moser ist ungemein taktvoll

(Österreicher eben), verkörpert die euro-päische Weinbau-Tradition und erklärt diese in ruhigen und bedachten Worten. Tradition macht in China immer großen Wind, eine Person, die Tradition teilen will, ist ungeteilt beliebt. Doch kann Mo-sers Rat in China Berge versetzen?

Zum Beweis stellt Chairman Liqiang mehrere Jahrgänge Changyu-Weine auf den Tisch. Und es ist erschreckend, wie schnell die chinesischen Önologen Fort-schritte machen. In den Kellern der baro-cken Märchenschlösser wird erstaunlich guter Wein gekeltert, die Eisweine aus dem Norden kann man sensationell nen-nen. Weil die Weine so gut sind, wird die Hälfte mit Ganbei geleert. Die andere Hälfte trinken alle, bei denen das Enzym arbeitet, in Ruhe zur Neige. Dann wachen Mr. Chairman und seine Entourage auch wieder auf und verlangen neue Flaschen.

Die Deutschen neigen bei solchen Treffen gern zum Niedermachen des eige-nen Landes. Das steht oft im krassen Gegensatz zu der stets unterschwellig betonten kulturellen Überlegenheit. Ein namhafter Weinkritiker erzählt dem Vize von Chairman Liqiang jetzt hinter vor-gehaltener Hand, dass auch Deutschland wieder eine Partei brauche, die all die fau-len Menschen zur Arbeit zwinge. „Haha-ben Siehi ihin Deuheutsland keiheine kohommunistische Parteihei?“, fragt der Vize. „Doch“, sagt der Deutsche, „aber die wollen, dass alle Men-schen Geld ohne Arbeit be-

kommen.“ „Dahas ihist nicht kohommu-nistisch“, erklärt der Vize. „Dachte ich’s doch“, bemerkt sein inzwischen knallrot angelaufenes Gegenüber, dreht sich zu ei-nem anderen Deutschen um und schreit: „Der Chinese da sagt, die Linke ist gar nicht kommunistisch.“ Gesichtsverlust.

Beliebt ist auch der Hinweis, dass „die Chinesen“ in zehn Jahren alle überholen werden. Wieder drängt sich ein Medien-mitarbeiter in die Mitte der Kommunika-tion. „Da wird sich der Amerikaner noch wundern! Was sagen Sie, Mister Yang?“ Der blickt zu Boden und schweigt. Später fragt er mich, ob alle Deutschen Amerika hassen. Jetzt schaue ich zu Boden und schweige. Gesichtsverlust.

Wie geht das weiter mit dem chinesi-schen Wein? Der Fragende gehört zur Botschaft der Volksrepublik China in Ber-lin. Ich versuche die üblichen Umschrei-bungen, damit ich ja in kein Fettnäpfchen trete. „Es werden sich Wege finden, dass die großen Weine des großen Chairman Liqiang ihren Weg nach Europa und Deutschland finden. Und viele Millionen Chinesen werden sich freuen, wenn sie die einfachen und wunderbar geradlinigen Kreationen von Changyu trinken dürfen.“ Die Augen meines Gesprächspartners wer-den noch schmaler. „Darauf trinken wir. Aber Ganbai. Die ganze Flasche.“ Besin-

nungsverlust? Here we go! –

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LESERBRIEFE

brand eins 10 /2013 Schwerpunkt Normal Michael Poschmann, Päwesin

Das Heft hat mich gefesselt. Kompliment.

Normal ändert sich und passt sich an.Normal ist ewig unklar.Normal ist nicht definierbar.Normal ist nicht allein.Normal macht Fortschritte und Rückschritte.Normal kann alles und nichts.Normal ist, Ideen zu haben, wenn die Zeit reif ist.Das Nächstmögliche ist normal.Normal ist die Magie des Möglichkeitsraumes nebenan.Das Neue ist normal.Normal sind Verbindungen.Schöpferisch sein ist normal.Polymerverbindungen auf Kohlenstoffbasis sind sehr normal.Aminosäuren sind normal.Zufälle sind normal.Flüssige Netzwerke sind normal.Chaos ist normal.Aufhören ist normal.

brand eins 10 /2013 Schwerpunkt Normal Jürgen Ackermann, per E-Mail

Normalität hat auch etwas mit dem Älterwerden oder dem Altern zu tun. Je älter wir werden, umso normaler wird alles. In der Ent-wicklung lernen wir immer mehr Dinge kennen, die immer nor-maler werden. Das erste Mal laufen, das erste Mal in die Schule gehen, die erste Freundin, der erste Kuss – alles wird mit zuneh-mendem Alter normaler, weil es schon so oft erlebt wurde.

Die Kunst zu altern enthält auch die Reife, die Normalität aus-zuhalten und nicht in ihr unterzugehen. Dies stellt einen wichti-gen Punkt in der Reifung des Menschen dar. Auch hier kann man sehen, dass einige Menschen große Schwierigkeiten haben, ihr Leben in der Normalität nicht als langweilig zu empfinden. Auch hier geht es wieder um eine Selbstentwicklung, die einen Zugang zur eigenen Person dahingehend erlaubt, mit sich so in Ruhe zu sein, dass man sich selbst als interessant erlebt. Wenn man diesen

Gedankengang weiterverfolgt, sieht man, wie wichtig es ist, von der kindlichen Außenorientierung zu einer reifen Innenorientie-rung zu gelangen. Wenn ich im Alter keine selbstbewusste Innen-orientierung erlangt habe, wird es immer schwerer, diese mit Außenreizen zu kompensieren. Die „normale“ Einsamkeit ist dann programmiert.

brand eins 10 /2013 Titel NormalJobst Gmeiner, Darmstadt

Ist die zweibeinige Karotte nur eine Lauthals’sche Marotte oder gewachsen im Erdreich, normal? Fürs Titelbild jedenfalls die beste Wahl!

(Anm. der Red.: Die Karotte ist echt – und eine von vielen „ugly fruits“, die Moritz Glück, Giacomo Blume und Daniel Plath zu ihrem Studienabschluss an der Bauhaus-Universität Weimar ver-halfen. Ihre Idee: Obst und Gemüse müssen nicht aussehen wie in der Werbung, in anderer Form sind sie ebenso appetitlich – also lasst uns das Werbekonzept für einen Laden entwickeln, in dem diese „ugly fruits“ verkauft werden. Sie arbeiteten sich durch seiten lange Verordnungen von Landwirtschaftsministerium und EU, lernten, wie Obst und Gemüse auszusehen haben, und such-ten bei den Bauern im Weimarer Land die Exemplare, die aussor-tiert worden waren. Daraus entstand ein Konzept, das von der Werbung bis zur Einrichtung des Ladens reicht und das ihnen nicht nur ein „sehr gut“ für die Abschluss arbeit im Fach Visuelle Kommunikation einbrachte, sondern auch gleich noch einen sil-bernen Nagel des Art Directors Club. Die drei haben inzwischen die Werbeagentur Lauthals gegründet.) Korrektur

Im Beitrag „Endspiel“ (10 /2013) ist uns bei der Tabelle zu den er-folgreichsten Spieleserien (S. 34) etwas durcheinandergeraten: In den 446,5 Millionen Mario-Spielen sind die darunter aufgeführten 262 Millionen Super-Mario bereits enthalten, wurden also dop-pelt gezählt. Und „Wii“ ist natürlich der Name der Konsole, stand in der Tabelle aber als Sammelbegriff für „Play, Party und Music“; unter Wii Sports sind „Sport, Sport Resort, Fit und Fit plus“ zu-sammengefasst. Danke an Jens Fissenewert für die Nachfrage.

[email protected]

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IMPRESSUM

ImpressumHerausgeber: brand eins Medien AG, Speersort 1, 20095 Hamburg

Chefredaktion (verantwortlich): Gabriele Fischer <[email protected]>

Artdirection: Mike Meiré <[email protected]>

Redaktion: Jens Bergmann / Geschäftsführender Redakteur <[email protected]>, Patricia Döhle / Textredaktion <patricia_doehle@ brandeins.de>, Renate Hensel / Schlussredaktion <[email protected]>, Katharina Jakob /Schlussredaktion <[email protected]>, Oliver Link / Textredaktion <[email protected]>, Dr. Ingo Malcher / Text redaktion <[email protected]>, Angelina Mrsic / Organisation <[email protected]>, Katja Ploch / Dokumentation <[email protected]>, Jörg Steinmann / Chef vom Dienst <[email protected]>, Victoria Strathon / Dokumentation <victoria_strathon@ brandeins.de>, Mischa Täubner / Text redaktion <[email protected]>, Gerhard Waldherr /Reportage <[email protected]>

Schwerpunkte und Entwicklung: Wolf Lotter / Textredaktion <[email protected]>

Layout: Tim Giesen <[email protected]>, Monika Kochs <[email protected]>, Anna Kranzusch / Assistenz Bildredaktion <[email protected]>, Stefan Ostermeier / Layout und Bildredaktion <[email protected]>

Autoren und Korrespondenten: Markus Albers, Bernhard Bartsch (China), Dirk Böttcher, Johannes Dieterich (Südafrika), Ulf J. Froitzheim (Technik), Steffan Heuer (USA), Peter Laudenbach, Andreas Molitor, Thomas Ramge (Technik), Stefan Scheytt, Stefan Scholl (Russland), Harald Willenbrock

Mitarbeiter dieser Ausgabe:Text: Barbara Bachmann, Mathias Becker, Nils Handler, Matthias Hannemann, Axel Hansen, Manfred Klimek, Michael Kneissler, Dorit Kowitz, Anika Kreller, Barbara Opitz / Textprakti kantin, Lu Yen Roloff

Foto / Illustration: Nick Ballon, Silke Baltruschat, Manu Burghart, Jan Robert Dünnweller, Thekla Ehling, Thomas Eugster, Nadine Gerber, Niklas Grapatin, Elias Hassos, Oliver Helbig, Olivier Hess, Monika Höfler, Michael Hudler, Ika Künzel, David Magnusson, Hartmut Nägele, Heji Shin, Maria Sturm, Jens Umbach

Online-Redaktion: Frank Dahlmann <[email protected]>, Telefon: 040 / 32 33 16 – 16; Pia Hilger <[email protected]>, Telefon: 040 / 32 33 16 – 72

Redaktionsadresse: brand eins Redaktions GmbH & Co. KG, Speersort 1, 20095 Hamburg; Postfach 10 19 26, 20013 HamburgTelefon: 040 / 32 33 16 – 0, Fax: 040 / 32 33 16 – 20, E-Mail: [email protected]

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Erscheinungsweise: 12-mal jährlich

ISSN-Nr. 1438-9339

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Die nächste Ausgabe von brand eins erscheint am 22. November 2013

Page 169: Brand Eins - 11-2013

Culture, Industry,Fashion, Cars, Economy,Lifestyle.

AGNONA, Italian luxury cashmere and knitwear label, has introduced

was translated by Meiré und Meiré into a concept for the AGONA Milan

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Senden Sie die Lösung an:Wirtschaftsmagazin brand eins, „Stichwort: Wer hat’s gesagt?“, Speersort 1, 20095 HamburgOder als E-Mail (mit Postanschrift) an: [email protected] füllen Sie unser Online-Formular aus unter www.brandeins.deEinsendeschluss ist der 21. November 2013.Die Gewinner werden in der brandeins-Ausgabe Januar 2014 bekannt gegeben (erscheint am 20. Dezember 2013).Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mitarbeiter der brand eins Medien AG, deren Angehörige sowie Einsendungen von Gewinnspiel-Services sind von der Teilnahme ausgeschlossen.

In brand eins 09 / 2013 fragten wir nach folgendem Zitat aus dem Heft: „Damit kritische Gespräche gelingen, ist es wichtig, zwischen Sache und Person zu trennen.“Die richtige Antwort lautet: Maren Lehky, Unternehmensberaterin

Je eine Wandgarderobe „Hang it all“ von Vitra im Wert von 235,60 Euro hat gewonnen:Dr. Anne Harttrampf, FreiburgJochen Heyermann, BerlinEva Schröter, Hannover

Wer hat’s gesagt?

„Wer Erfolg hat, schiebt sich früher oder später selber ins Aus.“

Dieses Zitat * stammt von

a. Matti Niebelschütz, Geschäftsführerb. Hartmut Ostrowski, Manager und Investorc. Zach Klein, Unternehmerd. Christian Scholz, Organisationsforschere. Douglas R. Holmes, Anthropologef. Rafael van der Vaart, Fußballspieler

* kleiner Tipp: Sie fi nden es in dieser Ausgabe

Zu gewinnen gibt es einen Samsung Smart TV F 8590 im Wert von 3499 Euro. Der Fernseher mit einer Bildschirmdiagonale von 139 cm und Full HD-Display entspricht einer neuen Formsprache für TV-Geräte: Das scheinbar nahtlos gegossene Metallgehäuse wirkt dank klarer Linienführung aus jedem Blickwinkel wie eine Einheit, das sich in der eleganten Wellenform des Standfußes fortsetzt. Die Rückseite ist völlig plan, sämtliche Anschlüsse sind verdeckt. Der Smart TV kann über Gesten- und Sprachsteuerung bedient und kabellos mit dem Internet verbunden werden. Weitere Informationen unter www.samsung.com

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„Als Musiker trete ich bis zu 150 Nächte im Jahr auf. Damit ich trotzdem gut schlafen kann, habe ich die Sparkasse.“

Paul van Dyk, DJ, Musik-Produzent und Sparkassen-Kunde

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Page 172: Brand Eins - 11-2013

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