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PRAKTISCHE ERGEBNISSE. DIE SALVARSANSCHADEN DES INNEREN OHRES.

~7on

Priv.-Doz. Dr. F. t{OBRAK, Berlin.

Wenn man die Zahl und t3edeutung der in der Salvarsan- innenohr~rage hervorgetretenen Forscher gegeneinander ab- w~gt, ist es schwer, wie auch SOBER~HEIM in einem iReferat kritisch zusammenfagt, fiir oder gegen das Salvarsan Stellung zu nehmen. Wollfe ieh nun Einzelheiten der tiber den Gegen- stand bestehenden recht erheblichen Literatur anftihren, so wtirde es auBerordentlich schwer halten, zu einem auch nur einigermaBen bdriedigenden ,,praktischen Ergebnis" zu kommen.

Ich will versuchen, die Frage in dem relativ engen, mir zur Verftigung stehenden Raume etwas anders anzu- greifen, dutch Erhrterung unserer theoretischen Kenntnisse und Vorstellungen yon der Wirkungsweise der Luesinfektion und des Salvarsans, und durch den Versuch, auf Grund dieser Kelmtnisse und Vorstellungen die gewonnenen praktischen Erfahrungen zu analysieren.

So sehr der erfahrene Syphilidologe den aus diesem Vor- gehcn resultierenden Schematismus verurteilen kann, weil hier manche Grenze gezogen wird, deren Aufrechterhaleung praktisch oft nicht notwendig ist, so glaube ich doeh, mit den gewonnenen Leitlinien dem weniger mit der Materie vertrauten Praktiker ein therapeutisches Gertist zu geben, das er mit zunehmender eigener Erfahrung ausbauen und ab~ndern kann.

Im Beginn der Salvarsan~ra waren Hirnnervschfidigungen und insbesondere Sch~digungen des Nervus octavus an der Tagesordnung. DaB man ihnen jetzt vim seltener begegnet, steht aul3er Frage. \u beruht die Salvarsansch~digung, oder besser gesagt die nach Salvarsanapplikation eingetretene Sch~digung des Innenohres beim Syphilitiker ?

Die einen behaupten, es handle sich gar nicht um Hs yon Erkrankungen, sondern nur um Hs yon richtig gestellten Diagnosen, die frfiher ohne Serumreaktion und ohne die verfeinerten Vestibularisuntersuchungen unm6glich gewesen w~ren. Dieser Einwand steht auf schwaehen FfiBen, denn die h~ufigen Hirnnervsch~den fallen nicht unmit te lbar mit der verbesserten Diagnostik, sondern met der dnreh Salvarsan erweiterten Luestherapie'zusammen. Zudem handelt es sich doch um teilweise recht schwere Octavussch~digungen, die sich aueh frtiher keinesfalls dem Nachweis entzogen hatten.

Eher k6nnte man schon denken, dab die ~nderung des Verlau]styps der Lues - - Zurtiektreten der typischen Haut- und Sehleimhauteffloreseenzen und erhhhte Affinit~t zum Nerven~ystem - - , wie sie ja jetzt im allgemeinen yon WIL- MA~S u. a. angenommen wird, such fiir die Beteiligung der Hirnnerven und insbesondere des Nervus octavus Bedeutung h~tte. Frtihzeitige Liquoruntersuchungen und frtihzeitige Octavusuntersuchungen sind in der einige Jahrzehnte zurticMiegenden Luesepoche nicht gemaeht worden, lieBen sich aber bei den noch relativ frisch infizierten VolksstXmmen nachholen. Eine geringere oder kaum nachweisbare 1Be- teiligung des Liquors und der Hirnnerven, insbesondere des Nervus octavus, in der Friihlues wtirde daftir sprechen, dab der erw~,hnte Gesichtspunkt erhShter Nerva~Jinit~t des Syphilis- virus bei den sogenannte~ zivilisierten VSlkern auch ftir das Vorkommen und den Ablauf der Innenohrlues yon Be- deutung w~re.

"vVenn in FINGers Klinik unter I7o Salvarsanbehandelten einige Octavusst6rungen, unter gleichzeitig 632 Quecksilber- pat ienten keine einzige Octavussthrung vorgekommen sei, so kann man nich~ umhin, im Salvarsan ein sehddigendes Moment anzunehmen, ohne natiirlieh damit, wie wir noch sehen werden, andere ursiiehliche .Falctoren auszuschliefien.

Endlich wurde behauptet, dab die verzettelte Dosierung schnld an den Nervensthrungen sei. Das darI man aber nicht so auffassen, dab verzettelte, d .h . zu schwache Medikation ~berhaupt verh~ngnisvoll seL Wismut soll, soweit man das durch Spiroch~tenschwund in den Efflorescenzen nachweisen kann, langsamer und schw~eher als Salvarsan, Queeksilber wieder naeh dieser Richtung noch schw~cher als Wismut wirken; beide Mittel sind aber hinsichtlich Hirnnervbeteili- gung keineswegs so belastet wie das Salvarsan. Also nicht verzettelte antisyphilitisehe Dosierung i~berhaupt, sondern nut verzettelte Salvarsandosierung scheint f/ir die Hirnnerven und besonders den Nervus oetavus bedenklich zu sein.

Um ein uorl~iu]iges Fazit aus unseren Er6rterungen zu ziehen, k6nnen wir folgende Vermutungen aufstellen: Wir scheinen uns in einer Luesepoche zu befinden, in der das Virus aus hier nicht n~her zu erhrternden Grfinden eine bevorzugte Nerva]finitdt zeigt; in dieser Epoehe wurde uns ein Mittel an die Hand gegeben, das neurotrope Eigenscha/ten hat.

Es kommt nun darauf an, die Neurotropie des Salvarsans auszunutzen, unter mhglichster Ausschaltung schXdigender Einflfisse; ob die yon einigen gesch~tzte besondere Wirkung der Salvarsan-Quecksilbermischspritzen darauf beruht, dab das neurotrope Salvarsan gleichsam als ,,Gleitschiene" dienf ftir das gleichzeitig einverleibte Quecksilber, soll nicht ent- schieden werden.

HAIKE und WECHSELMANN, die als die ersten auf die nach Salvarsan geh~tuft auftretenden Hirnnerv- und insbesondere Octavussch~digungen hinwiesen, kamen zu der such heute noeh gtiltigen Auffassung, dal3 mittels Salvarsan eine Provo- kation erzielt wtirde, ein Stadium der Lues, das man frtiher erst in der SpXtperiode zu sehen gewohnt gewesen w~tre, und such dann wohl kaum in dieser H~ufigkeit.

Diese frfihzeitig auftretenden Hirnnerverkrankungen deutete und bezeichnete man, nach ]~ttRLICHS Vorgang, als Neurorezidiv. Ohne diesen Vorgang anfangs mit gentigender Klarheit pr~zisiert zu haben, ging wohl die allgemeine Auf- Iassung dahin, dab die Lues an vorher intakten Hirnnerven rezidiviert sei. Der Nervus octavus hat sich abet, oft ohne ]edes sub]ektive Symptom, in einer iiberraschend groBen Zahl yon F~llen schon in den allerfrfihesten Stadien als mehr oder weniger erkrankt gezeigt; die dann sp~ter Beschwerden verursachenden ,,Neurorezidive" wird man zwanglos als Neuroexacerbationen einer Iortlaufend schleichenden, dureh Salvarsan provozierten a]ctivierten spezifisch syphilitischen Nervschi~digung auffassen k6nnen.

Hinsichtlich der Therapie kam man nach dem Vorgange yon Voss u. a. zu dem Ergebnis, dab energische tZortsetzung der Salvarsantcur die 4--8 Woehen naeh abgebroehener erster Nut auftretenden Octavuserscheinungen wieder zum Rtick- gang zu bringen verm6ge. Ganz besonders instruktiv ist ein yon NATI~AN.verhffentlichter Fall, der 6 ~Vochen nach kom- binierter Quecksilber-Salvarsankur eine schwere Hirnnerv- erkrankung zeigte und sich auf reine Salvarsankur besserte.

Um fiber Wirkungsmhglichkeiten und fiber etwaige Ge- fahren des Salvarsans eine gewisse Klarheit zu gewinnen, haben wit folgendes zu bedenken: ]~ei Anwendung des Salvarsans kommen 3 Faktoren in Frage:

i. der toxische Eaktor; 2. der in]ektiOse, spezi/isch syphilitische Faktor, und 3. ein realctiver Gewebs[aktor.

Der reaktive Gewebsfaktor dfirfte in den ersten Wochen der Luesinfektion noch nieht oder nu t in geringem Mage sich auswirken, solange noch keine nennenswerte Ha~imng der SpirochXte im Zellgewebe eingetreten ist. Die noch mobile Spirochete kann vom Salvarsan erJaflt werden, ohne schon an einer ausgesprochenen Haftungsstelle besonders

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starke, unter Umsth~nden durch die Lokalisation vital oder funktionell gef~ihrliche Reaktionen auszul6sen. Anders schein- bar in den folgenden Stadien, in denen das Salvarsan mit den Spiroch~iten auch einen bestimmteren, umschriebeneren Gewebs- und Reaktionsherd trifft, wenn auch vielleicht nu t indirekt dutch Abthtung der Spiroch~tten und dadureh be- wirkte Ausschwemmung von Endotoxinen mit sekund~iren Reizerscheinungen.

Diese Gewebsreaktionen w~iren mehr oder minder gleich- gtiltig, ja vielleicht sogar in allgemeinimmunbi01ogischer Hin- sicht niitzlich, wenn sie an vital oder funktionell indifferenten Stellen der Haut oder Schleimhaut auftr~ten; da sie abet vital oder funktionelI wichtige Nervengebiete betreffen, was offenbar durch die Nervenaffinit~it des Mittels und vielleicht, wie wir sahen, dutch die Nervenaffinit~it der Lues bedingt ist, mug der reaktive Gewebsfaktor in der Indikation und Answahl der Behandlungsmethoden erheblich in Rechnung gestellt werden.

Ob nun der reaktive Gewebsfaktor schon in Wirksamkeit getreten ist, daftir bietet uns die Seroreaktion einen gewissen Anhalt, wenn man sich auch wohl vorstellen kann, dab schon vor Beginn des Positivwerdens der Seroreaktion reaktive Gewebsvorg~inge in Ausbildung sind.

Von den oben angenommenen 3 Faktoren: I. dem toxi- schen, 2. dem infektihsen, 3. dem reaktiven Gewebsfaktor, ~ritt sicherlich der dritte erst naeh einer gewissen Zeit post infectionem in Aktion, w~ihrend Faktor 2 nach den Uber- impfungsversuchen yon MULZER u. a. schon auffallend frtih - - im Tierversuch - - sich nachweisen l~igt. 13ei einem Teil der Infizierten dtirfte der infekti6se Faktor langsam spontan abnehmen, was aus den nicht seltenen echten oder schein- baren Selbstheilungen hervorgeht. Zu Beginn der Lues haben wir nach Salvarsandarreichung mehr mi~ toxisch infekti6sen Einfltissen zu rechnen, wobei uns die nun jahre- lange Erfahrung lehrt, dab hier der infektl6se Faktor aas- schlaggebend ist, denn Steigerung der SMvarsandosen, also des supponiert toxischen Faktors, bessert gewhhnlich die klinischen Erscheinungen. Die reaktive Gewebst~itigkeit ist jetzt noch nieht in wirksamer Ausbildung. Anders spater! Der infekti6se Faktor ersch6pft sieh mindestens in einer gewissen Zahl yon F~illen; dadurch kann der toxische Faktor relativ wirksamer werden, und zwar um so mehr, je stgrker inzwischen durch Gewebshaftung der Spiroch~iten der reaktive Gewebsfaktor Geltung erlangt hat.

Im ,Stadium der primaren Lues - - Prim/iraffekt mit negativem Wassermann und negativem Octavusbefund - - haben w i r e s vorwiegettd mit mobiler Spiroch~teninvasion zu tun, ohne sekundXre Gewebshaftung, d .h . auBer an der prim~ren Affektion; bier ist Salvarsan das souver~ne Mittel.

Im Stadium der initialen Lues - - so schlug ich vor, das nach der Rostschen Einteilung zwischen Primer- und Frtih- lues liegende, dutch negativen Serumbefund und positiven Befund am Nervus octavus gekennzeiehnete Stadium zu bezeichnen - - ist infoIge besonderer Affinit~itsbedingungen eine Gewebssthrung nachweisbar, die aber klinisch auf3er- ordentlich fltichtig sein kann und offenbar noch nicht mit schwererer GewebsJixation des infektihsen Virus verbunden ist. Solange die Reaktion noch nega t iv i s t , kann man auch hier hoffen, wie im Prims dutch energisehe Salvarsan- gaben der noeh vorwiegend mobilen InJektion aueh in den bereits erreichten Schlupfwinkeln Herr zu werden.

Anders wenn die Serumreaktion positiv wird, wit es also mit dem Rostschen Stadium der ~ri~hlues zu tun haben. Ich bestreite nicht, dab auch bier mancher mit Salvarsan- kuren gute Erfolge gezeitigt hat. Wie sich tiberhaupt die Syphilidologen zur Behandlung dieses Stadiums stellen,

wenn nicht gleichzeitig eine Octavuserkrankung vorliegt, steht im Rahmen dieser Abhandlung nicht zur Diskussion. Ist aber im Rostschen Frtihstadium eine Octavusbeteiligung nachweisbar, so ist es richtig und .praktisch sicher auch erfolgr~ich, zun~chst mit einer Quecksilberkur (oder Wismut) zu beginnen, an die man dann eine Salvarsankur anschtie/3en kann; jedenialls sollte man yon dieser Forderung nicht ab- gehen, wenn das Stadium der Frtihlues mit Octavuszeichen ohne Haut- ~nd Schleimhaute//lorescenzen verlS, uft, und sollte, soweit es sich durchsetzen 1XBt, wenigstens einen Teil der Quecksilberkur als Sehmierkur durchffihren.

Bei Fri~hlues, die mit Oetavuszeichen vergesellschaftet ist und gleichzeitigen Haut- oder SchIeimhauteruptionen ist der Erfolg an den Haut- und Schleimhautaffektionen nach Salvarsan allerdings in der Regel so offensichtlich, dab man sich bier, "besonders bei Schteimhautefflorescenzen, schwer entschlieBen wird, auf die fast zauberhaft wirkende Salvarsan- spritze zu verzichten. Man soilte dann aber, wenn man auch nicht mit Quecksilber die Kur einleitet, nach wenigen Sal- varsanspritzen, welche die ~ul3eren I~stigen Erscheinungen beseitigt haben, unter Beriicksichtigung und st~ndiger Kontrolle des Nervus octavus, mehrere Quecksilber- oder Wismutgaben einschalten.

Im Stadium der Spdtlues, in dem etwaige Octavuszeichen mit gumm6sen Ver~nderungen einhergehen kSnnen, sind durch Salvarsan ausgel6ste akute Exacerbationen im Reaktions- gewebe zu bef/irchten und auch beobachtet worden, wobei es praktisch keine IRolle spielt, ob die Verschlimmerungen mehr auf das Konto der Lues als auf das des Salvarsans zu setzen ist. Die Tatsache, dab man offenbar in diesem Stadium mit energischer Queclcsilberbehandlung + Joddarreichung weniger riskiert und, wie jahrzehntelange Erfahrungen frtiher gezeigt haben, bei schweren Hirnnervensthrungen recht viel erreichen kann, smite auch hier der Quecksilberbehandlumg den Vorrang einr~,umen, ohne dab man daran anschlieflend auf Unter- stiitzung mit Salvarsan zu verzichten braucht.

Eines Vorkomm~lisses muB noch Erw~ihnung getan werden, das in den Gang der SMvarsankur st6rend eingreifen kann, die unmit telbar Stunden bis wenige Tage nach der Salvarsaninjektion auftretenden IReaktionen, weIche harm- loser oder auch recht schwer verlaufen khnnen und nicht mit den oben genannten Neurorezidiven (Neuroexacerbationen) identisch sind. Die harmlosen sind wohl ein Jkquivalent der yon der Haut als Jarisch-Herxheimersche Reaktion bekannten Eruptionen und klingen schnell wieder ab. Hier scheinen angioneurotische St6rungen mindestens eine urs/~chlich unter- sifitzende Rolle zu spieten; man kann derartig iiberempfind- liche Patienten mit einigen Kalkinjektionen salvarsanfester machen und das Salvarsan selbst dann noch, wie es SPIETI~OFF ftir den sonstigen angioneurotischen Symptomenkomplex empfahl, in Kalklhsung injizieren.

Gelegentlich, wenn auch glticklicherweise selten, kommt es zu ernsten Gef~iBsthrungen, wie sie yon BIELSCttOWSKy- W~Ct~S~LMaNIq mit letalem Ausgang beschrieben sind. Zu Thrombose neigende GehirngeffigverXnderungen auf chloro- tischer, allgemein infektihser auch syphilitischer Grundlage werden dutch das fiir die Capillaren giftige Salvarsan gesteigert. Die sich durch die Hirngef~iBthrombose entwickelnde Ence- phalitis h~morrhagica kann bei entsprechender Lokalisation auch die zentralen Teile des Innenohres erfassen.

Trotz alIer Gefahren und Bedenken abet, welche durch unzweckm~iBige Anwendung des Salvarsans bedingt sind, ist das Salvarsan als Antisyphili t ieum nicht zu entbehren ; es ist ein Innenohrgi]t, das bei richtiger Dosierung und Indikation therapeutiseh aul3erordentlich wirksam ist und als Prophylal~- ticUm bei rechtzeitiger Anwendung Innenohrschdden zu ver- hfiten vermag.


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