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Einführung in die Geometrie

Sommersemester 2015

Vorlesungsskript

Dr. Hendrik Kasten und Dr. Denis Vogel

8. September 2017

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Inhaltsverzeichnis

1 Die Elemente von Euklid 3

2 Affine und projektive Geometrie 9

2.1 Inzidenzebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2.2 Affine Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2.3 Projektive Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

2.4 Der Zusammenhang zwischen affinen und projektiven Ebenen . . . . . . . . . . 21

2.5 Affine und Projektive Schnittpunktsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

3 Hilbertebenen 40

3.1 Die Anordnungsaxiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3.2 Die Kongruenzaxiome für Strecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

3.3 Die Kongruenzaxiome für Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

3.4 Ergänzungswinkel, Gegenwinkel und rechte Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

3.5 Orthogonalität und Parallelität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

3.6 Der Kongruenzsatz für Dreiecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

3.7 Mittelsenkrechte und Winkelhalbierende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

3.8 Innen- und Außenwinkel im Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

3.9 Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

4 Euklidische Ebenen 91

4.1 Das Vollständigkeitsaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

4.2 Euklidische Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

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Inhaltsverzeichnis 2

4.3 Die Dreiecksungleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

4.4 Parallelprojektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

4.5 Streckenmaße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

4.6 Der Strahlensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

4.7 Koordinatensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

4.8 Der Hauptsatz über euklidische Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

4.9 Dreiecke in der euklidischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

4.10 Kreise in der euklidischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

5 Nichteuklidische ebene Geometrie 157

5.1 Inversion am Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

5.2 Hyperbolische Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

6 Polytope 177

6.1 Die Eulersche Polyederformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

6.2 Platonische Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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KAPITEL 1

Die Elemente von Euklid

Um das Jahr 325 vor unserer Zeitrechnung verfasste Euklid sein berühmtes Werk Die Elemen-te, in dem er die Arbeiten etwa von Pythagoras, Theaetetus und Eudoxos zusammenfasste undverbesserte. Dieses war das erste große Lehrbuch der Mathematik und für viele hundert Jahreeine Standardreferenz. Das erste Buch der Elemente widmet sich der Einführung der (ebenen)Geometrie und zeigt erstmals musterhaft den Aufbau einer exakten Wissenschaft, indem diemeisten Aussagen auf einen Vorrat an Grundannahmen zurückgeführt werden. Da wir uns imweiteren mit eben diesem Problem befassen werden, wenn auch von einem moderneren Stand-punkt aus, wollen wir an dieser Stelle einen ausführlichen Blick in dieses erste Buch werfen.Dieses gliedert sich in die vier Teile

� Definitionen,

� Postulate,

� Axiome,

� Propositionen.

Es scheint an dieser Stelle angebracht, kurz auf diese Begriffe einzugehen, insbesondere auf denUnterschied zwischen dem Begriff des „Postulats“ und dem Begriff des „Axioms“, da letztereheute oft synonym gebraucht werden. Wir werden nun immer erst einen Begriff erläutern unddann auf den entsprechenden Teil von Euklids Buch eingehen.

Definitionen

Unter einer Definition versteht Euklid wie wir auch heute eine Erklärung eines mathemati-schen Objekts. Der Begriff scheint jedoch weniger streng gefasst als in der heutigen Praxis, sohaben einige seiner Definitionen eher den Charakter einer Aussage (siehe Definition 3). Dass

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Euklid mit seinen Definitionen auf nicht näher erläuterte naive Konzepte wie etwa „Teile“,„Längen“ und „Breiten“ verweist, kann man ihm dagegen nicht anlasten; auch moderne, aufder Mengenlehre aufbauende Beschreibungen tun dies, wenn auch in einem weitestgehendreduzierten Umfang.

Euklids Definitionen sind die folgenden.

1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat.

2. Eine Linie ist eine breitenlose Länge.

3. Die Enden einer Linie sind Punkte.

4. Eine gerade Linie (Strecke) ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig liegt.

5. Eine Fläche ist, was Länge und Breite hat.

6. Eine Fläche wird von Linien begrenzt.

7. Eine Fläche ist eben, die zu den Geraden auf ihr gleichmäßig liegt.

8. Ein ebener Winkel ist die Neigung zweier Linien in einer Ebene gegeneinander, die ein-ander treffen, ohne einander fortzusetzen.

9. Gerade Linien, die einen Winkel bilden, schneiden sich.

10. Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade Linie gestellt, einander gleiche Nebenwinkelbildet, dann ist jeder der beiden gleichen Winkel ein rechter; und die stehende geradeLinie heißt senkrecht zu der, auf der sie steht.

11. Ein Winkel größer als ein rechter heißt stumpf.

12. Ein Winkel kleiner als ein rechter heißt spitz.

13. Die Dinge reichen bis an ihre Grenzen.

14. Eine Figur ist eine Fläche, die durch die Grenzen, in denen sie liegt, bezeichnet wird.

15. Ein Kreis ist eine ebene, von einer einzigen Linie umfasste Figur mit der Eigenschaft, dassalle von einem innerhalb der Figur gelegenen Punkte bis zur Linie laufenden Streckeneinander gleich sind.

16. Und Mittelpunkt des Kreises heißt dieser Punkt.

17. Der Durchmesser eines Kreises ist eine gerade Linie durch den Mittelpunkt, die durch diePunkte auf der Kreislinie begrenzt und vom Mittelpunkt in Radien halbiert wird.

18. Ein Halbkreis wird durch Durchmesser und getroffener Kreislinie begrenzt; sein Mittel-punkt ist derselbe wie der des Kreises.

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5 Kapitel 1. Die Elemente von Euklid

19. Geradlinige Figuren sind solche, die von Strecken umfasst werden; dreiseitige, die vondrei, vierseitige, die von vier, . . .

20. Von den dreiseitigen Figuren ist ein gleichseitiges Dreieck jede mit drei gleichen Seiten,ein gleichschenkliges Dreieck jede mit zwei gleichen Seiten, und ein ungleichseitiges Drei-eck jedes mit drei verschiedenen Seiten.

21. Außerdem heißt ein Dreieck rechtwinklig, wenn es einen rechten Winkel hat, stumpf-winklig, wenn es einen stumpfen Winkel hat, und spitzwinklig, wenn alle drei Winkelspitz sind.

Postulate

Postulate sind grundlegende Forderungen in einer Theorie, die nicht bewiesen werden müs-sen. Im Gegensatz zu den Axiomen, eher grundlegende Logikaussagen, benennen sie, welcheAktionen wir in der Ebene ausführen können, und beschreiben diese Ebene dadurch. In demSinne sind die Postulate das Herzstück von Euklids Geometrie.

Bei Betrachtung der Postulate sollte nun noch darauf hingewiesen werden, dass Euklid mit denhier aufgeschriebenen Postulaten noch implizit weitergehende Forderungen macht, die er inspäteren Beweisen benötigt. Um auch solchen Anforderungen zu genügen, müsste beispiels-weise das erste Postulat um die Eindeutigkeit der Strecke zwischen zwei Punkten erweitertwerden.

Die Euklidischen Postulate sind nun: Es sei gefordert,

1. dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann,

2. dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend gerade verlängern kann,

3. dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis zeichnen kann,

4. dass alle rechten Winkel einander gleich sind,

5. dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innenauf der selben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei rechte werden, danndie zwei geraden Linien bei Verlängerung ins Unendliche sich treffen auf der Seite, aufder die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei rechte sind.

Während die ersten vier Postulate prägnant formuliert und unmittelbar einsichtig sind, erfor-dert das fünfte ein wenig Überlegung oder, besser, eine Zeichnung.

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Abbildung 1.1: Das 5. Postulat besagt, dass sich g und h auf der rechten Seite treffen.

Wegen seiner mangelnden Eleganz war das fünfte Euklidische Postulat lange Zeit umstritten.Zunächst wollte man darum eine bessere Formulierung finden, wie etwa Proclus (410-485),Clavius (1537-1612), Clairaut (1713-1765), Simson (1687-1768) und Playfair (1748-1819). Diesgelang aber nicht befriedigend. Schließlich geriet man zur Überzeugung, das fünfte Postulatmüsse sich aus den ersten vieren herleiten lassen. So bemühten sich beispielsweise Sacche-ri (1667-1733), Lambert (1728-1777) und Legendre (1752-1833) aus der Annahme, das fünftePostulat sei falsch, einen Widerspruch herzuleiten, vertaten sich dabei aber alle. Euklids Par-allelenpostulat war weiterhin die beste Wahl. Und erst über 2000 Jahre nach Euklid, im 19.Jahrhundert mit Gauß (1777-1855), Bolyai (1802-1860) und Lobatschevski (1793-1856), solltedie Frage nach dessen Notwendigkeit endgültig geklärt werden. Wir werden die Lösung die-ses impliziten Problems im Laufe dieser Vorlesung ausführlich studieren.

Axiome

Axiome im Sinne von Euklid machen Dinge der selben Dimension vergleichbar. Als Dingekommen hierbei Linien, Winkel, Flächen, usw. infrage. Dinge der selben Dimension könnenvereinigt und verglichen werden, was bei Dingen verschiedener Dimension nicht möglich ist.So können wir ein Dreieck und ein Viereck vergleichen, nicht jedoch ein Dreieck und eine Linie.

Diese Axiome beschreiben also keine Strukturen wie die Euklidische Ebene, sondern sollen dielogischen Grundlagen liefern. In dieser Hinsicht sind sie allerdings lückenhaft.

Euklid fordert die folgenden Axiome.

1. Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.

2. Wenn Gleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen gleich.

3. Wenn von Gleichem Gleiches weggenommen wird, sind die Reste gleich.

4. Was einander deckt, ist gleich.

5. Das Ganze ist größer als der Teil.

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7 Kapitel 1. Die Elemente von Euklid

Propositionen

Eine Proposition ist ganz wie in der modernen Mathematik ein aus den Definitionen vermö-ge der Postulate und Axiome hergeleitetes Ergebnis. Euklid gibt allein in seinem ersten Buch48 Propositionen mit Beweisen an. Wir wollen an dieser Stelle nur ein Beispiel präsentieren,die Konstruktion eines gleichseitigen Dreiecks. Dabei orientieren wir uns an der Ausgabe vonSems/Dou aus dem Jahr 1618 (vgl. Abbildung ??) und passen lediglich die Sprache ein wenigan unser gegenwärtiges Deutsch an.

Proposition 1 (Auf einer vorgegebenen geraden Linie ein gleichseitiges Dreieck machen).Die vorgegebene Linie sei AC. Nehmt mit einem Zirkel die Länge AC, danach stellt den einen Fuß(jedoch die Weite des Zirkels unverändert) in A, und zieht (wie in Postulat 3 erlaubt) aus dem Punkt Aals Mittelpunkt aus C einen Teil des Umfangs eines Kreises als CD. Desgleichen auch aus C von A dasStück des Umfangs als AE, welches durchschneidet CD in B. Von dort seien (wie in Postulat 1 erlaubt)zwei Linien gezogen zu A und C: So ist ABC das gleichseitige Dreieck.

Beweis. Offensichtlich ist AB gleich AC und BC gleich AC nach Definition des Kreises (Definiti-on 15). Daraus folgt, dass auch AB gleich BC ist (Axiom 1), so dass das Dreieck ABC gleichseitigist (Definition 20).

Abbildung 1.2: Die Gerade AC mit dem gleichseitigen Dreieck aus Proposition 1.

So einfach und überzeugend der obige Beweis zunächst klingt, wirft er doch noch Fragen auf.Wieso schneiden sich etwa die beiden Kreise um A und um C überhaupt? Betrachtet man Ab-bildung 1.2, so erscheint es intuitiv klar, doch aus den Definitionen, Postulaten und Axiomenvon Euklid geht die Behauptung nicht unmittelbar hervor: Während das fünfte Postulat garan-tiert, dass sich zwei gerade Linien zumindest unter geeigneten Bedingungen schneiden, wissenwir nichts über Schnittpunkte von Kreisen.

Genau genommen gibt es hier zwei Probleme. Zum einen schneiden sich zwei beliebige Kreise,auch solche von gleichem Radius, nicht zwangsläufig. Das ist ein Problem des Abstands derMittelpunkte.

Zum anderen ist ohne einen (zu Euklids Zeiten noch nicht bekannten!) geeigneten Vollstän-digkeitsbegriff nicht klar, dass ein Schnittpunkt, den man „sieht“, auch tatsächlich existiert.Um dies zu veranschaulichen, führen wir die Konstruktion aus Proposition 1 in der rationalenkartesischen Ebene durch, wo es diese Vollständigkeit ja eben nicht gibt.

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Abbildung 1.3: Der Schnittpunkt B = ( 12 ,√

32 ) ist kein gültiger Punkt der rationalen Ebene.

Beide Probleme lassen sich durch Hinzunahme eines geeigneten Postulats beheben. Insofernzeigt diese Untersuchung, genau wie die entsprechenden Anmerkungen zu den Definitionenund den Postulaten, dass Euklids Arbeit zwar einerseits bahnbrechend war und die Entwick-lung der Geometrie und der gesamten Mathematik hin zu einer auf Axiomen beruhenden ex-akten Wissenschaft maßgeblich geprägt hat. Andererseits jedoch genügt Euklids Axiomatikunseren heutigen Ansprüchen nicht mehr. In den folgenden Kapiteln werden wir die in denElementen dargelegte Theorie daher in einem zeitgemäßeren Gewand studieren, wie es so zu-erst 1899 von Hilbert in seiner Arbeit „Grundlagen der Geometrie“ eingeführt wurde. Die vonuns eingeführten Axiome weichen hierbei im Detail von Hilberts Axiomatik ab.

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KAPITEL 2

Affine und projektive Geometrie

In den Kapiteln 3 und 4 werden wir die euklidische Geometrie aus Kapitel 1 in moderner Formstreng axiomatisch einführen. Wir folgen hierbei keinem speziellen Autor, sondern bemühenuns, ein möglichst übersichtliches und gut verständliches Axiomensystem zusammenzustel-len. Um die hierbei verwendete Herangehensweise kennenzulernen und um die ersten auchspäter noch verwendeten Begriffe einzuführen studieren wir in diesem Kapitel zunächst diedeutlich schwächeren Begriffe der Inzidenzebene, der affinen Ebene und der projektiven Ebe-ne.

2.1 Inzidenzebenen

Sei P eine Menge, und sei G eine Menge von Teilmengen von P. Die Elemente von P heißen imFolgenden Punkte, die Elemente von G Geraden. Für Punkte A, B, C ∈ P, Geraden g, h ∈ G undeine Teilmenge M ⊆ P mit mindestens 3 Elementen führen wir analog zu Euklids Definitionendie folgenden Sprechweisen ein.

� A liegt auf g bzw. g geht durch A, falls A ∈ g,

� A ist ein Schnittpunkt von g und h, falls A ∈ g ∪ h,

� M heißt kollinear, falls es ein g ∈ G gibt mit M ⊆ g,

� A, B, C heißen in allgemeiner Lage, falls {A, B, C} nicht kollinear ist (es also kein g ∈ Ggibt mit A, B, C ∈ g),

� g und h heißen parallel (schreibe g ‖ h), falls g = h oder g ∪ h = ∅.

Diese Definitionen passen einerseits ganz gut zu unserer naiven Geometrie, andererseits istaber das Konzept der Geraden hier noch sehr allgemein und umfasst zum Beispiel auch den

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2.1. Inzidenzebenen 10

ganzen Raum P. Um Geometrie in unserem Sinne betreiben zu können, brauchen wir nocheinen Ersatz für die Euklidischen Postulate.

Definition 2.1. Das Paar (P, G) heißt eine Inzidenzebene, falls die folgenden Inzidenzaxiome erfülltsind.

(I1) Durch zwei verschiedene Punkte A 6= B ∈ P existiert genau eine Gerade in G. Diese heißt dieVerbindungsgerade A ∨ B von A und B.

(I2) Auf jeder Geraden liegen mindestens zwei Punkte.

(I3) Es gibt drei Punkte in allgemeiner Lage.

Für „Sei (P, G) eine Inzidenzebene.“ schreiben wir künftig auch kurz „(I)“.

Das erste Inzidenzaxiom ist offensichtlich gerade das präzisierte erste Postulat von Euklid.Die anderen beiden Inzidenzaxiome sichern die Existenz einer Mindestanzahl von Punkten.Insgesamt haben wir ein Axiomensystem und können uns nun fragen, ob wir ein Modell dafürfinden, also ein Paar (P, G), das die Axiome erfüllt.

Beispiel 2.2. Das kleinste Beispiel einer Inzidenzebene muss wegen (I3) aus mindestens drei PunktenA, B, C bestehen. Tatsächlich erfüllt

(P, G) = ({A, B, C}, {{A, B}, {A, C}, {B, C}})

offensichtlich die Inzidenzaxiome, und für P = {A, B, C} gibt es auch keine andere Teilmenge G derPotenzmenge P(P) von P, für die das stimmt,

Abbildung 2.1: Das kleinste Beispiel einer Inzidenzebene

denn: Für P = {A, B, C} ist definitionsgemäß G ⊆ P(P). Nach (I3) kann {A, B, C} nicht in G sein.Deshalb müssen nach (I1) die Mengen {A, B}, {A, C}, {B, C} in G liegen. Schließlich sind nach (I2)die Mengen ∅, {A}, {B}, {C} keine Geraden. #

Wir haben nun das abstrakte Konzept der Inzidenzebene eingeführt und ein Modell dafür ge-funden. Wir wollen nun erste Eigenschaften von Inzidenzebenen beweisen und so zeigen, dassman bereits in einem derart allgemeinen Setting Geometrie betreiben kann.

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11 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Proposition 2.3 (I). Zwei nicht parallele Geraden g und h haben einen eindeutig bestimmten Schnitt-punkt, den wir ab sofort mit g ∧ h bezeichnen wollen.

Beweis. Aus g ∦ h folgt definitionsgemäß g 6= h und g ∪ h 6= ∅. Nehmen wir an, es gäbe zweiverschiedene Punkte A, B ∈ g ∪ h. Dann gälte

g(I1)= A ∨ B

(I1)= h,

was nicht sein kann. Damit haben g und h einen eindeutig bestimmten Schnittpunkt, was zuzeigen war.

Proposition 2.4 (I). Seien A, B, C ∈ P mit A 6= B und A 6= C. Dann sind äquivalent

(i) C ∈ A ∨ B,

(ii) A ∨ B = A ∨ C.

Beweis. Nehmen wir zunächst C ∈ A ∨ B an. Dann geht die Gerade A ∨ B durch die beidenPunkte A, C und nach (I1) gilt sofort A ∨ B = A ∨ C, also (ii).

Sei umgekehrt A ∨ B = A ∨ C. Dann gilt sofort C ∈ A ∨ C = A ∨ B, also (i).

Proposition 2.5 (I). (a) Für jede Gerade g ∈ G gibt es einen Punkt A ∈ P mit A 6∈ g.

(b) Für jeden Punkt A ∈ P gibt es eine Gerade g ∈ G mit A 6∈ g.

Beweis. (a) Falls die Behauptung nicht stimmt, so gibt es eine Gerade g ∈ G, die durch allePunkte in P geht. Für diese gilt dann g = P, was ein Widerspruch zu (I3) ist.

(b) Sei A ∈ P ein fest gewählter Punkt. Nach (I3) gibt es dann einen weiteren Punkt B ∈Pr {A}, und nach (I1) gibt es eine Gerade A∨ B durch diese beiden Punkte. Nach (a) existiertnun ein Punkt C ∈ P, der nicht auf A ∨ B liegt, so dass nach Proposition 2.4 die Geraden A ∨ Bund B ∨ C nicht übereinstimmen, was wieder mit Proposition 2.4 bedeutet, dass A nicht aufB ∨ C liegt.

Abbildung 2.2: In einer Inzidenzebene gibt es zu jeder Geraden einen Punkt, der nicht daraufliegt, und zu jedem Punkt eine Gerade, die nicht durch ihn geht.

Abschließend für diesen Abschnitt wollen wir nun zeigen, dass für einen beliebigen Körper Kdie Ebene K2 durch eine geeignete Wahl der zugehörigen Geradenmenge G zu einer Inzidenz-ebene gemacht werden kann. Definieren wir dort also zunächst einen geeigneten Geradenbe-griff.

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2.1. Inzidenzebenen 12

Definition 2.6. Sei K ein Körper. Dann sind durch

gA,v := A + Kv := {A + λv | λ ∈ K} mit A ∈ K2, v ∈ K2 r {0}

eindimensionale affine Unterräume des K-Vektorraums K2 gegeben. Die Menge Kv nennt man hierbeiauch die Richtung von gA,v.

Es ist a priori nicht klar, dass der Begriff der Richtung, wie er soeben eingeführt wurde, wohl-definiert ist. Das wollen wir nun zeigen.

Proposition 2.7. Sei K ein Körper und seien A, B, v, w ∈ K2 mit v 6= 0 6= w. Dann sind die beidenfolgenden Aussagen äquivalent.

(i) gA,v = gB,w,

(ii) Kv = Kw und B ∈ gA,v.

Beweis. Sei zunächst gA,v = gB,w. Dann ist zum einen direkt B ∈ gB,w = gA,v. Zum anderengibt es deswegen aber auch ein λ ∈ K mit B = A + λv. Weil analog aus B + w ∈ gA,v auchB + w = A + µv für ein geeignetes µ ∈ K folgt, erhalten wir

w = (B + w)− B = (A + µv)− (A + λv) = (µ− λ)v ∈ Kv

und somit Aussage (ii).

Gelte nun umgekehrt Aussage (ii). Dann können wir mit geeigneten µ, ρ ∈ K

w = µv und B = A + ρv

schreiben. Da nach Definition weder v noch w Null sein darf, folgt sofort µ 6= 0. Es ergibt sich

gB,w = {B + λw | λ ∈ K}= {(A + ρv) + λ(µv) | λ ∈ K}= {A + (ρ + λµ)v | λ ∈ K}= {A + λv | λ ∈ K}= gA,v,

wobei wir für das vorletzte Gleichheitszeichen benutzt haben, dass wegen µ 6= 0 mit λ auchλµ−1 − ν ganz K durchläuft (und umgekehrt). Das ist gerade Aussage (i).

Definition 2.8. Sei K ein Körper. Mit der Notation aus Definition 2.6 setzen wir

A2(K) := (K2, GK) mit GK := {gA,v | A, v ∈ K2, v 6= 0}.

Satz 2.9. Für einen beliebigen Körper K istA2(K) eine Inzidenzebene.

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13 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Beweis. (I1) Seien A 6= B ∈ K2 Punkte. Dann ist offensichtlich gA,B−A ∈ GK eine Geradedurch A und B. Wir müssen nun noch zeigen, dass jede Gerade g ∈ GK durch A und B mitgA,B−A identisch ist. Nach Definition von GK können wir eine solche Gerade g schreiben alsgC,v mit geeigneten C, v ∈ K2 und v 6= 0. Da ja A, B ∈ g vorausgesetzt war, gibt es λ, µ ∈ Kmit A = C + λv und B = C + µv. Weil A und B als verschieden angenommen waren, ist dabeiλ 6= µ. Durch Einsetzen folgt

v =1

µ− λ(B− A)

und somit

g = gC,v = gA−λv,v2.7= gA,v

2.7= gA,B−A (2.1)

wie behauptet.

(I2) Sei g ∈ GK beliebig. Dann gibt es A, v ∈ K2 mit v 6= 0, so dass wir g = gA,v schreibenkönnen. Offensichtlich liegen dann die Punkte A und A + v auf g. Wegen v 6= 0 gilt auchA 6= A + v.

(I3) Die Punkte O = (00), X = (1

0) und Y = (01) sind in allgemeiner Lage, denn offensichtlich

liegt X nicht auf der Geraden gO,Y−O = KY.

2.2 Affine Ebenen

Definition 2.10 (I). Das schwache Parallelenaxiom lautet

(p) Ist A ein Punkt und g eine Gerade, dann gibt es höchstens eine Gerade h mit h ‖ g und A ∈ h.

Das starke Parallelenaxiom lautet

(P) Ist A ein Punkt und g eine Gerade, dann gibt es genau eine Gerade h mit h ‖ g und A ∈ h.

In beiden Fällen bezeichnen wir die eindeutige Parallele im Folgenden als pg A.

Definition 2.11. Eine Inzidenzebene (P, G), die das starke Parallelenaxiom erfüllt, heißt eine affineEbene. Für „SeiA = (P, G) eine affine Ebene.“ schreiben wir künftig auch kurz „(aff.)“.

Beispiel 2.12. (a) Die Inzidenzebene

(P, G) = ({A, B, C}, {{A, B}, {A, C}, {B, C}})

über der dreielementigen Menge {A, B, C} erfüllt (P) nicht, da beispielsweise keine zu {A, B}parallele Gerade durch C existiert (vgl. Abbildung 2.1).

(b) Das Paar

(P, G) =({A, B, C, D}, {{A, B}, {A, C}, {A, D}, {B, C}, {B, D}, {C, D}}

)

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2.2. Affine Ebenen 14

ist eine affine Ebene. Die Axiome (I1)− (I3) sind hierbei schnell überprüft. Wir wollen nun Axiom(P) zeigen. Sei dafür X ∈ P und g ∈ G. Falls X auf g liegt, so ist nach (I1) die Gerade g selbstdie eindeutig bestimmte Parallele. Liegt X andererseits nicht auf g, so benötigen wir noch einenPunkt aus P r (g∪ {X}) auf der Parallele, da diese ja zwei verschiedene Punkte außerhalb von genthalten muss. Offensichtlich ist in diesem Fall also P r g die eindeutig bestimmte Parallele.

Abbildung 2.3: Eine affine Ebene mit weniger Punkten gibt es nicht.

(?) Proposition 2.13. (a) Die Axiome (I1), (I2), (I3) und (p) sind unabhängig voneinander, d. h.wenn ein Paar (P, G) beliebige drei davon erfüllt, so kann daraus nicht geschlussfolgert werden,ob es auch das vierte Axiom erfüllt.

(b) Die Axiome (I1), (I2), (I3) und (P) sind nicht unabhängig voneinander. Genauer folgt aus (I1),(I3) und (P) bereits (I2).

Beweis. Wir zeigen zunächst Behauptung (a). Da wir im obigen Beispiel (b) bereits eine affi-ne Ebene konstruiert haben, genügt es zum Beweis der Proposition, für jedes der vier Axio-me ein Beispiel anzugeben, das dieses Axiom nicht erfüllt, die anderen jedoch schon. Für das(schwache) Parallelenaxiom (p) folgt das aus Übungsaufgabe 2.2. Für die übrigen Fälle ist inder folgenden Abbildung jeweils ein Beispiel angegeben.

Natürlich erfüllen diese Beispiele jeweils die übrigen drei Axiome.

Für Behauptung (b) nehmen wir nun an, es gälten (I1), ¬(I2), (I3) und (P), und führen dieszum Widerspruch. Wir unterscheiden hierbei zwei Fälle:

Fall 1: Es gibt eine Gerade g ∈ G ohne Punkte. Nach (I3) gibt es in P drei Punkte A, B, C inallgemeiner Lage, und nach (I1) gibt es durch je zwei von diesen eine eindeutige Gerade; dieseGeraden heißen A ∨ B, A ∨ C und B ∨ C.

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15 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Da g keine Punkte enthält, gilt (A ∨ C) ∪ g = ∅ = (B ∨ C) ∪ g, so dass A ∨ C und B ∨ Czwei Parallelen von g durch C sind. Da A, B, C in allgemeiner Lage sind, gibt es also zweiverschiedene Parallelen von g durch C, was ein Widerspruch zu (P) ist.

Fall 2: Es gibt eine Gerade g ∈ G mit genau einem Punkt. Nennen wir diesen Punkt A. Esgibt zwei Punkte B, C ∈ P, so dass A, B, C in allgemeiner Lage sind,

denn: Nach (I3) gibt es in P mindestens drei Punkte. Gäbe es keine zwei davon, die zusammenmit A in allgemeiner Lage liegen, so könnte man iterativ zeigen, dass alle Punkte von P aufeiner Geraden liegen, was ein Widerspruch zu (I3) wäre. #

Nach (I1) gibt es durch je zwei der drei Punkte A, B, C eine eindeutige Gerade; diese Geradenheißen A ∨ B, A ∨ C und B ∨ C. Nach (P) gibt es nun genau eine zu A ∨ C parallele Gerade hdurch B.1

Abbildung 2.4: g und h schneiden sich nicht.

Aus (A ∨ C) ‖ h folgt sofort A 6∈ h. Wegen g = {A} gilt somit insbesondere g ∪ h = ∅. Esgibt also mit A ∨ C und g = {A} zwei verschiedene zu h parallele Geraden durch A, was imWiderspruch zu (P) steht.

Natürlich ist die Überprüfung der Unabhängigkeit nach jedem Hinzufügen weiterer Axiomeinteressant. Da dabei allerdings auch der Aufwand explodiert, werden wir diese Idee künftignicht weiter verfolgen.

Wir wollen nun zeigen, dass für einen beliebigen Körper die Ebene A2(K) eine affine Ebeneist. Dafür untersuchen wir zunächst die Geraden gA,v mit A, v ∈ K2 und v 6= 0 weiter undergänzen Proposition 2.7 um

Proposition 2.14. Sei K ein Körper und seien A, B, v, w ∈ K2 mit v 6= 0 6= w. Dann sind die beidenfolgenden Aussagen äquivalent.

1Dass es diese Gerade wirklich gibt, ist der wesentliche Unterschied zu (p).

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2.2. Affine Ebenen 16

(i) gA,v ‖ gB,w,

(ii) Kv = Kw.

Beweis. Nehmen wir zunächst an, es gelte Kv = Kw. Dann gibt es ein λ ∈ K× mit w = λv.

Fall 1. B ∈ gA,v. Dann gilt nach Proposition 2.7 sogar gB,w = gA,v.

Fall 2. B 6∈ gA,v. Dann besitzt die Gleichung B = A + µv keine Lösung µ ∈ K und somit auchdie Gleichung

B = A + (µ− νλ)v ⇐⇒ B + νw = A + µv

keine Lösung (µ, ν) ∈ K× K, so dass die Geraden gA,v und gB,w leeren Schnitt haben undsomit parallel sind.

Sei umgekehrt Kv 6= Kw. Dann spannen v und w den gesamten Vektorraum K2 auf, so dass dieGleichung

λv− µw = B− A ⇐⇒ A + λv = B + µw

eine Lösung (λ, µ) ∈ K × K hat. Das heißt gerade gA,v∪ gB,w 6= ∅. Andererseits folgt mit

Proposition 2.7 aus Kv 6= Kw sofort gA,v 6= gB,w, so dass die beiden Geraden nicht parallelsind.

Satz 2.15. Für einen beliebigen Körper K ist A2(K) eine affine Ebene, die affine Koordinatenebeneüber K.

Beweis. Nach Satz 2.9 müssen wir nur noch das starke Parallelenaxiom (P) überprüfen. Seiendafür A ∈ K2 und g ∈ GK beliebig. Schreibe g = gB,v mit B, v ∈ K2 und v 6= 0. Nach der geradegezeigten Proposition 2.14 ist dann die Gerade gA,v durch A parallel zu gB,v. Das Axiom (P)folgt, wenn wir zeigen können, dass gA,v mit dieser Eigenschaft eindeutig ist.

Sei also h := gC,w ∈ GK parallel zu g mit A ∈ h. Nach Proposition 2.14 gilt dann Kv = Kw, alsoh = gC,v. Wegen A ∈ h folgt mit Proposition 2.7 sofort h = gA,v, was zu zeigen war.

Proposition 2.16 (aff.). Parallelität ist eine Äquivalenzrelation auf G.

Beweis. Da aus g = h insbesondere g ‖ h folgt, ist Parallelität reflexiv.

Weiterhin gilt für beliebige g, h ∈ G

g ‖ h ⇐⇒ g = h oder g ∪ h = ∅ ⇐⇒ h = g oder h ∪ g = ∅ ⇐⇒ h ‖ g,

so dass die Parallelität auch symmetrisch ist.

Schließlich wollen wir auch die Transitivität der Parallelität zeigen. Seien dafür f , g, h ∈ G dreiGeraden mit f ‖ g und g ‖ h. Zu zeigen ist, dass dann auch f ‖ h gilt.

Fall 1. f ∪ h = ∅. Dann ist nichts mehr zu zeigen.

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17 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Fall 2. f ∪ h 6= ∅. Dann gibt es einen Punkt A ∈ f ∪ h. A liegt also auf zwei Geraden ( f undh), die parallel zu g sind. Wegen der Eindeutigkeitsaussage im starken Parallelenaxiom(P) müssen daher f und h übereinstimmen.

Definition 2.17 (aff.). Für eine Gerade g ∈ G heißt die Äquivalenzklasse

[g] := {h ∈ G | h ‖ g}

das Parallelenbüschel zu g; insbesondere ist so die Menge G eine disjunkte Vereinigung von Paralle-lenbüscheln. Für einen Punkt A ∈ P heißt die Menge

A∗ := {h ∈ G | A ∈ h}

das Geradenbüschel durch A.

Abbildung 2.5: Veranschaulichung des Parallelenbüschels zu einer Geraden g und des Gera-denbüschels durch einen Punkt A.

Beispiel 2.18. Sei K ein Körper und gA,v ∈ GK eine Gerade. Dann ist

[gA,v] = {h ∈ GK | h ‖ gA,v}2.14= {gB,w | B, w ∈ K2, w 6= 0, Kv = Kw} 2.7

= {gB,v | B ∈ K2}

das Parallelenbüschel von gA,v in A2(K). Insbesondere ist die Richtung Kv = gO,v ein Vertreter desParallelenbüschels zu gA,v.

Sei nun A ∈ K2 ein beliebiger Punkt. Dann ist

A∗ = {h ∈ GK | A ∈ h} (2.1)= {gA,B−A | B ∈ K2, B 6= A} 2.7

= {gA,v | v ∈ K2, v 6= 0}

das Geradenbüschel durch A inA2(K).

Definition 2.19. Seien A = (P, G) und A = (P, G) zwei affine Ebenen. Eine bijektive Abbildungϕ : P → P heißt affiner Isomorphismus, wenn sie Geraden auf Geraden abbildet, wenn also für alleg ∈ G das Bild ϕ(g) in G liegt. Ist hierbei A = A, so heißt ϕ ein affiner Automorphismus von A.Die Menge der affinen Automorphismen vonA wird mit Aut(A) bezeichnet.

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2.3. Projektive Ebenen 18

Natürlich ist für beliebige affine Ebenen A = (P, G) und A = (P, G) mit ϕ : P → P auchϕ−1 : P → P ein affiner Isomorphismus. Insbesondere ist für eine beliebige affine Ebene A dieMenge Aut(A) zusammen mit der Hintereinanderausführung eine Gruppe.

Beispiel 2.20. A2(F2) ist eine affine Ebene mit den vier Punkten (00), (

10), (

01), (

11) und ist mit einer

beliebigen bijektiven Zuordnung von Punkten zur affinen Ebene aus Abbildung 2.3 affin isomorph.

Man kann zeigen (vgl. Übungsaufgabe 2.6), dass sich für einen beliebigen Körper K die GruppeAut(A2(K)) als die Menge von Abbildungen ϕ : K2 → K2 beschreiben lässt, für die es einM ∈ GL2(K), ein v ∈ K2 und einen Körperautomorphismus σ von K gibt, so dass für alle(x

y) ∈ K2

ϕ(

(xy

)) = M

(σ(x)σ(y)

)+ v

gilt. Hierbei ist ein Körperautomorphismus eine bijektive Abbildung σ : K → K mit

σ(a + b) = σ(a) + σ(b) und σ(ab) = σ(a)σ(b)

für alle a, b ∈ K. Für K = R ist die Identität σ = idR der einzige Körperautomorphismus, sodass hier die affinen Automorphismen

Aut(A2(R)) = {ϕ : R2 → R2 | ∃M ∈ GL2(R), w ∈ R2 : ϕ(v) = Mv + w für alle v ∈ R2}

gerade die Affinitäten Aff2(R) sind.

2.3 Projektive Ebenen

Analog der Theorie der affinen Ebenen aus Abschnitt 2.2 können wir so genannte projektiveEbenen studieren. Solche erhalten wir anschaulich aus affinen Ebenen, indem wir dort für jedesBüschel von Parallelen zwangsweise einen „unendlich fernen“ Schnittpunkt hinzunehmen.

Definition 2.21. Sei P eine Menge und G eine Menge von Teilmengen von P. Das Paar (P, G) heißteine projektive Ebene, wenn die folgenden Axiome erfüllt sind.

(P1) Durch zwei verschiedene Punkte A 6= B ∈ P existiert genau eine Gerade in G. Diese heißt dieVerbindungsgerade A ∨ B von A und B.

(P2) Auf jeder Geraden liegen mindestens drei Punkte.

(P3) Es gibt drei Punkte in allgemeiner Lage.

(P4) Je zwei Geraden schneiden sich.

Für „Sei P = (P, G) eine projektive Ebene.“ schreiben wir künftig auch kurz „(proj.)“.

Offensichtlich ist jede projektive Ebene eine Inzidenzebene, aber keine affine Ebene. Ebensooffensichtlich gilt die folgende Proposition.

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19 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Proposition 2.22 (proj.). Zwei verschiedene Geraden g 6= h ∈ G haben einen eindeutigen Schnitt-punkt g ∧ h.

Beweis. Nach (P4) sind g und h nicht parallel, so dass die Behauptung mit Proposition 2.3 folgt.

Beispiel 2.23. Es gibt eine projektive Ebene mit 7 Punkten und 7 Geraden, nämlich die Fanoebene.Diese ist gegeben als Paar (P, G) mit

P = {A, B, C, D, E, F, G},G =

{{A, B, G}, {A, C, E}, {B, C, F}, {A, D, F}, {B, D, E}, {C, D, G}, {E, F, G}

}.

Es ist schnell überprüft, dass die Fanoebene tatsächlich die Axiome (P1)− (P4) erfüllt.

Analog zur affinen Koordinatenebene wollen wir nun mit der projektiven Koordinatenebeneein anschaulicheres Beispiel konstruieren. Für einen beliebigen Körper K sei dabei

PK := {KP | P ∈ K3 r {0}}

die Menge der eindimensionalen Untervektorräume von K3. Zum Vereinfachen der Handha-bung der Elemente von PK werden wir ab sofort für ein beliebiges P ∈ PK stets kanonischeinen Vertreter P ∈ K3 r {0} wählen. Für eine beliebige Teilmenge g ⊆ PK schreiben wirg =

⋃KP∈g KP und setzen

GK := {g ⊆ PK | g ist zweidimensionaler Untervektorraum von K3}.

Proposition 2.24. Die Abbildung ϕ : g 7→ g von GK in die Menge der zweidimensionalen Untervek-torräume von K3 ist eine Bijektion mit Umkehrabbildung

ψ : U 7→ {KP | P ∈ K3 r {0}, KP ⊆ U}.

Insbesondere gilt ψ(g) = g für jedes g ∈ GK, so dass sich g mit der Menge der eindimensionalenUntervektorräume von g identifizieren lässt.

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2.3. Projektive Ebenen 20

Beweis. Ist U ⊆ K3 ein zweidimensionaler Untervektorraum, so ist ψ(U) die Vereinigung dereindimensionalen Untervektorräume KP von U. Es gilt also ψ(U) = U, so dass ψ(U) in GKliegt. Damit ist die Abbildung ψ wohldefiniert.2

Dass ϕ ◦ ψ auf der Menge der zweidimensionalen Untervektorräume von K3 die Identität ist,haben wir mit der vorherigen Überlegung gleich mitgezeigt. Die Proposition folgt daher mit

(ψ ◦ ϕ)(g) = ψ(g) = {KP | P ∈ K3 r {0}, KP ⊆ g} = g.

Satz 2.25. Für einen beliebigen Körper K trägt das Paar P2(K) := (PK, GK) die Struktur einer projek-tiven Ebene und wird die projektive Koordinatenebene über dem Körper K genannt.

Beweis. Wir wollen zunächst das Axiom (P1) zeigen, dass also durch je zwei verschiedenePunkte A = KA und B = KB in PK eine eindeutige Gerade geht. Wie wir aus der Li-nearen Algebra wissen, gibt es genau einen zweidimensionalen Untervektorraum von K3,der die eindimensionalen Vektorräume KA und KB enthält, nämlich KA + KB. Es gibt da-her in der Tat genau eine Gerade aus GK durch A, B ∈ PK, nämlich die VerbindungsgeradeA ∨ B := ψ(KA + KB).

Für (P2) müssen wir nun zeigen, dass auf jeder Geraden g ∈ GK mindestens drei Punkte ausPK liegen. Wir unterscheiden zwei Fälle.

Fall 1: K hat unendlich viele Elemente. Dann enthält jeder zweidimensionale Untervektor-raum U von K3 unendlich viele eindimensionale Untervektorräume, da mit einer beliebigenBasis (B1, B2) von U durch (B1 + λB2)λ∈K eine unendliche Familie von paarweise linear unab-hängigen Vektoren gegeben ist.

Fall 2: K ist ein endlicher Körper. Sei U ein beliebiger zweidimensionaler Untervektorraumvon K3. Wenn q die Elementanzahl von K ist, so ist die Elementanzahl von U durch q2 gegeben,und die Anzahl der eindimensionalen Untervektorräume in U ist

q2 − 1q− 1

= q + 1.

Jede Gerade in GK besitzt also q + 1 Elemente. (P2) folgt, da jeder Körper mindestens zweiElemente besitzt.

Um (P3) zu zeigen, müssen wir noch drei Punkte in allgemeiner Lage finden. Dies erfüllen füreine beliebige Basis {B1, B2, B3} von K3, beispielsweise die Standardbasis, die Punkte

B1 = KB1, B2 = KB2 und B3 = KB3,

denn: Sonst gäbe es ja eine Gerade g ∈ GK mit B1, B2, B3 ∈ g, so dass die drei linear unabhängi-gen Vektoren B1, B2, B3 im zweidimensionalen Vektorraum g liegen müssten, was offensichtlichnicht sein kann. #

2Für ϕ gilt dies ja nach Definition.

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21 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Zu guter Letzt wollen wir (P4) zeigen, dass sich also je zwei Geraden aus GK in einem Punktaus PK schneiden. Seien also g 6= h ∈ GK zwei verschiedene Geraden. Nach der Dimensions-formel für Durchschnitte von Vektorräumen aus der Linearen Algebra gilt

dim(g ∪ h) = dim(g) + dim(h)− dim(g + h) = 2 + 2− dim(g + h).

Da mit g 6= h auch g 6= h gilt, haben wir dim(g + h) = 3, so dass

dim(g ∪ h) = 2 + 2− 3 = 1

folgt. Es gibt also wie zu zeigen war genau einen Punkt KP ∈ PK im Durchschnitt von g undh.

Definition 2.26. Seien P = (P, G) und P = (P, G) projektive Ebenen. Eine Abbildung ϕ : P → Pheißt projektiver Isomorphismus, wenn sie bijektiv ist und alle Geraden g ∈ G auf Geraden ϕ(g) ∈G abbildet. Ist hierbei P = P, so heißt ϕ ein projektiver Automorphismus von P. Die Menge derprojektiven Automorphismen von P wird mit Aut(P) bezeichnet.

Natürlich ist für beliebige projektive Ebenen P = (P, G) und P = (P, G) mit ϕ : P → P auchϕ−1 : P → P ein projektiver Isomorphismus. Insbesondere ist für eine beliebige projektiveEbene P die Menge Aut(P) zusammen mit der Hintereinanderausführung eine Gruppe.

Beispiel 2.27. P2(F2) ist eine projektive Ebene mit 7 Punkten und 7 Geraden und als solche projektivisomorph zur Fanoebene.

2.4 Der Zusammenhang zwischen affinen und projektiven Ebenen

Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen affinen und projektiven Ebenen, den wir in die-sem Abschnitt herausarbeiten wollen.

Satz 2.28 (aff.). Schreiben wir[G] := {[g] | g ∈ G}

für die Menge aller Parallelenbüschel in G und setzen

P := P ∪ [G] und G := {g ∪ {[g]} | g ∈ G} ∪ {[G]},

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2.4. Der Zusammenhang zwischen affinen und projektiven Ebenen 22

so istA := (P, G) eine projektive Ebene, der so genannte projektive Abschluss von (P, G). InA heißt[g] der unendlich ferne Punkt von g ∪ {[g]}, und [G] die unendlich ferne Gerade.

Abbildung 2.6: Der projektive Abschluss der affinen Ebene mit vier Punkten (vgl. Abbildung2.3) ist die Fanoebene.

Beweis. Wir zeigen zunächst (P1) und betrachten dafür zwei Punkte A 6= B ∈ P.

Fall 1: A, B ∈ P. Dann gibt es nach (I1) genau eine Gerade g ∈ G mit A, B ∈ g. Offensichtlichist also g ∪ {[g]} ∈ G die eindeutig bestimmte Gerade durch A und B.

Fall 2: A ∈ P, B = [g] ∈ [G]. Nach dem starken Parallelenaxiom (P) gibt es genau eine Paralleleh zu g durch A. Es gilt dann [h] = [g], so dass h ∪ {[h]} ∈ G die eindeutig bestimmte Geradedurch A und [g] ist.

Fall 3: A = [g], B = [h] ∈ [G]. Offenbar ist [G] die eindeutig bestimmte Gerade durch [g] und[h].

Wir wollen nun (P2) zeigen, dass also jede Gerade durch mindestens drei Punkte geht. Fürjedes g ∈ G gilt nach (I2) sofort |g ∪ {[g]}| ≥ 3, so dass |[G]| ≥ 3 zu zeigen bleibt, dass es alsoin einer affinen Ebene mindestens drei Parallelenklassen gibt. Dies gilt,

denn: Nach (I3) gibt es in einer affinen Ebene stets drei Punkte A, B, C in allgemeiner Lage.Diese werden nach (I1) durch die eindeutig bestimmten Verbindungsgeraden A ∨ B, A ∨ Cund B ∨ C verbunden. Nach (P) gibt es außerdem genau eine zu B ∨ C parallele Gerade gdurch A, so dass mit A∨ B, A∨ C und g drei paarweise verschiedene Geraden durch A gehen.Diese sind damit auch paarweise nicht parallel, was die Behauptung zeigt. #

Um (P3) zu zeigen betrachten wir drei Punkte A, B, C ∈ P, die nicht auf einer gemeinsamenGeraden aus G liegen. Diese gibt es, weil (P, G) das Inzidenzaxiom (I3) erfüllt. Offensichtlichgeht dann aber auch keine der Geraden g ∪ {[g]} aus G durch alle drei Punkte A, B, C. DieBehauptung folgt, da [G] leeren Schnitt mit P hat.

Um abschließend (P4) zu beweisen, müssen wir zeigen, dass zwei beliebige Geraden aus Gsich schneiden.

Fall 1. Seien g ∪ {[g]} und h ∪ {[h]} zwei verschiedene Geraden in G. Falls bereits g und hals Geraden in G nicht parallel sind, so schneiden sich die beiden Geraden in P. Sind g und handernfalls parallel, so ist [g] = [h] ein Schnittpunkt.

Fall 2. [G] und eine beliebige andere Gerade g ∪ {[g]} schneiden sich in [g].

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23 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Satz 2.29 (proj.). Sei g ∈ G eine Gerade. Dann ist Pg := (Pg, Gg) mit

Pg := P r g und Gg := { f ∪ Pg | f ∈ G r {g}} = { f r { f ∧ g} | f ∈ G r {g}}

eine affine Ebene.

Beweis. Seien A 6= B ∈ Pg zwei verschiedene Punkte. Damit in Pg das erste Inzidenzaxiom(I1) gilt, müssen wir zeigen, dass es in Gg genau eine Gerade durch A und B gibt. Da A und Binsbesondere auch in P liegen, gibt es nach (P1) für P genau eine Gerade f ∈ G durch A undB. Wegen A, B ∈ Pg ist f 6= g. Mit f ∪ Pg gibt es daher eine Gerade in Gg durch A und B.Ist andererseits h ∪ Pg eine Gerade in Gg, auf der die Punkte A und B liegen, dann ist h eineGerade aus G durch A und B und deshalb bereits mit f identisch. Es folgt die Eindeutigkeitvon f ∪ Pg.

Nun wollen wir (I2) zeigen. Sei dafür f ∪ Pg eine beliebige Gerade. Auf der zugehörigenGeraden f ∈ G liegen nach (P2) mindestens 3 Punkte. Die Behauptung folgt mit f ∪ Pg =f r { f ∧ g}.

Für den Beweis von (I3) stellen wir zunächst fest, dass die Menge der Punkte Pg mindestenszwei Elemente hat. Dem ist so,

denn: Nach (P3) gibt es in P drei Punkte in allgemeiner Lage. Insbesondere gibt es daher aucheinen Punkt in Pr g, und dessen nach (P1) existente und von g verschiedene Verbindungsge-rade mit einem beliebigen Punkt auf g hat nach (P2) mindestens 3 Punkte, von denen nach (P4)mindestens 2 in Pg = Pr g liegen. #

Offensichtlich haben wir (I3) gezeigt, wenn wir ausschließen können, dass die Menge derPunkte Pg eine Gerade in Gg ist. Wir nehmen nun an, Pg wäre doch eine Gerade in Gg, undführen dies zum Widerspruch. Es gäbe dann nämlich eine Gerade f ∈ G r {g}mit

Pg = f ∪ Pg = f r { f ∧ g},

so dass sich diese Gerade als f = Pg ·∪{ f ∧ g} schreiben ließe. Nach (P2) gäbe es auf f einen vonf ∧ g verschiedenen Punkt A und auf g einen von von f ∧ g verschiedenen Punkt B, und nach(P1) ginge eine eindeutige Gerade h := A ∨ B durch diese beiden Punkte. Nach Konstruktionwäre h sowohl von f als auch von g verschieden, es gälte also f ∧ h = A und g ∧ h = B. Esfolgte dann

h = P ∪ h = (Pg ∪ g) ∪ h ⊆ ( f ∪ g) ∪ h = (g ∪ h) ∪ ( f ∪ h) = {A, B},

was offensichtlich im Widerspruch zu (P2) steht. Die Menge Pg ist also keine Gerade in Gg,was zu zeigen war.

Es bleibt das starke Parallelenaxiom (P) zu zeigen. Sei dafür A ∈ Pg ein Punkt und fg :=f ∪ Pg ∈ Gg eine Gerade. Falls A schon auf fg liegt, ist letztere bereits eine mögliche paralleleGerade durch A. Gäbe es in Gg außerdem noch eine weitere Gerade hg ‖ fg durch A, so wärediese wegen A ∈ fg

∪ hg und der Parallelität der beiden Geraden mit fg identisch. Wir habenalso für A ∈ fg die Behauptung gezeigt und können von nun an annehmen, dass A nicht auffg liegt.

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2.4. Der Zusammenhang zwischen affinen und projektiven Ebenen 24

Wir zeigen zunächst die Existenz. Wegen A ∈ Pg liegt A nicht auf g. Wir setzen nun h :=A∨ ( f ∧ g) ∈ G. Nun liegt A weder auf f noch auf g, so dass f , g, h paarweise verschieden sindund nach Konstruktion h ∧ g = f ∧ g = h ∧ f gilt. Wenn wir nun hg := h ∪ Pg = h r {h ∧ g}setzen, dann gilt A ∈ hg und

hg∪ fg = h ∪ f ∪ Pg = (h ∪ g) ∪ Pg = ∅.

Es folgen hg ‖ fg und A ∈ hg.

Zum Beweis der Eindeutigkeit betrachten wir eine weitere Gerade hg ∈ Gg mit hg ‖ fg undA ∈ hg. Dann existiert eine Gerade h ∈ G r {g} mit hg = h ∪ Pg = h r {h ∧ g}. Wir könnendann

h = hg ∪ {h ∧ g} und f = fg ∪ { f ∧ g}

schreiben. Da A nicht auf fg liegt, sind fg und hg verschieden; wegen ihrer Parallelität habensie also leeren Schnitt. Mit (P4) haben h und f somit den eindeutigen Schnittpunkt

h ∧ f = h ∧ g = f ∧ g.

Da A in hg ⊆ h liegt, folgt

h = A ∨ (h ∧ f ) = A ∨ ( f ∧ g) = h

und somit auch hg = hg.

Bemerkung 2.30 (aff.). Nach Konstruktion giltA[G] = A.

Satz 2.31 (proj.). Wir setzen für A ∈ P

A∗ := {g ∈ G | A ∈ g} ⊆ G und P∗ := {A∗ | A ∈ P}.

Dann ist P∗ := (G, P∗) eine projektive Ebene und wird die zu P duale projektive Ebene genannt.

Beweis. Zunächst zeigen wir (P1). Seien dafür g 6= h ∈ G. Dann gibt es genau ein A∗ ∈ P∗ mitg, h ∈ A∗,

denn: Für A∗ ∈ P∗ gilt

g, h ∈ A∗ ⇐⇒ A ∈ g und A ∈ h⇐⇒ A = g ∧ h.

#

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25 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Die eindeutig bestimmte Verbindungsgerade von g und h in P∗ ist also durch g ∨ h = (g ∧ h)∗

gegeben.

Nun zeigen wir auch (P2), dass also für jedes A ∈ P die Menge A∗ mindestens drei Elementehat, was gleichbedeutend dazu ist, dass durch jeden Punkt A ∈ P inPmindestens drei Geradengehen. Das stimmt,

denn: Da die projektive Ebene P das Axiom (P3) erfüllt, gibt es in P drei Punkte in allgemeinerLage. Insbesondere gibt es einen von A verschiedenen Punkt B ∈ P, und die Gerade A ∨ Bist nicht schon ganz P. Wählen wir also einen Punkt C ∈ P r (A ∨ B). Dann sind A, B, C inallgemeiner Lage, und wir sehen schnell ein, dass die Geraden f = A ∨ B, g = A ∨ C undh = B ∨ C paarweise verschieden sind. Da P auch das Axiom (P2) erfüllt, gibt es auf h einenvon B und C verschiedenen Punkt D. Da in P auch (P1) gilt, haben wir

f ∧ g = A, f ∧ h = B und g ∧ h = C.

Insbesondere liegt D ∈ h r {B, C} weder auf f noch auf g, so dass f , g und A ∨ D drei paar-weise verschiedene Geraden durch A sind. #

Um auch (P3) zu zeigen, nutzen wir aus, dass es nach (P3) für P drei Punkte A, B, C ∈ P inallgemeiner Lage gibt. Dann sind die Elemente A ∨ B, A ∨ C und B ∨ C von G in allgemeinerLage,

denn: Wäre dem nicht so, dann gäbe es ein P∗ ∈ P∗ mit A ∨ B, A ∨ C, B ∨ C ∈ P∗. Zurück-übersetzt nach P bedeutet dies, dass P ein gemeinsamer Schnittpunkt der drei Geraden A ∨ B,A ∨ C und B ∨ C sein müsste, was mit

A ∨ B = A ∨ P = A ∨ C

einen Widerspruch dazu ergäbe, dass A, B, C in allgemeiner Lage sind. #

Abschließend zeigen wir noch (P4), dass also zwei beliebige Elemente von P∗ nichtleerenDurchschnitt haben. Seien dafür A∗ 6= B∗ ∈ P∗. Dann gilt für eine beliebige Gerade g ∈ G

g ∈ A∗ ∪ B∗ ⇐⇒ A ∈ g und B ∈ g⇐⇒ g = A ∨ B.

Offensichtlich ist also A∨ B der eindeutig bestimmte Schnittpunkt von A∗ und B∗, in Formeln:A∗ ∧ B∗ = A ∨ B.

Proposition 2.32 (proj.). Durch die Abbildung Ψ : A 7→ A∗ ist ein projektiver Isomorphismus zwi-schen P und seinem Bidual

P∗∗ := (P∗)∗ = (G, P∗)∗ = (P∗, G∗)

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2.4. Der Zusammenhang zwischen affinen und projektiven Ebenen 26

gegeben.

Beweis. Die Abbildung Ψ ist nach Definition surjektiv. Sie ist aber auch injektiv,

denn: Für A 6= B ∈ P gibt es mit (P3) ein C ∈ P, so dass A, B, C in allgemeiner Lage sind.Insbesondere liegt dann B nicht auf A∨C, so dass A∨C auf A∗ liegt, aber nicht auf B∗. Es folgtΨ(A) 6= Ψ(B) und damit die Injektivität. #

Wir müssen nun noch zeigen, dass Ψ Geraden auf Geraden abbildet. Sei dafür g ∈ G. Dann ist

Ψ(g) = {A∗ ∈ P∗ | A ∈ g} = {A∗ ∈ P∗ | g ∈ A∗} = g∗ ∈ G∗

tatsächlich eine Gerade.

Nachdem wir nun gesehen haben, wie man aus affinen Ebenen projektive Ebenen machenkann und umgekehrt, stellt sich an dieser Stelle natürlich die Frage nach dem Zusammenhangzwischen der projektiven Koordinatenebene P2(K) und dem projektiven AbschlussA2(K) deraffinen Koordinatenebene.

Satz 2.33. Sei K ein Körper,A2(K) = (P, G) die affine Koordinatenebene über K mit ihrem projektivenAbschluss A2(K) = (P, G) und P2(K) = (PK, GK) die projektive Koordinatenebene über K. Dann istdie durch

Φ(P) = K ·(

P1

)für alle P ∈ P,

Φ([gA,v]) = K ·(

v0

)für alle [gA,v] ∈ [G]

gegebene Abbildung Φ : P→ PK ein projektiver Isomorphismus. Die beiden projektiven EbenenA2(K)und P2(K) sind also projektiv isomorph.3

Beweis. Zunächst einmal ist Φ wohldefiniert, da nach Proposition 2.7 ür je zwei Vertreter gA,vund gB,w des selben Parallelenbüschels die Richtungen Kv und Kw übereinstimmen.

Φ ist surjektiv,

denn: Sei KP mit P = (t P1, P2, P3) ein beliebiger Punkt aus PK. Ist dabei P3 6= 0, so ist

K · P = K ·

P1P3P2P3

1

= ϕ(

P1P3P2P3

)

im Bild von Φ. Ist andererseits P3 = 0, so gilt

K · P = K ·

P1P20

= ϕ([g0,(P1

P2)]).

3Das rechtfertigt die a priori uneindeutige Schreibweise GK .

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27 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Da dies wieder im Bild von Φ liegt, haben wir die Surjektivität gezeigt. #

Φ ist injektiv,

denn: Nach Definition können ein P ∈ P und ein [gA,v] ∈ [G] nicht das selbe Bild unter Φhaben. Für P, Q ∈ P ist offensichtlich Φ(P) = Φ(Q) ⇐⇒ P = Q. Seien also [gA,v], [gB,w] ∈ [G]mit Φ([gA,v]) = Φ([gB,w]), also mit K · (v

0) = K · (w0). Dann folgt sofort Kv = Kw und somit

[gA,v] = [gB,w]. #

Φ ist also eine Bijektion zwischen P und PK. Wir müssen nun noch zeigen, dass Φ Geraden inG auf Geraden in GK abbildet. Sei dafür zuächst g = gA,v ∪ {[gA,v]} mit A, v ∈ K2 und v 6= 0.Dann gilt

Φ(g) = Φ(gA,v) ∪ {Φ([gA,v])}

= {K ·(

A + λv1

)| λ ∈ K} ∪ {K ·

(v0

)}

= {K ·(

αA + βvα

)| α, β ∈ K nicht beide Null}

= {K ·(α

(A1

)+ β

(v0

))| α, β ∈ K nicht beide Null}.

Φ(g) ist also die Menge aller eindimensionalen Untervektorräume im zweidimensionalen K-Vektorraum U := 〈(A

1), (v0)〉K und somit in GK. Es verbleibt noch der Fall der Gerade g = [G]

zu überprüfen. Hier gilt

Φ(g) = {Φ([gA,v]) | A, v ∈ K2 und v 6= 0} = {K ·(

v0

)| v ∈ K2 r {0}},

so dass Φ(g) die Menge der eindimensionalen Untervektorräume im zweidimensionalen K-Vektorraum

U =

⟨100

|0

10

⟩K

ist. Insgesamt haben wir gezeigt, dass Φ Geraden auf Geraden abbildet und somit ein projekti-ver Isomorphismus ist.

Unser nächstes Ziel ist nun die Untersuchung der dualen projektiven EbeneP2(K)∗ = (GK, P∗K)von P2(K). Wir wollen zeigen, dass diese zu P2(K) projektiv isomorph ist. Einen Kandidatenfür den dafür benötigten projektiven Isomorphismus führen wir in der folgenden Propositionein.

(?) Proposition 2.34. Sei K ein Körper. Dann sind die beiden Abbildungen

γ :

{PK → {zweidimensionale Untervektorräume von K3},P = K · P 7→ UP := Kern( Pt ) = {Q ∈ K3 | Pt · Q = 0}

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2.4. Der Zusammenhang zwischen affinen und projektiven Ebenen 28

und

Γ :

{PK → GK,P = K · P 7→ gP := {eindimensionale Untervektorräume von UP}

bijektiv.

Beweis. Wegen Γ = ψ ◦ γ und Proposition 2.24 müssen wir nur die Aussage über γ zeigen. Wirbeginnen mit der Wohldefiniertheit von γ. Sei dafür P ∈ PK mit P = K · P = K · P′ für zweiVektoren P, P′ ∈ K3 r {0}. Dann sind P und P′ linear abhängig, so dass Kern( Pt ) = Kern( Pt ′)gilt. Die Wohldefiniertheit von γ folgt, da die Dimension von UP wegen

dim UP = dim Kern( Pt ) = 3− rk( Pt ) = 2

tatsächlich 2 ist.

Weiter ist γ surjektiv,

denn: Sei U irgendein zweidimensionaler K-Untervektorraum von K3. Dann ist U gerade derKern der kanonischen Projektion

π : K3 → K3/U.

Sei nun B die kanonische Basis des K3 und C eine Basis von K3/U, und sei DBC(π) die Darstel-lungsmatrix von π bezüglich dieser Basen. Aus Dimensionsgründen gilt dann

DBC(π) = Pt für ein P ∈ K3 r {0},

und nach Konstruktion ist

U = Kern(π) = Kern(DBC(π)) = Kern( Pt ).

#

Schließlich ist γ auch injektiv, denn für P, Q ∈ PK gilt

UP = UQ =⇒ dim Kern(

Pt

Qt

)= 2

=⇒ rk(

Pt

Qt

)= 1

=⇒ Pt und Qt sind linear abhängig=⇒ P = Q.

Es stellt sich heraus, dass die so eingeführte Abbildung Γ recht schöne Eigenschaften hat.

(?) Satz 2.35. Sei K ein Körper. Dann gelten für die in Proposition 2.34 eingeführte Abbildung Γ diefolgenden zwei Aussagen.

(a) Γ ist ein projektiver Isomorphismus, so dass P2(K) und P2(K)∗ projektiv isomorph sind.

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29 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

(b) Für alle Paare von verschiedenen Punkten P, Q ∈ PK gilt Γ(gP ∧ gQ) = P ∨Q.

Beweis. Nach Proposition 2.34 verbleibt für Teil (a) zu zeigen, dass Γ Geraden in GK auf Gera-den in P∗K abbildet. Sei also g ∈ GK eine beliebige Gerade. Wieder nach Proposition 2.34 gibt esein P = KP ∈ PK mit g = gP. Dann ist also

Γ(g) = Γ(gP) = Γ({Q = KQ ∈ PK | Q ∈ UP})= Γ({Q ∈ PK | Pt · Q = 0})= Γ({Q ∈ PK | Qt · P = 0})= Γ({Q ∈ PK | P ∈ UQ})= {gQ | P = KP ∈ gQ}= {h ∈ GK | P ∈ h}= P∗ ∈ P∗K,

ganz wie wir zeigen wollten.

Um nun Aussage (b) zu zeigen betrachten wir für P 6= Q ∈ PK den GeradenschnittpunktS = KS := gP ∧ gQ. Für diesen gilt S ∈ UP

∪ UQ, so dass wir

Pt S = Qt S = 0

haben. Wie im Beweis des (a)-Teils können wir das umformen zu

St P = St Q = 0.

Nun sind P und Q wegen P 6= Q linear unabhängig, und US = Kern( St ) ist nach Konstruktionzweidimensional. Es folgt demnach

US = 〈P, Q〉K = KP + KQ = P + Q.

Nun ist ja Γ = ψ ◦ γ, so dass

Γ(S) = ψ(γ(S)) = ψ(US) = ψ(P + Q) = P ∨Q

gilt, wobei wir uns für die letzte Gleichheit an den Beweis von (P1) in P2(K) erinnern.

(?) Proposition 2.36 (Drei-Punkte-/Drei-Geraden-Kriterium). Sei K ein Körper und seien A =KA, B = KB, C = KC ∈ PK paarweise verschiedene Punkte. Dann sind die folgenden Aussagenäquivalent.

(i) A, B, C sind kollinear.

(ii) Γ(A) = gA, Γ(B) = gB, Γ(C) = gC schneiden sich in genau einem gemeinsamen Punkt.

(iii) Es gibt A, B ∈ K3 r {0} mit C = A− B, A = KA und B = KB.

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2.5. Affine und Projektive Schnittpunktsätze 30

Beweis. „(i)⇐⇒ (ii)“. Genau dann, wenn A, B, C kollinear sind, liegt C auf der Geraden A ∨ B.Das ist äquivalent dazu, dass die Geraden A ∨ B und A ∨ C übereinstimmen. Mit Teil (b) vonSatz 2.35 lässt sich das in

Γ(gA ∧ gB) = Γ(gA ∧ gC)

übersetzen. Mit Proposition 2.34 ist das gleichbedeutend zu

gA ∧ gB = gA ∧ gC,

was zu zeigen war.

„(i)⇐⇒ (iii)“. Unter Annahme von (iii) sind A, B, C linear abhängig, was offensichtlich gleich-bedeutend dazu ist, dass A, B, C kollinear sind. Wir müssen daher nur noch zeigen, dass (iii)aus (i) folgt. Da wir A, B, C als paarweise verschieden angenommen haben, sind A, B, C paar-weise linear unabhängig. Da wir A, B, C als kollinear vorausgesetzt haben, sind aber auchA, B, C linear abhängig, so dass es Skalare α, β ∈ K r {0} gibt mit

C = αA + βB.

Die Behauptung folgt, wenn wir A := αA und B := −βB setzen.

Beim Dualisieren der projektiven Koordinatenebene gehen also folgende Begriffe ineinanderüber:

Punkte ! GeradenVerbindungsgerade ! Schnittpunktkollineare Punkte ! Geraden, die sich in genau einem Punkt schneiden.

2.5 Affine und Projektive Schnittpunktsätze

Da im projektiven Abschluss einer gegebenen affinen Ebene die Unterscheidung zwischen par-allelen und nicht parallelen Geraden entfällt, lassen sich oft mehrere affine Schnittpunktsätzein der projektiven Geometrie zusammenführen. Am elegantesten ist es dann, den projektivenSatz zu zeigen und die zugehörigen affinen Sätze daraus zu folgern. Das wollen wir in diesemAbschnitt in zwei wichtigen Beispielen in der affinen bzw. projektiven Koordinatenebene übereinem beliebigen Körper K durchführen.

Satz 2.37 (Projektiver Satz von Pappus). Sei K ein Körper, und seien g 6= h zwei verschiedeneGeraden in GK mit Schnittpunkt S = g ∧ h. Seien weiter A, B, C ∈ g r h und A′, B′, C′ ∈ h r gpaarweise verschiedene Punkte. Dann sind die Schnittpunkte

S1 := (A ∨ B′) ∧ (B ∨ A′),S2 := (B ∨ C′) ∧ (C ∨ B′),S3 := (C ∨ A′) ∧ (A ∨ C′)

paarweise verschieden und kollinear.

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31 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Beweis. Nach Voraussetzung sind S, A, B und S, A, C jeweils kollinear und paarweise verschie-den. Ist A = KA, B = KB, C = KC und S = KS, sind daher die Mengen {S, A, B} und {S, A, C}jeweils linear abhängig, bestehen aber aus paarweise linear unabhängigen Vektoren. Es folgt,dass es Skalare λ1, . . . , λ4 ∈ K r {0} gibt mit

S = λ1A− λ2B = λ3A− λ4C.

Hierbei ist λ1 6= λ3, da sonst B mit C übereinstimmte, was nicht sein kann. Durch geeigneteWahl der Vertreter A, B, C von A, B, C können wir

S = A− B = λA− C mit einem λ ∈ K r {0, 1} (2.2)

erreichen. Analog erhalten wir

S = A′ − B′ = µA′ − C′ mit einem µ ∈ K r {0, 1}. (2.3)

Aus S = A− B = A′ − B′ folgt A + B′ = A′ + B. Wegen K(A + B′) ∈ A ∨ B′ und K(A′ + B) ∈A′ ∨ B ist

S1 := A + B′

ein möglicher Vertreter von S1, so dass S1 = KS1 gilt.

Aus (2.2) bzw. (2.3) folgt

S =1

λ− 1C− λ

λ− 1B bzw. S =

1µ− 1

C′ − µ

µ− 1B′

und somit1

λ− 1C +

µ

µ− 1B′ =

1µ− 1

C′ +λ

λ− 1B.

Wie oben ist

S2 :=1

µ− 1C′ +

λ

λ− 1B

ein möglicher Vertreter von S2, so dass S2 = KS2 gilt.

Aus S = λA− C = µA′ − C′ folgt schließlich λA + C′ = µA′ + C. Wieder wie oben ist

S3 := λA + C′

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2.5. Affine und Projektive Schnittpunktsätze 32

ein möglicher Vertreter von S3, so dass S3 = KS3 gilt.

Da die Punkte S, A, A′ nicht kollinear sind, bilden die Vektoren S, A, A′ eine Basis von K3. Diegerade gefundenen Vektoren S1, S2, S3 lassen sich in dieser Basis wie folgt ausdrücken.

S1 = A + B′ = −S + A + A′,

S2 =1

µ− 1C′ +

λ

λ− 1B =

1µ− 1

(µA′ − S) +λ

λ− 1(A− S)

= −( 1µ− 1

λ− 1)S +

λ

λ− 1A +

µ

µ− 1A′,

S3 = λA + C′ = −S + λA + µA′.

Man kann nun leicht nachrechnen, dass S1, S2, S3 paarweise linear unabhängig sind. Anderer-seits gilt

det

−1 −( 1µ−1 +

λλ−1 ) −1

1 λλ−1 λ

1 µµ−1 µ

= 0,

wie man zum Beispiel via Laplace-Entwicklung nach der ersten Spalte leicht einsieht. Somitsind S1, S2, S3 linear abhängig. Es folgt, dass S1, S2, S3 paarweise verschieden und kollinearsind, was zu zeigen war.

Korollar 2.38 (Affiner Satz von Pappus). Sei K ein Körper, und seien g 6= h zwei verschiedeneGeraden in GK. Seien weiter A, B, C ∈ g r h und A′, B′, C′ ∈ h r g paarweise verschiedene Punkte.Dann gilt

A ∨ B′ ‖ A′ ∨ B und B ∨ C′ ‖ B′ ∨ C =⇒ C ∨ A′ ‖ C′ ∨ A.

Beweis. Wir dürfen den Projektiven Satz von Pappus 2.37 anwenden. Nach Voraussetzungschneiden sich die zu A ∨ B′ und A′ ∨ B bzw. B ∨ C′ und B′ ∨ C gehörigen projektiven Ge-raden in den jeweiligen unendlich fernen Punkten. Mit dem Projektiven Satz von Pappus 2.37folgern wir, dass sich die Geraden A ∨ C′ und A′ ∨ C projektiv ebenfalls auf der unendlichfernen Gerade schneiden, affin also parallel sind, was zu zeigen war.

Korollar 2.39 (Satz von Pascal). Sei K ein Körper, und seien g 6= h zwei verschiedene Geraden inGK mit Schnittpunkt S = g ∧ h. Seien weiter A, B, C ∈ g r h und A′, B′, C′ ∈ h r g paarweiseverschiedene Punkte mit

A ∨ B′ ∦ B ∨ A′, B ∨ C′ ∦ C ∨ B′, C ∨ A′ ∦ A ∨ C′.

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33 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Dann sind die Schnittpunkte

S1 := (A ∨ B′) ∧ (B ∨ A′),S2 := (B ∨ C′) ∧ (C ∨ B′),S3 := (C ∨ A′) ∧ (A ∨ C′)

paarweise verschieden und kollinear.

Beweis. Das folgt direkt aus dem Projektiven Satz von Pappus 2.37.

(?) Bemerkung 2.40. Man kann zeigen, dass der Projektive Satz von Pappus 2.37 genau dann allge-mein in einer projektiven Ebene gilt, wenn diese projektiv isomorph zu der projektiven KoordinatenebeneP2(K) über einem geeigneten Körper K ist. Analog gilt der Affine Satz von Pappus 2.38 genau dannallgemein in einer affinen Ebene, wenn diese affin isomorph zu der affinen Koordinatenebene A2(K)über einem geeigneten Körper K ist. Die allgemeine Gültigkeit des Affinen Satzes von Pappus wird da-her von vielen Autoren als ein Axiom für die Euklid’sche Ebene herangezogen; wir wählen jedoch eineandere Konstruktion (vgl. Kapitel 3 und 4), bei der die von uns als gültig gewünschten Schlussweisendeutlicher zutage treten.

Genau wie der Projektive Satz von Pappus 2.37 zerfällt auch der folgende Satz im Affinen inmehrere Sätze.

Satz 2.41 (Projektiver Satz von Desargues). Sei K ein Körper, und seien A, B, C, A′, B′, C′ ∈ PKpaarweise verschiedene Punkte mit paarweise verschiedenen Verbindungsgeraden A ∨ A′, B ∨ B′, C ∨C′ ∈ GK, die sich in einem gemeinsamen Punkt S schneiden. Dann sind die Schnittpunkte

P := (A ∨ B) ∧ (A′ ∨ B′), Q := (B ∨ C) ∧ (B′ ∨ C′) und R := (C ∨ A) ∧ (C′ ∨ A′)

entweder paarweise verschieden und kollinear oder alle gleich.

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2.5. Affine und Projektive Schnittpunktsätze 34

Beweis. Da die Geraden A ∨ A′, B ∨ B′ verschieden sind, gilt auch A ∨ B 6= A′ ∨ B′. Nach (P4)gibt es also den Schnittpunkt P, und er ist eindeutig. Analog folgt die Existenz und Eindeutig-keit von Q und R. Wir nehmen nun eine Fallunterscheidung vor.

Fall 1: S 6∈ {A, B, C, A′, B′, C′}. Dann sind S, A, A′ paarweise verschieden und kollinear, analogS, B, B′ und S, C, C′. Insbesondere können wir also Vertreter S, A, A′, . . . von S, A, A′, . . . finden,die

S = A− A′ = B− B′ = C− C′

erfüllen. Hieraus folgt leicht

A− B = A′ − B′, B− C = B′ − C′ und C− A = C′ − A′.

Wegen K(A− B) ∈ A ∨ B und K(A′ − B′) ∈ A′ ∨ B′ ist P := A− B ein möglicher Vertreter vonP; es gilt also P = KP. Ebenso ist Q := B− C bzw. R := C− A ein Vertreter von Q bzw. R, sodass Q = KQ und R = KR gelten. Es folgt

P + Q + R = (A− B) + (B− C) + (C− A) = 0

und somit die lineare Abhängigkeit von P, Q, R. Falls P = Q ist, so folgt wegen R = −P− Qunmittelbar P = Q = R, dasselbe gilt, falls Q = R oder P = Q ist. Insbesondere sind P, Q, Rentweder paarweise verschieden oder alle gleich. Im Fall, dass P, Q, R paarweise verschiedensind ist die lineare Abhängigkeit von P, Q, R aber gleichbedeutend mit der Kollinearität vonP, Q, R.

Fall 2: S ∈ {A, B, C, A′, B′, C′}. Dann können wir ohne Einschränkung annehmen, es gelte S =A. Wie im ersten Fall finden wir Vertreter A, B, B′, . . . von A, B, B′, . . . mit

A = B− B′ = C− C′.

Insbesondere ist dann A − B = −B′. Wegen K(A − B) ∈ A ∨ B und K(−B′) ∈ A′ ∨ B′ istP := −B′ ein möglicher Vertreter von P; es gilt also P = KP. Ebenso ist R := C′ ein Vertretervon R mit R = KR. Wie im ersten Fall zeigt man außerdem, dass Q := B′− C′ ein Vertreter vonQ ist, also Q = KQ erfüllt. Es folgt

P + Q + R = −B′ + (B′ − C′) + C′ = 0,

und somit ergibt sich wie im ersten Fall, dass P, Q, R entweder paarweise verschieden oder allegleich sind. Falls P, Q, R paarweise verschieden sind, impliziert die lineare Abhängigkeit vonP, Q, R die Kollinearität von P, Q, R.

Korollar 2.42 (Kleiner Satz von Desargues). Sei K ein Körper, und seien A, B, C, A′, B′, C′ ∈ K2

paarweise verschiedene Punkte mit paarweise verschiedenen parallelen Verbindungsgeraden A∨ A′, B∨B′, C ∨ C′ ∈ GK. Dann gilt

A ∨ B ‖ A′ ∨ B′ und B ∨ C ‖ B′ ∨ C′ =⇒ C ∨ A ‖ C′ ∨ A′.

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35 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

Beweis. Die zu A ∨ A′, B ∨ B′ und C ∨ C′ gehörigen projektiven Geraden im projektiven Ab-schlussA2(K) ∼= P2(K) schneiden sich nach Voraussetzung im gemeinsamen unendlich fernenPunkt. Die Voraussetzungen des Projektiven Satzes von Desargues 2.41 sind also erfüllt.

Wieder nach Voraussetzung schneiden sich die zu A ∨ B und A′ ∨ B′ bzw. B ∨ C und B′ ∨ C′

gehörigen projektiven Geraden in den jeweiligen unendlich fernen Punkten. Mit dem Projek-tiven Satz von Desargues 2.41 folgern wir, dass sich die Geraden A ∨ C und A′ ∨ C′ projektivebenfalls auf der unendlich fernen Gerade schneiden, affin also parallel sind, was zu zeigenwar.

Korollar 2.43 (Satz von Desargues). Sei K ein Körper, und seien A, B, C, A′, B′, C′ ∈ K2 paarweiseverschiedene Punkte mit paarweise verschiedenen Verbindungsgeraden A ∨ A′, B ∨ B′, C ∨ C′ ∈ GK,die sich in einem gemeinsamen Punkt S ∈ K2 schneiden. Dann gilt

A ∨ B ‖ A′ ∨ B′ und B ∨ C ‖ B′ ∨ C′ =⇒ C ∨ A ‖ C′ ∨ A′.

Beweis. Genauso wie beim Kleinen Satz von Desargues 2.42.

(?) Bemerkung 2.44. In Analogie zu Bemerkung 2.40 kann man zeigen, dass der Projektive Satz vonDesargues 2.41 genau dann allgemein in einer projektiven Ebene gilt, wenn diese projektiv isomorphzu der projektiven Koordinatenebene P2(K) über einem geeigneten Schiefkörper K ist. Analog gilt der(affine) Satz von Desargues 2.43 genau dann allgemein in einer affinen Ebene, wenn diese affin isomorphzu der affinen Koordinatenebene A2(K) über einem geeigneten Schiefkörper K ist. Insbesondere gilt derSatz von Hessenberg, dass nämlich aus dem Satz von Pappus sowohl im Projektiven als auch im Affinender Satz von Desargues folgt.

Wir haben in Abschnitt 2.4 auch über das Dualisieren der projektiven Koordinatenebene ge-sprochen. Dieses ermöglicht uns noch einen weiteren Satz aus dem Projektiven Satz von Des-argues 2.41 zu gewinnen.

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2.5. Affine und Projektive Schnittpunktsätze 36

(?) Satz 2.45 (Dualer Projektiver Satz von Desargues). Sei K ein Körper, und seien f ,g,h, f ′,g′,h′ ∈GK paarweise verschieden derart, dass f ∧ f ′, g ∧ g′ und h ∧ h′ paarweise verschieden und kollinearsind. Dann sind

( f ∧ g) ∨ ( f ′ ∧ g′), (g ∧ h) ∨ (g′ ∧ h′) und (h ∧ f ) ∨ (h′ ∧ f ′)

entweder paarweise verschieden und haben einen eindeutigen gemeinsamen Schnittpunkt, oder sie sindalle gleich .

Beweis. Dies ergibt sich durch Anwendung der aus Proposition 2.34 und Satz 2.35 bekanntenDualisierungsabbildung Γ : PK → GK auf den Projektiven Satz von Desargues 2.41. Dies führtman wie folgt aus.

Da Γ eine Bijektion ist, gibt es paarweise verschiedene Punkte A, B, C, A′, B′, C′ ∈ PK mit

f = gA, g = gB, h = gC, f ′ = gA′ , g′ = gB′ , h′ = gC′ .

Nach Voraussetzung sind

A := f ∧ f ′ = gA ∧ gA′ , B := g ∧ g′ = gB ∧ gB′ und C := h ∧ h′ = gC ∧ gC′

paarweise verschieden und kollinear. Nach Proposition 2.36 ist das äquivalent dazu, dassΓ(A), Γ(B), Γ(C) paarweise verschieden sind und sich in einem eindeutigen gemeinsamenPunkt schneiden. Andererseits gilt nach dem (b)-Teil von Satz 2.35

Γ(A) = Γ(gA ∧ gA′) = A ∨ A′,Γ(B) = Γ(gB ∧ gB′) = B ∨ B′,

Γ(C) = Γ(gC ∧ gC′) = C ∨ C′.

Die Punkte A, B, C, A′, B′, C′ ∈ PK erfüllen also die Voraussetzungen des Projektiven Satzesvon Desargues, mit dem wir schließen können, dass

P := (A ∨ B) ∧ (A′ ∨ B′), Q := (B ∨ C) ∧ (B′ ∨ C′) und R := (C ∨ A) ∧ (C′ ∨ A′)

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37 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

entweder paarweise verschieden und kollinear oder alle gleich sind. Sind P, Q, R alle gleich,so sind auch Γ(P), Γ(Q), Γ(R) alle gleich. Sind P, Q, R paarweise verschieden und kollinear, sosind nach Proposition 2.36 auch Γ(P), Γ(Q), Γ(R) paarweise verschieden und schneiden sich ineinem eindeutigen gemeinsamen Punkt. Es ist nun aber Γ(P) = ( f ∧ g) ∨ ( f ′ ∧ g′),

denn: Da es zu jeder Gerade in GK ein Urbild unter Γ gibt, erhalten wir unter mehrfacher An-wendung des (b)-Teils von Satz 2.35

Γ(P) = Γ((A ∨ B) ∧ (A′ ∨ B′))

= Γ−1(A ∨ B) ∨ Γ−1(A′ ∨ B′)= (gA ∧ gB) ∨ (gA′ ∧ gB′)

= ( f ∧ g) ∨ ( f ′ ∧ g′).

#

Analog können wir

Γ(Q) = (g ∧ h) ∨ (g′ ∧ h′) und Γ(R) = (h ∧ f ) ∨ (h′ ∧ f ′)

zeigen und erhalten so die zu beweisende Aussage.

Übungsaufgaben

Aufgabe 2.1. Sei K ein Körper, P die Menge der eindimensionalen Untervektorräume von K3 und

G = {g ∈ P(P) |⋃

A∈g

A ist ein zweidimensionaler Untervektorraum von K3}.

Zeigen Sie, dass (P, G) eine Inzidenzebene ist.

Aufgabe 2.2. Zeigen Sie, dass die beiden Inzidenzebenen in Beispiel 2.12 auch das schwache Paralle-lenaxiom erfüllen. Geben Sie eine Inzidenzebene mit fünf Punkten an, die das Axiom (p) nicht erfüllt.

Aufgabe 2.3 (aff.). (a) Zeigen Sie, dass für g, h ∈ G mit g ∦ h die Abbildung

ϕ :

{[h] → g,f 7→ f ∧ g

wohldefiniert und bijektiv ist.

(b) Folgern Sie aus (a) und der im Beweis von Satz 2.28 eingesehenen Existenz von mindestens dreiParallelenklassen in der affinen Ebene (P, G), dass es für je zwei Geraden g, h ∈ G eine bijektiveAbbildung ϕ : g → h gibt. Insbesondere sind je zwei Geraden gleichmächtig. Diese Mächtigkeitheißt auch die Ordnung der affinen Ebene (P, G).

Aufgabe 2.4 (aff.). Sei n ∈ N die Ordnung (vgl. Übungsaufgabe 2.3) der affinen Ebene (P, G); nach(I2) gilt dann n ≥ 2. Zeigen Sie in dieser Situation

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2.5. Affine und Projektive Schnittpunktsätze 38

(a) Jedes Geradenbüschel besteht aus n + 1 Geraden, durch jeden Punkt gehen also n + 1 Geraden.

(b) Es gibt n + 1 Parallelenbüschel.

(c) Jedes Parallelenbüschel besteht aus n Geraden, zu jeder Geraden gibt es also n Parallelen.

(d) Es gilt |G| = n(n + 1) und |P| = n2.

Aufgabe 2.5. Seien A = (P, G) und A = (P, G) zwei affine Ebenen und ϕ : P → P ein affinerIsomorphismus. Zeigen Sie, dass dann die folgenden Aussagen gelten.

(a) Für alle a, b ∈ P, a 6= b ist ϕ(a ∨ b) = ϕ(a) ∨ ϕ(b).

(b) Punkte a, b, c ∈ P sind genau dann kollinear, wenn ϕ(a), ϕ(b), ϕ(c) ∈ P kollinear sind.

(c) ϕ(G) := {ϕ(g) | g ∈ G} = G.

(d) Sind g, h ∈ G mit g ‖ h, dann ist ϕ(g) ‖ ϕ(h).

Aufgabe 2.6. Sei K ein Körper. Für M ∈ GL2(K), w ∈ K2 und einen Körperautomorphismus σ vonK sei durch

ϕ(

(xy

)) = M

(σ(x)σ(y)

)+ w für

(xy

)∈ K2.

eine Abbildung ϕ : K2 → K2 gegeben. Zeigen Sie, dass durch ϕ ein affiner Automorphismus vonA2(K)definiert wird, der

ϕ(gA,v) = gϕ(A),ϕ(v)−w

erfüllt.Bemerkung: Mit deutlich mehr Aufwand kann man zeigen, dass umgekehrt jeder affine Automorphis-mus vonA2(K) von der obigen Form ist.

Aufgabe 2.7. (a) Jeder Isomorphismus affiner Ebenen ϕ : A → A′ induziert eine eindeutige Fort-setzung ϕ : A→ A′ zwischen ihren projektiven Abschlüssen.

(b) Für jede Gerade g einer projektiven Ebene (P, G) ist der projektive Abschluss der induziertenaffinen Ebene (Pg, Gg) isomorph zur ursprünglichen projektiven Ebene (P, G).Hinweis: Für eine Gerade h ∈ Gg bezeichne h ∈ G r {g} die eindeutig bestimmte Gerade mith = h r (h ∧ g). Zeigen Sie, dass die Zuordnung h 7→ h ∧ g eine Bijektion ϕ : [Gg] → ginduziert und verwenden Sie diese zur Konstruktion des projektiven Isomorphimus.

Aufgabe 2.8 (proj.). Sei g ∈ G eine Gerade, für welche die affine Ebene (Pg, Gg) von endlicherOrdnung n ist (vgl. Übungsaufgabe 2.3).

(a) Zeigen Sie |h| = n + 1 für alle h ∈ G und |P| = |G| = n2 + n + 1.

(b) Folgern Sie |P| = |G| ≥ 7, also, dass die Anzahl der Punkte in der Fanoebene minimal für eineprojektive Ebene ist.

Aufgabe 2.9. SeiS2 := {x ∈ R3 | |x| = 1}

die Einheitssphäre des R3 bezüglich der euklidischen Norm.

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39 Kapitel 2. Affine und projektive Geometrie

(a) Zeigen Sie, dass die Abbildung

π :

{S2 → PR,x 7→ Rx

surjektiv ist.

(b) Bestimmen Sie für A ∈ PR das Urbild π−1(A).

(c) Beschreiben Sie das Urbild einer Geraden in GR bezüglich π.

Aufgabe 2.10. Sei K ein Körper.

(a) Seien g 6= h zwei verschiedene Geraden in GK. Seien weiter A, C, A′, C′ ∈ g r h undB, D, B′, D′ ∈ h r g paarweise verschiedene Punkte. Zeigen Sie: Wenn die Schnittpunkte

(A ∨ B) ∧ (A′ ∨ B′), (B ∨ C) ∧ (B′ ∨ C′) und (C ∨ D) ∧ (C′ ∨ D′)

auf einer Geraden f ∈ GK liegen, so enthält f auch den Punkt (A ∨ D) ∧ (A′ ∨ D′).Hinweis: Sei P := (B ∨ C) ∧ (A ∨ D). Zeigen Sie, dass nach eventueller Umbenennung ohneEinschränkung P 6∈ f angenommen werden kann, setzen Sie

Q := ((g ∧ h) ∨ P) ∧ (B′ ∨ C′)

und wenden Sie den Projektiven Satz von Desargues 2.41 zwei Mal auf geeignete Punkte derGeraden g, h und P ∨Q an. Achten Sie dabei auf das Überprüfen aller Voraussetzungen.

(b) Folgern Sie aus (a): Seien g 6= h zwei verschiedene Geraden in GK. Seien weiter A, C, A′, C′ ∈g r h und B, D, B′, D′ ∈ h r g paarweise verschiedene Punkte mit

(A ∨ B) ‖ (A′ ∨ B′), (B ∨ C) ‖ (B′ ∨ C′) und (C ∨ D) ‖ (C′ ∨ D′).

Dann gilt auch (A ∨ D) ‖ (A′ ∨ D′). Skizzieren Sie die Aussage graphisch.

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KAPITEL 3

Hilbertebenen

In diesem Kapitel wollen wir Hilberts Vorschlag aus dem Jahr 1899 zur Axiomatisierung derebenen Geometrie folgen und führen ausgehend vom Begriff der Inzidenzebene zunächst dreiKlassen von Axiomen ein.

� Die Anordnungsaxiome,

� die Kongruenzaxiome für Strecken,

� die Kongruenzaxiome für Winkel.

So erhalten wir in 3.3 die so genannten Hilbertebenen, für die wir einige klassische geome-trische Sätze beweisen wollen. Es stellt sich jedoch heraus, dass manche Aussagen, darunterauch einige aus der Schulmathematik bekannte, im Kontext von Hilbertebenen im Allgemei-nen falsch sind. Wir werden diesen Missstand in Kapitel 4 beheben.

3.1 Die Anordnungsaxiome

In diesem Abschnitt wollen wir auf einer Inzidenzebene Axiome angeben, die uns sagen, wiePunkte auf Geraden angeordnet sind. Dies scheint zunächst ein triviales Problem zu sein, undEuklid hat darauf auch kein Postulat verwendet. Andererseits konnte er aber auch nicht be-weisen, dass beispielsweise die Winkelhalbierende im Punkt A des Dreiecks 4ABC die SeiteBC zwischen den Punkten B und C schneidet; eine Aussage, die er implizit verwendet.

40

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41 Kapitel 3. Hilbertebenen

Um nun die Anordnungsaxiome einführen zu können, benötigen wir eine Reihe von Sprech-weisen.

Definition 3.1 (I). Sei Z eine fest gewählte Teilmenge von P× P× P.

� Seien A, B, C ∈ P drei beliebige Punkte. Dann schreiben wir

(A, B, C) ∈ Z ⇐⇒: A ? B ? C

und sagen in diesem Fall auch, B liege zwischen A und C.

� Sei g ∈ G eine beliebige Gerade, und seien A, B ∈ P r g zwei beliebige Punkte. Falls es einenPunkt auf g gibt, der zwischen A und B liegt, dann sagen wir, A und B liegen auf verschiedenenSeiten von g. Ist dies nicht der Fall, dann sagen wir, A und B liegen auf der selben Seite vong.

Definition 3.2 (I). Das Tripel (P, G, ?) erfüllt die Anordnungsaxiome, falls gilt:

(A1) Sind A, B, C ∈ P mit A ? B ? C, dann sind A, B, C kollinear, paarweise verschieden, und es giltC ? B ? A.

(A2) Auf der Verbindungsgeraden A ∨ B zweier verschiedener Punkte A 6= B ∈ P gibt es PunkteP, Q, R mit P ? A ? B, A ? Q ? B und A ? B ? R.

(A3) Sind A, B, C ∈ P paarweise verschieden und kollinear, so gibt es unter diesen drei Punkten genaueinen, der zwischen den beiden anderen liegt.

(A4) Für jede Gerade g ∈ G und alle Punkte A, B, C ∈ P r g gilt

– Liegen A, B auf der selben Seite von g und B, C ebenfalls, so liegen auch A, C auf der selbenSeite von g.

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3.1. Die Anordnungsaxiome 42

– Liegen A, B auf verschiedenen Seiten von g und B, C ebenfalls, so liegen A, C auf der selbenSeite von g.

Für „Sei (P, G) eine Inzidenzebene, die zusammen mit der Anordnung ? die Anordnungsaxiome er-füllt.“ schreiben wir künftig auch kurz „(I + A)“.

Diese Anordnungsaxiome sorgen dafür, dass wir uns Geraden in einer Inzidenzebene tatsäch-lich so vorstellen können wie wir das gerne täten.

Proposition 3.3 (I + A). Für eine beliebige Gerade g ∈ G ist „liegt auf der selben Seite von g wie ·“ eineÄquivalenzrelation auf Pr g. Es gibt genau zwei Äquivalenzklassen S1(g) und S2(g); insbesondere gilt

P = g ·∪ S1(g) ·∪ S2(g).

S1(g) und S2(g) heißen die Seiten von g oder die von g begrenzten Halbebenen.

Abbildung 3.1: Nach (A1) und (A4) gibt es Geradenseiten. Nach (A2) und (A4) gibt es davongenau zwei Stück.

Beweis. Zeigen wir zunächst die Reflexivität. Sei dafür A ∈ P r g. Da für einen beliebigenPunkt P ∈ g die drei Punkte A, P, A nicht paarweise verschieden sind, folgt mit (A1), dass eskeinen Punkt P ∈ g mit A ? P ? A geben kann, so dass nach Definition A auf der selben Seitevon g liegt wie es selbst.

Um die Symmetrie zu zeigen, betrachten wir zwei Punkte A, B ∈ Pr g, die auf der selben Seitevon g liegen. Dann gibt es kein P ∈ g mit A ? P ? B. Nach (A1) gibt es also auch kein P ∈ g mitB ? P ? A, so dass auch B auf der selben Seite von g liegt wie A.

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43 Kapitel 3. Hilbertebenen

Die Transitivität ist schließlich gerade die erste Aussage von (A4).

Wir haben insgesamt gezeigt, dass „liegt auf der selben Seite von g wie ·“ eine Äquivalenzre-lation ist und wollen als nächstes beweisen, dass es mindestens zwei Äquivalenzklassen gibt.Nach Proposition 2.5 gibt es einen Punkt A ∈ P, der nicht auf g liegt. Nach (I2) gibt es einB ∈ P mit B ∈ g. Nach (I1) liegt A∨ B in G. Wegen (A2) gibt es ein R ∈ A∨ B mit A ? B ? R, sodass A und R auf verschiedenen Seiten von g liegen und es mindestens zwei Seiten von g gibt.

Abschließend wollen wir zeigen, dass es auch nicht mehr als zwei Seiten von g geben kann.Seien dafür A und R wie gerade eben und P ein von diesen verschiedener weiterer Punkt inP r g. Wir wollen zeigen, dass P immer auf der selben Seite wie A oder wie R liegt. Falls P aufder selben Seite liegt wie A, ist daher nichts mehr zu zeigen. Liege also P nicht auf der selbenSeite wie A. Dann folgt mit der zweiten Aussage von (A4), dass P und R auf der selben Seiteliegen, was zu zeigen war.

In Beweisen kommt es oft vor, dass drei paarweise verschiedene, kollineare Punkte gegebensind und man statt mit den Seiten einer noch zu konstruierenden Geraden lieber gleich mitden Seiten des mittleren Punktes argumentieren möchte. Diese Anschauung wollen wir nunlegitimieren.

Definition 3.4 (I + A). Seien A, B, P ∈ P paarweise verschieden und kollinear. Falls A ? P ? B gilt,dann sagen wir, A und B liegen auf verschiedenen Seiten von P. Ist dies nicht der Fall, dann sagenwir, A und B liegen auf der selben Seite von P.

Proposition 3.5 (I + A). Für drei paarweise verschiedene und kollineare Punkte A, B, P ∈ P sind diefolgenden Aussagen äquivalent.

(i) A und B liegen auf verschiedenen Seiten von P.

(ii) A und B liegen auf verschiedenen Seiten einer von A ∨ B verschiedenen Geraden durch P.

(iii) A und B liegen auf verschiedenen Seiten aller von A ∨ B verschiedenen Geraden durch P.

Beweis. Aus (iii) folgt (ii), da es nach (I3) und (I1) stets eine von A ∨ B verschiedene Geradedurch P gibt.

Gelte nun (ii), und sei h die von A ∨ B verschiedene Gerade durch P. Nach Voraussetzung gibtes einen Punkt Q ∈ h mit A ? Q ? B. Nach Konstruktion ist Q = h ∧ (A ∨ B) = P. Es folgt, dassA und B auf verschiedenen Seiten von P liegen, also (i).

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3.1. Die Anordnungsaxiome 44

Gelte schließlich (i), also A ? P ? B. Sei h eine beliebige von A ∨ B verschiedene Gerade durchP. Wegen P ∈ h liegen dann A und B auf verschiedenen Seiten von h. Wegen der freien Wahlvon h haben wir somit (iii) gezeigt.

Korollar 3.6 (I + A). Sei g ∈ G eine beliebige Gerade. Für einen beliebigen Punkt P ∈ g ist dann„liegt auf der selben Seite von P wie ·“ eine Äquivalenzrelation auf g r {P}. Es gibt genau zwei Äqui-valenzklassen S1(P) und S2(P); insbesondere gilt

g = P ·∪ S1(P) ·∪ S2(P).

S1(P) und S2(P) heißen die Seiten von P oder die von P begrenzten Halbgeraden.

Beweis. Klar mit den Propositionen 3.3 und 3.5.

Proposition 3.7 (I + A). Für beliebige vier Punkte A, B, C, D ∈ P gilt

A ? B ? C und A ? C ? D ⇐⇒ B ? C ? D und A ? B ? D.

Beweis. Wir zeigen nur die Hinrichtung, die Rückrichtung geht analog. Es gelten also A ? B ? Cund A ? C ? D. Nach (A1) sind dann die Punkte A, B, C und A, C, D jeweils kollinear, so dassdies auch auf die vier Punkte A, B, C, D zutrifft. Außerdem sind wieder nach (A1) die PunkteA, B, C und A, C, D jeweils paarweise verschieden. Da aus B = D sofort A ? B ? C und A ?C ? B folgte, was nach (A3) nicht sein kann, sind die vier Punkte A, B, C, D auch paarweiseverschieden.

Wegen unserer Voraussetzungen A ? B ? C und A ? C ? D liegen A und B auf der selben Seitevon C, und A und D liegen auf verschiedenen Seiten von C. Mit Korollar 3.6 folgt, dass B undD auf verschiedenen Seiten von C liegen, also B ? C ? D.

Wieder wegen unserer Voraussetzungen A ? B ? C und A ? C ? D liegen sowohl B und C alsauch C und D je auf der selben Seite von A. Wieder mit Korollar 3.6 folgt, dass B und D auf derselben Seite von A liegen, dass also entweder A ? B ? D oder A ? D ? B gilt. Letzteres ist abernicht möglich,

denn: Wegen der Voraussetzung A ? C ? D liegen A und C auf der selben Seite von D, und we-gen des bereits gezeigten B ? C ? D liegen B und C auf der selben Seite von D. Die Behauptungfolgt, da somit nach Korollar 3.6 die Punkte A und B auf der selben Seite von D liegen müssen.#

Proposition 3.8 (I + A). Für beliebige vier Punkte A, B, C, D ∈ P gilt

A ? B ? C und B ? C ? D =⇒ A ? B ? D und A ? C ? D.

Beweis. Es gelten A ? B ? C und B ? C ? D. Nach (A1) sind dann die Punkte A, B, C und B, C, Djeweils kollinear, so dass dies auch auf die vier Punkte A, B, C, D zutrifft. Außerdem sind wie-der nach (A1) die Punkte A, B, C und B, C, D jeweils paarweise verschieden. Da aus A = D

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45 Kapitel 3. Hilbertebenen

sofort A ? B ? C und B ? C ? A folgte, was nach (A3) nicht sein kann, sind die vier PunkteA, B, C, D auch paarweise verschieden.

Wegen unserer Voraussetzungen A ? B ? C und B ? C ? D liegen A und C auf verschiedenenSeiten von B, und C und D liegen auf der selben Seite von B. Mit Korollar 3.6 folgt, dass A undD auf verschiedenen Seiten von B liegen, also A ? B ? D.

Wieder wegen unserer Voraussetzungen A ? B ? C und B ? C ? D liegen A und B auf der selbenSeite von C, und B und D liegen auf verschiedenen Seiten von C. Mit Korollar 3.6 folgt, dass Aund D auf verschiedenen Seiten von C liegen, also A ? C ? D.

Definition 3.9 (I + A). Sei n ≥ 3 eine natürliche Zahl. Gilt Ai ? Aj ? Ak für alle 1 ≤ i < j < k ≤ n,so schreiben wir einfacher A1 ? . . . ? An.

Korollar 3.10 (I + A). Sei n ≥ 3 eine natürliche Zahl, und seien A1, . . . , An ∈ P. Dann gilt

Ai ? Ai+1 ? Ai+2 für alle i ∈ {1, . . . , n− 2} ⇐⇒ A1 ? . . . ? An.

Beweis. Übungsaufgabe 3.1

Bemerkung 3.11. Eine äquivalente Formulierung des zweiten Anordnungsaxioms (A2) ist

(A′2) Auf der Verbindungsgeraden A ∨ B zweier verschiedener Punkte A 6= B ∈ P gibt es PunkteP, Q, R mit P ? A ? Q ? B ? R,

denn: (A′2) folgt vermöge Proposition 3.7 aus (A2). Wir würden gerne analog (A2) mit Proposition 3.8aus (A′2) folgern, haben aber im Beweis der dort verwendeten Proposition 3.3 bereits (A2) benutzt, umzu zeigen, dass es zu einer beliebigen Geraden g ∈ G Punkte gibt, die auf verschiedenen Seiten von gliegen. Es ist eine leichte Übungsaufgabe, dies unter Verwendung von (A′2) statt (A2) zu zeigen. #

Definition 3.12 (I + A). Für zwei verschiedene Punkte A, B ∈ P heißt die Menge

AB := {P ∈ A ∨ B | P liegt zwischen A und B} ∪ {A, B}

die Strecke AB mit den Endpunkten A und B.

Die Menge# „AB := {P ∈ A ∨ B | P liegt auf der selben Seite von A wie B} ∪ {A}

heißt der Strahl # „AB mit dem Ausgangspunkt A.

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3.1. Die Anordnungsaxiome 46

Zwei Strahlen # „AB und # „

AC heißen entgegengesetzt, falls A zwischen B und C liegt. Wird im Folgendeneine der Notationen AB oder # „

AB verwendet, ohne dass wir ausdrücklich A 6= B voraussetzen, so ist diesan dieser Stelle als implizit angenommen zu verstehen.

Proposition 3.13 (I + A). Für je zwei verschiedene Punkte A, B ∈ P gelten die folgenden Aussagen.

(a) AB = BA,

(b)# „AB∪ # „

BA = AB.

Beweis. Aussage (a) folgt unmittelbar aus (A1).

Im Beweis von Aussage (b) folgt die Inklusion ⊇ unmittelbar aus den Definitionen von „Stre-cke“ und „Strahl“. Sei für die andere Inklusion P ein beliebiger Punkt aus

# „AB∪ # „

BA. FürP ∈ {A, B} ist nichts zu zeigen, so dass wir annehmen können, P sei weder A noch B. MitP ∈ # „

AB giltA ? P ? B oder A ? B ? P,

so dass die drei Punkte A, B, P kollinear und paarweise verschieden sind. Mit P ∈ # „BA gilt aber

auchB ? P ? A oder B ? A ? P.

Falls A ? P ? B nicht gilt, kann nach (A1) auch B ? P ? A nicht gelten. Es folgt, dass dann sowohlA ? B ? P als auch B ? A ? P gelten müssten, was ein Widerspruch zu (A3) wäre und deshalbnicht sein kann. Es folgt also A ? P ? B, also P ∈ AB, was zu zeigen war.

Proposition 3.14 (I + A). Für drei Punkte A, B, C ∈ P mit B ? A ? C gelten die folgenden Aussagen.

(a) A ∨ B =# „AB ∪ # „

AC,

(b)# „AB∪ # „

AC = {A}.

Beweis. Wir wollen zunächst Behauptung (a) zeigen. Sei dafür P ∈ (A ∨ B)r # „AB. Nach Defi-

nition von „Strahl“ und (A3) liegen dann P und B auf verschiedenen Seiten von A. Wir unter-scheiden nun zwei Fälle.

� Für P = C ist P definitionsgemäß in# „AC.

� Für P 6= C sind A, P, C drei kollineare, paarweise verschiedene Punkte. Da P und B aufverschiedenen Seiten von A liegen und auch B und C auf verschiedenen Seiten von Aliegen, müssen P und C auf der selben Seite von A liegen. Es liegt also auch hier P in

# „AC.

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47 Kapitel 3. Hilbertebenen

Zum Beweis von Behauptung (b) betrachten wir einen Punkt P ∈ # „AB∪ # „

AC. Dieser ist nachDefinition entweder gleich A oder liegt sowohl auf der selben Seite von A wie B als auch aufder selben Seite von A wie C. Da letzteres aufgrund der Voraussetzung B ? A ? C nicht möglichist, folgt die Behauptung.

Satz 3.15 (Satz von Pasch, I + A). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage, und sei g ∈ Gmit g ∪ AB = {P} für ein P ∈ P mit A ? P ? B. Dann schneidet g eine der Strecken AC und BC. FallsC nicht auf g liegt, schneidet g genau eine der beiden Strecken.

Beweis. Da für C ∈ g nichts zu zeigen ist, können wir ohne Einschränkung C 6∈ g annehmen.Wegen A ? P ? B liegen die Punkte A, B auf verschiedenen Seiten von g, so dass der Punkt Centweder auf der selben Seite wie A oder auf der selben Seite wie B liegt. Da sich diese bei-den Situationen durch eine Umbenennung von A in B und umgekehrt ineinander überführenlassen, können wir ohne Einschränkung annehmen, C liege auf der selben Seite von g wie A.Dann liegen die Punkte B und C auf verschiedenen Seiten von g, so dass es also einen PunktQ ∈ g mit B ? Q ? C gibt. Dieser Punkt Q liegt nach Konstruktion im Durchschnitt g ∪ BC, dersomit nicht leer sein kann. Andererseits liegen die Punkte A und C auf der selben Seite von g,so dass es keinen Punkt Q ∈ g gibt mit A ? Q ? C, der Durchschnitt g ∪ AC ist also leer.

Wir wollen nun zeigen, dass die affine Koordinatenebene A2(K) für bestimmte Wahlen desKörpers K auch die Anordnungsaxiome erfüllt und führen dafür nun den Begriff des angeord-neten Körpers ein.

(?) Definition 3.16. Ein angeordneter Körper ist ein Paar (K,≤) aus einem Körper K und einerTotalordnung „≤“ auf K, so dass für alle a, b, c ∈ K die folgenden Eigenschaften gelten.

(i) Aus a ≤ b folgt a + c ≤ b + c.

(ii) Aus 0 ≤ a und 0 ≤ b folgt 0 ≤ ab.

Um die Notation einfach zu halten, werden wir zumeist die Totalordnung aus den Bezeichnungen her-aushalten und kurz von einem angeordneten Körper K sprechen.

(?) Beispiel 3.17. Offenbar ist der Körper R der reellen Zahlen mit der Standardanordnung ein ange-ordneter Körper. Deshalb ist auch jeder Teilkörper von R zusammen mit der eingeschränkten Standar-danordnung ein angeordneter Körper, etwa der Körper Q(

√2).

(?) Proposition 3.18. Jeder angeordnete Körper hat Charakteristik 0, enthält also den Körper Q derrationalen Zahlen.

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3.1. Die Anordnungsaxiome 48

Beweis. Sei K ein angeordneter Körper. Für alle a ∈ K mit 0 < a gilt

−a = −a + 0 ≤ −a + a = 0

wegen 3.16 (i) und sogar −a < 0 wegen −a 6= 0. Insbesondere gilt also entweder −1 < 0 < 1oder 1 < 0 < −1. Gälte 0 < −1, so folgte mit 3.16 (i) sofort 0 ≤ 1, was ein Widerspruch zumeben Gezeigten ist. Es muss in K also −1 < 0 < 1 gelten.

Durch Anwendung von 3.16 (i) folgern wir daraus induktiv

0 < 1 < 1 + 1 < . . . < 1 + . . . + 1︸ ︷︷ ︸n Mal

für alle n ∈ N. (3.1)

Da die so entstehenden Summen für kein n ∈ N Null werden, haben wir char(K) = 0 gezeigt.

Durch (3.1) ist außerdem eine Inklusion von Z in K gegeben. Da K zu jedem seiner Elementeaußer der Null auch das multiplikative Inverse enthält und Produkte von Elementen von Kwieder in K liegen, sind auch die rationalen Zahlen Q in K enthalten.

(?) Beispiel 3.19. Der Körper C der komplexen Zahlen wird durch keine Wahl einer Totalordnung zueinem angeordneten Körper,

denn: In einem beliebigen angeordneten Körper K folgt aus a > 0 mit 3.16 (ii) sofort a2 > 0. Anderer-seits gilt für ein beliebiges a < 0 mit 3.16 (i) sofort 0 < −a, und mit Anwenden des ersten Falls erhaltenwir auch hier a2 = (−a)(−a) > 0. Es folgt a2 > 0 für alle a ∈ K r {0}. Da in den komplexen Zahlen(unabhängig von der Wahl einer Totalordnung) bekanntermaßen die Beziehung i2 = −1 < 0 gilt, kannC mit keiner Totalordnung ein angeordneter Körper sein. #

Wir führen den Begriff des Vorzeichens eines Elements a ∈ K in der naheliegenden Weise ein.

(?) Definition 3.20. Für ein beliebiges Element a eines angeordneten Körpers K heißt

sgn a :=

1 falls a > 0,0 falls a = 0,−1 falls a < 0.

das Vorzeichen von a.

Die Behauptung ist nun, dass es für einen angeordneten Körper K eine geeignete Wahl derAnordnung ? in der affinen Koordinatenebene A2(K) gibt, so dass die Anordnungsaxiomeerfüllt sind. Um eine geeignete Definition zu erhalten, bedienen wir uns der Anschauung imR2. Sind im R2 zwei verschiedene Punkte A, C gegeben, so ist die Verbindungsgerade A ∨ Cdurch

A ∨ C(2.1)= gC,A−C = {C + λ(A− C) | λ ∈ R} = {λA + (1− λ)C | λ ∈ R}

gegeben. Die Bedingung, dass ein Punkt B auf dieser Gerade zwischen A und C liegt, ist offen-bar äquivalent dazu, dass ein λ ∈ R mit 0 < λ < 1 existiert, so dass B = λA + (1− λ)C ist.Diese Charakterisierung lässt sich direkt auf den Fall eines beliebigen angeordneten Körpersübertragen.

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49 Kapitel 3. Hilbertebenen

Definition 3.21. Sei K ein angeordneter Körper, und seien A, B, C ∈ K2. Wir sagen, es gelte A ? B ?C,falls A 6= C ist und ein λ ∈ K mit 0 < λ < 1 und B = λA + (1− λ)C existiert.

Wir wollen jetzt die Gültigkeit der Anordnungsaxiome verifizieren. Zu diesem Zweck wer-den wir zunächst eine äquivalente Charakterisierung der Relation „auf der selben Seite einerGerade liegen“ behandeln. Dafür ist es sinnvoll, sich an die Bilinearform

⟨(x1

x2

)|(

y1

y2

)⟩= x1y1 + x2y2

auf K2 zu erinnern. Im Fall K = R ist diese genau das Standardskalarprodukt.

Definition 3.22. Für eine Gerade g = gP,v mit Aufpunkt P ∈ K2 und Richtungsvektor v ∈ K2 r {0}heißt ein Vektor n ∈ K2 r {0} ein Normalenvektor von g, falls 〈v | n〉 = 0 gilt.

Da die Richtung Kv der Geraden eindeutig bestimmt ist, ist der Begriff des Normalenvektorswohldefiniert. Es ist eine leichte Übung in Linearer Algebra, nachzurechnen, dass die Nor-malenvektoren von gP,v gerade die nichttrivialen Elemente der (mindestens zweielementigen)Menge Kv⊥ mit

v⊥ =

(0 −11 0

)v

sind und dass (v⊥)⊥ = −v gilt. Wir können daher die Gerade gP,v in ihrer Hesse’schen Nor-malform

gP,v = {A ∈ K2 | 〈A− P | v⊥〉 = 0} = {A ∈ K2 | 〈A | v⊥〉 = 〈P | v⊥〉}

schreiben,

denn:〈A− P | v⊥〉 = 0 ⇐⇒ A− P ∈ Kv ⇐⇒ A ∈ gP,v

#

Dies können wir nutzen, um „auf der selben Seite einer Gerade liegen“ in der Sprache derBilinearformen auszudrücken.

(?) Proposition 3.23. Seien g = gP,v eine Gerade mit Aufpunkt P ∈ K2 und Richtungsvektor v ∈K2 r {0} und A, B zwei Punkte in P r g. Dann sind die folgenden beiden Aussagen äquivalent.

(i) A und B liegen auf der selben Seite von g,

(ii) 〈A− P | v⊥〉 und 〈B− P | v⊥〉 haben das selbe Vorzeichen.

Insbesondere sind die zwei Seiten von g durch {A ∈ K2 | 〈A− P | v⊥〉 > 0} und {A ∈ K2 | 〈A− P |v⊥〉 < 0} gegeben.

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3.1. Die Anordnungsaxiome 50

Beweis. Nach Definition liegen A, B genau dann auf verschiedenen Seiten von g, wenn es einQ ∈ g mit A ? Q ? B gibt, wenn es also ein λ ∈ K mit 0 < λ < 1 gibt, für das Q = λA+ (1− λ)Bin g liegt. In der Hesse’schen Normalform geschrieben ist das genau dann der Fall, wenn fürdieses λ

0 = 〈(λA + (1− λ)B

)− P | v⊥〉 = 〈λ(A− P) + (1− λ)(B− P) | v⊥〉

= λ · 〈A− P | v⊥〉︸ ︷︷ ︸=:α

+(1− λ) · 〈B− P | v⊥〉︸ ︷︷ ︸=:β

gilt. Um zu verstehen, wann das passiert, machen wir eine Fallunterscheidung nach den Vor-zeichen von α und β.

Fall 1: ±α > 0 und ±β > 0. Für jedes λ ∈ K mit 0 < λ < 1 ist dann±λα > 0 und±(1− λ)β >0, was±λα± (1−λ)β > 0 impliziert. Insbesondere ist±λα± (1−λ)β 6= 0, weshalb keinλ ∈ K mit den gesuchten Eigenschaften existiert.

Fall 2: ∓α > 0 und ±β > 0. In diesem Fall setzen wir λ := ββ−α , woraus sich sofort λα + (1−

λ)β = 0 und 0 < λ < 1 ergibt.

Ein λ ∈ K mit den gewünschten Eigenschaften existiert also genau dann, wenn α und β ver-schiedenes Vorzeichen haben.

(?) Bemerkung 3.24. Im obigen Beweis haben wir im Fall K ⊆ R die Anschauung, dass die Abbildung

[0, 1] ∪ K → Kx 7→ αx + β(1− x)

eine Nullstelle haben soll, was offensichtlich genau für αβ < 0 der Fall ist.

(?) Satz 3.25. Sei K ein angeordneter Körper. Dann erfüllt die affine Koordinatenebene (K2, GK, ?) dieInzidenz- und die Anordnungsaxiome.4

4Obwohl wir die affine Koordinatenebene über K nur als das Tupel (K2, GK) definiert haben, nennen wir fürKörper K wie oben auch das Tripel (K2, GK , ?) die affine Koordinatenebene über K. Ähnliches gilt später, wenn fürgeeignete Körper K das Hinzufügen weiterer Strukturen möglich ist.

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51 Kapitel 3. Hilbertebenen

Beweis. Zum Nachweis von (A1) seien A, B, C ∈ K2 mit A ? B ? C. Nach Definition bedeutetdies, dass A 6= C gilt und ein λ ∈ K mit 0 < λ < 1 und B = λA + (1 − λ)C existiert.Insbesondere liegt B auf der Geraden

A ∨ C = gC,A−C = {C + λ(A− C) | λ ∈ K} = {λA + (1− λ)C | λ ∈ K},

die drei Punkte A, B, C sind also kollinear. Setzen wir weiter λ′ := 1− λ, so ist B = λ′C + (1−λ′)A. Hierbei gilt 0 < λ′ < 1,

denn: Wie im Beweis von Proposition 3.18 folgt aus 0 < λ < 1 mit den Eigenschaften angeord-neter Körper −1 < −λ < 0, und mit 3.16 (ii) erhalten wir 0 < 1− λ < 1. #

Wir haben somit C ? A ? B gezeigt. Es verbleibt zu zeigen, dass die drei Punkte A, B, C paarwei-se verschieden sind. Nehmen wir an, es wäre A = B. Dann gälte A = B = λA + (1− λ)C, also(1− λ)A = (1− λ)C. Wegen λ 6= 1 erhielten wir im Widerspruch zu unserer VoraussetzungA = C. Es ergibt sich A 6= B, und analog zeigt man auch B 6= C.

Zum Beweis von (A2) seien A, B ∈ K2 zwei verschiedene Punkte. Unter Verwendung vonProposition 3.18 definieren wir die drei Punkte

P := B + 2(A− B) = 2A− B, Q :=12

A +12

B und R := A + 2(B− A) = −A + 2B

auf der Geraden A ∨ B. Offenbar gelten P 6= B, A 6= B und A 6= R. Jeweils mit λ = 12 erhalten

wir

λP + (1− λ)B =12

P +12

Q =12(2A− B)− 1

2B = A,

λA + (1− λ)B =12

A +12

B = Q,

λA + (1− λ)R =12

A +12

R =12

A +12(2B− A) = B

und deshalb P ? A ? B, A ? Q ? B und A ? B ? R wie gewünscht.

Nun wollen wir (A3) zeigen und betrachten dafür drei paarweise verschiedene, kollinearePunkte A, B, C ∈ K2. Diese erfüllen insbesondere B ∈ A ∨ C = gC,A−C, es gibt also ein λ ∈ Kmit

B = C + λ(A− C) = λA + (1− λ)C. (3.2)

Da B weder mit A noch mit C identisch ist, gilt dabei λ 6∈ {0, 1}. Es verbleiben genau drei Fälle.

Fall 1: 0 < λ < 1. Dies ist offenbar äquivalent zur Gültigkeit von A ? B ? C.

Fall 2: 1 < λ. Dies ist offenbar äquivalent zur Gültigkeit von 0 < 1λ < 1. Setzen wir nun λ′ :=

1λ , so erhalten wir aus (3.2) durch Division mit λ und Auflösen nach A die GleichungA = λ′B + (1− λ′)C und insbesondere B ? A ? C.

Fall 3: λ < 0. Dies ist offenbar äquivalent zur Gültigkeit von 0 < 11−λ < 1. Definieren wir

λ′′ := 11−λ , dann erhalten wir aus (3.2) durch Division mit 1− λ und Auflösen nach C die

Gleichung C = λ′′B + (1− λ′′)A und insbesondere A ? C ? B.

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3.2. Die Kongruenzaxiome für Strecken 52

Es folgt, dass es unter den drei Punkten A, B, C genau einen gibt, der zwischen den beidenanderen liegt.

Es verbleibt der Nachweis von (A4). Seien dafür g = gP,v eine Gerade mit Aufpunkt P ∈ K2

und Richtungsvektor v ∈ K2 r {0} und A, B, C drei Punkte in K2 r g.

� Liegen A und B auf der selben Seite von g, so haben nach Proposition 3.23 die Zahlen〈A − P | v⊥〉 und 〈B − P | v⊥〉 das selbe Vorzeichen. Liegen nun auch B und C aufder selben Seite von g, so sind auch die Vorzeichen von 〈B− P | v⊥〉 und 〈C − P | v⊥〉identisch. Es folgt trivialerweise, dass die Vorzeichen von 〈A− P | v⊥〉 und 〈C− P | v⊥〉übereinstimmen, so dass wieder nach Proposition 3.23 die Punkte A und C auf der selbenSeite von g liegen.

� Liegen A und B auf verschiedenen Seiten von g, so haben nach Proposition 3.23 die Zah-len 〈A − P | v⊥〉 und 〈B − P | v⊥〉 verschiedene Vorzeichen. Liegen nun auch B undC auf verschiedenen Seiten von g, so sind auch die Vorzeichen von 〈B − P | v⊥〉 und〈C − P | v⊥〉 verschieden. Es folgt trivialerweise, dass die Vorzeichen von 〈A− P | v⊥〉und 〈C − P | v⊥〉 übereinstimmen, so dass wieder nach Proposition 3.23 die Punkte Aund C auf der selben Seite von g liegen.

In Verbindung mit 2.9 haben wir damit gezeigt, dass für einen angeordneten Körper K die affineKoordinatenebeneA2(K) zusammen mit der oben eingeführten Anordnung die Inzidenz- undAnordnungsaxiome erfüllt.

3.2 Die Kongruenzaxiome für Strecken

Wir haben im letzten Abschnitt den Begriff der Strecke eingeführt, haben bislang aber nochkeine Möglichkeit, deren Länge zu vergleichen. Wir führen daher den Begriff der Kongruenzvon Strecken als Relation ∼= auf der Menge S aller Strecken in (P, G, ?) ein.

Definition 3.26 (I + A). Wir sagen, das 4-Tupel (P, G, ?,∼=) erfüllt die Kongruenzaxiome für Stre-cken, wenn gilt

(K1) ∼= ist auf S eine Äquivalenzrelation.

(K2) Sind A 6= B ∈ P und A′ 6= C′ ∈ P, so gibt es genau ein B′ ∈ # „

A′C′ mit AB ∼= A′B′.

Abbildung 3.2: Man sagt: Eine beliebige Strecke lässt sich auf einen beliebigen Strahl abtra-gen. In der Schulgeometrie nimmt man hierfür mit dem Zirkel die Länge der Strecke ab undschneidet den Strahl mit dem Kreis mit diesem Radius um dessen Ausgangspunkt.

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53 Kapitel 3. Hilbertebenen

(K3) Sind A, B, C, A′, B′, C′ ∈ P mit A ? B ? C, A′ ? B′ ? C′ und AB ∼= A′B′, BC ∼= B′C′, so gilt auchAC ∼= A′C′.

Für „Sei (P, G) eine Inzidenzebene, die zusammen mit der Anordnung ? die Anordnungsaxiome undzusammen mit der Relation ∼= auf S die Kongruenzaxiome für Strecken erfüllt.“ schreiben wir künftigauch kurz „(I + A + K)“.

Proposition 3.27 (I + A + K). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte mit A ? B ? C und A′, B′, C′ ∈ P dreiPunkte mit C′ ∈ # „

A′B′. Gilt dann AB ∼= A′B′ und AC ∼= A′C′, so folgt A′ ? B′ ? C′ und BC ∼= B′C′.

Beweis. Wir wissen, dass es einen eindeutig bestimmten Strahl mit Ausgangspunkt B′ gibt,der dem Strahl

# „

B′A′ entgegengesetzt ist. Sei P der nach (K2) existierende eindeutige Punktauf diesem Strahl mit BC ∼= B′P. Daraus und aus AB ∼= A′B′ folgern wir mit (K3), dass auchAC ∼= A′P gilt.

Nun liegen aber sowohl P als auch C′ auf dem Strahl# „

A′B′, denn für C′ ist das vorausgesetzt,und nach Konstruktion von P gilt A′ ? B′ ? P. Da nach Voraussetzung AC ∼= A′C′ gilt, folgt mit(K1) unmittelbar A′P ∼= A′C′ und mit der Eindeutigkeitsaussage in (K2) schon P = C′. Dasimpliziert A′ ? B′ ? C′ und BC ∼= B′C′, also die Behauptung.

Definition 3.28 (I + A + K). Seien A, B, C, D ∈ P vier Punkte mit A 6= B und C 6= D. Falls es einenPunkt P ∈ P gibt mit C ? P ? D und AB ∼= CP, dann sagen wir, die Strecke AB sei kleiner als dieStrecke CD (bzw. CD größer als AB) und schreiben AB < CD.

Proposition 3.29 (I + A + K). (a) Seien A, B, C, D, A′, B′, C′, D′ Punkte in P mit A 6= B, C 6= D,A′ 6= B′, C′ 6= D′ und AB ∼= A′B′, CD ∼= C′D′. Dann gilt

AB < CD =⇒ A′B′ < C′D′.

(b) Sind A, B, C, D, E, F Punkte in P mit A 6= B, C 6= D, E 6= F, dann gilt

AB < CD und CD < EF =⇒ AB < EF.

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3.2. Die Kongruenzaxiome für Strecken 54

(c) Für beliebige vier Punkte A, B, C, D in P mit A 6= B und C 6= D gilt genau eine der folgendenAussagen

AB < CD, AB ∼= CD, AB > CD.

Beweis. Wir zeigen zunächst Behauptung (a). Sei dafür AB ∼= A′B′ und CD ∼= C′D′, und gelteAB < CD. Dann existiert ein P ∈ P mit C ? P ? D und CP ∼= AB. Nach (K2) existiert auf

# „

C′D′ einPunkt P′ mit C′P′ ∼= CP ∼= AB ∼= A′B′. Aus Proposition 3.27 erhalten wir C′ ? P′ ? D′ und damitA′B′ < C′D′.

Aufgrund von (a) und (K2) können wir zum Nachweis von (b) von AB < AC und AC < AD mitB, C in

# „AD ausgehen. Insbesondere existiert ein C′ ∈ P mit A ?C′ ? D und AC′ ∼= AC. Aufgrund

von (K2) ist C′ = C, es gilt also A ? C ? D. Analog ergibt sich A ? B ? C. Nach Proposition 3.7gilt A ? B ? D und somit AB < AD.

Zum Nachweis von (c) nehmen wir nach (a) und (K2) ohne Einschränkung AB 6∼= AC mitC ∈ # „

AB an. Wir erhalten entweder A ? C ? B oder A ? B ? C, was entweder AC < AB oderAB < AC zur Folge hat.

Wir wollen nun für geeignete Teilkörper von R (mit der von R eingeschränkten Anordnung)die affine Koordinatenebene A2(K) mit einem geeigneten Kongruenzbegriff versehen, um soein Beispiel für ein 4-Tupel (P, G, ?,∼=) zu finden, das die Inzidenz- und die Anordnungsaxio-me und die Kongruenzaxiome für Strecken erfüllt.5 Natürlich haben wir in dieser speziellen Si-tuation bereits eine naive Vorstellung davon, wann zwei Strecken kongruent sein sollen: wennsie nämlich die gleiche Länge, also als Elemente von K2 die gleiche Norm, haben. Wir wählenfür die Norm den im Fall K = R bereits aus der Linearen Algebra bekannten EuklidischenAbstand

d(A, B) = ||B− A|| =√〈B− A | B− A〉 =

√(a1 − b1)2 + (a2 − b2)2 ∈ R

zweier Punkte A = (a1, a2), B = (b1, b2) in K2. Dieser hat für Körper Q ⊆ K ⊆ R bekannterma-ßen folgende Eigenschaften.

� Positive Definitheit: d(A, B) ≥ 0 für alle A, B ∈ K2 und d(A, B) = 0 nur für A = B,

� Symmetrie: d(A, B) = d(B, A) für alle A, B ∈ K2,

� Dreiecksungleichung: d(A, B) + d(B, C) ≥ d(A, C) für alle A, B, C ∈ K2.

Passend zu unserer naiven Vorstellung definieren wir, dass zwei Strecken in (K2, GK, ?) genaudann kongruent sind, wenn sie die selbe Länge haben, wenn also ihre jeweiligen Endpunkteden selben euklidischen Abstand haben. Wir halten das in der folgenden Definition fest.

5Ab dieser Stelle verzichten wir zugunsten der Anschauung darauf, die affine Koordinatenebene über einemmöglichst allgemeinen Körper zu studieren. Da wir in Satz 4.11 zeigen werden, dass jede euklidische Ebene iso-morph zuA2(R) ist, geht uns dabei aber nichts verloren.

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55 Kapitel 3. Hilbertebenen

(?) Definition 3.30. Sei K ein Teilkörper von R, und seien A, B, C, D ∈ K2 mit A 6= B und C 6= D.Dann setzen wir

AB ∼= CD :⇐⇒ d(A, B) = d(C, D).

Die Axiome (K1) und (K3) können wir in dieser Situation leicht verifizieren.

(?) Proposition 3.31. Für einen beliebigen Teilkörper K von R erfüllt die affine Koordinatenebene(K2, GK, ?,∼=) die Axiome (K1) und (K3).

Beweis. Dass Kongruenz eine Äquivalenzrelation ist, also (K1) gilt, ist mit der angegebenenDefinition trivial. Zum Beweis von (K3) ist es des Weiteren hinreichend, die Additivität desEuklidischen Abstands für kollineare Punkte zu zeigen, dass also für beliebige drei PunkteA, B, C ∈ K2 mit A ? B ? C die Gleichung

d(A, B) + d(B, C) = d(A, C)

gilt. Aufgrund von A ? B ? C gibt es ein λ ∈ K mit 0 < λ < 1 und B = λA + (1− λ)C. Es ergibtsich

d(A, B) = ||B− A|| = ||(λ− 1)A + (1− λ)C|| = (1− λ)||C− A||sowie

d(B, C) = ||C− B|| = ||λC− λA|| = λ||C− A||.Die Behauptung folgt.

Die Voraussetzungen, die wir bisher an den Körper K gestellt haben, sind jedoch nicht starkgenug, um auch das Axiom (K2) zu erhalten. In der Tat ist etwa im Fall K = Q das Axiom (K2)verletzt. Die Strecke von (0, 0) nach (1, 1) lässt sich dann nämlich nicht auf den Strahl aus (0, 0)durch (1, 0) abtragen, weil

√2 nicht in Q liegt.

Wir wollen nun herausfinden, durch welche zusätzlichen Voraussetzungen an den Körper Kwir erreichen können, dass (K2) doch gilt. Dazu betrachten wir eine Strecke AB mit Länged = d(A, B) > 0 und einen Punkt A′ = (a′1, a′2) in K2, von dem ein Strahl durch einen von A′

verschiedenen Punkt C′ = (c′1, c′2) ∈ K2 ausgeht. Jeder Punkt Pλ 6= A′ auf diesem Strahl lässtsich schreiben als

Pλ = A′ + λ · (C′ − A′) =((1− λ)a′1 + λc′1, (1− λ)a′2 + λc′2

)mit einem λ > 0;

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3.3. Die Kongruenzaxiome für Winkel 56

hierfür nutzen wir nur die bekannte Struktur der Geraden gA′,C′−A′ und die Definition von„Strahl“ aus. Für ein solches Pλ gilt dann

d(A′, Pλ) =

√(a′1 −

((1− λ)a′1 + λc′1

))2+(a′2 −

((1− λ)a′2 + λc′2

))2= λ · d(A′, C′).

Wählen wir λ = d(A, B) · d(A′, C′)−1, so können wir Pλ als den gesuchten Punkt B′ wählen.Das funktioniert allerdings nur, wenn dieser Wert von λ bereits in K liegt. Eine hinreichendeBedingung hierfür ist offensichtlich, dass alle Normwerte von Punkten in A2(K) wieder in Kliegen, oder äquivalent, dass für alle a, b ∈ K die Zahl a2 + b2 in K eine Quadratwurzel hat.

(?) Definition 3.32. Ein Körper K heißt ein pythagoräischer Körper, wenn für alle a, b ∈ K dasElement a2 + b2 in K eine Quadratwurzel in K hat

Offensichtliche Beispiele für pythagoräische Körper sind R und C, wobei letzterer nicht an-geordnet ist und für uns somit nicht infrage kommt. Ein weiteres Beispiel ist der algebraischeAbschluss Q von Q in C, genauso wie sein maximaler reeller Teilkörper Q ∪ R. Letzterer istein zweites Beispiel für einen angeordneten pythagoräischen Körper. Wir werden später nocheinmal kurz auf ihn zu sprechen kommen.

Unsere Überlegungen fassen wir wie folgt zusammen.

(?) Satz 3.33. Für jeden pythagoräischen Teilkörper K ⊆ R erfüllt die affine Koordinatenebene A2(K)zusammen mit der Anordnung aus Definition 3.21 und dem euklidischen Abstand die Inzidenz- und dieAnordnungsaxiome und die Kongruenzaxiome für Strecken.

3.3 Die Kongruenzaxiome für Winkel

Natürlich sind nicht nur die Längen vorhandener Strecken für die Geometrie von Interessesondern auch die Winkel, unter denen sich Geraden schneiden.

Definition 3.34 (I + A). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage. Dann heißt

∠BAC :=# „AB ∪ # „

AC

der Winkel ∠BAC, A sein Scheitel und # „AB,

# „AC seine Schenkel.

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57 Kapitel 3. Hilbertebenen

Abbildung 3.3: Wir werden Winkel in Skizzen ab sofort immer mit einem Bogen wie in (a) dar-stellen. Dabei ist anzumerken, dass es für jeden Winkel zwei mögliche Wahlen eines solchenBogens gibt, von denen wir in der Skizze jeweils einen auswählen müssen. Gemeint ist unab-hängig von der Wahl stets der Winkel selbst. Man bemerke außerdem, dass die obige Definitionden Nullwinkel (b) und den geraden Winkel (c) ausschließt.

Unmittelbar aus dieser Definition folgt

Proposition 3.35 (I + A). Seien A, B, C ∈ P und A′, B′, C′ ∈ P je drei Punkte in allgemeiner Lage.Dann sind die folgenden beiden Aussagen äquivalent.

(i) ∠BAC = ∠B′A′C′,

(ii) A = A′ und entweder(

B′ ∈ # „AB und C′ ∈ # „

AC)

oder(

B′ ∈ # „AC und C′ ∈ # „

AB)

.

Insbesondere hat jeder Winkel einen eindeutig bestimmten Scheitel.

Beweis. Übungsaufgabe 3.6

Definition 3.36 (I + A). Seien A, B, C, D ∈ P, so dass A, B, C in allgemeiner Lage sind. Wir sagen, Dliege im Inneren von ∠BAC, falls D auf der selben Seite von A ∨ C wie B und auf der selben Seite vonA ∨ B wie C liegt.

Alternativ sagen wir dann auch, der Strahl # „AD liege zwischen den Strahlen # „

AB und # „AC.

Es ist manchmal praktisch, zu diesem Begriff äquivalente Formulierungen zur Hand zu haben.Diese erhalten wir im folgenden Lemma.

Lemma 3.37 (I + A). (a) Sei g ∈ G eine Gerade, und seien A ∈ g, B /∈ g und P ∈ # „AB r {A}.

Dann liegen P und B auf der selben Seite von g.

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3.3. Die Kongruenzaxiome für Winkel 58

(b) Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage und D ∈ P im Inneren von ∠BAC. Dannschneidet der Strahl # „

AD die Strecke BC, und der Schnittpunkt ist ungleich B, C.

(c) Seien A, B, C ∈ P in allgemeiner Lage und D ∈ P ein weiterer Punkt. Dann sind die folgendenAussagen äquivalent.

(i) D liegt im Inneren von ∠BAC.(ii) D, B liegen auf der selben Seite von A ∨ C, und B, C liegen auf verschiedenen Seiten von

A ∨ D.(iii) D, C liegen auf der selben Seite von A ∨ B, und B, C liegen auf verschiedenen Seiten von

A ∨ D.

Beweis. Wir zeigen zunächst Behauptung (a) und nehmen dafür ohne Einschränkung P 6= Ban. Lägen diese beiden Punkte nicht auf der selben Seite von g, so gäbe es einen Punkt aufg zwischen ihnen. Dieser wäre insbesondere der Schnittpunkt der Geraden g und P ∨ B undsomit gleich A. Es folgt P ? A ? B im Widerspruch zu P ∈ # „

AB und (A3). Die Punkte P und Bmüssen also auf der selben Seite von g liegen.

Nun wollen wir Behauptung (b) zeigen. Zunächst liegen B und C nicht auf# „AD, da sonst

# „AD =

# „AB oder

# „AD =

# „AC gälte, D also nicht im Inneren von ∠ABC läge. Weiter gibt es nach (A2)

einen Punkt E ∈ A ∨ B mit B ? A ? E. Die Punkte B, C, E sind offenbar in allgemeiner Lage,und wegen D 6∈ A ∨ B schneidet die Gerade g := A ∨ D die Strecke BE genau im Punkt A.Nach dem Satz von Pasch 3.15 schneidet also g eine der Strecken BC und EC. Die Behauptungfolgt, wenn wir zeigen können, dass g nicht EC schneidet. Nach Wahl von E liegen E und B aufverschiedenen Seiten von A ∨ C. Mit (a) folgt, dass ganz

# „CE r C auf der nicht B enthaltenden

Seite von A∨C liegt. Andererseits liegen nach Voraussetzung D und B auf der selben Seite vonA ∨ C, also wieder nach (a) auch B und ganz

# „AD r A. Es folgt

# „AD∪ # „

CE = ∅.

Sei nun# „AF der zu

# „AD entgegengesetzte Strahl. Nach Voraussetzung liegen D und C auf der

selben Seite von A ∨ B, also wieder nach (a) auch C und ganz# „AD r A. Es folgt, dass ganz

# „AF r A auf der anderen Seite von A ∨ B liegen muss. Aber

# „EC r {E} liegt gänzlich auf der

selben Seite von A ∨ B wie C,6 also gilt auch# „AF∪ # „

EC = ∅ und insgesamt Behauptung (b).

Behauptung (c) zeigen wir in mehreren Schritten.

� Es gelte (i). Für (ii) genügt es dann zu zeigen, dass D ∈ # „AS liegt, wobei S der Schnittpunkt

aus (b) bezeichne. Wäre dies aber nicht der Fall, so lägen S und D auf unterschiedlichen

6man beachte, dass E ∈ A ∨ B liegt

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59 Kapitel 3. Hilbertebenen

Seiten von A ∨ C. Aufgrund B ? S ? C liegen aber B und S auf der selben Seite von A ∨ C.Mit (A4) folgte also, dass D und B auf unterschiedlichen Seiten lägen, was nach (i) nichtsein kann.

� Gelte umgekehrt (ii), und sei S der Schnittpunkt von A ∨ D und BC. Diesen gibt es, da Bund C auf verschiedenen Seiten von A ∨ D liegen. Es gilt dann B ? S ? C, also liegt S imInneren von∠ABC, und es gilt D ∈ # „

AS, da D und B auf der selben Seite von A∨C liegen.Mit (a) gilt dann aber auch, dass D und C auf der selben Seite von A ∨ B liegen.

� Die Äquivalenz von (i) und (iii) ergibt sich aus Symmetriegründen.

Wir wollen nun den Begriff der Kongruenz von Winkeln als Relation ' auf der Menge W allerWinkel in (P, G, ?,∼=) einführen.

Definition 3.38 (I + A + K). Wir sagen, das 5-Tupel (P, G, ?,∼=,') erfüllt die Kongruenzaxiomefür Winkel, wenn gilt

(K4) ' ist auf W eine Äquivalenzrelation,

(K5) Sind A, B, C ∈ P in allgemeiner Lage und A′ 6= B′ ∈ P, dann gibt es für jede Seite von A′ ∨ B′

genau einen Strahl# „

A′C′, der in dieser Seite verläuft, also# „

A′C′ ⊆ Seite ∪ {A′}, und für den∠B′A′C′ ' ∠BAC gilt.

Abbildung 3.4: Man sagt: Ein beliebiger Winkel lässt sich auf einen beliebigen Strahl abtragen.

(K6) Sind A, B, C ∈ P und A′, B′, C′ ∈ P je drei Punkte in allgemeiner Lage mit

AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C′ und ∠BAC ' ∠B′A′C′,

so giltBC ∼= B′C′, ∠ABC ' ∠A′B′C′ und ∠ACB ' ∠A′C′B′.

In diesem Fall nennen wir das 5-Tupel (P, G, ?,∼=,') =: H auch eine Hilbertebene. Wir werden,wenn wir im Folgenden eine Hilbertebene H einführen und nichts anderes sagen, stets diese Notationannehmen. Für „SeiH eine Hilbertebene.“ schreiben wir künftig auch kurz „(H)“.

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3.3. Die Kongruenzaxiome für Winkel 60

Definition 3.39. Fordert man für das Tupel (P, G, ?,∼=,') nicht die Gültigkeit von Axiomen, so nenntman es eine ebene Geometrie.

Wir haben nun einen Begriff dafür, wann zwei Winkel „gleich groß“ sind (wenn sie nämlichkongruent sind). Mit dem Begriff des „Dazwischenliegens“ von Strahlen mit dem selben Schei-tel können wir auch angeben, wann ein Winkel „größer“ bzw. „kleiner“ als ein anderer ist.

Definition 3.40 (H). Seien A, B, C und A′, B′, C′ je drei Punkte in P in allgemeiner Lage. Falls eseinen Strahl

# „

A′P zwischen# „

A′B′ und# „

A′C′ gibt mit ∠BAC ' ∠PA′C′, so sagen wir, der Winkel ∠BACsei kleiner als der Winkel∠B′A′C′ (bzw.∠B′A′C′ größer als∠BAC) und schreiben∠BAC < ∠B′A′C′.

Für diese Relation gilt die folgende Entsprechung von Proposition 3.29.

Proposition 3.41 (H). (a) Sind α, α′, β, β′ ∈ W mit α ' α′ und β ' β′, so ist genau dann α < β,wenn α′ < β′ gilt.

(b) Sind α, β, γ ∈ W, so folgt aus α < β und β < γ, dass auch α < γ gilt.

(c) Für zwei Winkel α, β ∈ W gilt genau eine der drei folgenden Aussagen

α < β, α ' β, α > β.

Beweis. Übungsaufgabe 3.7

Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass Axiom (K6) eigentlich Aussagen über Kon-gruenzen von Dreiecken macht. Wir wollen diesen Begriff nun einführen, um eine etwas an-schaulichere Formulierung von (K6) zu erhalten.

Definition 3.42 (H). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage. Dann heißt das Tupel

4ABC := (A, B, C)

das Dreieck mit den Eckpunkten A, B, C. Die Strecken AB, AC, BC heißen die Seiten des Dreiecks4ABC. Sind A′, B′, C′ ∈ P weitere drei Punkte in allgemeiner Lage, so heißen die Dreiecke 4ABCund4A′B′C′ zueinander kongruent, in Zeichen4ABC ∼= 4A′B′C′, falls die folgenden Bedingungengelten:

AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C′, BC ∼= B′C′

und∠BAC ' ∠B′A′C′, ∠ABC ' ∠A′B′C′, ∠ACB ' ∠A′C′B′.

Wir sagen, ein weiterer Punkt D liegt im Inneren des Dreiecks 4ABC, wenn er im Inneren der dreiWinkel ∠ABC,∠BCA,∠CAB liegt.

Bemerkung 3.43 (H). (a) Rein formal sind die Dreiecke 4ABC und 4BAC nicht zwangsläufigkongruent; durch Umbenennen können wir dieses Problem natürlich sofort beheben.

(b) Mit Definition 3.36 sehen wir sofort, dass ein Punkt D ∈ P im Inneren von 4ABC liegt, wenner im Inneren von zweien der drei Winkel ∠ABC,∠BCA,∠CAB liegt.

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61 Kapitel 3. Hilbertebenen

Mithilfe des Begriffs des Dreiecks können wir nun Axiom (K6) umformulieren zum SWS-Kriterium

(K′6) Sind A, B, C ∈ P und A′, B′, C′ ∈ P je drei Punkte in allgemeiner Lage mit

AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C′ und ∠BAC ' ∠B′A′C′,

so sind die Dreiecke4ABC und4A′B′C′ kongruent.

Wir wollen nun untersuchen, wann in einer ebenen Geometrie mit gewissen Zusatzvorausset-zungen das SWS-Kriterium gilt. Dazu führen wir zunächst den Begriff der Bewegung ein.

Definition 3.44. Sei Π = (P, G, ?,∼=,') eine ebene Geometrie. Eine Bewegung in Π ist dann einebijektive Abbildung ϕ : P→ P mit

(i) Für alle g ∈ G liegt ϕ(g) wieder in G,

(ii) für beliebige drei Punkte A, B, C ∈ P gilt A ? B ? C ⇐⇒ ϕ(A) ? ϕ(B) ? ϕ(C),

(iii) für beliebige zwei verschiedene Punkte A, B ∈ P gilt AB ∼= ϕ(A)ϕ(B),

(iv) für beliebige drei Punkte A, B, C ∈ P in allgemeiner Lage gilt ∠ABC ' ∠ϕ(A)ϕ(B)ϕ(C).

Die Menge aller Bewegungen in Π bezeichnen wir mit Bew(Π).

Wenn wir uns die Definition noch einmal anschauen, wird klar, dass wir vereinfachend sagenkönnen, dass Bewegungen gerade diejenigen bijektiven Abbildungen auf P sind, die die bis-lang von uns eingeführte Geometrie im Sinne der Kongruenz unverändert lassen. Wenn wirzusätzlich noch fordern, dass ∼= und ' transitiv sind, wird Bew(Π) offensichtlich zu einerGruppe.

Definition 3.45. Sei Π = (P, G, ?,∼=,') eine ebene Geometrie, die die Inzidenz- und die Anord-nungsaxiome erfüllt. Genau dann sagen wir, Π habe genügend viele Bewegungen, wenn folgendeBedingungen gelten.

(i) Für jede zwei Punkte A, B ∈ P gibt es ein ϕ ∈ Bew(Π) mit ϕ(A) = B.

(ii) Für beliebige drei Punkte A, B, C ∈ P mit A 6= B und A 6= C gibt es ein ϕ ∈ Bew(Π) mitϕ(A) = A und ϕ(

# „AB) =

# „AC.

(iii) Für jede Gerade g ∈ G gibt es ein ϕ ∈ Bew(Π), so dass zum einen ϕ(A) = A gilt für alle A ∈ gund zum anderen für alle A ∈ P r g die beiden Punkte A und ϕ(A) auf verschiedenen Seitenvon g liegen.

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3.3. Die Kongruenzaxiome für Winkel 62

Satz 3.46. Sei Π = (P, G, ?,∼=,') eine ebene Geometrie, die die Inzidenz- und die Anordnungsaxiomesowie die Axiome (K1), (K2), (K4), (K5) erfüllt. Falls Π genügend viele Bewegungen hat, so gilt in Πdas SWS-Kriterium (K′6).

Beweis. Seien A, B, C ∈ P und A′, B′, C′ ∈ P je drei Punkte in allgemeiner Lage, und gelte

AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C′ und ∠BAC ' ∠B′A′C′. (3.3)

Nach 3.45 (i) gibt es ein ϕ1 ∈ Bew(Π) mit ϕ1(A) = A′. Da andererseits ϕ1 bijektiv ist und An-ordnung und Kongruenz von Strecken und Winkeln erhält, können wir also ohne Einschrän-kung A = A′ annehmen.

Nach 3.45 (ii) gibt es ein ϕ2 ∈ Bew(Π) mit ϕ2(A) = A und ϕ2(# „AB) =

# „

AB′. Mit dem selbenArgument wie oben können wir daher ohne Einschränkung annehmen, dass neben A = A′

auch B = B′ gilt.

Schließlich gibt es nach 3.45 (iii) ein ϕ3 ∈ Bew(Π), das die Gerade A ∨ B punktweise festlässt,und für das C und ϕ3(C) auf verschiedenen Seiten dieser Geraden liegen. Wieder ohne Ein-schränkung können wir annehmen, dass nicht nur A = A′ und B = B′ gelten, sondern auch Cund C′ auf der selben Seite der Geraden A ∨ B = A′ ∨ B′ liegen.

Unsere Voraussetzungen (3.3) lauten nun

(i) ∠BAC ' ∠BAC′,

(ii) AC ∼= AC′,

(iii) C und C′ liegen auf der selben Seite von A ∨ B.

Mit (K5) folgt aus (i) und (iii) sofort# „AC =

# „

AC′, mit (K2) daraus und aus (ii) die GleichheitC = C′. Insgesamt haben wir also gezeigt, dass es unter den gegebenen Voraussetzungen eineBewegung in Bew(Π) gibt, die das Dreieck 4ABC auf das Dreieck 4A′B′C′ abbildet. Letzteresind also kongruent, was zu zeigen war.

Wir wollen als Beispiel wieder die affine KoordinatenebeneA2(K) über einem pythagoräischenTeilkörper von R betrachten. Zusätzlich zu den bereits eingeführten ? und ∼= müssen wir dortnun einen Kongruenzbegriff ' für Winkel definieren.

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63 Kapitel 3. Hilbertebenen

Wir erinnern uns an den aus der Linearen Algebra bekannten Zusammenhang des Standards-kalarprodukts mit dem Kosinus. Seien v, w ∈ K2 r {0} zwei Vektoren. Für diese definieren wir](v, w) als die eindeutig bestimmte reelle Zahl im Intervall [0, π] mit

cos](v, w) =〈v | w〉||v|| · ||w|| .

Wegen der Cauchy-Schwarz-Ungleichung ist dies wohldefiniert. Einem Winkel∠ABC lässt sichso seine Winkelgröße (auch Bogenmaß genannt)

]ABC := ](A− B, C− B)

zuteilen. Wir definieren jetzt, dass zwei Winkel in der affinen Koordinatenebene genau dannkongruent sind, wenn sie die gleiche Winkelgröße haben.

Definition 3.47. Sei K ein pythagoräischer Teilkörper von R. Es seien A, B, C sowie A′, B′, C′ jeweilsdrei Punkte in K2 in allgemeiner Lage. Wir setzen

∠ABC ' ∠A′B′C′ :⇐⇒ ](A− B, C− B) = ](A′ − B′, C′ − B′).

Wir wollen nun die Kongruenzaxiome für Winkel überprüfen. Dass' eine Äquivalenzrelationist, dass also (K4) gilt, wird in Übungsaufgabe 3.10 gezeigt.

Bevor wir (K5) zeigen, wollen wir zunächst die Bewegungen von K2 untersuchen.

(?) Proposition 3.48. Für einen pythagoräischen Teilkörper K ⊆ R enthält Bew((K2, GK, ?,∼=,'))die für K = R aus der Linearen Algebra bekannten Bewegungen ϕ : K2 → K2 mit

ϕ(P) = M · P + A für alle P ∈ K2

für ein M ∈ O2(K) = O2(R)∪ K2×2 und ein A ∈ K2.

Beweis. Übungsaufgabe 3.11.

Eine solche Bewegung heißt dabei eigentlich, wenn M bereits in SO2(K) liegt, und uneigentlichsonst. Aus der Linearen Algebra ist Folgendes bekannt.

� Jedes M ∈ SO2(R) lässt sich eindeutig schreiben als die Drehung

M = Dα =

(cos α − sin αsin α cos α

)um einen Winkel α ∈ [0, 2π) mit Zentrum 0 ∈ R2. Insbesondere gilt dann

](A, Dα · A) =

{α für α ∈ [0, π],2π − α für α ∈ (π, 2π).

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3.3. Die Kongruenzaxiome für Winkel 64

� Jedes M ∈ O2(R)r SO2(R) lässt sich eindeutig schreiben als die Spiegelung

M = Sα =

(cos α sin αsin α − cos α

)an der Geraden R · (cos α

2sin α

2) für ein α ∈ [0, 2π).

(?) Proposition 3.49. Sei K ein pythagoräischer Teilkörper vonR, und seien A, B, C ∈ K2 in allgemei-ner Lage. Dann liegen cos]ABC und sin]ABC bereits in K. Insbesondere ist D]ABC ∈ O2(K).

Beweis. Übungsaufgabe 3.12

Zum Nachweis von (K5) betrachten wir nun drei Punkte A, B, C ∈ K2 in allgemeiner Lage undzwei verschiedene Punkte A′, B′ ∈ K2. Für ein α ∈ (0, π) ∪ (π, 2π) mit Dα ∈ O2(K) setzen wir

P′α := A′ + Dα · (B′ − A′).

Dann sind die Punkte A′, B′, P′α in allgemeiner Lage, denn B′ − A′ und P′α − A′ = Dα(B′ − A′)sind linear unabhängig. Nach dem Obigen gilt außerdem

]B′A′P′α = ](B′ − A′, P′α − A′) = ](B′ − A′, Dα · (B′ − A′)) =

{α für α ∈ (0, π),2π − α für α ∈ (π, 2π).

Insbesondere durchläuft ∠A′B′P′α mit α alle Kongruenzklassen von Winkeln. Es folgt

∠B′A′P′α ' ∠BAC ⇐⇒ ]B′A′P′α = ]BAC⇐⇒ α ∈ {]BAC, 2π −]BAC}.

Für (K5) müssen wir also noch zeigen, dass die beiden Punkte

C′1 := P′]BAC = A′ + D]BAC · (B′ − A′) und C′2 := P′2π−]BAC = A′ + D2π−]BAC · (B′ − A′)

auf verschiedenen Seiten der Geraden A′ ∨ B′ liegen. Dies stimmt, da

12

C′1 +12

C′2 = A′ +12(D]BAC + D2π−]BAC) · (B′ − A′) = A′ + cos]BAC · (B′ − A′)

ein Punkt zwischen C′1 und C′2 ist, der auch auf A′ ∨ B′ liegt.

Abbildung 3.5: Da der rote und der blaue Winkel die gleiche Winkelgröße haben, liegt derkonstruierte Punkt auf der Geraden A′ ∨ B′.

Abschließend wollen wir zeigen, dass für die Relation ' das SWS-Kriterium (K′6) gilt. NachSatz 3.46 genügt es dafür, den folgenden Satz zu zeigen.

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65 Kapitel 3. Hilbertebenen

(?) Satz 3.50. Für einen pythagoräischen Teilkörper K vonR hat die ebene Geometrie (K2, GK, ?,∼=,')genügend viele Bewegungen.

Beweis. Für je zwei Punkte A, B ∈ K2 ist durch

ϕ :

{K2 → K2,P 7→ I2 · P + (B− A)

eine Bewegung von K2 gegeben, die A auf B abbildet. Das zeigt 3.44 (i).

Wir wollen nun 3.44 (ii) zeigen. Seien dafür A, B, C ∈ K2 drei beliebige Punkte mit A 6= B undA 6= C.

� Falls A, B, C kollinear sind, definieren wir eine Bewegung ϕ durch

ϕ(P) :=

{P falls B und C auf der selben Seite von A liegen,A− (P− A) falls B und C auf verschiedenen Seiten von A liegen.

Diese erfüllt nach Konstruktion ϕ(A) = A und ϕ(B) ∈ # „AC.

� Falls A, B, C in allgemeiner Lage sind, setzen wir α := ]BAC ∈ (0, π) und definierenzwei Bewegungen ϕ1 und ϕ2 durch

ϕ1(P) := Dα · (P− A) + A und ϕ2(P) := D2π−α · (P− A) + A für alle P ∈ K2.

Beide bilden nach Konstruktion A auf sich selbst ab. Weiter gilt

]BAϕ1(B) = ](B− A, ϕ1(B)− A) = ](B− A, Dα(B− A)) = α = ]BAC

sowie

]BAϕ2(B) = ](B− A, D2π−α(B− A)) = 2π − (2π − α) = α = ]BAC.

Wie im Beweis von (K5) gerade eben (vgl. Abbildung 3.5) liegen ϕ1(B) und ϕ2(B) aufverschiedenen Seiten der Geraden A ∨ B. Nach (K5) liegt daher genau eines der beidenauf dem Strahl

# „AC. Genau eine der beiden Bewegungen erfüllt also die gewünschten

Eigenschaften.

Wir schließen den Beweis mit einem Beweis von 3.44 (iii) ab. Sei dafür g = gQ,v mit Q ∈ K2 undv ∈ K2 r {0} eine beliebige Gerade in GK. Wir definieren eine Abbildung ϕ : K2 → K2 durch

ϕ(P) := M · P + A mit M := I2 −2||v||2 v⊥ · v⊥

tund A = 2

〈Q | v⊥〉||v||2 v⊥.

Es istMt ·M = M2 = I2 −

4||v||2 v⊥ · v⊥

t+

4||v||4 (v

⊥ · v⊥t

) · (v⊥ · v⊥t

) = I2,

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3.4. Ergänzungswinkel, Gegenwinkel und rechte Winkel 66

so dass M in O2(K) liegt und ϕ eine Bewegung ist. Ein beliebiger Punkt P ∈ K2 lässt sichschreiben als P = Q+ λv+ µv⊥ mit λ, µ ∈ K. In dieser Sprache lässt sich ϕ wie folgt darstellen.

ϕ(Q + λv + µv⊥) =(

I2 −2||v||2 v⊥ · v⊥

t )·(Q + λv + µv⊥

)+ 2〈Q | v⊥〉||v||2 v⊥

=(Q + λv + µv⊥

)− 2||v||2

(〈Q | v⊥〉v⊥ + 0 + µ||v||2 v⊥

)+ 2〈Q | v⊥〉||v||2 v⊥

= Q + λv +(µ− 2

〈Q | v⊥〉||v||2 − 2µ + 2

〈Q | v⊥〉||v||2

)v⊥

= Q + λv− µv⊥.

Hieraus folgt sofort ϕ(P) = P für alle P ∈ g. Außerdem gilt für ein beliebiges P = Q + λv +µv⊥ aus K2 r g

〈ϕ(P)−Q | v⊥〉 = 〈λv− µv⊥ | v⊥〉 = −µ||v||2 = . . . = −〈P−Q | v⊥〉,

so dass nach Proposition 3.23 die Punkte P und ϕ(P) auf verschiedenen Seiten von g liegen. Esfolgt 3.44 (iii).

Insgesamt haben wir Folgendes gezeigt.

(?) Satz 3.51. Für jeden pythagoräischer Teilkörper K ⊆ R ist die affine Koordinatenebene A2(K) =(K2, GK, ?,∼=,') eine Hilbertebene.

3.4 Ergänzungswinkel, Gegenwinkel und rechte Winkel

In diesem Abschnitt wollen wir Winkel in Hilbertebenen noch etwas genauer studieren. Wirwerden Ergänzungswinkel, Gegenwinkel und rechte Winkel definieren und Euklids viertesPostulat 3.57 zeigen, dass nämlich je zwei rechte Winkel zueinander kongruent sind.

Definition 3.52 (H). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage. Seien weiter B′, C′ ∈ Pmit B′ ? A ? B und C′ ? A ? C. Dann heißen ∠BAC′ und ∠B′AC Ergänzungswinkel zu ∠BAC. DerWinkel ∠B′AC′ heißt der Gegenwinkel von ∠BAC.

Abbildung 3.6: Der ursprüngliche Winkel, ein Ergänzungswinkel und der Gegenwinkel.

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67 Kapitel 3. Hilbertebenen

Proposition 3.53 (H). Seien α, β ∈ W, und sei α′ bzw. β′ ein Ergänzungswinkel zu α bzw. zu β. Danngilt

α ' β =⇒ α′ ' β′;

Ergänzungswinkel kongruenter Winkel sind also kongruent. Insbesondere sind die Ergänzungswinkeleines gegebenen Winkels zueinander kongruent.

Beweis. Seien 4ABC und 4DEF Dreiecke mit α = ∠BAC und β = ∠EDF, und seien weiterB′, C′, E′, F′ ∈ P mit

B′ ? A ? B, C′ ? A ? C, E′ ? D ? E, F′ ? D ? F.

Die Menge der Ergänzungswinkel zu α ist dann durch {∠BAC′,∠B′AC} gegeben, die Mengeder Ergänzungswinkel zu β durch {∠EDF′,∠E′DF}. Wir werden nun zeigen, dass aus α ' βdie Kongruenz ∠B′AC ' ∠E′DF folgt; die anderen Fälle gehen nach Umbenennung identischdurch.

Indem wir gegebenenfalls die Punkte E, E′, F durch andere Punkte auf dem jeweils gleichenvon D ausgehenden Strahl ersetzen, können wir ohne Einschränkung

AB ∼= DE, AC ∼= DF und AB′ ∼= DE′

annehmen. Dies ist möglich nach (K2).

Mit dem SWS-Kriterium (K′6) folgt aus AB ∼= DE, AC ∼= DF und ∠BAC ' ∠EDF die Kongru-enz der Dreiecke 4ABC und 4DEF, insbesondere also auch die Kongruenzen BC ∼= EF und∠ABC ' ∠DEF. Weiter gelten

B′ ? A ? B, E′ ? D ? E, AB′ ∼= DE′ und AB ∼= DE,

so dass nach (K3) auch BB′ ∼= EE′ gilt.

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3.4. Ergänzungswinkel, Gegenwinkel und rechte Winkel 68

Wir können also wieder das SWS-Kriterium anwenden und erhalten die Kongruenz der Drei-ecke 4BB′C und 4EE′F. Hieraus folgen sofort die Kongruenzen B′C ∼= E′F und ∠AB′C '∠DE′F. Zu Beginn des Beweises hatten wir zudem ohne Einschränkung AB′ ∼= DE′ gesetzt.

Ein letztes Mal können wir das SWS-Kriterium (K′6) anwenden und erhalten die Kongruenzder Dreiecke4AB′C und4DE′F, was insbesondere die Proposition beweist.

Korollar 3.54 (H). Sei α ∈ W, und sei α′ der Gegenwinkel von α. Dann gilt α ' α′; Gegenwinkel sindalso stets kongruent.

Beweis. Sei4ABC ein Dreieck mit α = ∠BAC, und seien weiter B′, C′ ∈ P Punkte mit B′ ? A ? Bund C′ ? A ?C, so dass α′ = ∠B′AC′ gilt. Dann sind∠BAC und∠B′AC′ beide Ergänzungswinkelzu ∠B′AC, also kongruent nach Proposition 3.53.

Definition 3.55 (H). Ein Winkel α ∈ W heißt genau dann ein rechter Winkel, wenn er zu einem (undsomit allen) seiner Ergänzungswinkel kongruent ist.

Proposition 3.56 (H). Seien α, β ∈ W zwei Winkel. Dann gilt: Ist α ein rechter Winkel, und sind αund β kongruent, so ist auch β rechter Winkel. Insbesondere ist jeder Ergänzungswinkel eines rechtenWinkels wieder ein rechter Winkel.

Beweis. Sei α′ ein Ergänzungswinkel zu α, und sei β′ ein Ergänzungswinkel zu β. Aus α ' βfolgt mit Proposition 3.53, dass auch α′ und β′ zueinander kongruent sind. Da α ein rechterWinkel ist, folgt

β ' α ' α′ ' β′

und somit die Behauptung.

Satz 3.57 (Viertes Euklidisches Postulat, H). Je zwei rechte Winkel sind zueinander kongruent.

Beweis. Seien α = ∠BAC und α′ = ∠B′A′C′ zwei nicht kongruente rechte Winkel. Dann giltα < α′ oder α′ < α; ohne Einschränkung ersteres. Nach Proposition 3.41 gibt es also einenStrahl

# „

A′P zwischen# „

A′B′ und# „

A′C′ mit ∠PA′B′ ' α.

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69 Kapitel 3. Hilbertebenen

Sei nun β′ = ∠C′A′D′ ein Ergänzungswinkel zu α′. Da P im Inneren von ∠C′A′B′ liegt, liegenP, C′ auf der selben Seite von A′ ∨ B′ = A′ ∨ D′, und P, B′ liegen auf der selben Seite vonA′ ∨C′. Damit liegen P, D′ auf verschiedenen Seiten von A′ ∨C′. Nach Lemma 3.37 ist dann C′

im Inneren von ∠PA′D′. Daraus folgt sofort β′ < ∠PA′D′. Weiter ist ∠PA′D′ Ergänzungswinkelzu ∠PA′B′ ' α, so dass nach Proposition 3.53 jeder Ergänzungswinkel β von α kongruent zu∠PA′D′ ist. Es folgt β′ < β. Andererseits folgt aus der Rechtwinkligkeit von α und α′

β ' α < α′ ' β′,

also β < β′, was nicht sein kann.

Proposition 3.56 und Satz 3.57 lassen sich zusammenfassen zu

Korollar 3.58 (H). Die rechten Winkel bilden eine „'“-Äquivalenzklasse in W.

3.5 Orthogonalität und Parallelität

Unsere naive Vorstellung sagt uns, dass wir mit dem Begriff des rechten Winkels ein Kriteriumfür Parallelität angeben können sollten. Dies soll in diesem Abschnitt untersucht werden.

Definition 3.59 (H). Zwei Geraden g, h ∈ G heißen genau dann orthogonal, wenn sie sich in genaueinem Punkt schneiden (also g ∦ h) und einer der gebildeten Winkel ein rechter Winkel ist. Sind g undh orthogonal aufeinander, so schreiben wir g ⊥ h.

Nach den Überlegungen des letzten Abschnitts ist dies genau dann der Fall, wenn alle gebil-deten Winkel rechte Winkel sind.

Satz 3.60 (H). Seien g ∈ G eine Gerade und A ∈ P ein Punkt. Dann gibt es eine Gerade durch A, dieorthogonal auf g ist.7

Beweis. Fall 1: A 6∈ g. Nach (I2) gibt es zwei Punkte B 6= C ∈ g. Weiter gibt es nach (K5) aufder Seite von g, auf der A nicht liegt, genau einen Strahl # „

BP mit ∠PBC ' ∠ABC. Nach (K2) gibtes einen eindeutig bestimmten Punkt Q auf # „

BP mit BQ ∼= BA. Da A und Q nach Konstruktionauf verschiedenen Seiten von g liegen, gibt es einen Punkt R ∈ g mit A ? R ? Q.

Unser Ziel ist nun zu zeigen, dass der Winkel ∠ARC kongruent zu seinem Ergänzungswinkel∠QRC ist. Nach Definition ist er dann ein rechter Winkel, und mit A ∨ Q ist eine auf g ortho-gonale Gerade gefunden. Im Fall R = B gilt einfach ∠QRC = ∠PBC ' ∠ABC = ∠ARC. Sindandererseits R und B verschieden, so erhalten wir mit dem SWS-Kriterium (K′6) die Kongruenz4ABR ∼= 4QBR,

denn: Nach Konstruktion gelten BA ∼= BQ und BR ∼= BR. Es bleibt ∠ABR ' ∠QBR zu zeigen.Im Fall B ? R ? C folgt dies direkt aus ∠ABR = ∠ABC ∼= ∠PBC = ∠QBR. Im Fall R ? B ? Cgilt zu beachten, dass ∠ABC und ∠ABR bzw. ∠QBC und ∠QBR Ergänzungswinkel sind. Aus

7Der Satz macht nur eine Aussage über die Existenz. Die Eindeutigkeit werden wir dann in Korollar 3.65 zeigen.

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3.5. Orthogonalität und Parallelität 70

∠ABC ' ∠QBC folgt somit nach Proposition 3.53, dass auch ∠ABR und ∠QBR kongruent sind.Der Fall B ? C ? R geht natürlich analog. #

Abbildung 3.7: Die beiden interessanten Fälle B ? R ? C und R ? B ? C.

Die gesuchte Kongruenz ∠ARB ' ∠QRB folgt hieraus direkt.

Fall 2: A ∈ g. Nach (I3) gibt es ein B ∈ P r g, und nach Fall 1 dann auch eine Gerade h durchB, die orthogonal auf g steht. Sei P der Geradenschnittpunkt g ∧ h.

Falls bereits P = A gilt, sind wir fertig. Ansonsten ist nach Konstruktion ∠BPA ein rechterWinkel. Andererseits gibt es nach (K5) auf der selben Seite von g wie B einen Strahl

# „AQ mit

∠BPA ' ∠QAP. Da die rechten Winkel ein Kongruenzklasse bilden, ist also ∠QAP ein rechterWinkel und Q ∨ A die gesuchte orthogonale Gerade.

Definition 3.61 (H). Eine Gerade t ∈ G heißt eine Transversale zu gegebenen Geraden g, h ∈ G,falls sie g und h jeweils genau einmal schneidet und diese Schnittpunkte voneinander verschieden sind.

Setzen wir nun B := g ∧ t und B′ := h ∧ t, und wählen wir Punkte A, C ∈ g und A′, C′ ∈ h mitA ? B ? C und A′ ? B′ ? C′, so dass A und A′ auf der selben Seite von t liegen, und Punkte D, D′ ∈ tmit D ? B ? B′ ? D′. Dann heißen

(∠ABB′,∠C′B′B), (∠CBB′,∠A′B′B), (∠ABD,∠C′B′D′) und (∠CBD,∠A′B′D′)

Paare von Wechselwinkeln (bezüglich der Geraden g, h und der Transversalen t) und

(∠CBD,∠C′B′B), (∠ABD,∠A′B′B), (∠CBB′,∠C′B′D′) und (∠ABB′,∠A′B′D′)

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71 Kapitel 3. Hilbertebenen

Paare von Stufenwinkeln (bezüglich der Geraden g, h und der Transversalen t).

Statt „(α, β) ist ein Paar von Wechselwinkeln bzw. Stufenwinkeln“ werden wir künftig auch einfacher„α und β sind Wechselwinkel bzw. Stufenwinkel“ schreiben.

Bemerkung 3.62. Offensichtlich ist stets der Gegenwinkel eines Wechselwinkels ein Stufenwinkel undder Gegenwinkel eines Stufenwinkels ein Wechselwinkel.

Satz 3.63 (H). Es gelten die beiden äquivalenten Aussagen.

(i) Schwacher Wechselwinkelsatz: Haben zwei von einer Transversalen geschnittene Geraden einPaar kongruenter Wechselwinkel, so sind sie parallel.

(ii) Schwacher Stufenwinkelsatz: Haben zwei von einer Transversalen geschnittene Geraden einPaar kongruenter Stufenwinkel, so sind sie parallel.

Beweis. Nach Bemerkung 3.62 sind die beiden Aussagen zueinander äquivalent. Wir zeigenden schwachen Wechselwinkelsatz und benutzen dabei die Notation aus Definition 3.61. NachAnnahme und Proposition 3.53 gelten dann ∠A′B′B ' ∠CBB′ und ∠C′B′B ' ∠ABB′.

Wir nehmen nun an, g und h seien nicht parallel und schnitten sich also in genau einem PunktP ∈ P. Ohne Einschränkung liegt P dann auf der selben Seite von t wie A und A′; sonst ersetzeman ∠A′B′B und ∠CBB′ durch ihre Ergänzungswinkel.

Nach (K2) können wir die Strecke BP in einem Punkt Q auf den Strahl# „

B′C′ abtragen. Nach demSWS-Kriterium (K′6) ist dann4B′BP ∼= 4BB′Q und insbesondere ∠CBB′ ' ∠A′B′B ' ∠QBB′.

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3.5. Orthogonalität und Parallelität 72

Nach Konstruktion liegen Q und C auf der selben Seite von t. Mit (K5) folgt Q ∈ # „BC ⊆ g, was

ein Widerspruch dazu ist, dass P der einzige Schnittpunkt von g und h ist. Die beiden Geradensind also parallel.

Korollar 3.64 (H). Seien f , g, h ∈ G mit g ⊥ f und h ⊥ f . Dann gilt g ‖ h.

Beweis. Fall 1: f ist transversal zu g und h. Sei P := f ∧ g und Q := f ∧ h. Seien außerdemA ∈ g und A′ ∈ h auf verschiedenen Seiten von f . Dann sind die Winkel ∠APQ und ∠PQA′

Wechselwinkel. Wegen g ⊥ f und h ⊥ f sind sie aber auch beide rechte Winkel und somit nachdem Vierten Euklidischen Postulat 3.57 zueinander kongruent. Die Behauptung folgt mit demSchwachen Wechselwinkelsatz 3.63.

Fall 2: f , g, h haben einen gemeinsamen Schnittpunkt P. Seien A ∈ g und A′ ∈ h auf derselben Seite von f und Q 6= P ein weiterer Punkt auf f . Dann sind die Winkel ∠APQ und∠A′PQ beide rechte Winkel und somit nach dem Vierten Euklidischen Postulat 3.57 kongruent.Nach (K5) liegt also A′ auf

# „PA, so dass h = P ∨ A′ = P ∨ A = g und insbesondere g ‖ h

folgt.

Korollar 3.65 (H). Seien g ∈ G eine Gerade und A ∈ P ein Punkt. Dann gibt es genau eine Gerade`g A durch A, die orthogonal zu g ist. Diese heißt das Lot von A auf g, und ihr Schnittpunkt Lg A :=`g A ∧ g mit g heißt der Lotfußpunkt von A auf g.

Beweis. Die Existenz des Lots haben wir bereits in Satz 3.60 gezeigt. Zum Nachweis der Ein-deutigkeit betrachten wir zwei Geraden `g A, `′g A ∈ G, die beide durch A gehen und beideorthogonal auf g stehen. Mit Korollar 3.64 `g A ‖ `′g A, was wegen A ∈ `g A ∪ `′g A sofort`g A = `′g A impliziert.

Korollar 3.66 (H). Seien g ∈ G eine Gerade und A ∈ P ein Punkt. Dann gibt es eine Gerade h ∈ Gdurch A mit g ‖ h.

Beweis. Es gilt (`g A) ⊥ g und (`(`g A)A) ⊥ `g A und somit (`(`g A)A) ‖ g nach Korollar 3.64.

Man kann sich nun fragen, ob die Umkehrung des schwachen Wechselwinkelsatzes auch gilt,dass also Wechselwinkel an parallelen Geraden kongruent sein müssen. Wie wir nun zeigenwerden, ist dies aber nur richtig, wenn die betrachete Hilbertebene affin ist.

Satz 3.67 (H). Folgende Aussagen sind äquivalent.

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73 Kapitel 3. Hilbertebenen

(i) Es gilt das schwache Parallelenaxiom (p).

(ii) Es gilt das starke Parallelenaxiom (P).

(iii) Es gilt der starke Wechselwinkelsatz: Je zwei parallele Geraden haben bezüglich einer beliebigenTransversalen vier Paare kongruenter Wechselwinkel.

(iv) Es gilt der starke Stufenwinkelsatz: Je zwei parallele Geraden haben bezüglich einer beliebigenTransversalen vier Paare kongruenter Stufenwinkel.

Beweis. Nach Bemerkung 3.62 sind offenbar der starke Wechselwinkelsatz und der starke Stu-fenwinkelsatz äquivalent, so dass zum Beweis des Satzes genügt, die Äquivalenz der Aussagen(i), (ii) und (iii) zu zeigen.

Wir nehmen dafür zunächst an, es gelte das schwache Parallelenaxiom (p), es gebe also zu jeeinem Punkt A ∈ P und einer Gerade g ∈ G nie mehr als eine Parallele zu g durch A. Nach Ko-rollar 3.66 gibt es aber stets mindestens eine solche Parallele, so dass das starke Parallelenaxiom(P) folgt.

Wir wollen nun zeigen, dass unter Annahme des starken Parallelenaxioms (P) der starke Wech-selwinkelsatz gilt. Sei dazu t ∈ G eine Transversale zu zwei gegebenen parallelen Geradeng ‖ h ∈ G. Wir benennen die Schnittpunkte B := t ∧ g und B′ := t ∧ h und wählen PunkteA, C ∈ g mit A ? B ? C und Punkte A′, C′ ∈ h mit A′ ? B′ ? C′, so dass A und A′ auf der selbenSeite von t liegen. Der starke Wechselwinkelsatz ist gezeigt, wenn wir, in dieser Notation, dieKongruenz α := ∠ABB′ ' ∠C′B′B =: β zeigen können, da die Kongruenz der weiteren Paarevon Wechselwinkeln daraus sofort mit Proposition 3.53 und Korollar 3.54 folgt.

Nehmen wir dafür im Gegenteil an, es gälte α 6' β, ohne Einschränkung α > β. Dann gäbe eseinen Punkt P im Inneren von α mit ∠PBB′ ' β, und nach dem Schwachen Wechselwinkelsatz3.63 wären die Geraden B ∨ P und h parallel. Andererseits ist nach Voraussetzung auch g eineParallele zu h durch B. Nach (P) gälte daher B∨ P = g, was nicht sein kann, da P ein Punkt imInneren von α ist.

Es verbleibt das schwache Parallelenaxiom (p) aus dem starken Wechselwinkelsatz herzulei-ten. Seien dafür g ∈ G und A ∈ P gegeben. Im Fall A ∈ g ist g selbst offenbar die einzigeParallele zu g durch A. Im Folgenden können wir daher ohne Einschränkung A 6∈ g anneh-men. Seien h, h′ ∈ G zwei zu g parallele Geraden durch A, und sei B ∈ g beliebig.

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3.6. Der Kongruenzsatz für Dreiecke 74

Die Gerade A ∨ B ist eine Transversale zu g und h. Nach dem starken Wechselwinkelsatz ha-ben also g, h bzgl. A ∨ B ein Paar kongruenter Wechselwinkel α ' β. Andererseits ist A ∨ Bauch eine Transversale zu g und h′. Wieder nach dem starken Wechselwinkelsatz ist der Wech-selwinkel β′ zu α zwischen A ∨ B und h′ zu α kongruent. Es folgt β ' β′, und mit (K5) dieGleichheit der Geraden h und h′.

Bemerkung 3.68. Wir nehmen Satz 3.67 zum Anlass, in Hilbertebenen nicht weiter zwischen schwa-chem und starkem Parallelenaxiom zu unterscheiden und nur noch vom Parallelenaxiom (P) zu reden.Für „SeiH eine Hilbertebene, in der das Parallelenaxiom (P) gilt.“ schreiben wir künftig auch kurz „(H+ P)“.

3.6 Der Kongruenzsatz für Dreiecke

Der Kongruenzsatz fasst mehrere Kongruenzkriterien für Dreiecke zusammen. Wir werden ihnbenutzen, um in Abschnitt 3.7 zu einer gegebenen Strecke einen Mittelpunkt zu konstruieren.8

Wir beginnen mit einigen vorbereitenden Propositionen.

Proposition 3.69 (H). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage und A′ 6= B′ ∈ P zweiverschiedene Punkte mit AB ∼= A′B′. Dann gibt es auf jeder Seite von A′ ∨ B′ genau einen Punkt C′

mit4ABC ∼= 4A′B′C′.

Beweis. Wir wählen fest eine Seite von A′ ∨ B′ aus. Nach (K5) gibt es auf dieser Seite genaueinen Strahl

# „

A′P mit∠CAB ' ∠PA′B′. Weiter gibt es nach (K2) genau einen Punkt C′ auf diesemStrahl mit AC ∼= A′C′. Nach dem SWS-Kriterium (K′6) sind die Dreiecke 4ABC und 4A′B′C′

kongruent.

Definition 3.70 (H). Genau dann heißt ein Dreieck gleichschenklig, wenn zwei seiner Seiten zuein-ander kongruent sind. Diese beiden Seiten heißen dann die Schenkel des gleichschenkligen Dreiecks, dieverbleibende Strecke die Basis.

Proposition 3.71 (H). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage. Dann gilt die Äquivalenz

AB ∼= AC ⇐⇒ ∠ABC ' ∠ACB.8In Hilbertebenen mit Parallelenaxiom kann man unter mehrfacher Verwendung des starken Wechselwinkel-

satzes etwas direkter argumentieren. Wir werden jedoch in Kapitel 5 auch in Hilbertebenen ohne ParallelenaxiomStreckenmittelpunkte benutzen wollen und zeigen daher nun den Kongruenzsatz 3.73, der natürlich auch für sichgenommen interessant ist.

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75 Kapitel 3. Hilbertebenen

Ein Dreieck ist also genau dann gleichschenklig, wenn zwei seiner Winkel zueinander kongruent sind.Diese Winkel heißen dann die Basiswinkel des gleichschenkligen Dreiecks.

Beweis. Dass aus der Kongruenz der Strecken die Kongruenz der Winkel folgt, sehen wir sofortdurch Anwenden des SWS-Kriteriums (K′6) auf die Dreiecke4ABC und4ACB.

Gelte nun umgekehrt ∠ABC ' ∠ACB. Angenommen, es gälte AB 6∼= AC, ohne Einschrän-kung AB > AC. Dann gäbe es ein D ∈ AB mit DB ∼= AC und insbesondere A ? D ? B. NachKonstruktion liegt daher D im Inneren des Winkels ∠BCA. Da D auf AB liegt, gilt aber ande-rerseits ∠ABC = ∠DBC. Mit dem SWS-Kriterium (K′6) folgt4DBC ∼= 4ACB und insbesondere∠DCB ' ∠ACB. Das ist ein Widerspruch dazu, dass D im Inneren von ∠ACB liegt.

Proposition 3.72 (H). Seien A, B, C ∈ P bzw. A′, B′, C′ ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage, und seiD bzw. D′ ein Punkt im Inneren von ∠BAC bzw. ∠B′A′C′. Dann folgt aus je zwei der Kongruenzen

∠BAD ' ∠B′A′D′, ∠DAC ' ∠D′A′C′, ∠BAC ' ∠B′A′C′

die jeweils dritte.

Beweis. Fall 1: (∠BAD ' ∠B′A′D′) ∧ (∠DAC ' ∠D′A′C′) =⇒ (∠BAC ' ∠B′A′C′). Nach Lem-ma 3.37 schneidet der Strahl

# „AD die Strecke BC. Indem wir gegebenenfalls D durch diesen

Schnittpunkt ersetzen, können wir daher ohne Einschränkung B ? D ? C annehmen. Weiterkönnen wir nach (K2) die Punkte B′, C′, D′ jeweils derart durch Punkte auf dem selben Strahlaus A′ ersetzen, dass A′B′ ∼= AB, A′C′ ∼= AC und A′D′ ∼= AD gelten. Nach Annahme geltenaußerdem∠B′A′D′ ' ∠BAD und∠D′A′C′ ' ∠DAC. Nach dem SWS-Kriterium (K′6) sind danndie Dreiecke4BAD und4B′A′D′ bzw.4DAC und4D′A′C′ kongruent.

Sei nun E′ ein Punkt auf der Geraden B′ ∨ D′ mit B′ ? D′ ? E′; so etwas gibt es nach (A2).Dann ist ∠A′D′E′ ein Ergänzungswinkel zu ∠A′D′B′ ' ∠ADB. Andererseits ist ∠ADC ein Er-gänzungswinkel zu ∠ADB, so dass mit Proposition 3.53 die Kongruenz ∠A′D′E′ ' ∠ADC '∠A′D′C′ folgt.

Da C′ und B′ auf verschiedenen Seiten von A′ ∨ D′ liegen und B′ und E′ ebenso, liegen nach(A4) die Punkte C′ und E′ auf der selben Seite von A′ ∨ D′. Nach (K5) sind daher die Winkel∠A′D′E′ und ∠A′D′C′ sogar identisch. Insbesondere gilt B′ ? D′ ? C′.

Da wir mit der Kongruenz der Dreiecke schon vorhin B′D′ ∼= BD und D′C′ ∼= DC eingesehenhatten, folgt mit (K3) die Kongruenz B′C′ ∼= BC. Weiter hatten wir schon ∠A′C′B′ ' ∠A′C′D′ '∠ACD ' ∠ACB erkannt und A′C′ ∼= AC vorausgesetzt. Mit dem SWS-Kriterium (K′6) folgtsomit die Kongruenz der Dreiecke4A′B′C′ und4ABC und insbesondere die Behauptung.

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3.6. Der Kongruenzsatz für Dreiecke 76

Fall 2: (∠BAD ' ∠B′A′D′) ∧ (∠BAC ' ∠B′A′C′) =⇒ (∠DAC ' ∠D′A′C′). Nach (K5) existiertein C′′, das auf der selben Seite von A′ ∨ D′ liegt wie C′ und das ∠D′A′C′′ ' ∠DAC erfüllt.Wenn wir C′ durch C′′ ersetzen, haben wir also die Voraussetzungen für Fall 1 erfüllt underhalten so ∠B′A′C′′ ' ∠BAC. Das impliziert

∠B′A′C′ ' ∠BAC ' ∠B′A′C′′

und somit C′′ ∈ # „

A′C′. Daraus ergibt sich

∠DAC ' ∠D′A′C′′ ' ∠D′A′C′

und also die Behauptung.

Fall 3: (∠BAC ' ∠B′A′C′) ∧ (∠DAC ' ∠D′A′C′) =⇒ (∠BAD ' ∠B′A′D′). Dieser Fall ist nachUmbenennung mit Fall 2 identisch.

Satz 3.73 (Kongruenzsatz für Dreiecke, H). Seien A, B, C ∈ P und A′, B′, C′ ∈ P je drei Punkte inallgemeiner Lage. Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

(i) 4ABC ∼= 4A′B′C′,

(ii) AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C′ und BC ∼= B′C′ (SSS)

(iii) AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C′ und ∠BAC ' ∠B′A′C′, (SWS)

(iv) AB ∼= A′B′, ∠BAC ' ∠B′A′C′ und ∠ABC ' ∠A′B′C′. (WSW)

Beweis. Dass aus (i) die anderen drei Aussagen folgen, ist klar, und das SWS-Kriterium (K′6),das besagt, dass (i) aus (iii) folgt, gilt nach Definition der Hilbertebene.

Wir wollen nun das WSW-Kriterium zeigen, das besagt, dass (i) aus (iv) folgt. Nehmen wirdafür an, es gelten die Kongruenzen aus (iv). Mit (K2) wählen wir auf dem Strahl

# „AC einen

Punkt C′′ mit AC′′ ∼= A′C′. Da nach Voraussetzung AB ∼= A′B′ und ∠BAC′′ = ∠BAC ' ∠B′A′C′

gelten, können wir das SWS-Kriterium auf die Dreiecke 4ABC′′ und 4A′B′C′ anwenden underhalten deren Kongruenz.

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77 Kapitel 3. Hilbertebenen

Daraus und wieder aus (iv) folgt

∠ABC′′ ' ∠A′B′C′ ' ∠ABC. (3.4)

Nach Konstruktion liegen C und C′′ auf der selben Seite von A ∨ B, so dass wegen (3.4) und(K5) bereits die Identität der Strahlen

# „BC und

# „

BC′′ gilt. Es folgt

C′′ = (B ∨ C) ∧ (A ∨ C) = C

und insbesondere AC ∼= A′C′. Wir dürfen also das SWS-Kriterium auf die Dreiecke4ABC und4A′B′C′ anwenden und zeigen so (i).

Am aufwändigsten ist der Beweis des SSS-Kriteriums, dessentwegen wir die Propositionen3.69, 3.71 und 3.72 gezeigt haben. Nehmen wir dafür an, es gelten die Kongruenzen aus (ii).Nach Proposition 3.69 gibt es auf der B′ gegenüberliegenden Seite von A′ ∨ C′ genau einenPunkt B′′ mit4A′B′′C′ ∼= 4ABC. Wir setzen P := (A′ ∨ C′) ∧ (B′ ∨ B′′).

In Abhängigkeit von der Lage von P auf der Geraden A′ ∨ C′ ergeben sich verschiedene Fälle.

Fall 1: P = A′. In diesem Fall sind die Punkte A′, B′, B′′ kollinear. Da sonst die Punkte A′, B′, C′

kollinear wären, sind deswegen C′, B′, B′′ in allgemeiner Lage. Wegen der Kongruenz B′C′ ∼=BC ∼= B′′C′ ist das Dreieck4C′B′B′′ gleichschenklig und hat kongruente Basiswinkel∠C′B′B′′ =∠A′B′C′ und∠C′B′′B′ = ∠A′B′′C′ nach Proposition 3.71. Das reicht, um mit dem SWS-Kriteriumdie Kongruenz von Dreiecken4ABC ∼= 4A′B′′C′ ∼= 4A′B′C′ folgern zu können.

Fall 2: P = C′. Dieser Fall ist nach Umbenennung mit Fall 1 identisch.

Fall 3: A′, C′, P paarweise verschieden. Analog zu Fall 1 sind die Dreiecke 4C′B′B′′ und4A′B′B′′ gleichschenklig, woraus mit 3.71 die Kongruenzen ∠C′B′P ' ∠C′B′′P und ∠A′B′P '∠A′B′′P der jeweiligen Basiswinkel folgen. Vermittels Proposition 3.72 erhalten wir ∠C′B′A′ '∠C′B′′A′, was mithilfe des SWS-Kriteriums die Behauptung zeigt.

3.7 Mittelsenkrechte und Winkelhalbierende

In diesem Abschnitt wollen wir zeigen, dass jede gegebene Strecke eine eindeutige Mittelsenk-rechte besitzt und jeder gegebene Winkel eine eindeutige Winkelhalbierende. Für beide Zielewird es sich als vorteilig erweisen, zu einer gegebenen Strecke einen Mittelpunkt konstruierenzu können. Damit wollen wir beginnen.

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3.7. Mittelsenkrechte und Winkelhalbierende 78

Definition 3.74 (H). Gegeben seien drei paarweise verschiedene kollineare Punkte A, B, M ∈ P. Genaudann heißt M ein Mittelpunkt der Strecke AB, wenn AM ∼= MB gilt.

Lemma 3.75 (H). Seien A, B, M ∈ P paarweise verschieden und kollinear. Ist M ein Mittelpunkt derStrecke AB, so gilt A ? M ? B.

Beweis. Gälte M ? A ? B, so folgte nach Definition AM = MA < MB. Dies stünde nach Proposi-tion 3.29 im Widerspruch zur Annahme AM ∼= MB und kann daher nicht sein. Gälte A ? B ? M,so folgte nach Definition AM > BM = MB. Dies stünde genauso im Widerspruch zur AnnahmeAM ∼= MB und kann daher ebenfalls nicht sein. Nach (A3) liegt aber genau einer der PunkteA, B, M zwischen den anderen beiden, so dass wir das Lemma gezeigt haben.

Satz 3.76 (H). Für zwei beliebige Punkte A 6= B ∈ P hat die Strecke AB genau einen Mittelpunkt.

Beweis. Wir wollen zunächst die Existenz zeigen. Wie in Proposition 3.3 gilt für g := A ∨ B dieAufteilung

P = g ·∪ S1(g) ·∪ S2(g)

von P in g und die durch g begrenzten Halbebenen. Für einen beliebigen Punkt P ∈ S1(g) gibtes nach Proposition 3.69 genau einen Punkt Q ∈ S2(g), für den die Dreiecke4ABP und4BAQkongruent sind. Insbesondere gelten die Kongruenzen von Strecken

AP ∼= BQ und PB ∼= QA. (3.5)

Die Punkte A, P, Q sind in allgemeiner Lage,

denn: Nach Konstruktion ist die Gerade g eine Transversale der beiden Geraden B∨ P und A∨Q mit kongruenten Wechselwinkeln∠PBA ' ∠QAB. Nach dem schwachen Wechselwinkelsatz3.63 sind somit die Geraden B∨ P und A∨Q parallel. Da sie wegen A 6= B zudem voneinanderverschieden sind, folgt die Behauptung. #

Analog zeigt man, dass auch die Punkte B, Q, P in allgemeiner Lage sind.

Insgesamt können wir das SSS-Kriterium 3.73 auf die Dreiecke 4APQ und 4BQP anwendenund erhalten wegen PQ ∼= QP und (3.5) deren Kongruenz. Insbesondere gelten die Kongruen-zen von Winkeln

∠APQ ' ∠BQP und ∠AQP ' ∠BPQ. (3.6)

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79 Kapitel 3. Hilbertebenen

Da P und Q auf verschiedenen Seiten von g liegen, schneidet die Gerade g die Strecke PQ ineinem Punkt M. Für diesen gilt A ? M ? B,

denn: Da die Punkte A, P, Q bzw. B, Q, P in allgemeiner Lage sind, liegen weder A noch B aufder Verbindungsgeraden P ∨Q; es ist also M 6∈ {A, B}. Weiter gilt nicht M ? A ? B, denn sonstläge A jeweils im Inneren der Winkel ∠BPM und ∠BQM, und es folgte

∠APQ = ∠APM < ∠BPM = ∠BPQ(3.6)' ∠AQP = ∠AQM < ∠BQM = ∠BQP

(3.6)' ∠APQ,

was nach Proposition 3.41 nicht sein kann, da offensichtlich bereits∠APQ ' ∠APQ gilt. Analogzeigt man, dass auch A ? B ? M nicht sein kann, so dass die Behauptung mit Proposition 3.41folgt. #

Es gilt nun

∠MAP = ∠BAP ' ∠ABQ = ∠MBQ, (A ? M ? B,4ABP ∼= 4BAQ)

AP(3.5)∼= BQ,

∠APM = ∠APQ(3.6)' ∠BQP = ∠BQM (P ? M ? Q)

und also mit dem WSW-Kriterium 3.73 die Kongruenz der Dreiecke 4AMP und 4BMQ. Ins-besondere folgt die Kongruenz von Strecken AM ∼= MB und somit, dass M ein Mittelpunkt derStrecke AB ist.

Es verbleibt die Eindeutigkeit des Streckenmittelpunkts zu zeigen. Sei dafür M′ ein von Mverschiedener Mittelpunkt von AB. Wir können ohne Einschränkung AM < AM′ annehmen,insbesondere also A ? M ? M′. Aufgrund von A ? M′ ? B folgt mit 3.7 die Anordnung M ? M′ ? Bund deshalb BM′ < BM. Insgesamt erhalten wir aber mit den Mittelpunktseigenschaften vonM und M′ die Ungleichungskette

AM < AM′ ∼= M′B < MB ∼= AM

und somit nach Proposition 3.29 einen Widerspruch.

Die Existenz eines eindeutigen Streckenmittelpunkts bedingt die Existenz einer eindeutigenMittelsenkrechten und einer eindeutigen Winkelhalbierenden wie folgt.

Definition 3.77 (H). Seien A 6= B ∈ P zwei verschiedene Punkte. Das Lot des Mittelpunkts von ABauf A ∨ B nennen wir die Mittelsenkrechte mAB von AB.

Proposition 3.78 (H). Für zwei verschiedene Punkte A 6= B ∈ P gilt

mAB = {P ∈ P | AP ∼= BP}.

Beweis. Wir zeigen zunächst, dass für ein beliebiges P ∈ mAB die Bedingung AP ∼= BP gilt.Da dies für den Streckenmittelpunkt M von AB definitionsgemäß richtig ist, können wir dabeiohne Einschränkung P ∈ mAB r {M} annehmen. Nach dem SWS-Kriterium sind dann dierechtwinkligen Dreiecke4AMP und4BMP kongruent, insbesondere gilt AP ∼= BP.

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3.8. Innen- und Außenwinkel im Dreieck 80

Sei nun umgekehrt P ∈ P mit AP ∼= BP. Im Fall P = M liegt P trivialerweise auf mAB. ImFall P 6= M ist das Dreieck 4PAB gleichschenklig, woraus ∠PAM ' ∠PBM folgt. Mithilfedes SWS-Kriteriums erhalten wir 4PAM ∼= 4PBM, was ∠PMA ' ∠PMB zur Folge hat. DieseWinkel sind Ergänzungswinkel, weshalb ∠PMA ein rechter Winkel ist. Aus der Eindeutigkeitdes Lotes folgt wie verlangt P ∈ mAB.

Definition 3.79 (H). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage und g eine Gerade durch A.Genau dann heißt g eine Winkelhalbierende von ∠BAC, wenn B und C auf verschiedenen Seiten vong liegen und für ein (und damit alle) P ∈ g r {A} die Kongruenz ∠PAB ' ∠PAC gilt.

Proposition 3.80 (H). Zu je drei Punkten A, B, C ∈ P in allgemeiner Lage gibt es genau eine Winkel-halbierende w∠CAB des Winkels ∠CAB.

Beweis. Wir zeigen zunächst die Existenz. Nach (K2) gibt es einen eindeutigen Punkt C′ ∈ # „AC

mit AC′ ∼= AB. Nach Satz 3.76 hat die Strecke BC′ einen Mittelpunkt M, der definitionsgemäßBM ∼= MC′ erfüllt.

Damit können wir das SSS-Kriterium auf die Dreiecke 4ABM und 4AC′M anwenden underhalten deren Kongruenz. Insbesondere gilt dann auch ∠BAM ' ∠C′AM, so dass durch dieGerade A ∨M eine Winkelhalbierende des Winkels ∠C′AB = ∠CAB gegeben ist.

Die Eindeutigkeit der Winkelhalbierenden zeigt man genauso wie die Eindeutigkeit des Stre-ckenmittelpunkts im Beweis von Satz 3.76.

3.8 Innen- und Außenwinkel im Dreieck

In diesem Abschnitt führen wir die Begriffe von Innen- und Außenwinkeln eines Dreiecks einund zeigen zwei Aussagen über das Verhältnis von Innen- und Außenwinkeln einerseits undInnenwinkeln und Dreiecksseiten andererseits. Daraus folgern wir noch ein weiteres Kongru-enzkriterium für Dreiecke.

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81 Kapitel 3. Hilbertebenen

Definition 3.81 (H). In einem Dreieck 4ABC heißen ∠CAB,∠ABC,∠BCA die Innenwinkel. Einbeliebiger Ergänzungswinkel eines Innenwinkels heißt ein Außenwinkel.

Die folgenden beiden Propositionen sind jeweils eine Abschwächung des Satzes von der In-nenwinkelsumme im Dreieck für euklidische Ebenen (vgl. Satz 4.58). Sie lassen sich schon ohneeine Addition von (Kongruenzklassen von) Winkeln formulieren.9

Proposition 3.82 (H + P). Seien α, β, γ die Innenwinkel eines Dreiecks 4, und seien α′, β′, γ′ dieInnenwinkel eines weiteren Dreiecks4′. Dann gilt(

α ' α′ und β ' β′)

=⇒ γ ' γ′.

Beweis. Wir schreiben4 = 4ABC und4′ = 4A′B′C′ und setzen

α := ∠CAB, β := ∠ABC und γ := ∠BCA,α′ := ∠C′A′B′, β′ := ∠A′B′C′ und γ′ := ∠B′C′A′.

Nach (K2) gibt es auf dem Strahl# „

A′B′ einen eindeutigen Punkt B′′ mit AB′′ ∼= A′B′. NachProposition 3.69 gibt es dann auf der Seite von A ∨ B, auf der auch C liegt, genau einen PunktC′′ mit

4AB′′C′′ ∼= 4A′B′C′. (3.7)

Insbesondere gilt∠ABC = β ∼= β′ = ∠A′B′C′ ∼= ∠AB′′C′′,

so dass die beiden Geraden B ∨ C und B′′ ∨ C′′ bezüglich der Transversalen A ∨ B = A ∨ B′′

kongruente Stufenwinkel haben. Nach dem schwachen Stufenwinkelsatz 3.63 sind somit B∨Cund B′′ ∨ C′′ parallel.

Andererseits folgt aus (3.7) die Kongruenz ∠CAB ' ∠C′′AB′′ = ∠C′′AB. Da die Punkte Cund C′′ nach Konstruktion auf der selben Seite von A ∨ B liegen, müssen daher nach (K5) dieStrahlen

# „AC und

# „

AC′′ übereinstimmen. Wir können daher den starken Stufenwinkelsatz 3.67auf die Transversale A∨C = A∨C′′ der parallelen Geraden B∨C und B′′ ∨C′′ anwenden underhalten wie verlangt die Kongruenz der Winkel

γ = ∠BCA ' ∠B′′C′′A(3.7)' ∠B′C′A′ = γ′.

9Letztere führen wir (rein aus Bequemlichkeitsgründen) nicht ein, da wir die stärkeren Sätze hier noch nichtbrauchen und wir sie später mit analytischen Methoden bequem beweisen können.

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3.8. Innen- und Außenwinkel im Dreieck 82

Proposition 3.83 (H). Sind α, β, γ die Innenwinkel eines Dreiecks, und ist γ′ ein Ergänzungswinkelzu γ, so gilt

α < γ′ und β < γ′.

Beweis. Wir schreiben 4ABC für das Dreieck und setzen α := ∠CAB, β := ∠ABC und γ :=∠BCA. Da nach Proposition 3.53 beide Wahlen für den Außenwinkel γ′ kongruent sind, dürfenwir außerdem ohne Einschränkung einen Punkt D ∈ B ∨ C mit B ? C ? D wählen und γ′ :=∠ACD setzen.

Da die Behauptungen α < γ′ und β < γ′ unter Umbenennung zueinander äquivalent sind,genügt es, die erste der beiden zu zeigen. Sei dafür M der nach Satz 3.76 existierende eindeutigeMittelpunkt der Strecke AC. Für diesen gilt definitionsgemäß AM ∼= BM. Wir wählen nun aufB ∨M einen Punkt B′ mit B ? M ? B′ und BM ∼= MB′.

Da die Winkel∠AMB und∠CMB′ als Gegenwinkel kongruent sind, können wir dann das SWS-Kriterium auf die Dreiecke 4ABM und 4CB′M anwenden und erhalten deren Kongruenz.Insbesondere folgt die Kongruenz der Winkel α und ∠MCB′ = ∠ACB′. Andererseits liegt B′ imInneren des Winkels ∠ACD,

denn: Nach Konstruktion liegen B und B′ auf verschiedenen Seiten von A ∨ C, und die PunkteB, C, B′ sind in allgemeiner Lage. Es folgt, dass der Punkt A im Inneren des Winkels ∠BCB′

liegt. Nach Lemma 3.37 bedeutet dies, dass A und B auf der selben Seite von B′ ∨ C und Bund B′ auf verschiedenen Seiten von A ∨ C liegen. Wegen B ? C ? D ist dies äquivalent dazu,dass A und D auf verschiedenen Seiten von B′ ∨ C und B′ und D auf der selben Seite vonA ∨ C liegen. Wieder nach Lemma 3.37 ist dies gleichbedeutend dazu, dass B′ im Inneren von∠DCA = ∠ACD liegt. #

Die Behauptung und somit die Proposition folgt.

Aus Proposition 3.83 folgern wir einen Zusammenhang zwischen Innenwinkeln eines Drei-ecks und den jeweils gegenüberliegenden Seiten. Dieser Zusammenhang wird für euklidischeEbenen mit dem Sinussatz 4.61 präzisiert.

Satz 3.84 (H). In einem Dreieck4ABC gilt

AB > BC ⇐⇒ ∠BCA > ∠CAB.

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83 Kapitel 3. Hilbertebenen

Abbildung 3.8: Der größeren Dreiecksseite liegt stets der größere Innenwinkel gegenüber.

Beweis. Unter der Annahme AB > BC gibt es einen Punkt P zwischen A und B mit BP ∼= BC.Da ∠BPC ein Außenwinkel des Dreiecks 4APC ist, ist er nach Proposition 3.83 größer als derInnenwinkel ∠PAC = ∠BAC. Da P im Inneren des Winkels ∠ACB liegt, ist zudem letzterergrößer als ∠PCB. Da das Dreieck4PCB nach Konstruktion gleichschenklig ist, sind schließlichseine Basiswinkel ∠PCB und ∠BPC kongruent.

Insgesamt haben wir

∠BAC < ∠BPC ' ∠PCB < ∠ACB

gezeigt und somit die Hinrichtung des Satzes.

Gelte nun umgekehrt ∠ACB > ∠BAC. Da die Basiswinkel eines gleichschenkligen Dreiecksstets kongruent sind, kann dann nicht AB ∼= BC gelten. Gälte AB < BC, so folgte ∠ACB <∠BAC nach der Hinrichtung, was nicht sein kann. Der Satz folgt im Ausschlussprinzip nachProposition 3.41.

Satz 3.85 (H). Seien A, B, C ∈ P und A′, B′, C′ ∈ P je drei Punkte in allgemeiner Lage, und seien∠BAC und ∠B′A′C′ rechte Winkel. Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

(i) 4ABC ∼= 4A′B′C′,

(ii) AC ∼= A′C′ und BC ∼= B′C′. (SSrW)

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3.9. Kreise 84

Beweis. Dass (ii) aus (i) folgt ist trivial. Es gelte also umgekehrt (ii). Auf dem Strahl# „AB gibt

es einen eindeutigen Punkt B′′ mit AB′′ ∼= A′B′. Für diesen gilt nach dem SWS-Kriterium dieKongruenz von Dreiecken 4AB′′C ∼= 4A′B′C′ und insbesondere die Kongruenz von StreckenB′′C ∼= B′C′ ∼= BC. Wir unterscheiden drei Fälle für die Lage der drei Punkte A, B, B′′ zueinan-der.

Fall 1: B′′ = B. Es gilt AB ∼= A′B′ und mit (ii) und dem SSS-Kriterium folgt die gewünschteKongruenz der Dreiecke4ABC und4A′B′C′.

Fall 2: A ? B ? B′′. Sei α ein Ergänzungswinkel zu ∠CAB. Wenden wir Proposition 3.83 aufdie Dreiecke 4ABC und 4AB′′C an, so folgen ∠ABC < α und ∠AB′′C < α. Zum einen gilt∠AB′′C = ∠BB′′C nach Voraussetzung, zum anderen ist nach Voraussetzung ∠CBB′′ ein Ergän-zungswinkel zu∠ABC, und mit der Rechtwinkligkeit von α folgt α < ∠CBB′′. Insgesamt habenwir also ∠BB′′C < ∠CBB′′ gezeigt. Wenden wir Satz 3.84 auf das Dreieck 4BB′′C an, so folgtBC < B′′C, was im Widerspruch zu der oben gezeigten Kongruenz BC ∼= B′′C steht.

Fall 3: A ? B′′ ? B. Das ist nach Umbenennung gerade Fall 2.

3.9 Kreise

Wir haben gesehen, dass man in Hilbertebenen schon recht viel Geometrie betreiben kann.Ohne Kreise ist jedoch die klassische Geometrie nicht vorstellbar. Diese einzuführen wollenwir nun nachholen.

Definition 3.86 (H). Seien M 6= A ∈ P zwei verschiedene Punkte. Dann heißt

K(M, A) := {P ∈ P | MA ∼= MP}

der Kreis mit Mittelpunkt M und Radius MA.

Proposition 3.87 (H). Sei K ⊆ P ein Kreis. Dann gelten die folgenden Aussagen.

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85 Kapitel 3. Hilbertebenen

(a) Der Kreis K ist nichtleer.

(b) Jede Gerade durch einen Mittelpunkt von K schneidet K in genau zwei Punkten.

(c) Der Kreis K hat genau einen Mittelpunkt.

Beweis. Aussage (a) ist trivialerweise richtig, da definitionsgemäß A ∈ K gilt.

Ist K = K(M, A), so können wir auf jedem Strahl aus M eindeutig den Radius abtragen. Aus-sage (b) folgt, da sich eine beliebige Gerade g durch M als Vereinigung von genau zwei solcherStrahlen schreiben lässt, und deren Durchschnitt gerade aus dem Punkt M besteht.

Es verbleibt Aussage (c) zu zeigen. Nach (a) gibt es einen Punkt A ∈ K. Nehmen wir nun an,K hätte zwei Mittelpunkte M 6= M′. Dann könnten wir K = K(M, A) = K(M′, A) schreiben.Nach (b) schnitte die Gerade M∨M′ den Kreis K dann in genau zwei Punkten, die wir B und Cnennen wollen. Diese erfüllten einerseits B ? M ? C und BM ∼= MC und andererseits B ? M′ ? Cund BM′ ∼= M′C. Da der Mittelpunkt der Strecke BC nach Satz 3.76 eindeutig ist, folgte M = M′,was wir ausgeschlossen hatten. Der Mittelpunkt eines Kreises ist also stets eindeutig bestimmtund Aussage (c) bewiesen.

Unter zusätzlicher Voraussetzung des Parallelenaxioms (P) können wir nun mithilfe der Er-gebnisse aus Abschnitt 3.7 noch zwei bekannte Sätze über Kreise herleiten.

Satz 3.88 (Umkreissatz, H + P). Sei 4ABC ein Dreieck. Dann schneiden sich die Mittelsenkrechtender Dreiecksseiten AB, BC und CA in einem gemeinsamen Punkt U. Der Kreis K(U, A) enthält diePunkte A, B, C und ist mit dieser Eigenschaft eindeutig bestimmt. Wir nennen K(U, A) den Umkreisund U den Umkreismittelpunkt von4ABC.10

Beweis. Die drei Mittelsenkrechten sind paarweise nicht parallel,

denn: Nach Definition gelten mAB ⊥ (A ∨ B) und mAC ⊥ (A ∨ C). Gälte mAB ‖ mAC, so folgtemAC ⊥ (A ∨ B) mit dem starken Wechselwinkelsatz 3.67, was nach Korollar 3.64 sofort dieUnmöglichkeit (A ∨ B) ‖ (A ∨ C) implizierte. #

Je zwei Mittelsenkrechte des Dreiecks4ABC schneiden sich also in genau einem Punkt. Sei Uder Schnittpunkt von mAB und mAC. Nach Proposition 3.78 gilt dann BU ∼= AU ∼= CU, waswieder nach 3.78 zur Folge hat, dass U in mBC liegt. Es schneiden sich also die drei Mittelsenk-rechten von4ABC in genau einem Punkt, nämlich in U.

Nach Konstruktion ist dann K(U, A) ein Kreis, der die Punkte A, B, C enthält. Sei K′ ein weitererKreis, der A, B, C enthält, und sei U′ der (nach Proposition 3.87 eindeutige) Mittelpunkt von K′.Dann gilt insbesondere BU′ ∼= AU′ ∼= CU′, und aus Proposition 3.78 folgt U′ = mAB ∧mAC = U.Es folgt also K′ = K(U′, A) = K(U, A).

10Diese Namensgebung erhält ihren tieferen Sinn erst dann, wenn man zeigt, dass mit Ausnahme der EckpunkteA, B, C alle Punkte des Umkreises „außerhalb“ von 4ABC liegen, was wir allerdings nicht tun werden. In Satz4.75 werden wir immerhin einsehen, dass in euklidischen Ebenen mit Ausnahme der Eckpunkte A, B, C alle Punkteauf den Seiten des Dreiecks „innerhalb“ seines Umkreises liegen. Mit nur etwas mehr Aufwand lässt sich dies auchallgemeiner für Hilbertebenen mit Parallelenaxiom zeigen; das ist Übungsaufgabe 3.18.

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3.9. Kreise 86

Bemerkung 3.89. Mit dem Umkreissatz haben wir insbesondere gezeigt, dass je drei Punkte in allge-meiner Lage einen eindeutigen Kreis bestimmen.

Satz 3.90 (Inkreissatz, H + P). Sei 4ABC ein Dreieck. Dann schneiden sich die Winkelhalbierendender Innenwinkel α := ∠CAB, β := ∠ABC und γ := ∠BCA in einem gemeinsamen Punkt I. Der KreisK(I, LA∨B I) enthält die Lotfußpunkte LA∨B I, LB∨C I und LC∨A I und ist mit dieser Eigenschaft eindeu-tig bestimmt. Wir nennen K(I, LA∨B I) den Inkreis und I den Inkreismittelpunkt von4ABC.11

Beweis. Die drei Winkelhalbierenden sind paarweise nicht parallel,

denn: Es langt zu zeigen, dass sich die Winkelhalbierenden wα und wβ schneiden; die anderenbeiden Fälle ergeben sich analog. Wegen B 6∈ wα und B ∈ wβ sind wα und wβ verschieden.Da B und C auf verschiedenen Seiten von wα liegen, gibt es einen Schnittpunkt A′ von wα undBC. Nach Konstruktion gilt C ? A′ ? B, so dass A′ und C auf der selben Seite von wβ liegen.Andererseits liegen A und C nach Definition der Winkelhalbierenden auf verschiedenen Seitenvon wβ, so dass wir mit (A4) erhalten, dass A und A′ auf verschiedenen Seiten von wβ liegen.Es muss so einen Schnittpunkt von wβ und AA′ ⊆ wα geben. #

Den eindeutig bestimmten Geradenschnittpunkt wα ∧ wβ bezeichnen wir im Folgenden alsI. Fällen wir sein Lot auf die drei Seiten des Dreiecks, so erhalten wir kongruente Dreiecke4AILA∨B I ∼= 4AILC∨A I und4BILA∨B I ∼= 4BILB∨C I,

denn: Da wα Winkelhalbierende ist, gilt ∠IALC∨A I ' ∠IALA∨B I. Andererseits sind nach Kon-struktion∠ILA∨B IA und∠ILC∨A IA rechte Winkel und nach Euklids viertem Postulat 3.57 somit

11Diese Namensgebung erhält ihren tieferen Sinn erst dann, wenn man zeigt, dass mit Ausnahme der Lotfuß-punkte LA∨B I, LB∨C I, LC∨A I alle Punkte des Umkreises „innerhalb“ von 4ABC liegen, was wir allerdings nichttun werden. In Satz 4.75 werden wir immerhin einsehen, dass in euklidischen Ebenen mit Ausnahme der Lotfuß-punkte LA∨B I, LB∨C I, LC∨A I alle Punkte auf den Seiten des Dreiecks „außerhalb“ seines Inkreises liegen.

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87 Kapitel 3. Hilbertebenen

ebenfalls kongruent. Nach Proposition 3.82 sind daher auch ∠AILA∨B I und ∠AILC∨A I kongru-ent. Da die beiden Dreiecke außerdem die Seite AI gemeinsam haben, folgt die erste der ge-suchten Kongruenzen mit dem WSW-Kriterium. Die andere Kongruenz zeigt man analog. #

Aus dem gerade Gezeigten folgt insbesondere ILA∨B I ∼= ILB∨C I ∼= ILC∨A I, so dass K(I, LA∨B I)der, nach dem Umkreissatz 3.88 eindeutige, Kreis durch die Lotfußpunkte LA∨B I, LB∨C I undLC∨A I ist.

Wir haben den Inkreissatz bewiesen, wenn wir noch C ∨ I = wγ zeigen können. WegenILB∨C I ∼= ILC∨A I und da ∠ILC∨A IC,∠ILB∨C IC nach Konstruktion rechte Winkel sind, gilt nachdem SSrW-Kriterium 3.85 die Kongruenz von Dreiecken 4ILC∨A IC ∼= 4ILB∨C IC und insbe-sondere

∠ACI = ∠LC∨A ICI ' ∠LB∨C ICI = ∠BCI.

Es verbleibt also zu zeigen, dass die Punkte A und B auf verschiedenen Seiten von C∨ I liegen.Nach Lemma 3.37 genügt es dafür zu zeigen, dass I im Inneren des Winkels γ liegt. Dem istaber so,

denn: Die Punkte A und C liegen nach Definition der Winkelhalbierenden auf verschiedenenSeiten von wβ und I liegt nach Konstruktion auf der Strecke AA′, weshalb I und A auf derselben Seite von B ∨ C liegen. Nach Lemma 3.37 liegt I also im Inneren des Winkels β. Dass Iauch im Inneren des Winkels α liegt, zeigt man analog. Die Behauptung folgt mit Teil (b) vonBemerkung 3.43. #

Übungsaufgaben

Aufgabe 3.1 (I + A). Beweisen Sie Korollar 3.10

Aufgabe 3.2 (I + A). P hat unendlich viele Elemente.

Aufgabe 3.3 (I + A). (a) Seien A 6= B ∈ P Punkte und AB die sie verbindende Strecke. Danngibt es in AB keine Punkte C, D mit C ? A ? D. Die Endpunkte von AB sind also bis auf ihreReihenfolge eindeutig bestimmt.

(b) Seien A 6= B ∈ P Punkte und # „AB der Strahl von A durch B. Dann gibt es in # „

AB keinen Punkt Cmit C ? A ? B. Der Ausgangspunkt eines Strahls ist also eindeutig bestimmt. Ist C ein beliebiger,von A verschiedener Punkt auf # „

AB, dann ist # „AC =

# „AB.

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3.9. Kreise 88

(c) Seien A 6= B ∈ P Punkte und # „AB der Strahl von A durch B. Dann gibt es ein C ∈ P, so

dass die Strahlen # „AB und # „

AC entgegengesetzt sind, und der Strahl # „AC ist mit dieser Eigenschaft

eindeutig. Zu jedem Strahl gibt es also genau einen entgegengesetzten Strahl (mit dem selbenAusgangspunkt).

Aufgabe 3.4. Zeigen Sie, dass die Einschränkung der Anordnung eines beliebigen angeordneten Kör-pers K auf seinen Teilkörper Q mit der Standardanordnung auf Q übereinstimmt.

Aufgabe 3.5. Zeigen Sie, dass die Definition der Anordnung auf A2(K) wie in Definition 3.21 äqui-valent zu folgender Definition ist.

Es gilt A ? B ? C, wenn A = (a1, a2), B = (b1, b2), C = (c1, c2) paarweise verschieden und kollinearsind und mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

a1 < b1 < c1, a2 < b2 < c2, a1 > b1 > c1 oder a2 > b2 > c2.

Aufgabe 3.6 (I + A). Beweisen Sie Proposition 3.35.

Aufgabe 3.7 (H). Beweisen Sie Proposition 3.41.

Aufgabe 3.8 (I + A). Eine Teilmenge S ⊆ P heißt konvex, falls für alle A 6= B ∈ S auch die gesamteStrecke AB in S enthalten ist. Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

(a) Beliebige Durchschnitte konvexer Mengen sind wieder konvex. Die Vereinigung zweier konvexerMengen ist jedoch nicht notwendig konvex.

(b) Für eine beliebige Gerade g ∈ G sind die durch g begrenzten Halbebenen S1(g) und S2(g) konvex.

(c) Seien A, B, C ∈ P in allgemeiner Lage. Dann sind die Mengen

I∠BAC := {P ∈ P | P liegt im Inneren des Winkels ∠BAC}

undI4ABC := {P ∈ P | P liegt im Inneren des Dreiecks4ABC}

konvex.

Aufgabe 3.9 (H). Zeigen Sie, dass die Kongruenz von Dreiecken eine Äquivalenzrelation auf der Men-ge der dreielementigen Teilmengen von P ist.

Aufgabe 3.10. Sei K ein pythagoräischer Teilkörper von R. Zeigen Sie, dass der Kongruenzbegriff ausDefinition 3.47 eine Äquivalenzrelation auf der Menge der Winkel in der affinen Koordinatenebene überK darstellt.

Aufgabe 3.11. Beweisen Sie Proposition 3.48.

Aufgabe 3.12. Beweisen Sie Proposition 3.49.

Aufgabe 3.13 (H). Zeigen Sie, dass es einen Winkel gibt, der kein rechter Winkel ist.

Aufgabe 3.14 (H). Beweisen oder widerlegen Sie die folgenden Aussagen.

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89 Kapitel 3. Hilbertebenen

(a) Es gilt das Kongruenzkriterium (SSW) für Dreiecke, für je drei Punkte A, B, C ∈ P undA′, B′, C′ ∈ P in allgemeiner Lage gilt also

4ABC ∼= 4A′B′C′ ⇐⇒(

AB ∼= A′B′, BC ∼= B′C′ und ∠BAC ' ∠B′A′C′)

.

(b) Es gilt das Kongruenzkriterium (WWS) für Dreiecke, für je drei Punkte A, B, C ∈ P undA′, B′, C′ ∈ P in allgemeiner Lage gilt also

4ABC ∼= 4A′B′C′ ⇐⇒(

AB ∼= A′B′, ∠BAC ' ∠B′A′C′ und ∠ACB ' ∠A′C′B′)

.

Aufgabe 3.15 (H + P). Seien A1, A2 zwei Punkte auf einer Geraden g, und seien B1, C1, B2, C2 Punkteauf der selben Seite von g, so dass A1, B1, C1 und A2, B2, C2 jeweils in allgemeiner Lage sind. Dann gilt

(A1 ∨ B1) ‖ (A2 ∨ B2) und (A1 ∨ C1) ‖ (A2 ∨ C2) =⇒ ∠B1 A1C1 ' ∠B2 A2C2.

Aufgabe 3.16 (H). Sei g ∈ G eine Gerade. Die Spiegelung Sg an g ist dann die Abbildung Sg : P→ Pmit

Sg(A) =

{A für alle A ∈ g,der eindeutige Punkt A′ ∈ `g A mit A ? Lg A ? A′ und BLg A ∼= ALg A für alle A 6∈ g.

Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

(a) Die Abbildung Sg ist bijektiv, genauer gilt Sg ◦ Sg = idP.

(b) Für A 6= B ∈ P gilt AB ∼= Sg(A)Sg(B).

Hinweis: Machen Sie eine Fallunterscheidung in Abhängigkeit davon wie die Punkte A, B zurGeraden g liegen.

(c) Für A, B ∈ P gibt es eine Gerade g ∈ G mit Sg(A) = B.

(d) Für A, B, C ∈ P mit A 6= B und A 6= C gibt es eine Gerade g ∈ G mit Sg(A) = A undSg(

# „AB) =

# „AC.

Aufgabe 3.17 (H). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage, und sei P ∈ P mit A ? P ? B.

(a) Zeigen Sie, dass unter der Annahme, dass∠BAC ein rechter Winkel ist, die Abschätzungen AC <PC < BC gelten.

(b) Folgern Sie aus (a), dass unabhängig davon, ob ∠BAC ein rechter Winkel ist, stets eine der Ab-schätzungen PC < AC und PC < BC gilt.

(c) Sei K = K(M, A) ⊆ P ein Kreis. Das abgeschlossene Innere IK von K sei die Menge

IK := {P ∈ P | P = M oder MP < MA oder MP ∼= MA}.

Zeigen Sie, dass IK konvex12 ist.12vgl. Übungsaufgabe 3.8

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3.9. Kreise 90

Aufgabe 3.18 (H + P). Seien A, B, C ∈ P drei Punkte in allgemeiner Lage, und sei K der Umkreis deszugehörigen Dreiecks4ABC. Folgern Sie aus Übungsaufgabe 3.17, dass alle von A, B, C verschiedenenPunkte auf den Seiten von4ABC im Inneren13 IK := IK r K von K liegen.

Aufgabe 3.19 (I + A + K). Seien M 6= A ∈ P zwei verschiedene Punkte und K = K(M, A). Wirdefinieren einen Halbkreis H als

H = H1(M, A) = K ∪ (P r S1(A ∨M)),

wobei S1(A ∨M) eine der durch die Gerade A ∨M begrenzten Halbebenen bezeichnet. Für paarweiseverschiedene Punkte P, Q, R ∈ H schreiben wir

P �Q � R :⇐⇒{{P, R} = H ∪ (A ∨M), oder{P, R} 6= H ∪ (A ∨M) und Q liegt im Inneren von ∠PMR.

(a) Skizzieren Sie im Fall der affinen KoordinatenebeneA2(R) die Menge H1((00), (

10)) sowie die obige

Anordnung.

(b) Sei B 6= A der zweite Schnittpunkt von A ∨M mit H und C ∈ H r {A, B}. Zeigen Sie, dassfür jeden Punkt P ∈ H der Strahl # „

MP einen eindeutigen Schnittpunkt P′ mit H′ := AC ∪ BChat und dass die Abbildung ϕ : H → H′, P 7→ P′ bijektiv ist.

Hinweis: Verwenden Sie den Satz von Pasch 3.15 sowie Teil (b) von Proposition 3.87.

(c) Seien P, Q, R ∈ H paarweise verschieden, so dass ϕ(P), ϕ(Q) und ϕ(R) entweder alle auf ACoder alle auf BC liegen. Zeigen Sie dann die Äquivalenz

P �Q � R ⇐⇒ ϕ(P) ? ϕ(Q) ? ϕ(R).

13vgl. Definition 4.4

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KAPITEL 4

Euklidische Ebenen

Im Kontext von Hilbertebenen haben wir bereits einige klassische geometrische Sätze gezeigt.Es stellt sich jedoch heraus, dass manche Aussagen, darunter auch einige aus der Schulmathe-matik bekannte, in Hilbertebenen im Allgemeinen falsch sind. So werden wir in Kapitel 5 etwaeine Hilbertebene konstruieren, in der das Parallelenaxiom und damit auch der starke Wech-selwinkelsatz nicht gelten. Offensichtlich müssen wir also unserem Axiomensatz noch weitereAxiome hinzufügen, um alle klassischen Sätze zeigen zu können. Konkret nehmen wir noch

� das Vollständigkeitsaxiom 4.2 und

� das Parallelenaxiom 2.10

dazu und kommen so zum Begriff der euklidischen Ebene, in der uns alle Objekte und Schluss-weisen zur Verfügung stehen, die in Euklids Elementen eine Rolle spielen. Das Hauptziel die-ses Kapitels ist der Beweis des Hauptsatzes für euklidische Ebenen 4.11, der besagt, dass sichalle euklidischen Ebenen in geeigneter Weise identifizieren lassen, so dass es genügt, die Geo-metrie in einem Standardmodell zu untersuchen.

4.1 Das Vollständigkeitsaxiom

So wie wir Geraden mit Geraden oder Geraden mit Kreisen schneiden können, wollen wir auchdie Schnittpunkte von zwei Kreisen bestimmen. In unserer naiven Vorstellung der euklidischenGeometrie schneiden sich zwei Kreise genau dann, wenn einer von ihnen Punkte „innerhalb“und „außerhalb“ des anderen hat. Es ist aber nicht klar, dass in jeder Hilbertebene ein solcherSchnittpunkt auch tatsächlich existiert. Die einfachste Möglichkeit, dieses Problem zu behe-ben, ist sicherlich, genau die Kreisschnitteigenschaft zu fordern. Wir wollen jedoch ein etwasstärkeres Axiom einführen. Unser Problem ist in gewisser Weise ein Problem der mangelndenVollständigkeit. Wir können dem dadurch beikommen, dass wir diese per Axiom erzwingen.Wir erinnern an das aus der Analysis bekannte

91

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4.1. Das Vollständigkeitsaxiom 92

Vollständigkeitsaxiom der reellen Zahlen. Sei (S, T) ein Dedekindschnitt von R, d. h. ein Paar(S, T) nichtleerer Teilmengen von R mit S ·∪ T = R und p < q für alle p ∈ S und alle q ∈ T. Danngibt es genau ein r ∈ R mit p ≤ r ≤ q für alle p ∈ S und alle q ∈ T. Insbesondere ist dann

entweder S = (−∞, r) und T = [r, ∞)oder S = (−∞, r] und T = (r, ∞).

Wir bemerken, dass die Ungleichung p < q für alle p ∈ S und alle q ∈ T aus der obigen Defi-nition eines Dedekindschnitts von R insbesondere impliziert, dass kein Punkt aus S zwischenzwei Punkten aus T liegt und kein Punkt aus T zwischen zwei Punkten aus S. Die nachfolgendeÜbertragung des Begriffs des Dedekindschnitts in unsere Situation ist daher naheliegend.

Definition 4.1 (I + A). Ein Dedekindschnitt einer Geraden g ∈ G ist ein Paar (s, t) nichtleererTeilmengen von P mit

� s ·∪ t = g.

� Kein Punkt von t liegt zwischen zwei Punkten aus s, sind also P 6= Q zwei Punkte in s, dann giltschon PQ ⊆ s.

� Kein Punkt von s liegt zwischen zwei Punkten aus t, sind also P 6= Q zwei Punkte in t, dann giltschon PQ ⊆ t.

Definition 4.2 (H). Wir sagen, die Hilbertebene H erfüllt das Vollständigkeitsaxiom, wenn dasFolgende gilt.

(V) Für jede Gerade g ∈ G und jeden Dedekindschnitt (s, t) von g gibt es genau einen Punkt P ∈ P,so dass für alle A ∈ s, B ∈ t genau eine der folgenden drei Aussagen gilt.

P = A, P = B oder A ? P ? B.14

Für „Sei H eine Hilbertebene, in der das Vollständigkeitsaxiom (V) gilt.“ schreiben wir künftig auchkurz „(H + V)“.

Beispiel 4.3. (a) A2(R) erfüllt das Vollständigkeitsaxiom (V),

denn: Sei g ∈ GR eine Gerade, und sei (s, t) ein Dedekindschnitt von g. Für beliebige aber festeA 6= B ∈ g schreiben wir g = {λA + (1− λ)B | λ ∈ R} und setzen

S := {λ ∈ R | λA + (1− λ)B ∈ s} und T := {λ ∈ R | λA + (1− λ)B ∈ t}.

Weil g die disjunkte Vereinigung von s und t ist, gilt hierbei R = S ·∪ T. Nun sind entweder allep ∈ S kleiner als alle q ∈ T oder umgekehrt, da es sonst p1, p2 ∈ S und q1, q2 ∈ T gäbe mitp1 > q1 und p2 < q2.

14Insbesondere ist dann entweder s ein Strahl auf g und t ist das Komplement von s, oder t ist ein Strahl auf gund s ist das Komplement von t.

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93 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

� Gilt nun q1 > p2, so hätten wir p1 > q1 > p2, und es folgte schnell, dass es einen Punkt int gäbe, der zwischen zwei Punkten von s liegt.

� Ist q1 = p2, so wären S und T und damit auch s und t nicht disjunkt.� Gilt schließlich q1 < p2, so ergäbe sich q1 < p2 < q2, und wir sehen schnell ein, dass es

dann einen Punkt von s gäbe, der zwischen zwei Punkten von t liegt.

Da alle drei Möglichkeiten zu einem Widerspruch führen, müssen tatsächlich alle p ∈ S kleinerals alle q ∈ T sein oder umgekehrt. Nehmen wir ohne Einschränkung an, für alle p ∈ S undq ∈ T gelte p < q. Nach dem Vollständigkeitsaxiom der reellen Zahlen gibt es genau ein r ∈ Rmit p ≤ r ≤ q für alle p ∈ S und alle q ∈ T. Dies ist äquivalent dazu, dass genau ein P ∈ gexistiert, so dass für alle A ∈ s und alle B ∈ t genau eine der folgenden Aussagen gilt.

P = A, P = B oder A ? P ? B.

Damit ist die Gültigkeit von (V) nachgewiesen. #

(b) A2(Q∪R) erfüllt das Vollständigkeitsaxiom (V) nicht,

denn: Dort lässt sich die x-Achse als die disjunkte Vereinigung der Mengen

s = {(x, 0) ∈ (Q∪R)2 | x < π} und t = {(x, 0) ∈ (Q

∪R)2 | x > π}

schreiben. Offenbar ist (s, t) ein Dedekindschnitt der x-Achse. Ein Punkt P wie in (V) gefordertexistiert aber nicht, da π transzendent ist und somit nicht in Q ∪ R liegt. #

Wir wollen zwei Folgerungen aus dem Vollständigkeitsaxiom ziehen: Die Kreis-Kreis-Schnitt-Eigenschaft 4.5 und das Archimedische Axiom 4.7. Um erstere zu formulieren, müssen wirzunächst präzise machen, was es für einen Punkt einer Hilbertebene heißt, „innerhalb“ bzw.„außerhalb“ eines Kreises zu liegen.

Definition 4.4. Seien M 6= A ∈ P und K = K(M, A). Wir sagen, ein Punkt B ∈ P liege innerhalbvon K, falls B = M ist oder MB < MA gilt. Ist MB > MA, so sagen wir, B liege außerhalb von K.

Satz 4.5 (Kreis-Kreis-Schnitt-Eigenschaft, H + V). Seien K, K′ ⊆ P Kreise, so dass K einen Punktinnerhalb und einen Punkt außerhalb von K′ besitzt. Dann schneiden sich K und K′ in genau zweiPunkten.

Beweis. Vgl. Übungsaufgabe 4.7. Ein Beweis im Spezialfall der reellen affinen Koordinatenebe-ne erfolgt in Abschnitt 4.10. Mithilfe des Hauptsatzes über euklidische Ebenen 4.11 folgt darausimmerhin die Aussage in jeder Hilbertebene, in der neben dem Vollständigkeitsaxiom (V) auchnoch das Parallelenaxiom (P) erfüllt ist.

Korollar 4.6 (Kreis-Geraden-Schnitt-Eigenschaft, H + V). Ein Kreis K = K(M, A) ⊆ P und eineGerade g ∈ G, so dass g einen Punkt innerhalb von K besitzt, schneiden sich in genau zwei Punkten.

Beweis. Vgl. Übungsaufgabe 4.8. In Proposition 4.68 präzisieren wir dieses Ergebnis im Spezi-alfall der reellen affinen Koordinatenebene und zeigen nach dem Hauptsatz über euklidischeEbenen 4.11 so insbesondere seine Gültigkeit in jeder Hilbertebene, in der Vollständigkeitsaxi-om (V) und Parallelenaxiom (P) gelten.

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4.1. Das Vollständigkeitsaxiom 94

Satz 4.7 (Archimedisches Axiom, H + V). Es seien A 6= B sowie A′ 6= B′ Punkte aus P. Seien in-duktiv für alle k ∈ N0 die Punkte A′k auf dem Strahl

# „

A′B′ durch folgende Vorschrift eindeutig bestimmt.

� A′0 := A′,

� A′1 ist der eindeutige Punkt auf dem Strahl# „

A′B′ mit A′0 A′1∼= AB,

� für alle natürlichen Zahlen k > 1 ist A′k der eindeutig bestimmte Punkt auf dem Strahl# „

A′B′ mitA′k−2 ? A′k−1 ? A′k und A′k−1 A′k

∼= AB.

Dann gibt es eine natürliche Zahl n mit A′ ? B′ ? A′n.

Beweis. Sei g := A′ ∨ B′ und# „

A′C′ der zu# „

A′B′ entgegengesetzte Strahl. Wir setzen

s := {P ∈ g | Es gibt ein n ∈ Nmit A′ ? P ? A′n} ∪# „

A′C′,t := g r s.

Im Falle t = ∅ ist s = g, und insbesondere liegt der Punkt B′ in s. Also gibt es ein n ∈ N mitA′ ? B′ ? A′n. Wir nehmen daher im Folgenden t 6= ∅ an. Dann ist (s, t) ein Dedekindschnitt vong,

denn: Offenbar ist g die disjunkte Vereinigung der beiden nichtleeren Teilmengen s und t. Dar-über hinaus liegt kein Punkt von s zwischen zwei Punkten von t. Sind nämlich P, P′ ∈ t undQ ∈ s mit P ? Q ? P′, dann liegt mit P und P′ auch der Punkt Q auf dem Strahl

# „

A′B′. Nach Kon-struktion von s gibt es dann ein n ∈ N mit A′ ? Q ? A′n. Nach Konstruktion gilt nun entwederA′ ? P ? Q ? P′ oder A′ ? P′ ? Q ? P, woraus sich entweder A′ ? P ? Q ? A′n oder A′ ? P′ ? Q ? A′nergibt, also entweder A′ ? P ? A′n oder A′ ? P′ ? A′n, im Widerspruch zu P, P′ ∈ t. Analog zeigtman, dass kein Punkt von t zwischen zwei Punkten von s liegt. #

Aufgrund des Vollständigkeitsaxioms existiert ein Punkt U ∈ g, so dass für alle P ∈ s und alleQ ∈ t eine der drei Möglichkeiten U = P, U = Q oder P ? U ? Q gilt.

Der Punkt U liegt nicht in s,

denn: Nehmen wir an, U läge in s. Wegen A′ ∈ s und t ⊆ # „

A′B′ folgte aus der obigen EigenschaftU ∈ # „

A′B′. Nach Konstruktion von s gäbe es somit ein n ∈ N mit A′ ? U ? A′n. Sei nun Q einPunkt aus der Menge t. Dieser ist insbesondere verschieden von den Punkten A′, A′n, und esgälte offenbar A′ ? A′n ? Q, denn sowohl Q ? A′ ? A′n als auch A′ ? Q ? A′n führten sofort zumWiderspruch. Wir erhielten A′ ? U ? A′n ? Q und insbesondere U ? A′n ? Q, was wegen A′n ∈ sund Q ∈ t im Widerspruch zur charakterisierenden Eigenschaft von U steht. #

Der Punkt U liegt auch nicht in t,

denn: Nehmen wir an, U läge in t und V wäre der eindeutig bestimmte Punkt auf dem Strahl# „

UC′ mit UV ∼= AB. Im Fall V ∈ t läge V auf dem Strahl# „

A′B′. Das lieferte A′ ? V ?U, was wegenA′ ∈ s im Widerspruch zur Konstruktion von U steht. Also müsste V in der Menge s liegen.Läge V speziell auf dem Strahl

# „

A′C′, so folgte V ? A′ ? U, also A′U < VU ∼= A′A′1, so dass

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95 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

im Widerspruch zu U ∈ t die Anordnung V ? A′ ? U ? A′1 gälte. V läge somit nicht auf demStrahl

# „

A′C′, und es gäbe eine natürliche Zahl n mit A′ ? V ? A′n. Wegen U ∈ t gälte weiterhinA′ ? A′n ? U und somit A′ ? V ? A′n ? U. Es folgte A′nU < UV, was wegen UV ∼= A′n A′n+1 mittels3.29 zu A′nU < A′n A′n+1 führte. Das wiederum implizierte A′n ? U ? A′n+1. Insgesamt erhieltenwir A′ ? V ? A′n ? U ? A′n+1 und deshalb A′ ? U ? A′n+1. Weil die Punkte A′ und A′n in s lägen,läge auch der Punkt U in s, was ein Widerspruch ist. #

Unsere Annahme t 6= ∅ ist damit nicht haltbar.

4.2 Euklidische Ebenen

Wir wollen nun den bereits in der Einleitung dieses Kapitels beschriebenen Begriff der euklidi-schen Ebene in einer Definition festhalten.

Definition 4.8. Eine Hilbertebene H, die das Vollständigkeitsaxiom (V) und das Parallelenaxiom (P)erfüllt, heißt euklidische Ebene.

Für „Sei E eine euklidische Ebene.“ schreiben wir künftig auch kurz „(E)“.

Mit dem Begriff der euklidischen Ebene haben wir nun das Ziel erreicht, über eine moderne,mathematisch präzise Fassung der Axiome und Begrifflichkeiten aus Euklids Elementen zuverfügen. Aus Satz 3.51, Beispiel 4.3 und Satz 2.15 ergibt sich unmittelbar der folgende Satz.

Satz 4.9. Die reelle affine Koordinatenebene (R2, GR, ?,∼=,') ist eine euklidische Ebene. Wir nennensie das kartesische Modell der euklidischen Standardebene.

Das Hauptergebnis dieses Kapitels wird Satz 4.11 sein, der besagt, dass jede euklidische Ebeneisomorph zur euklidischen Standardebene ist. Dazu definieren wir zunächst, was ein Isomor-phismus euklidischer Ebenen überhaupt ist.

Definition 4.10. Ein Isomorphismus zwischen zwei euklidischen Ebenen E = (P, G, ?,∼=,') undE′ = (P′, G′, ?′,∼=′,'′) ist eine bijektive Abbildung ϕ : P→ P′ mit den folgenden Eigenschaften.

(i) Für alle Teilmengen g ⊆ P gilt

g ∈ G ⇐⇒ ϕ(g) ∈ G′.

(ii) Für je drei Punkte A, B, C ∈ P gilt

A ? B ? C ⇐⇒ ϕ(A) ?′ ϕ(B) ?′ ϕ(C).

(iii) Für je vier Punkte A, B, C, D ∈ P mit A 6= B und C 6= D gilt

AB ∼= CD ⇐⇒ ϕ(A)ϕ(B) ∼=′ ϕ(C)ϕ(D).

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4.3. Die Dreiecksungleichung 96

(iv) Für je sechs Punkte A, B, C, D, E, F ∈ P, so dass A, B, C und D, E, F jeweils in allgemeiner Lagesind, gilt

∠ABC ' ∠DEF ⇐⇒ ∠ϕ(A)ϕ(B)ϕ(C) '′ ∠ϕ(D)ϕ(E)ϕ(F).

Ein Isomorphismus euklidischer Ebenen erhält also Geraden, Anordnungen sowie Kongrun-zen von Strecken und Winkeln. Mit den in Definition 3.44 eingeführten Bewegungen der dereuklidischen Ebene zugrunde liegenden ebenen Geometrie ist uns bereits der Spezialfall vonAutomorphismen einer euklidischen Ebene, also von Isomorphismen der Ebene auf sich selbst,bekannt.

Das bereits angesprochene Ergebnis lässt sich nun in der folgenden Art und Weise formulieren.

Satz 4.11 (Hauptsatz für euklidische Ebenen). Jede euklidische Ebene ist isomorph zur euklidischenStandardebene.

Der Beweis dieses Satzes ist sehr aufwändig und nimmt den ganzen Rest des Kapitels ein.Dabei werden wir natürlich auch einige für sich genommen interessante Ergebnisse erhalten.

Bemerkung 4.12. In R2 lässt sich ein Punkt als ein Paar reeller Zahlen darstellen. Eine Gerade istdann eine Menge solcher Zahlenpaare, deren Koordinaten eine lineare Gleichung erfüllen. Auf dieseWeise führte Descartes (1596-1650) eine neuen Beschreibung der Geometrie ein, die analytische Geo-metrie der reellen Zahlenebene R2. Diese erwies sich in vielerlei Hinsicht als besser zu handhaben alsdie axiomatische euklidische Geometrie. Aber erst im Jahr 1899 zeigte Hilbert mit dem Hauptsatz füreuklidische Ebenen 4.11, dass die analytische Geometrie als ein Modell für die (von ihm neu gefasste)axiomatische Theorie angesehen werden kann und so tatsächlich völlig äquivalent zu dieser ist. Diesbedingt, dass wir nun zwei verschiedene Möglichkeiten haben, um Aussagen in der ebenen euklidischenGeometrie zu zeigen.

� Wir können (wie bisher) einen synthetischen Beweis führen, also einen Beweis unter Verwen-dung der Axiome einer euklidischen Ebene,

� oder wir können einen analytischen Beweis führen, also einen Beweis unter Verwendung deskartesischen Modells (R2, GR, ?,∼=,') der euklidischen Standardebene.

4.3 Die Dreiecksungleichung

In diesem Abschnitt wollen wir auf der Menge der Kongruenzklassen von Strecken eine An-ordnung und eine Addition einführen. In diesem Kontext können wir dann die Dreiecksun-gleichung formulieren und beweisen.

Definition 4.13 (I + A + K). Die Kongruenzklasse einer Strecke AB bezeichnen wir mit [AB], dieMenge der Kongruenzklassen von Strecken mit S.

Die Relation „<“ auf der Menge der Strecken S induziert eine Relation „<“ auf S via

a < b :⇐⇒ AB < CD für alle a, b ∈ S und A, B, C, D ∈ P mit a = [AB] und b = [CD].

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97 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Aus Proposition 3.29 ergibt sich unmittelbar das folgende Resultat.

Proposition 4.14 (I + A + K). Für die Relation „<“ auf S gelten die folgenden Aussagen.

(a) „<“ ist wohldefiniert.

(b) Für beliebige a, b, c ∈ S gilt

a < b und b < c =⇒ a < c.

(c) Für beliebige a, b ∈ S gilt stets genau eine der Aussagen

a < b, a = b, a > b.

Als nächstes führen wir eine Addition auf S ein.

Definition 4.15 (I + A + K). Für a, b ∈ S und A, B, C, D ∈ P mit a = [AB] und b = [CD] gibt esnach (K2) einen Punkt E ∈ P mit A ? B ? E und BE ∼= CD. Wir setzen

a + b := [AE].

Proposition 4.16 (I + A + K). Für die Verknüpfung „+“ auf S gelten die folgenden Aussagen:

(a) „+“ ist wohldefiniert.

(b) „+“ ist kommutativ, für alle a, b ∈ S gilt also a + b = b + a.

(c) „+“ ist assoziativ, für alle a, b, c ∈ S gilt also a + (b + c) = (a + b) + c.

(d) Für je zwei a, b ∈ S gilt stets genau eine der Aussagen

a = b, b = a + c mit einem c ∈ S, a = b + c mit einem c ∈ S.

Beweis. Zum Nachweis der Wohldefiniertheit betrachten wir A, B, C, D, A′, B′, C′, D′ ∈ P mitAB ∼= A′B′ und CD ∼= C′D′ und E, E′ ∈ P mit A ? B ? E und BE ∼= CD sowie A′ ? B′ ? E′ undB′E′ ∼= C′D′. Aus (K3) folgt dann AE ∼= A′E′ und somit (a).

Zum Beweis der Kommutativität können wir ohne Einschränkung a = [AB] und b = [BC] mitA, B, C ∈ P und A ? B ? C annehmen. Dann gilt

a + b = [AB] + [BC] = [AC] = [CA] = [CB] + [BA] = [BC] + [AB] = b + a

und somit (b).

Um die Assoziativität zu zeigen, können wir ohne Einschränkung von a = [AB], b = [BC] undc = [CD] mit A, B, C, D ∈ P und A ? B ? C ? D ausgehen. Es folgen

(a + b) + c =([AB] + [BC]

)+ [CD] = [AC] + [CD] = [AD]

unda + (b + c) = [AB] +

([BC] + [CD]

)= [AB] + [BD] = [AD]

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4.4. Parallelprojektionen 98

und insgesamt (c).

Es verbleibt (d) zu zeigen. Seien dazu a, b ∈ S mit a 6= b und A, B ∈ P mit a = [AB]. Nach(K2) existiert auf dem Strahl

# „AB genau ein Punkt C 6∈ {A, B} mit [AC] = b. Es gilt dann

entweder A ? B ?C oder A ?C ? B. Wir erhalten somit entweder [AB] + [BC] = [AC] und deshalba+ [BC] = b, oder [AC] + [CB] = [AB] und folglich b+ [CB] = a. Mit c := [BC] gilt also im erstenFall a + c = b und im zweiten Fall b + c = a.

Satz 4.17 (Dreiecksungleichung, H). Für paarweise verschiedene A, B, C ∈ P gilt

[AC] ≤ [AB] + [BC].

Hierbei gilt Gleichheit genau dann, wenn A ? B ? C gilt.

Beweis. Für kollineare Punkte A, B, C gilt

A ? B ? C =⇒ [AC] = [AB] + [BC],A ? C ? B =⇒ [AC] < [AB] < [AB] + [BC],B ? A ? C =⇒ [AC] < [BC] < [AB] + [BC].

Wir können also im Folgenden annehmen, die Punkte A, B, C seien in allgemeiner Lage. Wirtragen die Strecke BC auf dem zu

# „BA entgegengesetzten Strahl ab und erhalten so einen Punkt

D ∈ P mit A ? B ? D und BD ∼= BC. Offenbar sind die Punkte A, D, C in allgemeiner Lage.

Nach Lemma 3.37 liegt der Punkt B im Inneren des Winkels ∠ACD, insbesondere ist ∠ACD >∠BCD. Wegen BC ∼= BD ist das Dreieck4BCD gleichschenklig und hat also kongruente Basis-winkel ∠BCD ' ∠BDC = ∠ADC. Zusammengenommen folgt ∠ACD > ∠ADC, und mit Satz3.84 erhalten wir AD > AC. Wie verlangt ergibt sich

[AC] < [AD] = [AB] + [BD] = [AB] + [BC].

4.4 Parallelprojektionen

In diesem Abschnitt werden wir uns mit einer sehr wichtigen Klasse von Abbildungen be-schäftigen, den Parallelprojektionen. Wir erinnern uns daran, dass pg A die unter Annahme derGültigkeit des Parallelenaxioms 2.10 eindeutig bestimmte Parallele zur Geraden g durch denPunkt A bezeichnet.

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99 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Definition 4.18 (H + P). Seien g, h ∈ G zwei Geraden, und sei t ∈ G eine weitere Gerade mit t ∦ g, h.Dann heißt die Abbildung

πg,ht : g→ h, P 7→ ptP ∧ h

die Parallelprojektion von g auf h in Richtung t.

Proposition 4.19 (H + P). Seien g, h ∈ G zwei Geraden, und sei t ∈ G eine weitere Gerade mitt ∦ g, h. Dann gelten die folgenden Aussagen.

(a) πg,ht ist wohldefiniert.

(b) πg,ht ist bijektiv.

(c) Für A, B, C ∈ g gilt

A ? B ? C ⇐⇒ πg,ht (A) ? π

g,ht (B) ? π

g,ht (C).

Beweis. Nach Proposition 2.16 ist Parallelität in affinen Ebenen eine Äquivalenzrelation. Aust ‖ ptP und h ∦ t folgt daher h ∦ ptP und somit die Wohldefiniertheit (a).

Zum Beweis der Bijektivität (b) müssen wir zunächst zeigen, dass für alle Punkte P ∈ g stetsptP = pt(ptP ∧ h) gilt. Dem ist tatsächlich so,

denn: Offenbar liegt der Punkt Q := ptP ∧ h auf den Geraden ptP und ptQ. Da diese beideparallel zu t sind, sind sie auch zueinander parallel, und es gilt ptP = ptQ = pt(ptP ∧ h). #

Daraus folgt, dass die Abbildungen πg,ht und π

h,gt zueinander invers sind,

denn: Für P ∈ g gilt

(πh,gt ◦ π

g,ht )(P) = pt(ptP ∧ h) ∧ g = ptP ∧ g = P,

also πh,gt ◦ π

g,ht = idg. Analog ergibt sich π

g,ht ◦ π

h,gt = idh. #

Es verbleibt der Nachweis von (c). Seien dafür A, B, C ∈ g drei Punkte und A′ := πg,ht (A),

B′ := πg,ht (B), C′ := π

g,ht (C) ihre Parallelprojektionen. Aufgrund der Bijektivität von π

g,ht sind

die Punkte A′, B′, C′ genau dann paarweise verschieden, wenn die Punkte A, B, C paarweiseverschieden sind. Außerdem liegen A′, B′, C′ auf der Geraden h, sind also kollinear.

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4.4. Parallelprojektionen 100

Es gilt nun

A ? B ? C ⇐⇒ A und C auf verschiedenen Seiten von ptB (ptB 6= A ∨ C = g)⇐⇒ pt A und ptC auf verschiedenen Seiten von ptB (pt A ‖ ptB und ptB ‖ ptC)⇐⇒ A′ und C′ auf verschiedenen Seiten von ptB (A′ ∈ pt A und C′ ∈ ptC)⇐⇒ A′ ? B′ ? C′, (B′ = ptB ∧ (A′ ∨ C′))

womit wir die Aussage gezeigt haben.

Korollar 4.20 (H + P). Seien g, h ∈ G Geraden mit g 6⊥ h, und seien A, B, C ∈ g. Dann gilt

A ? B ? C ⇐⇒ Lh A ? LhB ? LhC.

Beweis. Offenbar ist die Gerade t := `h A nicht parallel zu h. Sie ist aber auch nicht parallelzur Geraden g, denn sonst folgte mithilfe des starken Wechselwinkelsatzes 3.67 aus h ⊥ t dieOrthogonalität von h und g ist, was wir in den Voraussetzungen ausgeschlossen hatten. DieLotgeraden `hB und `hC sind ebenfalls orthogonal auf h und somit nach Korollar 3.64 parallelzur Geraden t. Es folgen Lh A = π

g,ht (A), LhB = π

g,ht (B) und LhC = π

g,ht (C), so dass wir

Proposition 4.19 anwenden können, um das Korollar zu zeigen.

Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass Korollar 4.20 auch in Hilbertebenen ohne Parallelenaxiomrichtig ist. Um dies zu zeigen argumentiert man wie im Beweis von Proposition 4.19, allerdingsdirekt mit den Loten, deren Existenz und Eindeutigkeit für den Beweis ausreichen.

Proposition 4.21 (H + P). Seien A, B, C, D ∈ P paarweise verschieden und nicht kollinear. Dann sinddie folgenden Aussagen äquivalent.

(i) A ∨ B ‖ C ∨ D und A ∨ D ‖ B ∨ C.

(ii) A ∨ B ‖ C ∨ D, AB ∼= DC, und die Punkte B, C liegen auf der selben Seite von A ∨ D.

In diesem Fall nennen wir das Quadrupel (A, B, C, D) ein Parallelogramm.

Beweis. Es gelte (i). Da die Punkte A, B, C, D nach Voraussetzung nicht kollinear sind, sind dieGeraden A ∨D und B ∨ C verschieden. Es gilt also (A ∨D)

∪(B ∨ C) = ∅, so dass die Punkte

B, C auf der selben Seite der Geraden A∨D liegen. Analog liegen auch die Punkte C, D auf der

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101 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

selben Seite der Geraden A ∨ B. Insgesamt liegt der Punkt C im Inneren des Winkels ∠DAB.Nach Lemma 3.37 liegen daher die Punkte B, D auf verschiedenen Seiten der Geraden A ∨ C.Wir wählen nun Punkte B′, D′ ∈ P mit D ? C ? D′ und B′ ? A ? B. Nach Konstruktion liegendann B und D′ auf der selben Seite von A ∨ C.

Der starke Wechselwinkelsatz 3.67, angewendet auf die Parallelen A∨ B, C∨D bzw. A∨D, B∨C und die Transversale A ∨ C, liefert ∠DCA ' ∠BAC bzw. ∠DAC ' ∠BCA. Nach dem WSW-Kriterium 3.73 gilt dann4ADC ∼= 4CBA und insbesondere AB ∼= DC.

Umgekehrt gelte nun (ii). Dann liegen die Punkte A, D auf der selben Seite von B ∨ C,

denn: Da A∨ B und C∨D parallel sind, liegen C und D auf der selben Seite von A∨ B. Da B undC auf der selben Seite von A ∨ D liegen, liegt C im Inneren des Winkels ∠BAD. Nach Lemma3.37 liegen dann die Punkte B, D auf verschiedenen Seite von C ∨ A. Eine erneute Anwendungvon Lemma 3.37 ergibt, dass der Punkt A im Inneren des Winkels ∠BCD liegt. Insbesondereliegen also die Punkte A, D auf der selben Seite der Geraden B ∨ C. #

Zum Beweis von (i) genügt es (A∨D)∪(B∨C) = ∅ zu zeigen. Wir nehmen im Folgenden an,

A∨D und B∨C schnitten sich in einem Punkt P. Dieser wäre dann verschieden vom Punkt A,

denn: Im Falle P = A läge A auf der Geraden B∨C, weshalb der Punkt C auf der Geraden A∨ Bläge. Wegen der Parallelität von A∨ B und C∨D wären diese beiden Geraden dann gleich, wasnicht sein kann, weil wir die Punkte A, B, C, D als nicht kollinear vorausgesetzt hatten. #

Analog kann man zeigen, dass unser angenommener Schnittpunkt P vom Punkt D verschiedensein müsste. Gälte nun A ? P ? D, dann lägen die Punkte A, D auf verschiedenen Seiten derGeraden B ∨ C, was wir oben bereits ausgeschlossen hatten. Es folgte daher A ? D ? P oderD ? A ? P, wobei wir nach möglicher Umbenennung ohne Einschränkung A ? D ? P annehmendürfen.

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4.4. Parallelprojektionen 102

Aus dem starken Stufenwinkelsatz, angewendet auf die Parallelen A∨ B, C∨D und die Trans-versale A ∨ D, erhielten wir ∠BAP ' ∠CDP. Die Punkte B, C, P wären die Bilder von A, D, Punter der Parallelprojektion von A ∨ D auf B ∨ C in Richtung A ∨ B. Insbesondere folgte ausA ? D ? P nach Proposition 4.19, dass auch B ? C ? P gälte. Wieder mit dem starken Stufenwin-kelsatz erhielten wir ∠ABP ' ∠DCP. Da zudem nach Voraussetzung AB ∼= DC gilt, folgte mitdem WSW-Kriterium 3.73 die Kongruenz von Dreiecken 4ABP ∼= 4DCP und insbesondereAP ∼= DP, was im Widerspruch zu A ? D ? P steht.

Lemma 4.22 (H + P). Seien A1, A2, B1, B2, C1, C2, D1, D2 acht Punkte in P mit den folgenden Eigen-schaften.

(i) (A1, B1, C1, D1) ist ein Parallelogramm,

(ii) (A2, B2, C2, D2) ist ein Parallelogramm,

(iii) es gilt A1D1∼= B2C2 und eine der Inklusionen # „

A1D1 ⊆# „B2C2, # „

B2C2 ⊆# „A1D1,

(iv) B1 ∨ C1 6= D2 ∨ A2.

Dann ist (A2, B1, C1, D2) ein Parallelogramm.

Abbildung 4.1: Lemma 4.22 befasst sich damit, wie man durch „Aneinanderkleben“ und „Sche-ren“ von Parallelogrammen wieder Parallelogramme erhält. Ersteres geschieht im SpezialfallA1 = B2, letzteres durch anschließendes Verschieben des Parallelogramms (A2, B2, C2, D2) ent-lang der Geraden A1 ∨ D1.

Beweis. Nach (iii) gilt insbesondere A1 ∨ D1 = B2 ∨ C2 =: g. Es folgt

(B1 ∨ C1)(i)‖ g

(ii)‖ (A2 ∨ D2).

Mit (i), (ii) und (iv) erhalten wir daraus, dass die Punkte A2, B1, C1, D2 paarweise verschiedensind.

Es bleibt die Parallelität der Geraden A2 ∨ B1 und C1 ∨ D2 zu zeigen. Wegen der intrinsischenSymmetrie des Problems können wir dafür ohne Einschränkung annehmen, es gelte

# „B2C2 ⊆

# „A1D1. Es ist pgB1 ∦ (A2 ∨ B2), denn andernfalls wäre (B2 ∨ C2) = g ‖ (A2 ∨ B2) und damit

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103 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

(B2 ∨ C2) = (A2 ∨ B2), im Widerspruch zu (ii). Analog zeigt man, dass auch pgB1 ∦ (C2 ∨ D2)gilt. Insbesondere existieren also die Schnittpunkte

P := pgB1 ∧ (A2 ∨ B2) und Q := pgB1 ∧ (C2 ∨ D2).

In Abhängigkeit von der Anordnung der Punkte B1, C1, P, Q ergeben sich mehrere Fälle, vondenen wir hier aber nur den Fall P ? B1 ? Q ? C1 behandeln wollen (vgl. Übungsaufgabe 4.11).Es gilt dann die Kongruenz von Winkeln ∠A2PB1 ' ∠D2QC1,

denn: Das ist der starke Stufenwinkelsatz, angewendet auf die Parallelen A2 ∨ B2 und C2 ∨ D2und die Transversale P ∨Q = B1 ∨ C1. #

Es gilt zudem die Kongruenzen von Strecken PA2∼= QD2 und PQ ∼= A2D2,

denn: Nach Konstruktion ist (P ∨ Q) ‖ g ‖ (A2 ∨ D2), und nach Voraussetzung gilt P ∨ Q =B1 ∨ C1 6= A2 ∨ D2. (P, Q, D2, A2) ist also ein Parallelogramm und erfüllt insbesondere dieBehauptung. #

Darüber hinaus gilt die Kongruenz von Strecken PB1∼= QC1,

denn: Aufgrund von P ? B1 ? Q ? C1 erhalten wir

[PB1] + [B1Q] = [PQ] = [B1C1] = [B1Q] + [QC1].

Mit Proposition 3.27 folgt daraus die Behauptung. #

Insgesamt können wir nun das SWS-Kriterium anwenden und erhalten die Kongruenz vonDreiecken4A2PB1

∼= 4D2QC1. Insbesondere gilt ∠PB1 A2 ' ∠QC1D2, und mit dem schwachenStufenwinkelsatz folgt die behauptete Parallelität A2 ∨ B1 und C1 ∨ D2 und somit das Lemma.

Satz 4.23 (H + P). Seien g, h ∈ G zwei Geraden und t ∈ G eine weitere Gerade mit t ∦ g, h. Für jevier Punkte A1, A2, B1, B2 ∈ g mit A1 6= B1 und A2 6= B2 gilt dann

A1B1∼= A2B2 ⇐⇒ π

g,ht (A1)π

g,ht (B1) ∼= π

g,ht (A2)π

g,ht (B2).

Im Fall g ‖ h gilt darüber hinaus für alle A, B ∈ g mit A 6= B die Kongruenz AB ∼= πg,ht (A)π

g,ht (B).

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4.4. Parallelprojektionen 104

Abbildung 4.2: Parallelprojektionen erhalten die Kongruenz von Strecken.

Beweis. Es genügt offenbar, die Hinrichtung zu zeigen, da sich die Rückrichtung dann durchAnwenden der inversen Abbildung π

h,gt ergibt. Der Übersichtlichkeit halber schreiben wir für

den Rest des Beweises kurz π für πg,ht .

Fall 1: g = h. Dann ist π = idg, und wir sind fertig.

Fall 2: g und h sind parallel und verschieden. In diesem Fall gelten

A1 ∨ B1 = g ‖ h = π(A1) ∨ π(B1) und A1 ∨ π(A1) ‖ t ‖ B1 ∨ π(B1).

Da die Abbildung π bijektiv ist, sind die Punkte A1, B1, π(A1), π(B1) paarweise verschie-den, und (A1, B1, π(B1), π(A1)) ist ein Parallelogram. Aus Proposition 4.21 folgt A1B1

∼=π(A1)π(B1). Analog ergibt sich A2B2

∼= π(A2)π(B2) und damit die Behauptung.

Fall 3: g ∦ h. Dann gibt es einen eindeutigen Schnittpunkt von g und h, den wir P nennenwollen. In Abhängigkeit von der Lage der Punkte P, A1, A2, B1, B2 ergeben sich verschiedeneFälle. Um einen Überblick zu gewinnen, führen wir zunächst einige davon zusammen.

Nach eventueller Umbenennung können wir ohne Einschränkung# „A2B2 ⊆

# „A1B1 annehmen.15

Unter dieser Annahme wird der Fall A1 = A2 trivial, so dass wir ohne Einschränkung überdiesA1 6= A2 annehmen können. Mit A1B1

∼= A2B2 folgt daraus sofort B1 6= B2. Wegen A1 6= B1 undA2 6= B2 gilt also einer der drei Fälle

A1 ? B1 ? A2 ? B2, A1 ? (B1=A2) ? B2, A1 ? A2 ? B1 ? B2.

Da unter diesen Umständen offensichtlich die Bedingungen A1B1∼= A2B2 und A1 A2

∼= B1B2

äquivalent sind, und π nach Proposition 4.19 Anordnungen erhält, sind können wir uns sogarauf die zwei Fälle

A1 ? B1 ? A2 ? B2, A1 ? (B1=A2) ? B2

beschränken.

Fall 3 (a): P ∈ {A2, B2}. Gilt nicht gerade A1 ? (B1 = A2 =P) ? B2, so lässt sich dieser Fall ohneEinschränkung auf Fall (b) zurückführen, indem wir zuerst A1 mit B1 und A2 mit B2vertauschen und dann A1 und B1 mit A2 und B2. Wie man leicht feststellt, werden diebisherigen Überlegungen dadurch nicht zunichte gemacht.

15Wir dürfen hier A1 mit B1 vertauschen und# „

A1B1 mit# „

A2B2.

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105 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Im Fall A1 ? (B1 = A2 = P) ? B2 ist dies nicht möglich. Nach Proposition 4.19 gilt hierπ(A1) ? P ? π(B2), insbesondere liegen die Punkte π(A1) und π(B2) auf verschiedenenSeiten der Geraden g. Mit dem starken Wechselwinkelsatz 3.67, angewandt auf die Paral-lelen pt A1, ptB2 und die Transversale g, folgt die Kongruenz von Winkeln ∠PA1π(A1) '∠PB2π(B2). Die Winkel ∠A1Pπ(A1) und ∠B2Pπ(B2) sind offenbar Gegenwinkel und des-halb zueinander kongruent. Da nach Voraussetzung

A1P = A1B1∼= A2B2 = PB2

gilt, erhalten wir mit dem WSW-Kriterium 3.73 die Kongruenz4PA1π(A1) ∼= 4PB2π(B2)

von Dreiecken.

Wie gewünscht folgt

π(A1)π(B1) = π(A1)P ∼= π(B2)P = π(B2)π(A2).

Fall 3 (b): P 6∈ {A2, B2}. Aufgrund von t ∦ g existieren die Schnittpunkte

A4 := Pgπ(A2) ∧ Pt A1 und B4 := Pgπ(B2) ∧ PtB1.

Diese liegen auf keiner der Geraden g, h,

denn: Aus A4 ∈ h folgte wegen A4 ∈ Pt A1 sofort A4 = π(A1). Insbesondere gälte dannA4 6= π(A2) und somit

g ‖ pgπ(A2) = A4 ∨ π(A2) = π(A1) ∨ π(A2) = h,

was im Widerspruch zu unserer Voraussetzung g ∦ h steht.

Aus A4 ∈ g folgte wegen A2 6= P sofort A4 6= π(A2) und somit

g ‖ pgπ(A2) = A4 ∨ π(A2),

was g = A4 ∨π(A2) impliziert. Es läge dann also π(A2) sowohl auf g als auch auf h, waswegen A2 6= P nicht sein kann.

Analog argumentiert man für den Punkt B4. #

(A1, A2, π(A2), A4) ist ein Parallelogramm,

denn: Dass die Punkte A1, A2, π(A2), A4 paarweise verschieden sind, folgt direkt aus un-seren Voraussetzungen und der Tatsache, dass A4 nicht auf der Geraden h liegt, insbeson-dere also verschieden von π(A2) ist. Da der Punkt A4 nicht auf der Geraden A1 ∨ A2 = gliegt, sind die Punkte A1, A2, A4, π(A2) nicht kollinear. Es ist

(A1 ∨ A2) = g ‖ Pgπ(A2) = (π(A2) ∨ A4)

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4.5. Streckenmaße 106

sowie(A1 ∨ A4) ‖ t ‖ (A2 ∨ π(A2)).

#

Analog ist auch (B1, B2, π(B2), B4) ein Parallelogramm. Es ist A4 ∨ π(A2) 6= B4 ∨ π(B2),denn sonst läge A4 auf π(A2) ∨ π(B2) = h, was nicht sein kann. Nach Lemma 4.22ist dann auch (A4, B4, π(B2), π(A2)) ein Parallelogramm. Es folgt, dass dann auch(A4, B4, π(B1), π(A1)) ein Parallelogramm ist,

denn: Da die Punkte A4, B4 beide nicht auf h liegen, sind sie von π(A1) und π(B1) ver-schieden. Wegen A1 6= B1 gelten darüber hinaus π(A1) 6= π(B1) und A4 6= B4. Damitsind die Punkte A4, B4, π(A1), π(B1) paarweise verschieden. Aufgrund von A4 6∈ h =π(A1) ∨ π(B1) sind A4, B4, π(A1), π(B1) zudem nicht kollinear. Weiter gilt

(A4 ∨ B4) ‖ (π(A2) ∨ π(B2)) = h = (π(A1) ∨ π(B1))

sowie(A4 ∨ π(A1)) = pt A1 ‖ t ‖ ptB1 = (B4 ∨ π(B1)).

#

Nach Proposition 4.21, angewandt auf die Parallelogramme (A4, B4, π(B1), π(A1)) und(A4, B4, π(B2), π(A2)), gilt dann

π(A1)π(B1) ∼= A4B4∼= π(A2)π(B2)

und somit die Behauptung.

4.5 Streckenmaße

In diesem Abschnitt wollen für Hilbertebenen, in denen das Vollständigkeitsaxiom gilt, so ge-nannte Streckenmaße konstruieren. Diese erlauben es uns, ganz analog zum Konzept der Stre-ckenlänge in der euklidischen Standardebene, jeder Kongruenzklasse von Strecken und damitauch jeder Strecke eine eindeutig bestimmte positive reelle Zahl zuzuordnen. Insbesonderewird auf diese Weise jede Hilbertebene mit Vollständigkeitsaxiom zu einem metrischen Raum.

Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die folgende Beobachtung.

Proposition 4.24 (H). In S kann eindeutig durch zwei geteilt werden, für jedes a ∈ S existiert alsogenau ein b ∈ S mit a = b + b =: 2b. Wir setzen 1

2 a := b.

Beweis. Sei a = [AB] ∈ S. Nach Satz 3.76 hat die Strecke AB einen eindeutig bestimmten Mittel-punkt M. Für diesen gilt A ? M ? B mit AM ∼= MB. Setzen wir b := [AM], so folgt unmittelbarb+ b = a. Sei nun b′ ∈ Smit b′+ b′ = a. Aus b′ < b folgt sofort b′+ b′ < b′+ b < b+ b = a, wasein Widerspruch ist. Analog führt auch b′ > b zum Widerspruch. Die Proposition folgt dannmit Proposition 3.29.

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107 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Im Folgenden bezeichne D die Menge der positiven dyadischen Zahlen, d.h.

D :={m

2k | m ∈ N, k ∈ N0

}.

Proposition 4.24 erlaubt uns, eine Multiplikation

D× S → S,(r, a) 7→ r · a

zu erklären. Dies geschieht wie folgt. Für m ∈ N und a ∈ S erklären wir m · a induktiv über

1 · a := a und m · a := (m− 1) · a + a für m ≥ 2.

Für k ∈ N0 und a ∈ S erklären wir 12k · a induktiv über

12· a :=

12

a und12k · a :=

12

(1

2k−1 · a)

für k ≥ 2.

Für r = m2k ∈ D und a ∈ S setzen wir

r · a := m ·(

12k · a

).

Wegenm2k =

2m2k+1 für alle m ∈ N und alle k ∈ N0

ist die Darstellung einer dyadischen Zahl nicht eindeutig. Wie man jedoch leicht überprüft, istdie von uns soeben eingeführte Multiplikation insoweit wohldefiniert, dass sie nicht von dergenauen Darstellung der beteiligten dyadischen Zahl abhängt. Die folgenden Rechenregeln er-geben sich mit wenig Aufwand aus der Definition und den vorangegangenen Ergebnissen zurAddition und zur „<“-Relation auf S. Wir überlassen den Beweis als Übung (vgl. Übungsauf-gabe 4.12).

Proposition 4.25 (H). Für r, s ∈ D und a, b ∈ S gelten folgende Aussagen.

(a) r · (a + b) = r · a + r · b,

(b) (r + s) · a = r · a + s · a,

(c) r · (s · a) = (r · s) · a,

(d) a < b ⇐⇒ r · a < r · b,

(e) r < s ⇐⇒ r · a < s · a.

Proposition 4.26 (H + V). Zu je drei a, b, c ∈ S mit a < b gibt es ein r ∈ D mit

a < r · c < b.

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4.5. Streckenmaße 108

Beweis. Aufgrund von a < b und Übungsaufgabe 4.4 gibt es ein eindeutiges x ∈ Smit a + x =b. Nach dem Archimedischen Axiom 4.7 gibt es des Weiteren eine natürliche Zahl n mit nx > c.Für jedes k ∈ N0 mit 2k ≥ n gilt dann 2k · x ≥ n · x > c und somit x > 1

2k · c. Wir wählen einfestes solches k aus.

Fall 1: 12k · c > a. Dann folgt

a <12k · c < x < b,

und eine mögliche Wahl von r ist r = 12k .

Fall 2: 12k · c ≤ a. Dann existiert nach dem Archimedischen Axiom 4.7 eine natürliche Zahl m

mit

(m + 1) ·(

12k · c

)> a.

Wir wählen m minimal mit dieser Eigenschaft, so dass insbesondere

m ·(

12k · c

)≤ a

gilt. Wir erhalten

a <m + 1

2k · c = 12k · c + m ·

(12k · c

)< x + a = b,

und eine mögliche Wahl von r ist r = m+12k .

Definition 4.27 (H). Ein Streckenmaß ist eine Abbildung µ : S→ R>0 mit µ(a+ b) = µ(a) + µ(b)für alle a, b ∈ S.

Proposition 4.28 (H). Für ein Streckenmaß µ gelten die folgenden Aussagen.

(a) Für alle λ ∈ R>0 ist λµ wieder ein Streckenmaß.

(b) a < b⇐⇒ µ(a) < µ(b) für alle a, b ∈ S.

(c) µ ist injektiv.

(d) µ(r · a) = rµ(a) für alle r ∈ D und alle a ∈ S.

Beweis. Aussage (a) ist klar.

Für den Beweis von (b) seien a, b ∈ Smit a < b. Dann gibt es ein c ∈ Smit a + c = b, und es gilt

µ(b) = µ(a + c) = µ(a) + µ(c) > µ(a).

Dies liefert auch gleichzeitig die Rückrichtung der Aussage, denn aus a ≥ b folgt analog µ(a) ≥µ(b).

Aussage (c) folgt direkt aus (b), da für a, b ∈ S mit a 6= b entweder a < b oder a > b gilt. Nach(b) folgt µ(a) < µ(b) oder µ(b) < µ(a) und insbesondere µ(a) 6= µ(b).

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109 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Zum Nachweis von (d) bemerken wir zunächst, dass aus der Definition eines Streckenmaßesinduktiv

µ(m · a) = mµ(a) für alle m ∈ N und a ∈ S

folgt. Andererseits gilt

µ(12

a) =12(µ(

12

a) + µ(12

a))=

12

µ(12

a +12

a) =12

µ(a) für alle a ∈ S

und induktiv µ( 12k · a) = 1

2k µ(a). Für r = m2k ∈ D ergibt sich wie behauptet

µ(r · a) = µ(m · ( 12k · a)) = mµ(

12k · a) =

m2k µ(a) = rµ(a).

Definition 4.29. Ein Dedekindschnitt von D ist ein Paar (S, T) nichtleerer Teilmengen von D mitD = S ·∪ T, so dass s < t für alle s ∈ S und t ∈ T gilt.

Da R vollständig ist und D dicht in R liegt, folgt analog zu dem aus der Analysis bekanntenResultat über Dedekindschnitte der rationalen Zahlen

Proposition 4.30. Sei (S, T) ein Dedekindschnitt vonD. Dann gibt es eine eindeutig bestimmte positi-ve reelle Zahl r mit p ≤ r ≤ q für alle p ∈ S und q ∈ T. Insbesondere ist dann entweder S = (0, r) ∪ Dund T = [r, ∞)

∪D, oder es ist S = (0, r] ∪ D und T = (r, ∞)

∪D.

Nach diesen Vorbereitungen sind wir nun in der Lage, Streckenmaße zu konstruieren.

Satz 4.31 (H + V). Für ein beliebiges e ∈ S gibt es genau ein Streckenmaß µ mit µ(e) = 1. Diesesbezeichnen wir im Folgenden mit |·|e.

Beweis. Wir zeigen zunächst die Existenz. Für ein beliebiges a ∈ S setzen wir

S(a) := {r ∈ D | r · e < a} und T(a) := {r ∈ D | a ≤ r · e}.

(S(a), T(a)) ist ein Dedekindschnitt von D,

denn: Offenbar ist D = S(a) ·∪ T(a). Aus Proposition 4.26 folgt die Existenz einer Zahl s ∈ Dmit

12

a < s · e < a;

insbesondere liegt dieses s in S(a). Ebenfalls aus Proposition 4.26 ergibt sich die Existenz einerZahl t ∈ Dmit

a < t · e < 2a,

also mit t ∈ T(a). Somit sind S(a) und T(a) nichtleer. Für beliebige s ∈ S(a) und t ∈ T(a) giltdefinitionsgemäß s · e < a ≤ t · e und somit s < t. #

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4.5. Streckenmaße 110

Nach Proposition 4.30 gibt es eine eindeutig bestimmte positive reelle Zahl ra mit p ≤ ra ≤ qfür alle p ∈ S(a) und alle q ∈ T(a). Wir definieren nun

µ :

{S → R>0,a 7→ ra.

Offenbar ist µ(e) = re = 1. Außerdem ist µ ein Streckenmaß,

denn: Seien a, b ∈ S. Wir müssen ra+b = ra + rb zeigen, dass also für alle p ∈ S(a + b) und alleq ∈ T(a + b) die Ungleichung p ≤ ra + rb ≤ q gilt. Nehmen wir dafür an, für ein p ∈ S(a + b)gälte p > ra + rb. Dann ließe sich p in der Form p = pa + pb mit pa, pb ∈ D und pa > ra, pb > rbschreiben (das ist eine leichte Übungsaufgabe). Insbesondere gälten pa ∈ T(a) und pb ∈ T(b),und somit pa · e ≥ a sowie pb · e ≥ b. Dies implizierte

p · e = (pa + pb) · e = pa · e + pb · e ≥ a + b

und deshalb p ∈ T(a + b), was im Widerspruch zu unserer Annahme steht. Analog zeigen wir,dass nicht ra + rb > q gelten kann. #

Nun zeigen wir die Eindeutigkeit. Sei dafür ν ein von µ verschiedenes Streckenmaß mit ν(e) =1. Dann können wir ohne Einschränkung davon ausgehen, dass es ein a ∈ S mit ν(a) < µ(a)gibt und somit eine natürliche Zahl k mit

ν(a) +12k < µ(a).

Wir setzenb := a +

12k · e > a.

Nach Proposition 4.26 gibt es ein r ∈ Dmit a < r · e < b. Es ergibt sich

r = rν(e) = ν(r · e) < ν(b) = ν(a +12k · e) = ν(a) +

12k ν(e) = ν(a) +

12k < µ(a).

Andererseits istr = rµ(e) = µ(r · e) > µ(a),

was zum Widerspruch führt.

Korollar 4.32 (H + V). Zu je zwei Streckenmaßen µ, ν gibt es eine eindeutig bestimmte positive reelleZahl λ mit ν = λµ. Ist e ∈ S fixiert, so gibt es für jedes Streckenmaß µ eine eindeutig bestimmte positivereelle Zahl λ mit µ = λ |·|e.

Beweis. Aus der Eindeutigkeitsaussage in Satz 4.31 erhalten wir

1µ(e)

µ =1

ν(e)ν = |·|e ,

da alle drei Streckenmaße sind, die e auf 1 abbilden. Dies impliziert

ν =ν(e)µ(e)

µ = ν(e) |·|e .

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111 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Korollar 4.33 (H + V). Für ein festes e ∈ S ist durch

de : P× P→ R≥0, (A, B) 7→{∣∣[AB]

∣∣e für A 6= B

0 für A = B

eine Metrik auf P gegeben, es gelten also die folgenden Eigenschaften.

� de(A, B) = 0⇐⇒ A = B,

� de(A, B) = de(B, A) für alle A, B ∈ P,

� de(A, C) ≤ de(A, B) + de(B, C) für alle A, B, C ∈ P (Dreiecksungleichung).

Bei der Dreiecksungleichung gilt hierbei genau dann Gleichheit, wenn A ? B ? C, A = B oder B = Cgilt.

Beweis. Die ersten beiden Eigenschaften sind offensichtlich erfüllt. Zum Nachweis der Drei-ecksungleichung seien A, B, C ∈ P. Sind A, B, C nicht paarweise verschieden, so folgt offen-sichtlich

de(A, C) ≤ de(A, B) + de(B, C).

Gleichheit gilt in diesem Fall offensichtlich genau dann, wenn A = B oder B = C gilt. SindA, B, C paarweise verschieden, so folgt mit der Dreiecksungleichung 4.17 für Kongruenzklas-sen von Strecken die Ungleichung

[AC] ≤ [AB] + [BC].

Dies impliziert ∣∣[AC]∣∣e ≤

∣∣[AB]∣∣e +∣∣[BC]

∣∣e

und deshalbde(A, C) ≤ de(A, B) + de(B, C).

Dass in diesem Fall Gleichheit genau dann gilt, wenn A ? B ? C erfüllt ist, folgt ebenfalls ausSatz 4.17.

Schauen wir uns die Beweise der bisherigen Ergebnisse dieses Abschnittes an, so stellen wirfest, dass die Resultate gültig bleiben, wenn wir anstelle der Gültigkeit des Vollständigkeitsa-xioms (V) nur die des Archimedischen Axioms 4.7 gefordert hätten. Für das nächste Resultatwerden wir jedoch das Vollständigkeitsaxiom selbst verwenden.

Satz 4.34 (H + V). Jedes Streckenmaß µ : S → R>0 ist bijektiv. Insbesondere ist für alle e ∈ S dasStreckenmaß |·|e bijektiv.

Beweis. Die Injektivität haben wir bereits in Proposition 4.28 bewiesen. Für die Surjektivität istes wegen Korollar 4.32 ausreichend, für ein fest gewähltes e = [AB] ∈ S das Streckenmaß |·|e

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4.5. Streckenmaße 112

zu betrachten. Wir bemerken zunächst, dass jedes r ∈ D von |·|e getroffen wird, da offenbar|r · e|e = r gilt. Sei nun ρ ∈ R>0, und sei

# „AC der zu

# „AB entgegengesetzte Strahl. Wir setzen

s := {P ∈ # „AB |

∣∣[AP]∣∣e < ρ} ∪ # „

AC, t := {P ∈ # „AB

∣∣[AP]∣∣e ≥ ρ}.

(s, t) ist ein Dedekindschnitt der Geraden A ∨ B,

denn: Offenbar ist A ∨ B = s ·∪ t, und die Menge s ist nicht leer. Für ein beliebiges r ∈ D mitr > ρ gibt es ein a ∈ Smit |a|e = r, und es gibt einen Punkt Q ∈ # „

AB mit [AQ] = a. Es ist dann∣∣[AQ]∣∣e = |a|e = r > ρ,

und insbesondere liegt Q in t, die Menge t ist also nicht leer.

Es verbleibt zu zeigen, dass kein Punkt von t zwischen zwei Punkten von s liegt und kein Punktvon s zwischen zwei Punkten von t. Nehmen wir an, es gäbe Punkte P, R ∈ s und Q ∈ t mitP ? Q ? R.

Fall 1: P, R ∈ # „AB. Ohne Einschränkung könnten wir A ? P ? Q ? R annehmen. Dann wäre

[AQ] < [AR] und deshalb ∣∣[AQ]∣∣e <

∣∣[AR]∣∣e < ρ,

was wegen Q ∈ t nicht sein kann.

Fall 2: P ∈ # „AC und R ∈ # „

AB. Dann gälte P ? A ? Q und somit P ? A ? Q ? R und insbesondereA ? Q ? R. Es folgte ∣∣[AQ]

∣∣e <

∣∣[AR]∣∣e < ρ,

was wegen Q ∈ t nicht sein kann.

Fall 3: P, R ∈ # „AC. Wegen P ? Q ? R folgte dann Q ∈ # „

AC im Widerspruch zu Q ∈ t.

Analog ergibt sich, dass kein Punkt von s zwischen zwei Punkten von t liegt. #

Nach dem Vollständigkeitsaxiom gibt es genau einen Punkt U ∈ A ∨ B, so dass für alle PunkteP ∈ s und Q ∈ t eine der drei Aussagen P = U, Q = U oder P ? U ? Q gilt. Der Punkt U istdabei verschieden von A,

denn: Sei r ∈ D mit r < ρ. Dann existiert ein von A verschiedener Punkt P auf dem Strahl# „AB

mit∣∣[AP]

∣∣e = r, insbesondere liegt der Punkt P in s. Für jeden Punkt Q ∈ t gilt dann A ? P ? Q,

so dass der Punkt A nicht die charakterisierende Eigenschaft von U aufweist. #

Es ist∣∣[AU]

∣∣e = ρ,

denn: Angenommen, es wäre∣∣[AU]

∣∣e = σ < ρ. Dann gäbe es ein r ∈ D mit σ < r < ρ, und es

existierte ein Punkt V auf dem Strahl# „AB mit

∣∣[AV]∣∣e = r. Insbesondere läge der Punkt V in der

Menge s. Es wäre ∣∣[AU]∣∣e = σ < r =

∣∣[AV]∣∣e ,

was [AU] < [AV] zur Folge hätte. Wegen∣∣[AQ]

∣∣e > ρ > r folgte nun für einen beliebigen Punkt

Q ∈ t[AU] < [AV] < [AQ]

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113 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

und also U ? V ? Q. Dies steht im Widerspruch zur charakterisierenden Eigenschaft von U undkann somit nicht sein. Analog können wir

∣∣[AU]∣∣e > ρ zum Widerspruch führen. #

Insgesamt haben wir die Surjektivität von |·|e nachgewiesen.

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass wir Satz 4.34 benutzen können, um via

a ·µ b := µ−1(µ(a)µ(b)) für alle a, b ∈ Seine Multiplikation auf S zu definieren. Wir werden davon allerdings im Folgenden keinenGebrauch machen.

Es sei weiterhin angemerkt, dass es analog zur Konstruktion von Streckenmaßen auch möglichist, Winkelmaße in Hilbertebenen mit Vollständigkeitsaxiom zu konstruieren. Ausgangspunktder Überlegungen dazu ist die Tatsache, dass man in Hilbertebenen sowohl eine Addition vonKongruenzklassen von Winkeln erklären kann, als auch Winkelhalbierende konstruieren kann.Der Rest der Konstruktion verläuft dann sehr ähnlich.

4.6 Der Strahlensatz

Definition 4.35 (H + V). Es seien U, V ⊆ P. Eine Abbildung φ : U → V heißt eine Ähnlichkeits-abbildung, wenn es ein e ∈ S und ein λ ∈ R>0 gibt mit

de(φ(A), φ(B)) = λde(A, B) für alle A, B ∈ U.

Wir bemerken an dieser Stelle, dass die Eigenschaft einer Abbildung, eine Ähnlichkeitsabbil-dung zu sein, aufgrund von Korollar 4.32 unabhängig von der Wahl von e ist. Ebenso ist dieZahl λ aus der obigen Definition unabhängig von der Wahl von e.

Satz 4.36 (Strahlensatz, E). Seien g, h ∈ G zwei Geraden, und sei t ∈ G eine weitere Gerade mitt ∦ g, h. Dann ist die Parallelprojektion π

g,ht : g→ h eine Ähnlichkeitsabbildung.

Beweis. Für den Beweis wählen wir ein festes e ∈ S aus und schreiben kurz π für πg,ht . Wir

betrachten zwei Fälle.

Fall 1: g ‖ h. In diesem Fall gilt nach Satz 4.23

AB ∼= π(A)π(B) für alle A, B ∈ g mit A 6= B

und somit de(A, B) = de(π(A), π(B)). Da dies für A = B trivialerweise gilt, ist für paralleleGeraden g und h nichts mehr zu zeigen.

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4.6. Der Strahlensatz 114

Fall 2: g ∦ h. Sei P der Schnittpunkt von g und h und Q ∈ g ein von P verschiedener Punkt. Wirdefinieren eine Abbildung µ : S→ R>0 via

µ([AB]) := de(P, π(R)) für alle [AB] ∈ S,

wobei R = R([AB]) der eindeutig bestimmte Punkt auf dem Strahl# „PQ mit PR ∼= AB sei.

Die Abbildung µ ist offenbar wohldefiniert und außerdem ein Streckenmaß,

denn: Seien a, b ∈ S. Ohne Einschränkung können wir annehmen, es gelten a = [PA] undb = [AB] mit A, B ∈ # „

PQ und P ? A ? B. Dann folgt a + b = [PB] und insbesondere

µ(a + b) = de(P, π(B)).

Da Parallelprojektionen nach Proposition 4.19 Anordnungen erhalten, gilt mit P ? A ? B auchP ? π(A) ? π(B). Das impliziert

µ(a + b) = de(P, π(B)) = de(P, π(A)) + de(π(A), π(B)) = µ(a) + de(π(A), π(B)).

Aufgrund von Satz 4.23 ist mit R = R([AB])

π(A)π(B) ∼= π(P)π(R) = Pπ(R)

und alsoµ(b) = de(P, π(R)) = de(π(A), π(B)).

Insgesamt folgt µ(a + b) = µ(a) + µ(b), und µ ist wie behauptet ein Streckenmaß. #

Nach Korollar 4.32 gibt es ein λ ∈ R>0 mit µ = λ |·|e. Für je zwei Punkte A, B ∈ g mit A 6= Bist dann

µ([AB]) = λde(A, B).

Andererseits gibt es einen Punkt R auf dem Strahl# „PQ mit AB ∼= PR, weshalb nach Satz 4.23 die

Gleichungµ([AB]) = de(P, π(R)) = de(π(A), π(B))

gilt. Wie gewünscht erhalten wir

de(π(A), π(B)) = λde(A, B).

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115 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Aus dem Strahlensatz ergibt sich ein wichtiges Korollar, das oft selbst als Strahlensatz bezeich-net wird.

Korollar 4.37 (E). Seien g, h ∈ G zwei Geraden, die sich in einem Punkt P schneiden. Darüber hinausseien t1, t2 ∈ G Transversalen zu g und h mit Schnittpunkten

tk ∧ g =: Ak ∈ g r {P} und tk ∧ h =: Bk ∈ h r {P} für k ∈ {1, 2}.

Für ein fest gewähltes e ∈ S sind dann folgende Aussagen äquivalent.

(i) t1 ‖ t2,

(ii) A1 ? P ? A2 ⇐⇒ B1 ? P ? B2 undde(P, A1)

de(P, A2)=

de(P, B1)

de(P, B2)=

de(A1, B1)

de(A2, B2).

Beweis. Wir beweisen hier nur die Hinrichtung (i) =⇒ (ii); die Umkehrung ist Übungsaufgabe4.13. Seien also die Transversalen t1 und t2 parallel. Dann gilt zunächst

B1 = πg,ht1

(A1), P = πg,ht1

(P) und B2 = πg,ht1

(A2).

Da Parallelprojektionen nach Proposition 4.19 Anordnungen erhalten, folgt daraus sofort

A1 ? P ? A2 ⇐⇒ B1 ? P ? B2.

Aus dem Strahlensatz 4.36 erhalten wir zudem die Existenz einer positiven reellen Zahl λ mit

de(P, B1) = λde(P, A1) und de(P, B2) = λde(P, A2).

Das impliziert die erste Gleichung.

Im Fall t1 = t2 gilt A1 = A2 und B1 = B2, und die zweite Gleichung ergibt sich unmittelbar.Wir dürfen also im Folgenden ohne Einschränkung von t1 6= t2 ausgehen. Wir betrachten nung als Transversale zu h und t1. Zunächst gelten

πh,t1g (B1) = πh,t1

g (h ∧ t1) = h ∧ t1 = B1,πh,t1

g (P) = g ∧ t1 = A1.

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4.6. Der Strahlensatz 116

Wir setzen nun Q := πh,t1g (B2). Nach dem Strahlensatz 4.36 gibt es eine positive reelle Zahl ν

mitde(A1, B1) = νde(P, B1) und de(A1, Q) = νde(P, B2)

und also mitde(P, B1)

de(P, B2)=

de(A1, B1)

de(A1, Q).

Die Punkte A1, A2, Q, B2 sind paarweise verschieden und nicht kollinear,

denn: Aus de(A1, Q) = νde(P, B2) und P 6= B2 folgt Q 6= A1. Ferner ist Q 6= A2, da andernfallsA2 sowohl auf t1 als auch auf t2 läge, was wegen der Parallelität dieser Geraden t1 = t2 zurFolge hätte. Mit dem selben Argument ist Q 6= B2. Aufgrund der anderen getätigten Vorausset-zungen sind die Punkte A1, A2, Q, B2 damit paarweise verschieden. Außerdem sind sie nichtkollinear, da andernfalls der Punkt Q auf der Geraden A1 ∨ A2 = g läge, was Q = g ∧ t1 = A1zur Folge hätte. #

Aufgrund von

(A1 ∨ A2) = g ‖ PgB2 = (B2 ∨Q) und (A1 ∨Q) = t1 ‖ t2 = (A2 ∨ B2)

ist (A1, A2, B2, Q) ein Parallelogramm. Das liefert A1Q ∼= A2B2, und wir erhalten

de(P, B1)

de(P, B2)=

de(A1, B1)

de(A2, B2).

Definition 4.38 (H). Zwei Dreiecke 4A1B1C1 und 4A2B2C2 heißen ähnlich, wenn die folgendenKongruenzen von Winkeln gelten.

∠A1B1C1 ' ∠A2B2C2, ∠B1C1 A1 ' ∠B2C2 A2 und ∠C1 A1B1 ' ∠C2 A2B2.

Satz 4.39 (Ähnlichkeitssatz für Dreiecke, E). Gegeben seien zwei Dreiecke4A1B1C1 und4A2B2C2.Für ein fest gewähltes e ∈ S sind folgende Aussagen äquivalent.

(i) 4A1B1C1 und4A2B2C2 sind ähnlich.

(ii)de(A1, B1)

de(A2, B2)=

de(A1, C1)

de(A2, C2)=

de(B1, C1)

de(B2, C2). (SSS)

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117 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

(iii) Die Abbildung ϕ : 4A1B1C1 → 4A2B2C2 mit

ϕ(A1) = A2, ϕ(B1) = B2 und ϕ(C1) = C2

ist eine Ähnlichkeitsabbildung im Sinne von Definition 4.35.

(iv) ∠B1 A1C1 ' ∠B2 A2C2 undde(A1, B1)

de(A2, B2)=

de(A1, C1)

de(A2, C2). (SWS)

Beweis. Im Fall A1C1∼= A2C2 folgt aus (i) und dem WSW-Kriterium beziehungsweise aus (ii)

und dem SSS-Kriterium jeweils die Kongruenz von Dreiecken 4A1B1C1∼= 4A2B2C2. Die je-

weils andere Aussage (i) beziehungsweise (ii) folgt dann trivialerweise.

Im Folgenden dürfen wir also ohne Einschränkung A1C1 < A2C2 annehmen. Sei P der ein-deutig bestimmte Punkt auf der Strecke A2C2 mit PC2

∼= A1C1. Nach dem Satz von Pasch 3.15schneiden sich die Gerade pA2∨B2 P und die Strecke B2C2 in einem eindeutig bestimmten PunktQ. Insbesondere gilt C2 ? Q ? B2, die Punkte B2, Q liegen also auf der selben Seite der GeradenA2 ∨ C2.

Wenden wir Korollar 4.37 auf die Geraden C2 ∨ A2, C2 ∨ B2 und die Parallelen pA2∨B2 P undA2 ∨ B2 an, so erhalten wir

de(A2, C2)

de(P, C2)=

de(B2, C2)

de(Q, C2)=

de(A2, B2)

de(P, Q)=: λ. (4.1)

Wir wollen nun zuerst die Hinrichtung (i) =⇒ (ii) zeigen. Aus der Ähnlichkeit der Dreiecke4A1B1C1 und4A2B2C2 erhalten wir mit dem starken Stufenwinkelsatz 3.67

∠C1 A1B1 ' ∠C2 A2B2 ' ∠C2PQ.

Darüber hinaus gilt∠A1C1B1 ' ∠A2C2B2 = ∠PC2Q.

Aus dem WSW-Kriterium folgt die Kongruenz von Dreiecken 4A1B1C1∼= 4PQC2 und insbe-

sondere die Kongruenz der jeweiligen Dreiecksseiten A1B1∼= PQ, A1C1

∼= PC2 und B1C1∼= QC2.

Eingesetzt in (4.1) ergibt sich

de(A2, C2) = λde(P, C2) = λde(A1, C1),de(B2, C2) = λde(Q, C2) = λde(B1, C1),de(A2, B2) = λde(P, Q) = λde(A1, B1)

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4.6. Der Strahlensatz 118

und somit Behauptung (ii).

Für die Rückrichtung (ii) =⇒ (i) schreiben wir

de(A1, B1)

de(A2, B2)=

de(A1, C1)

de(A2, C2)=

de(B1, C1)

de(B2, C2)=: ν.

Vergleichen wir dies vermöge PC2∼= A1C1 mit (4.1) so erhalten wir sofort λν = 1 und

de(A1, B1) = de(P, Q), de(B1, C1) = de(Q, C2), de(C1, A1) = de(C2, P),

also die Kongruenz von Dreiecken4A1B1C1∼= 4PQC2. Mit dem starken Stufenwinkelsatz 3.67

folgen die Kongruenzen von Winkeln

∠A1B1C1 ' ∠PQC2 ' ∠A2B2C2,∠B1C1 A1 ' ∠QC2P = ∠B2C2 A2,∠C1 A1B1 ' ∠C2PQ ' ∠C2 A2B2

und somit Behauptung (i).

Die Äquivalenz von (ii) und (iii) ist offensichtlich, und diejenige von (i) und (iv) wird inÜbungsaufgabe 4.14 gezeigt.

Satz 4.40 (Satz des Pythagoras, E). Sei4ABC ein Dreieck, in dem ∠ACB ein rechter Winkel ist. Fürein fest gewähltes e ∈ S gilt dann

de(A, C)2 + de(B, C)2 = de(A, B)2.

Beweis. Für P := LA∨BC gilt A ? P ? B,

denn: Betrachten wir die Geraden g := A ∨ B, h := pgC und t := `gC. Aus t ⊥ g folgt mit demstarken Wechselwinkelsatz 3.67 die Orthogonalität t ⊥ h. Setzen wir R := π

g,ht (B). Wegen der

(B ∨ R) ‖ t liegen B und R auf der selben Seite der Geraden t, und wegen g ‖ h liegen B undP auf der selben Seite von h. Es folgt, dass der Punkt B im Inneren des rechten Winkels ∠RCPliegt. Nehmen wir nun an, P läge nicht zwischen A und B. Ohne Einschränkung gälte dannP ? A ? B und A läge im Inneren des Winkels ∠BCP. Insgesamt hätten wir also

∠BCA < ∠BCP < ∠RCP,

was nicht sein kann, da ∠BCA und ∠RCP als rechte Winkel kongruent sind.

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119 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

#

Aus A ? P ? B erhalten wir ∠CAP ' ∠CAB. Außerdem sind ∠CPA und ∠ACB als rechte Winkelkongruent. Nach Proposition 3.82 gilt zudem ∠ACP ' ∠ABC, so dass die Dreiecke4ACP und4ABC ähnlich sind.

Aus dem Ähnlichkeitssatz 4.39 folgt dann

de(A, C)de(A, B)

=de(A, P)de(A, C)

,

und daraus erhalten wirde(A, C)2 = de(A, B)de(A, P).

Die analoge Überlegung für das Dreieck4BCP führt zur Gleichung

de(B, C)2 = de(A, B)de(B, P).

Insgesamt ergibt sich der Satz

de(A, C)2 + de(B, C)2 = de(A, B)(de(A, P) + de(P, B)) = de(A, B)2.

4.7 Koordinatensysteme

Wir haben nun ausreichend Technik zur Hand, um in Hilbertebenen, in denen das Vollstän-digkeitsaxiom gilt, Koordinatensysteme einzuführen und einige grundlegende Eigenschaftenderselben zu studieren.

Definition 4.41 (H + V). Sei x ein Strahl mit Anfangspunkt O, und sei g die eindeutig bestimmteGerade, die den Strahl x enthält. Für ein beliebiges fest gewähltes e ∈ S heißt dann die Abbildung

γex : g→ R, P 7→

{de(O, P) für P ∈ x,−de(O, P) für P ∈ g r x

die Koordinatenabbildung zu x bezüglich e.

Proposition 4.42 (H + V). Sei x ein Strahl mit Anfangspunkt O, und sei g die eindeutig bestimmteGerade, die den Strahl x enthält. Für ein fest gewähltes e ∈ S gilt dann

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4.7. Koordinatensysteme 120

(a) Die Koordinatenabbildung γex : g→ R ist bijektiv.

(b) Die Koordinatenabbildung γex ist eine Isometrie, für alle Punkte P, Q ∈ g gilt also

|γex(P)− γe

x(Q)| = de(P, Q).

Beweis. Für den Beweis von (a) untersuchen wir, welche Punkte von g jeweils auf ein r ∈ Rabgebildet werden. Im Fall r = 0 ist dies offenbar ausschließlich der Punkt O. Ist r > 0,dann gibt es wegen der Bijektivität 4.34 des Streckenmaßes |·|e genau einen Punkt P ∈ x mitde(O, P) =

∣∣[OP]∣∣e = r. Wir erhalten

γex(P) = de(O, P) = r

und bemerken, dass es auf der Geraden g keinen weiteren Punkt gibt, der ebenfalls auf r abge-bildet wird. Analog gibt es im Fall r < 0 genau einen Punkt P auf dem dem Strahl x entgegen-gesetzten Strahl mit de(O, P) =

∣∣[OP]∣∣e = −r. Es ergibt sich

γex(P) = −de(O, P) = r,

und auch in diesem Fall gibt es auf der Geraden g keinen weiteren Punkt, der auf r abgebildetwird. Das zeigt die Bijektivität von γe

x und somit (a).

Zum Nachweis von (b) seien P, Q ∈ g. In Abhängigkeit von der Lage der Punkte P, Q auf gergeben sich mehrere Fälle, von denen wir ohne Einschränkung nur die folgenden betrachtenmüssen.

Fall 1: P = O. Dieser Fall ist trivial.

Fall 2: P, Q ∈ x mit O ? P ? Q. Wir erhalten [OP] + [PQ] = [OQ] und deshalb

de(O, P) + de(P, Q) = de(O, Q).

Das liefert

|γex(P)− γe

x(Q)| = |de(O, P)− de(O, Q)| = | − de(P, Q)| = de(P, Q).

Fall 3: P, Q ∈ g r x mit O ? P ? Q. Dieser Fall kann analog wie Fall 2 behandelt werden.

Fall 4: P ∈ g r x, Q ∈ x. Insbesondere gilt dann P ? O ? Q und deshalb [PO] + [OQ] = [PQ],was

de(P, O) + de(O, Q) = de(P, Q)

zur Folge hat. Es ist γex(P) = −de(O, P) sowie γe

x(Q) = de(O, Q) und somit

|γex(P)− γe

x(Q)| = | − de(O, P)− de(O, Q)| = de(P, O) + de(O, Q) = de(P, Q).

Proposition 4.43 (H + V). Sei x ein Strahl mit Anfangspunkt O, und sei g die eindeutig bestimmteGerade, die den Strahl x enthält. Für ein fest gewähltes e ∈ S und Punkte P, Q, R ∈ g gilt dann

P ? Q ? R ⇐⇒(

γex(P) < γe

x(Q) < γex(R) oder γe

x(P) > γex(Q) > γe

x(R))

.

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121 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Beweis. Wir können offenbar ohne Einschränkung annehmen, dass die Punkte P, Q, R paar-weise verschieden sind. In Abhängigkeit von der Lage der Punkte P, Q, R auf g ergeben sichmehrere Fälle, von denen wir nur die folgenden betrachten müssen.

Fall 1: P, Q, R ∈ x r {O}. Es gilt

P ? Q ? R⇐⇒ O ? P ? Q ? R oder O ? R ? Q ? P

⇐⇒(O ? P ? Q und O ? Q ? R

)oder

(O ? R ? Q und O ? Q ? P

)⇐⇒

(de(O, P) < de(O, Q) < de(O, R)

)oder

(de(O, R) < de(O, Q) < de(O, P)

)⇐⇒

(γe

x(P) < γex(Q) < γe

x(R))

oder(γe

x(P) > γex(Q) > γe

x(R)).

Fall 2: P = O und Q, R ∈ x r {O}. Es gilt

P ? Q ? R⇐⇒ O ? Q ? R⇐⇒ 0 < de(O, Q) < de(O, R)⇐⇒ γe

x(P) < γex(Q) < γe

x(R)

⇐⇒(γe

x(P) < γex(Q) < γe

x(R))

oder(γe

x(P) > γex(Q) > γe

x(R)),

wobei man beachte, dass der zweite Fall in der letzten Äquivalenz niemals eintreten kann.

Fall 3: P ∈ g r x, Q, R ∈ x r {O}. Es gilt

P ? Q ? R⇐⇒ O ? Q ? R⇐⇒ de(O, Q) < de(O, R)⇐⇒ −de(O, P) < de(O, Q) < de(O, R)

⇐⇒(γe

x(P) < γex(Q) < γe

x(R))

oder(γe

x(P) > γex(Q) > γe

x(R)),

wobei man beachte, dass der zweite Fall in der letzten Äquivalenz niemals eintreten kann.

Fall 4: P ∈ g r x, Q = O, R ∈ x r {O}. Es gilt γex(P) < 0, γe

x(Q) = 0 und γex(R) > 0, was die

Behauptung impliziert.

Definition 4.44 (H + V). Sei x ein Strahl mit Anfangspunkt O, und sei g die eindeutig bestimmteGerade, die den Strahl x enthält. Für eine Seite H von g und einen Punkt P ∈ P ist

yP := yP,H := LgP ∪ (`gP ∪ H)

ein Strahl mit Anfangspunkt LgP, der in der Geraden `gP enthalten ist und in H verläuft. Für ein festgewähltes e ∈ S erhalten wir so eine Abbildung

ηex,H :

{P → R2,P 7→ (γe

x(LgP), γeyP(P)),

das absolute Koordinatensystem zu x, H bezüglich e. Den Anfangspunkt O des Strahls x nennen wirden Koordinatenursprung. Für „Sei x ein Strahl mit Anfangspunkt O, sei g die eindeutig bestimmteGerade, die den Strahl x enthält, und sei H eine Seite von g. Des Weiteren sei e ∈ S.“ schreiben wirkünftig auch kurz „Koord“.

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4.7. Koordinatensysteme 122

Proposition 4.45 (H + V, Koord). Das absolute Koordinatensystem ηex,H : P→ R2 ist bijektiv.

Beweis. Zum Beweis der Injektivität betrachten wir zwei Punkte P, Q ∈ P mit ηex,H(P) =

ηex,H(Q). Diese erfüllen γe

x(LgP) = γex(LgQ) nach Definition und LgP = LgQ wegen der Bijek-

tivität 4.42 von γex. Aufgrund der Eindeutigkeit des Lotes erhalten wir `gP = `gQ und daraus

yP = LgP ∪ (H ∪ `gP) = LgQ ∪ (H ∪ `gQ) = yQ.

Das liefertγe

yQ(P) = γe

yP(P) = γe

yQ(Q)

und damit P = Q. Die Abbildung ηex,H ist also injektiv.

Zum Beweis der Surjektivität betrachten wir einen beliebigen Punkt (a, b) ∈ R2. Aufgrund derBijektivität von γe

x gibt es einen Punkt A ∈ g mit γex(A) = a. Wegen der Bijektivität von γe

yA

gibt es einen Punkt B ∈ `g A mit γeyA(B) = b. Offenbar ist `gB = `g A und LgB = A = Lg A und

deshalbyB = LgB ∪ (H ∪ `gB) = Lg A ∪ (H ∪ `g A) = yA.

Dies impliziert γeyB(B) = γe

yA(B) = b. Wir erhalten

ηex,H(B) = (γe

x(LgB), γeyB(B)) = (γe

x(A), γeyB(B)) = (a, b)

und somit die Surjektivität von ηex,H.

Versieht man P mit der Metrik de, so dass P insbesondere zu einem topologischen Raum wird,und betrachtet man R2 mit der Standardtopologie, so kann man zeigen, dass die Abbildungηe

x,H für Hilbertebenen mit Vollständigkeitsaxiom ein Homöomorphismus ist. Das ist jedochrecht aufwändig und wird von uns nicht gemacht. Wir zeigen aber mit dem nachfolgendenSatz, dass ηe

x,H für euklidische Ebenen sogar eine Isometrie und insbesondere auch ein Ho-möomorphismus ist.

Satz 4.46 (E, Koord). Die Abbildung ηex,H : P → R2 ist eine Isometrie, für alle Punkte P, Q ∈ P gilt

also ∥∥ηex,H(P)− ηe

x,H(Q)∥∥ = de(P, Q).

Beweis. Im Folgenden schreiben wir kurz η für ηex,H. Es seien P, Q ∈ P, und es seien η(P) =

(a1, b1) und η(Q) = (a2, b2). Der Fall a1 = a2 und b1 = b2 ist offensichtlich und wird nichtweiter betrachtet.

Fall 1: a1 = a2. Es ist dann γex(LgP) = γe

x(LgQ) und deshalb LgP = LgQ sowie `gP = `gQ. Wirerhalten

yQ = LgQ ∪ (`gQ ∪ H) = LgP ∪ (`gP ∪ H) = yP

und insbesondere γeyP

= γeyQ

. Da γeyP

nach Proposition 4.42 eine Isometrie ist, ergibt sich

de(P, Q) = |γeyP(P)− γe

yQ(Q)| = |b1 − b2| = ‖(a1, b1)− (a1, b2)‖ = ‖η(P)− η(Q)‖ .

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123 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Fall 2: b1 = b2. Wir erhalten γeyP(P) = b1 = b2 = γe

yQ(Q), insbesondere haben diese beiden

reellen Zahlen das selbe Vorzeichen und den selben Betrag. Es ergibt sich

de(P, LgP) = |γeyP(P)− γe

yP(LgP)| = |b1| = |b2| = |γe

yQ(Q)− γe

yQ(LgQ)| = de(Q, LgQ).

Falls b1 = b2 = 0 ist, dann ist P = LgP und Q = LgQ, also liegen die Punkte P und Q auf derGeraden g. Das hat

de(P, Q) = |γex(P)− γe

x(Q)| = |a1 − a2| = ‖(a1, 0)− (a2, 0)‖ = ‖η(P)− η(Q)‖

zur Folge. Ist b1 = b2 6= 0, so liegen die Punkte P, Q auf der selben Seite der Geraden g, und esist PLgP ∼= QLgQ. Außerdem sind die Punkte P, Q, LgP, LgQ paarweise verschieden und nichtkollinear. Das Viertupel (P, Q, LgQ, LgP) ist also ein Parallelogramm, und es gilt

de(P, Q) =de(LgP, LgQ) = |γex(LgP)− γe

x(LgP)| = |a1 − a2| = ‖(a1, b1)− (a2, b1)‖= ‖η(P)− η(Q)‖ .

Fall 3: a1 6= a2 und b1 6= b2. Wir setzen R := η−1((a1, b2)). Die Punkte P, Q, R sind in allgemei-ner Lage,

denn: Wir bemerken zunächst, dass die Punkt LgP und LgQ aufgrund von

η(LgP) = (a1, 0) 6= (a2, 0) = η(LgQ)

verschieden sind. Insbesondere liegt der Punkt Q nicht auf der Geraden `gP. Damit ist dieGerade `gP verschieden von der Geraden R ∨Q. Wie in Fall 1 ist LgP = LgR, also

R = `gP ∧ (R ∨Q).

Würde der Punkt P auf der Geraden R ∨ Q liegen, dann wäre P = R, im Widerspruch zuη(P) 6= η(R). #

Der Winkel ∠PRQ ist ein rechter Winkel,

denn: Ist b2 = 0, dann stimmen wie in Fall 2 die Punkte R, LgR sowie die Punkte Q, LgQ überein,außerdem wie in Fall 1 die Punkte LgP und LgR. Damit ist

∠PRQ = ∠PLgRLgQ = ∠PLgPLgQ

ein rechter Winkel. Ist b2 6= 0, dann ist wie in Fall 2 (R, Q, LgQ, LgR) ein Parallelogramm.Insbesondere sind die Geraden R ∨ Q und g parallel. Da die Gerade g orthogonal zu `gP ist,folgt nach dem starken Wechselwinkelsatz 3.67, dass auch die Gerade R ∨ Q orthogonal zurGeraden `gP ist. Somit ist der Winkel ∠PRQ ein rechter Winkel. #

Das Dreieck 4PQR ist folglich ein rechtwinkliges Dreieck. Aus dem Satz des Pythagoras 4.40folgt

de(P, Q)2 = de(R, P)2 + de(Q, R)2.

Aus Fall 1 erhalten wir de(P, R) = |b1 − b2|, und aus Fall 2 ergibt sich de(Q, R) = |a1 − a2|. Dasliefert

de(P, Q) =√(a1 − a2)2 + (b1 − b2)2 = ‖(a1, b1)− (a2, b2)‖ = ‖η(P)− η(Q)‖ .

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4.7. Koordinatensysteme 124

Wir werden nun noch eine weitere Möglichkeit zur Einführung eines Koordinatensystems ken-nenlernen.

Definition 4.47 (H + V). Es sei x ein Strahl mit Ausgangspunkt O und H eine Seite der eindeutigbestimmten Geraden g, die den Strahl x enthält. Wir setzen h := `gO. Ferner sei y := O ∪ (h ∪ H);dies ist ein Strahl mit Ausgangspunkt O, der in h enthalten ist und in H verläuft. Für ein fest gewähltese ∈ S heißt die Abbildung

ϑex,H :

{P → R2,P 7→ (γe

x(LgP), γey(LhP))

das rechtwinklige Koordinatensystem zu x und H bezüglich e.

Die Abbildung ϑex,H ist im Allgemeinen nicht bijektiv. Das liegt daran, dass schon die Abbil-

dung

ωg,h :

{P → g× h,P 7→ (LgP, LhP)

im Allgemeinen nicht bijektiv ist, da es sein kann, dass sich die Geraden `gR und `hS für PunkteR ∈ g und S ∈ h nicht schneiden.16

Nimmt man jedoch die Gültigkeit des Parallelenaxioms an, so ist ωg,h (vgl. Übungsaufgabe4.15) und somit auch ϑe

x,H bijektiv. Für euklidische Ebenen stimmen nach der folgenden Propo-sition 4.48 sogar die Abbildungen ηe

x,H und ϑex,H überein, was nach Proposition 4.45 die Bijekti-

vität von ϑex,H impliziert.

16Das ist keine hypothetische Überlegung, sondern kommt etwa in der hyperbolischen Geometrie aus Kapitel 5tatsächlich vor.

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125 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Proposition 4.48 (E, Koord). Die Abbildungen ηex,H und ϑe

x,H stimmen überein. Insbesondere ist ϑex,H

bijektiv.

Beweis. Wir setzen wieder h := `gO und y := O ∪ (h ∪ H). Für einen beliebigen Punkt P ∈ Pgilt dann

ηex,H(P) = (γe

x(LgP), γeyP(P)) und ϑe

x,H(P) = (γex(LgP), γe

y(LhP)).

Zum Beweis der Proposition genügt es also γeyP(P) = γe

y(LhP) zu zeigen.

Es gelten h ⊥ g, `gP ⊥ g und h ⊥ `hP. Nach Korollar 3.64 folgen daraus h ‖ `gP und g ‖ `hP.

Fall 1: h = `gP. Es gilt O = LgP, yp = y und LhP = P, was die Behauptung liefert.

Fall 2: g = `hP. Es gilt O = LhP und P = LgP. Es folgt dann

γeyP(P) = γe

yP(LgP) = 0 = γe

y(O) = γey(LhP)

und somit die Behauptung.

Fall 3: h ∪ `gP = ∅ und g ∪ `hP = ∅. Die Punkte O, LgP, LhP, P sind paarweise verschie-den und nicht kollinear, und das Viertupel (O, LgP, LhP, Q) ist ein Parallelogramm. Insbe-sondere sind nach Proposition 4.21 die Seiten PLgP und LhPO kongruent und erfüllen daherde(P, LgP) = de(LhP, O). Da die Strahlen yp und y beide in H ∪ g verlaufen, folgt

γeyP(P) = de(P, LgP) = de(LhP, O) = γe

y(LhP)

und somit die Behauptung.

Definition 4.49 (H). Seien x, x′ Strahlen mit Anfangspunkten O bzw. O′, sei H eine Seite der eindeutigbestimmten Geraden g, die den Strahl x enthält, und sei H′ eine Seite der eindeutig bestimmten Geradeng′, die den Strahl x′ enthält. Weiter seien

y := O ∪ (`gO ∪ H) und y′ := O′ ∪ (`g′O′∪ H′).

Wir sagen, (x, H) und (x′, H′) seien gleichgerichtet, wenn die folgenden Bedingungen gelten.

� Die Geraden g und g′ sind parallel,

� die Strahlen x und x′ verlaufen in der selben Seite von O ∨O′,

� die Strahlen y und y′ verlaufen in der selben Seite von O ∨O′.

Proposition 4.50 (E, Koord). Sei x′ ein Strahl mit Anfangspunkt O′, und sei H′ eine Seite der ein-deutig bestimmten Geraden g′, die den Strahl x′ enthält. Sind (x, H) und (x′, H′) gleichgerichtet, sogilt

ηex′,H′(P) = ηe

x,H(P)− ηex,H(O

′) für alle P ∈ P,

die absoluten Koordinatensysteme ηex′,H′ und ηe

x,H unterscheiden sich also nur um eine Translation.

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4.7. Koordinatensysteme 126

Beweis. Für den Beweis benutzen wir die Notationen

y := O ∪ (h ∪ H), h′ := `g′O′ und y′ := O′ ∪ (h′ ∪ H).

Sei P ∈ P. Wir zeigen zunächst

γex′(Lg′P) = γe

x(LgP)− γex(LgO′). (4.2)

Wir können dabei ohne Einschränkung annehmen, dass der Punkt P und die Strahlen x, x′ aufder selben Seite der Geraden O ∨O′ liegen. Wir behandeln hier nur den Fall g 6= O ∨O′ 6=h := `gO; die Fälle O ∨O′ = g und O ∨O′ = h sind recht einfach mit den selben Techniken zubehandeln. (Übung!)

Wir setzen R := `gP ∪ (O ∨O′) = πg,O∨O′

h (LgP). In Abhängigkeit von der Anordnung derPunkte O, O′, R ergeben sich mehrere Fälle, von denen wir ohne Einschränkung nur die fol-genden zu betrachten brauchen.

Fall 1: O′ = R. Dann ist O′ = R = `g′P∪

(O ∨O′) = Lg′P und LgO′ = LgR = LgP. Darausfolgt

γex′(Lg′P) = 0 und γe

x(LgP) = γex(LgO′).

Fall 2: O ? R ? O′. Da Parallelprojektionen nach Proposition 4.19 Anordnungen erhalten, gilt

O ? R ? O′π

O∨O′ ,gh=⇒ O ? LgP ? LgO′ und O ? R ? O′

πO∨O′ ,`g Pg=⇒ LgP ? R ? Lg′P.

Insbesondere liegen die Punkte LgP, Lg′P auf verschiedenen Seiten der Geraden O∨O′. Wegen

g ‖ g′ und Satz 4.23 ist πg,g′

h eine Isometrie, so dass de(LgP, LgO′) = de(Lg′P, O′) gilt. Insgesamterhalten wir

γex(LgP) = ±de(O, LgP) = ±de(O, LgO′)∓ de(LgO′, LgP)

= ±de(O, LgO′)∓ de(O′, Lg′P)

= γex(LgO′) + γe

x′(L′gP),

wobei das Vorzeichen± davon abhängt, ob LgP, und damit auch LgO′, auf der selben Seite derGeraden O ∨O′ liegt wie die Strahlen y und y′.

Fall 3: O ? O′ ? R. Da Parallelprojektionen nach Proposition 4.19 Anordnungen erhalten, gilt

O ? O′ ? Rπ

O∨O′ ,gh=⇒ O ? LgO′ ? LgP und O ? O′ ? R

πO∨O′ ,`g Pg=⇒ LgP ? Lg′P ? R.

Insbesondere liegen die Punkte LgP, Lg′P, LgO′ auf der selben Seite der Geraden O∨O′. Wegen

g ‖ g′ und Satz 4.23 ist πg,g′

h eine Isometrie, so dass de(O′, Lg′P) = de(LgO′, LgP) gilt. Insgesamterhalten wir

γex(LgP) = ±de(O, LgP) = ±de(O, LgO′)± de(LgO′, LgP)

= ±de(O, LgO′)± de(O′, Lg′P)

= γex(LgO′) + γe

x′(Lg′P),

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127 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

wobei das Vorzeichen± davon abhängt, ob LgP, und damit auch Lg′P und LgO′, auf der selbenSeite von O ∨O′ liegt wie die Strahlen x und x′.

Durch Vertauschen der Rollen von g und h sowie von g′ und h′ kann man analog zu (4.2) dieGleichung

γey′(Lh′P) = γe

y(LhP)− γey(LhO′)

zeigen. Das liefert unter Verwendung von Proposition 4.48 schließlich

ηex′,H′(P) = ηe

x,H(P)− ηex,H(O

′).

4.8 Der Hauptsatz über euklidische Ebenen

In diesem Abschnitt wollen wir den Hauptsatz für euklidische Ebenen beweisen; wir wollenalso zeigen, dass jede euklidische Ebene isomorph zur euklidischen Standardebene ist. DieAbbildung, die wir dafür heranziehen werden, wird ein fest gewähltes Koordinatensystemsein, so wie wir es im letzten Abschnitt konstruiert haben. Für dieses müssen wir nun nochzeigen, dass es verträglich mit Geraden, der Anordnung von Punkten sowie mit der Kongruenzvon Strecken und Winkeln ist.

Wir wollen zunächst Geraden beschreiben, die durch den Koordinatenursprung verlaufen.Sind X, Y die eindeutig bestimmten Punkte mit ηe

x,H(X) = (1, 0) und ηex,H(Y) = (0, 1), so gilt

in der Notation des letzten Abschnitts

O ∨ X = g = {Q ∈ P | γeyQ(Q) = 0} und O ∨Y = h = {Q ∈ P | γe

x(LgQ) = 0}. (4.3)

Die Geraden, die nicht mit einer der Koordinatenachsen übereinstimmen, beschreiben wir inder folgenden Proposition.

Proposition 4.51 (E, Koord). Sei λ ∈ Rr {0} und Pλ ∈ P der eindeutig bestimmte Punkt mitηe

x,H(Pλ) = (1, λ). Dann ist

O ∨ Pλ = {Q ∈ P | γeyQ(Q) = λγe

x(LgQ)}.

Beweis. Wir zeigen zunächst, dass alle Punkte Q ∈ O ∨ Pλ die Bedingung γeyQ(Q) = λγe

x(LgQ)

erfüllen. Für Q = O ist dies wegen γeyO(O) = 0 = λγe

x(O) offenbar der Fall. Für Q 6= O wendenwir Korollar 4.37 auf die Geraden O ∨ Pλ, O ∨ LgPλ und die Parallelen Q ∨ LgQ, Pλ ∨ LgPλ anund erhalten

|γeyQ(Q)|

|γeyPλ

(Pλ)|=

de(Q, LgQ)

de(Pλ, LgPλ)=

de(O, LgQ)

de(O, LgPλ)=|γe

x(LgQ)||γe

x(LgPλ)|.

Wegen ηex,H(Pλ) = (1, λ) ist dabei γe

x(LgPλ) = 1 und γeyPλ

(Pλ) = λ. Das liefert

|γeyQ(Q)| = |λγe

x(LgQ)|.

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4.8. Der Hauptsatz über euklidische Ebenen 128

Die reellen Zahlen γeyQ(Q) und λγe

x(LgQ) haben aber auch das gleiche Vorzeichen, denn es gilt(λ = γe

yPλ(Pλ)

)und γe

yQ(Q) haben verschiedene Vorzeichen

⇐⇒ Pλ ? O ? Q4.20⇐⇒ LgPλ ? O ? LgQ

⇐⇒(γe

x(LgPλ) = 1)

und γex(LgQ) haben verschiedene Vorzeichen

⇐⇒ γex(LgQ) < 0.

(4.4)

Wir wollen nun umgekehrt zeigen, dass alle Punkte Q ∈ P mit γeyQ(Q) = λγe

x(LgQ) auch schonauf der Geraden O ∨ Pλ liegen. Für Q = O ist dies trivial; wir nehmen daher wieder Q 6= O an.Dann gilt

|γex(LgPλ)||γe

yQ(Q)| = |1||γe

yQ(Q)| = |γe

yQ(Q)|

= |λγex(LgQ)| = |λ||γe

x(LgQ)| = |γeyPλ

(Pλ)||γex(LgQ)|

und deshalb

de(Q, LgQ)

de(Pλ, LgPλ)=

de(O, LgQ)

de(O, LgPλ). (4.5)

Die Gerade `gQ ist nicht parallel zur Geraden O ∨ Pλ,

denn: Ansonsten gälte h = `gO ‖ `gQ ‖ O ∨ Pλ und also h = O ∨ Pλ, im Widerspruch dazu,dass Pλ nach (4.3) nicht auf h liegt. #

Der Schnittpunkt Q′ := `gQ ∧ (O ∨ Pλ) erfüllt offenbar LgQ′ = LgQ. Wenden wir also Korollar4.37 auf die Geraden O ∨ Pλ, O ∨ LgPλ und die Parallelen Q ∨ LgQ, Pλ ∨ LgPλ an, so erhaltenwir

de(Q′, LgQ)

de(Pλ, LgPλ)=

de(O, LgQ)

de(O, LgPλ).

Der Vergleich mit (4.5) liefert sofort de(Q′, LgQ) = de(Q, LgQ). Um Q = Q′ ∈ O∨ Pλ zu folgern,müssen wir noch zeigen, dass Q und Q′ auf der selben Seite der Geraden g liegen. Dies gilt,

denn: Nach Definition haben die reellen Zahlen λ und γeyQ(Q) genau dann verschiedene Vor-

zeichen, wenn γex(LgQ) negativ ist. Mit der selben Rechnung wie in (4.4) zeigt man, dass λ und

γeyQ′

(Q′) genau dann verschiedene Vorzeichen haben, wenn γex(LgQ′) negativ ist. Die Behaup-

tung folgt mit LgQ = LgQ′. #

Nach dieser Vorbereitung sind wir nun in der Lage zu zeigen, dass absolute Koordinatensys-teme Geraden auf Geraden abbilden.

Proposition 4.52 (E, Koord). Für ein beliebiges f ⊆ P gilt

f ∈ G⇐⇒ ηex,H( f ) ∈ GR.

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129 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Beweis. Im Folgenden schreiben wir kurz η für ηex,H.

Die Rückrichtung lässt sich auf die Hinrichtung zurückführen. Dafür betrachten wir ein f ⊆ Pmit η( f ) ∈ GR. Für dieses gibt es Punkte R, S ∈ R2 mit η( f ) = R ∨ S und eindeutig bestimmtePunkte in P, Q ∈ P mit η(P) = R und η(Q) = S; es gilt also η( f ) = η(P) ∧ η(Q). UnterAnnahme der Hinrichtung ist aber auch η(P ∨ Q) eine Gerade in R2, welche die Punkte η(P)und η(Q) enthält, es gilt also

η(P ∨Q) = η(P) ∨ η(Q) = η( f ).

Da η eine Bijektion ist, folgt daraus die Behauptung f = P ∨Q ∈ G.

Sei für den Beweis der Hinrichtung nun f ∈ G. Wir können ohne Einschränkung davon aus-gehen, dass die Gerade f durch den Punkt O verläuft,

denn: Andernfalls wählen wir einen Punkt O′ auf f sowie einen Strahl x′ mit AnfangspunktO′ und eine Seite H′ der Geraden, die den Strahl x′ enthält, so dass (x, H) und (x′, H′) gleich-gerichtet sind. Nach Proposition 4.50 unterscheiden sich dann die Abbildungen η und ηe

x′,H′nur um eine Translation. Insbesondere ist η( f ) genau dann eine Gerade, wenn ηe

x′,H′( f ) eineGerade ist. #

Wir setzen h := `gO und unterscheiden zwei Fälle.

Fall 1: f = h. Dann istf = {Q ∈ P | γe

x(LgQ) = 0}und deshalb, und weil absolutes und rechtwinkliges Koordinatensystem nach Proposition 4.48übereinstimmen,

η( f ) = {η(Q) ∈ η(P) | γex(LgQ) = 0}

= {(0, γeyQ(Q)) | Q ∈ P}

= {(0, γey(LhQ)) | Q ∈ P}.

Die Zuordnung Q 7→ γey(LhQ) ist als Hinereinanderausführung der surjektiven Abbildung

Q 7→ LhQ und der Bijektion γey eine surjektive Abbildung von P nach R. Somit ist η( f ) =

(0, 0) ∨ (0, 1) ∈ GR.

Fall 2: f 6= h. Da nach Annahme beide Geraden den Punkt O enthalten, sind f und h in diesemFall nicht parallel. Wir setzen S := η−1((1, 0)). Wegen `gS ‖ `gO = h sind dann auch f und `gSnicht parallel zueinander und schneiden sich daher in einem eindeutig bestimmten Punkt P.Es gilt `gS = {Q ∈ P | γe

x(LgQ) = 1},

denn: Nach (4.3) gilt S ∈ g. Für einen beliebigen Punkt Q ∈ P gilt daher

Q ∈ `gS ⇐⇒ LgQ = LgS = S 4.42⇐⇒ γex(LgQ) = γe

x(S) = 1.

#

Insbesondere gibt es ein λ ∈ Rmit P = η−1((1, λ)). Aus Proposition 4.51 bzw. (4.3) folgt dann

f = O ∨ P = {Q ∈ P | γeyQ(Q) = λγe

x(LgQ)}

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4.8. Der Hauptsatz über euklidische Ebenen 130

und somit

η( f ) = {(γex(LgQ), γe

yQ(Q)) | γe

yQ(Q) = λγe

x(LgQ)}= {(γe

x(LgQ), λγex(LgQ)) | Q ∈ P}.

Die Zuordnung Q 7→ γex(LgQ) ist als Hintereinanderausführung der surjektiven Abbildung

Q 7→ LgQ und der Bijektion γex eine surjektive Abbildung von P nach R. Deshalb ist η( f ) =

(0, 0) ∨ (1, λ) ∈ GR.

Als nächstes werden wir zeigen, dass absolute Koordinatensysteme Anordnungen von Punk-ten erhalten. Um die Notation nicht unnötig kompliziert zu machen, verwenden wir auch fürdie euklidische Standardebene zur Beschreibung der Anordnung das Symbol ?.

Proposition 4.53 (E, Koord). Für Punkte P, Q, R ∈ P gilt

P ? Q ? R⇐⇒ ηex,H(P) ? ηe

x,H(Q) ? ηex,H(R).

Beweis. Wir schreiben im Folgenden kurz η für die Abbildung ηex,H. Da die Abbildung η bijek-

tiv ist, sind die Punkte η(P), η(Q), η(R) genau dann paarweise verschieden, wenn die PunkteP, Q, R paarweise verschieden sind, und aufgrund von Proposition 4.52 sind sie genau dannkollinear, wenn die Punkte P, Q, R kollinear sind. Wir können im Folgenden also davon ausge-hen, dass die Punkte P, Q, R paarweise verschieden und kollinear sind.

Wir setzen h := `gO und y := O ∪ (h ∪ H). Da die Geraden g und h nicht parallel sind, kanndie Gerade P ∨ Q nicht zu beiden gleichzeitig orthogonal sein; auf eine der beiden lässt sichalso das Lot fällen. Nach Korollar 4.20 erhält Lotfällen Anordnungen, es gilt also

P ? Q ? R⇐⇒ LgP ? LgQ ? LgR oder LhP ? LhQ ? LhR.

Da nach Proposition 4.43 auch Koordinatensysteme auf Geraden Anordnungen erhalten, giltsogar

P ? Q ? R⇐⇒ γex(LgP) < γe

x(LgQ) < γex(LgR) oder γe

x(LgP) > γex(LgQ) > γe

x(LgR)oder γe

y(LhP) < γey(LhQ) < γe

y(LhR) oder γey(LhP) > γe

y(LhQ) > γey(LhR).

Schreiben wir nun η(P) = (a1, b1), η(Q) = (a2, b2) und η(R) = (a3, b3), so ist dies nach Propo-sition 4.48 äquivalent zu

P ? Q ? R⇐⇒ a1 < a2 < a3 oder a1 > a2 > a3 oder b1 < b2 < b3 oder b1 > b2 > b3

⇐⇒ (a1, b1) ? (a2, b2) ? (a3, b3) (vgl. Übungsaufgabe 3.5)⇐⇒ η(P) ? η(Q) ? η(R).

Dass absolute Koordinatensysteme Kongruenzen von Strecken und Winkeln erhalten, könnenwir in den folgenden beiden Propositionen unter Verwendung der Isometrieeigenschaft abso-luter Koordinatensysteme recht einfach zeigen. Um die Notation nicht unnötig kompliziert zumachen, verwenden wir auch für die euklidische Standardebene für Kongruenzen von Stre-cken das Symbol ∼= und für Kongruenzen von Winkeln das Symbol '.

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131 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Proposition 4.54 (E, Koord). Für Punkte P, Q, R, S ∈ P mit P 6= Q und R 6= S gilt

PQ ∼= RS⇐⇒ ηex,H(P)ηe

x,H(Q) ∼= ηex,H(R)ηe

x,H(S).

Beweis. Wir schreiben im Folgenden kurz η für die Abbildung ηex,H. Nach Satz 4.46 gilt

PQ ∼= RS⇐⇒ de(P, Q) = de(R, S)⇐⇒ ‖η(P)− η(Q)‖ = ‖η(R)− η(S)‖⇐⇒ η(P)η(Q) ∼= η(R)η(S).

Proposition 4.55 (E, Koord). Für Punkte P, Q, R, S, T, U ∈ P, so dass P, Q, R und S, T, U jeweils inallgemeiner Lage sind, gilt

∠PQR ' ∠STU ⇐⇒ ∠ηex,H(P)ηe

x,H(Q)ηex,H(R) ' ∠ηe

x,H(S)ηex,H(T)η

ex,H(U).

Beweis. Wir schreiben im Folgenden kurz η für die Abbildung ηex,H. Beim Beweis der Hinrich-

tung können wir ohne Einschränkung PQ ∼= ST und QR ∼= TU annehmen. Aus dem SWS-Kriterium folgt dann die Kongruenz von Dreiecken 4PQR ∼= 4STU und insbesondere dieKongruenz PR ∼= SU. Nach Proposition 4.54 ergibt sich

η(P)η(Q) ∼= η(S)η(T), η(Q)η(R) ∼= η(T)η(U) und η(P)η(R) ∼= η(S)η(U)

und mit dem SSS-Kriterium für die euklidische Standardebene die Kongruenz von Dreiecken4η(P)η(Q)η(R) ∼= 4η(S)η(T)η(U). Daraus folgt ∠η(P)η(Q)η(R) ' ∠η(S)η(T)η(U). Der Beweisder Rückrichtung verläuft analog.

In Zusammenfassung der Propositionen 4.45, 4.52, 4.53, 4.54 und 4.55 haben wir nun gezeigt,dass die Abbildung ηe

x,H : P → R2 ein Isomorphismus euklidischer Ebenen im Sinne vonDefinition 4.10 ist. Insbesondere haben wir damit den Hauptsatz für euklidische Ebenen 4.11bewiesen.

4.9 Dreiecke in der euklidischen Ebene

Da wir nun den Hauptsatz für euklidische Ebenen 4.11 bewiesen haben, können wir zusätzlichauch die in Kapitel 3 eingeführte analytische Theorie der euklidischen Standardebene benut-zen, um Sätze in der euklidischen Geometrie zu beweisen. Wir schreiben dabei immer kurz (E)für „Sei E = (R2, GR, ?,∼=,') die euklidische Standardebene.“ Zunächst wollen wir ausnut-zen, dass wir in Abschnitt 3.3 mit der Bogenlänge eine Möglichkeit zur Quantifizierung vonWinkeln geschaffen haben.17 Es gilt nämlich

17Wie wir in Abschnitt 4.5 schon angemerkt haben, hätten wir ganz analog zu den synthetischen Streckenmaßendort auch ein synthetisches Winkelmaß definieren können. Da wir auf ein solches Winkelmaß nicht angewiesensind, haben wir darauf verzichtet und arbeiten hier mit analytischen Methoden.

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4.9. Dreiecke in der euklidischen Ebene 132

Proposition 4.56 (E). Seien A, B, C, D ∈ R2 vier Punkte, so dass sowohl A, B, C als auch A, B, D inallgemeiner Lage sind. Dann gilt

(a) Sind ∠CAB, ∠BAD Ergänzungswinkel, dann gilt ]CAB + ]BAD = π. Insbesondere ist∠CAB genau dann ein rechter Winkel, wenn ]CAB = π

2 ist.

(b) Liegt der Punkt D im Inneren von ∠BAC, so gilt ]BAD +]DAC = ]BAC.

Beweis. Wir beweisen zunächst (a). Seien also ∠CAB und ∠BAD Ergänzungswinkel. Dann giltC ? A ? D, so dass es eine Bewegung gibt, die A auf den Ursprung und C, D auf Punkte auf derx-Achse abbildet, die auf verschiedenen Seiten von A liegen. Da Bewegungen Winkel unver-ändert lassen, können wir ohne Einschränkung von dieser Situation ausgehen. Weiter könnenwir C und D durch beliebige Punkte ihres jeweiligen von A ausgehenden Strahls ersetzen.Insgesamt können wir daher für geeignete b1, b2 ∈ R ohne Einschränkung

A =

(00

), B =

(b1

b2

), C =

(−10

), D =

(10

)annehmen.

Wir können nun die Bogenmaße der uns interessierenden Winkel zu

]CAB = ](C− A, B− A) = ]((−1, 0), (b1, b2)),]BAD = ](B− A, D− A) = ]((b1, b2), (1, 0))

berechnen. Für die Kosinuswerte folgt

cos]CAB =−b1

‖B‖ und cos]BAD =b1

‖B‖

und insbesonderecos]CAB = − cos]BAD.

Da beide Bogenmaße im Intervall (0, π) liegen, haben wir damit (a) gezeigt.

Beim Beweis von (b) können wir ohne Einschränkung von

A =

(00

)und D =

(10

)

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133 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

ausgehen.

Da D im Inneren des Winkels ∠BAC liegt, liegen B und C nach Lemma 3.37 auf verschiedenenSeiten der Geraden A ∨ D, also der x-Achse. Ohne Einschränkung liege B in der oberen undC in der unteren Halbebene. Weil wir weiter B und C durch beliebige Punkte ihres jeweiligenvon A ausgehenden Strahls ersetzen können, dürfen wir sogar

B =

(b1

1

)und C =

(c1

−1

)annehmen. Weil die Punkte C und D auf der selben Seite der Gerade A ∨ B = RB liegen, folgtnach Proposition 3.23

sgn(〈C | B⊥〉) = sgn(〈D | B⊥〉).

Andererseits gelten

〈C | B⊥〉 = 〈(

c1

−1

)|(−1b1

)〉 = −c1 − b1 und 〈D | B⊥〉 = 〈

(10

)|(−1b1

)〉 = −1

und somit b1 + c1 > 0. Aus

cos]BAD =〈B | D〉‖B‖ ‖D‖ =

b1

‖B‖

folgt18

sin2]BAD = 1− b21

‖B‖2 =1

‖B‖2 ,

18Die hier verwendete Rechenregel

cos2 x + sin2 x = 1 für alle x ∈ R

wird oft als Satz von Pythagoras bezeichnet. Andererseits wird der Zusammenhang zu dem von uns bereits be-wiesenen Satz dieses Namens (vgl. Satz 4.40) erst mit Korollar 4.62 klar, welches auf diesem Beweis aufbaut. Es istvon daher wichtig, uns daran zu erinnern, dass sich obige Rechenregel direkt mit analytischen Methoden aus denReihendarstellungen von Sinus und Kosinus herleiten lässt. Tatsächlich gilt mit dem Additionstheorem des Kosinus

1 = cos 0 = cos(x− x) = cos x cos(−x)− sin x sin(−x) = cos2 x + sin2 x für alle x ∈ R.

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4.9. Dreiecke in der euklidischen Ebene 134

was wegen ]BAD ∈ (0, π)

sin]BAD =1‖B‖

zur Folge hat. Aus

cos]DAC =〈D | C〉‖D‖ ‖C‖ =

c1

‖C‖erhalten wir analog

sin]DAC =1‖C‖ .

Mit den Additionstheoremen von Sinus und Kosinus erhalten wir aus dem Bisherigen

sin(]BAD +]DAC) = sin]BAD cos]DAC + cos]BAD sin]DAC

=1‖B‖

c1

‖C‖ +b1

‖B‖1‖C‖ =

c1 + b1

‖B‖ ‖C‖ > 0,

cos(]BAD +]DAC) = cos]BAD cos]DAC− sin]BAD sin]DAC

=b1

‖B‖c1

‖C‖ −1‖B‖

1‖C‖ =

b1c1 − 1‖B‖ ‖C‖ =

〈B | C〉‖B‖ ‖C‖ = cos]BAC.

Hieraus ergibt sich schließlich wie verlangt ]BAC = ]BAD +]DAC.

Dies wollen wir nun auf Winkel in Dreiecken anwenden und führen dafür den Begriff derInnenwinkelgrößen ein.

Definition 4.57 (E). Sei4ABC ein Dreieck. Dann heißen (‖B− C‖ , ‖C− A‖ , ‖A− B‖) seine Sei-tenlängen und (]CAB,]CBA,]ACB) seine Innenwinkelgrößen (oft auch kurz Winkelgrößenoder Innenwinkel genannt).

Man beachte, dass die Verwendung des Begriffs „Innenwinkel“ etwas problematisch ist, dadieser Begriff eigentlich die Winkel ∠CAB,∠CBA,∠ACB meint, vgl. 3.81. Aus dem Kontext istaber in der Regel leicht erkennbar, ob die Winkel oder die Winkelgrößen gemeint sind.

Satz 4.58 (Winkelsumme im Dreieck, E). Sei4ABC ein Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, γ). Danngilt

α + β + γ = π,

die Summe der Innenwinkelgrößen eines Dreiecks ist also π.

Beweis. Sei g die Parallele zur Geraden A ∨ B durch den Punkt C. Wir wählen Punkte P, Q, Rmit P ? A ? B und Q ? C ? R, so dass die Punkte P, Q auf der selben Seite der Gerade A ∨ Cliegen.

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135 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Offensichtlich liegen damit Q und B auf verschiedenen Seiten von A ∨ C. Da andererseits Aund B auf Grund der Parallelität von A ∨ B und g auf der selben Seite von g = C ∨ Q liegen,liegt A nach Lemma 3.37 im Inneren des Winkels ∠QCB. Nach Proposition 4.56 gilt daher

]QCB = ]QCA +]ACB.

Nach dem starken Wechselwinkelsatz 3.67 gilt ∠QCA ' ∠BAC und somit

]QCB = α + γ.

Nach Konstruktion liegen R und B auf der selben Seite von A ∨ C und somit der Punkt B imInneren des Winkels ∠ACR. Nach Lemma 3.37 liegen also die Punkte A, R auf verschiedenenSeiten von B ∨ C. Aus dem starken Wechselwinkelsatz 3.67 erhalten wir ∠CBA ' ∠RCB unddeshalb mit Proposition 4.56

(α + γ) + β = ]QCB +]RCB = π,

denn die Winkel ∠QCB und ∠RCB sind Ergänzungswinkel.

Satz 4.58 lässt sich ohne den Begriff der Winkelgröße formulieren und fast identisch beweisen.Dazu führt man in naheliegender Weise eine Addition auf der Menge der Kongruenzklassenvon Winkeln ein und zeigt, dass die Summe der Kongruenzklassen zweier Innenwinkel einesDreiecks mit der Kongruenzklasse des zum dritten Winkel gehörigen Außenwinkels überein-stimmt. In dieser Sprechweise ist Satz 4.58 eine direkte Verschärfung von Proposition 3.83.

Satz 4.59 (Kosinussatz, E). Sei 4ABC ein Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, γ) und Seitenlängen(a, b, c). Dann gilt

a2 = b2 + c2 − 2bc cos α,

b2 = a2 + c2 − 2ac cos β,

c2 = a2 + b2 − 2ab cos γ.

Beweis. Es genügt offensichtlich, eine der Gleichungen zu zeigen. Da Bewegungen weder Län-gen noch Winkelgrößen ändern, können wir ohne Einschränkung

A =

(00

), B =

(c0

)und C =

(c1

c2

)mit c, c2 > 0

wählen.

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4.9. Dreiecke in der euklidischen Ebene 136

Mit diesen Werten können wir leicht

a2 = ‖B− C‖2 = (c− c1)2 + c2

2 = (c21 + c2

2) + c2 − 2cc1 = b2 + c2 − 2cc1 (4.6)

berechnen. Andererseits gilt auch

cos α =〈C | B〉‖C‖ · ‖B‖ =

〈(c1c2) | (c

0)〉bc

=c1cbc

=c1

b.

Der Satz folgt, wenn wir dies in (4.6) einsetzen.

Der Kosinussatz liefert uns eine Verschärfung des synthetisch bewiesenen Satzes von Pythago-ras 4.40.

Korollar 4.60 (Satz des Pythagoras, E). Sei 4ABC ein Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, γ) undSeitenlängen (a, b, c). Genau dann ist ∠BCA ein rechter Winkel, wenn a2 + b2 = c2 gilt.

Beweis. Nach dem Kosinussatz 4.59 gilt a2 + b2 = c2 genau dann, wenn wir cos γ = 0 haben.Da für uns das Bogenmaß eines Winkels immer im Intervall (0, π) liegt, ist letzteres genaufür γ = π

2 der Fall. Nach Proposition 4.56 (a) und weil das Bogenmaß eine klassifizierendeKongruenzinvariante ist, ist dies äquivalent dazu, dass ∠BCA ein rechter Winkel ist.

Satz 4.61 (Sinussatz,E). Sei4ABC ein Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, γ) und Seitenlängen (a, b, c).Dann gilt

sin α

a=

sin β

b=

sin γ

c.

Beweis. Durch Quadrieren von zwei der Gleichungen aus dem Kosinussatz 4.59 erhalten wir

4b2c2 cos2 α = (b2 + c2 − a2)2 und 4a2c2 cos2 β = (a2 + c2 − b2)2.

Dies verwenden wir, um folgende Umformungen zu zeigen.

sin2 α

sin2 β=

4a2b2c2(1− cos2 α)

4a2b2c2(1− cos2 β)=

4a2b2c2 − a2 · (4b2c2 cos2 α)

4a2b2c2 − b2 · (4a2c2 cos2 β)

=a2

b2 ·4b2c2 − (b2 + c2 − a2)2

4a2c2 − (a2 + c2 − b2)2 =a2

b2 .

Da a, b, sin α, sin β alles positive reelle Zahlen sind, folgt

sin α

sin β=

ab

und also die erste behauptete Gleichheit. Die zweite Gleichheit zeigt man analog.

Korollar 4.62 (E). Sei4ABC ein rechtwinkliges Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, π2 ) und Seitenlängen

(a, b, c). Dann heißen a, b die Längen der Katheten und c die Länge der Hypothenuse von 4ABC,und es gilt

sin α = cos β =ac

und cos α = sin β =bc

.

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137 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Beweis. Mit dem Sinussatz 4.61 und dem Satz über die Innenwinkelsumme des Dreiecks 4.58gilt

ac=

sin α

sin π2= sin α = sin(π − π

2− β) = cos β

undbc=

sin β

sin π2= sin β = sin(π − π

2− α) = cos α.

Definition 4.63 (E). Für ein Dreieck4ABC heißen die Punkte

A′ :=12(B + C), B′ :=

12(A + C), C′ :=

12(A + B)

seine Seitenmitten und die Geraden A ∨ A′, B ∨ B′ und C ∨ C′ seine Seitenhalbierenden.

Satz 4.64 (Schwerpunktsatz, E). Die Seitenhalbierenden eines Dreiecks 4ABC schneiden sich alledrei im Schwerpunkt S = 1

3 (A + B + C) von 4ABC. Hierbei teilt S die Seitenhalbierenden im Ver-hältnis 2 : 1; es gilt also

‖S− A‖‖S− A′‖ =

‖S− B‖‖S− B′‖ =

‖S− C‖‖S− C′‖ = 2.

Beweis. Wegen

S =13(A + B + C) =

13

A +23· 1

2(B + C) =

13

A +23

A′

liegt der Schwerpunkt S auf der Seitenhalbierenden A ∨ A′ und teilt diese im Verhältnis 2 : 1.Dass dies auch bei den anderen beiden Seitenhalbierenden der Fall ist, zeigt man analog.

Es verbleibt zu zeigen, dass die Seitenhalbierenden paarweise verschieden sind und daher derSchnitt von je zweien von ihnen höchstens einen Punkt enthalten kann. Nehmen wir dafürbeispielsweise an, A ∨ A′ und B ∨ B′ wären identisch. Dann läge B auf A ∨ A′ = gA,A′−A undließe sich also schreiben als

B = A + λ(12(B + C)− A) = (1− λ)A +

λ

2(B + C)

mit einem geeigneten λ ∈ Rr {0}. Nach Auflösen nach C ergäbe sich dann

C =2(λ− 1)

λA +

2− λ

λB.

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4.9. Dreiecke in der euklidischen Ebene 138

Wegen 2(λ−1)λ + 2−λ

λ = 1 folgte C ∈ A ∨ B, was nicht sein kann. Analog zeigt man (A ∨ A′) 6=(C ∨ C′) und (B ∨ B′) 6= (C ∨ C′) und damit den Satz.

Definition 4.65 (H). Für ein Dreieck4ABC heißt das Lot von C auf die Gerade A ∨ B die Höhe von4ABC durch C und wird mit hC bezeichnet. Der Schnittpunkt hC ∧ (A∨ B) heißt dabei der Fußpunktder Höhe hC. Analog werden auch die Höhen hA und hB und ihre Fußpunkte definiert.

Nach Definition ist B − A ein Normalenvektor der Geraden hC. Die Hesse’sche Normalform(vgl. Abschnitt 3.1) von hC lautet also

hC = {P ∈ P | 〈P | B− A〉 = 〈C | B− A〉} (4.7)

und für die anderen beiden Höhen entsprechend.

Satz 4.66 (Höhensatz, E). Die Höhen hA, hB, hC eines Dreiecks 4ABC schneiden sich in einem ge-meinsamen Punkt H.

Beweis. Wir wollen zunächst zeigen, dass sich die Höhen hA und hB schneiden und nehmendafür im Gegenteil an, es gälte hA ‖ hB. Wegen hA ⊥ (B ∨ C) folgte dann aus dem starkenWechselwinkelsatz 3.67, dass auch hB ⊥ (B∨C) gälte.Aber andererseits ist hB ja auch senkrechtauf A∨C, so dass mit Korollar 3.64 schon A∨C und B∨C parallel wären, was nicht sein kann,weil wir A, B, C in allgemeiner Lage vorausgesetzt haben. Die beiden Höhen hA und hB habenalso einen eindeutig bestimmten Schnittpunkt H.

Zum Beweis des Satzes müssen wir nun noch zeigen, dass H auch auf hC liegt. Nutzen wirdafür die oben eingeführte Schreibweise der Höhen in Hesse’scher Normalform. Da H auf hAund hB liegt, gelten dann

〈H | B− C〉 = 〈A | B− C〉 und 〈H | A− C〉 = 〈B | A− C〉.

Damit berechnen wir leicht

〈H | B− A〉 = 〈H | (B− C)− (A− C)〉= 〈H | B− C〉 − 〈H | A− C〉= 〈A | B− C〉 − 〈B | A− C〉= 〈A | B〉 − 〈A | C〉 − 〈B | A〉+ 〈B | C〉= 〈C | B− A〉.

Es liegt also H auch auf der Höhe hC, was zu zeigen war.

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139 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Satz 4.67 (Höhenformel, E). Sei 4ABC ein Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, γ) und Seitenlängen(a, b, c), und seien A′, B′, C′ die Fußpunkte der Höhen hA, hB, hC. Dann gilt∥∥A− A′

∥∥ = c · sin β = b · sin γ,∥∥B− B′∥∥ = a · sin γ = c · sin α,∥∥C− C′∥∥ = b · sin α = a · sin β.

Abbildung 4.3: Zum Ablesen markiert: ‖B− B′‖ = a · sin γ.

Beweis. Wir zeigen nur die zweite Aussage; die anderen Beweise gehen analog.

Fall 1: B′ = C. Dann ist ‖B− B′‖ = a = a · sin π2 = a · sin γ. Mit dem Sinussatz 4.61 folgt

a = c sin α und somit die Behauptung.

Fall 2: B′ 6= C. Dann sind die drei Punkte C, B, B′ in allgemeiner Lage, da ja sonst C ∨ B =C ∨ B′ = C ∨ A gälte, was nicht sein kann. Wir können also den Sinussatz 4.61 auf das Dreieck4CB′B anwenden und erhalten

sin γ

‖B− B′‖ =sin π

2a

=1a

,

also ‖B− B′‖ = a · sin γ. Die Behauptung ‖B− B′‖ = c · sin α folgt, da nach dem Sinussatz 4.61für das Dreieck4ABC die Gleichheit a · sin γ = c · sin α gilt.

4.10 Kreise in der euklidischen Ebene

Kreise als geometrische Figuren haben wir bereits in Abschnitt 3.9 eingeführt. Da wir nun daskartesische Modell der euklidischen Standardebene zur Verfügung haben, bietet sich aber eineetwas eingängigere Notation an. Von nun an schreiben wir für alle Punkte M ∈ R2 und aller ∈ R>0

Kr(M) := {P ∈ R2 | ‖P−M‖ = r}für den Kreis mit Mittelpunkt M und Radius r. Die Punkte P ∈ R2 mit ‖P−M‖ < r liegeninnerhalb von Kr(M), die Punkte mit ‖P−M‖ > r außerhalb. Das ist insofern mit der altenNotation kompatibel, als für jeden beliebigen Punkt A ∈ Kr(M) die Identität Kr(M) = K(M, A)gilt. Wir hatten schon in Proposition 3.87 festgestellt, dass ein Kreis mit einer Geraden durchseinen Mittelpunkt immer genau zwei Schnittpunkte hat. Wir wollen nun den Durchschnitteines Kreises mit einer beliebigen Geraden studieren.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 140

Proposition 4.68 (E). Sei K = Kr(M) ein Kreis mit M ∈ R2 und r ∈ R>0 und g = gP,v eine Geradein GR mit P, v ∈ R2 und v 6= 0. Dann gilt

(a) Genau dann besteht K ∪ g aus zwei Punkten, wenn ‖P−M‖2 < r2 + 〈P − M | v‖v‖ 〉

2. Indiesem Fall nennt man g eine Sekante von K.

(b) Genau dann besteht K ∪ g aus einem Punkt, wenn ‖P−M‖2 = r2 + 〈P−M | v‖v‖ 〉

2. In diesemFall nennt man g eine Tangente von K.

(c) Genau dann ist K ∪ g leer, wenn ‖P−M‖2 > r2 + 〈P−M | v‖v‖ 〉

2. In diesem Fall nennt mang eine Passante von K.

In den Fällen (b) und (c) besitzt g keine Punkte im Inneren von K.

Beweis. Sei Q = P + λv ∈ g mit einem λ ∈ R. Dann gilt:

Q ∈ Kr(M) ⇐⇒ r = ‖Q−M‖⇐⇒ r2 = ‖Q−M‖2 = 〈Q−M | Q−M〉 = 〈P + λv−M | P + λv−M〉

= ‖P−M‖2 + 2λ〈P−M | v〉+ λ2 ‖v‖2

⇐⇒ 0 = ‖v‖2 · λ2 + 2〈P−M | v〉 · λ +(‖P−M‖2 − r2)

Abbildung 4.4: In Hinsicht auf Korollar 4.69 und mit Pythagoras können wir die Propositionauch so formulieren: Der Durchschnitt von K und g ist zwei-, ein- bzw. nullelementig, falls derLotfußpunkt von M auf g im Kreis bzw. auf dem Kreis bzw. außerhalb des Kreises liegt.

Das ist eine quadratische Gleichung in λ, deren Lösungsmenge in Abhängigkeit vom Vorzei-chen ∈ {+, 0,−} ihrer Diskriminante

Disk =(2〈P−M | v〉

)2 − 4 · ‖v‖2 ·(‖P−M‖2 − r2)

= −4 ‖v‖2 ·(‖P−M‖2 − r2 − 〈P−M | v

‖v‖〉2)

zweielementig, einelementig oder leer ist. In den Fällen (b) und (c) gilt wegen Q ∈ g = gQ,v

‖Q−M‖2 ≥ r2 + 〈Q−M | v‖v‖〉

2 ≥ r2,

so dass g keinen Punkt im Inneren von K besitzt.

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141 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Korollar 4.69 (E). Sei K = Kr(M) ein Kreis mit M ∈ R2 und r ∈ R>0 und g = gP,v eine Gerade inGR mit P, v ∈ R2 und v 6= 0. Sei weiter Q ein Element im Durchschnitt K ∪ g. Dann sind folgendebeiden Aussagen äquivalent:

(i) g ist Tangente an K,

(ii) ](Q−M, v) = π2 .

Beweis. Ohne Einschränkung setzen wir P = Q. Nach Proposition 4.68 gilt dann

g Tangente ⇐⇒ ‖Q−M‖2 = r2 + 〈Q−M | v‖v‖〉

2.

Da wir Q als Element des Kreises angenommen hatten, ist ‖Q−M‖ = r, und wir haben

g Tangente⇐⇒ 〈Q−M | v‖v‖〉

2 = 0

⇐⇒ (Q−M) ⊥ v

⇐⇒ ](Q−M, v) =π

2.

(?) Proposition 4.70 (E). Sei ϕ eine Bewegung der euklidischen StandardebeneE, und sei K = Kr(M)ein Kreis mit M ∈ R2 und r ∈ R>0. Dann gilt

ϕ(Kr(M)) = Kr(ϕ(M)),

insbesondere bilden also Bewegungen Kreise auf Kreise ab.

Beweis. Sei zunächst P ∈ Kr(M) ein Punkt. Dann gilt mit den bekannten Bewegungseigen-schaften ‖ϕ(M)− ϕ(P)‖ = ‖M− P‖ = r, so dass ϕ(P) in Kr(ϕ(M)) liegt. Es folgt

ϕ(Kr(M)) ⊆ Kr(ϕ(M)).

Da mit ϕ auch ϕ−1 eine Bewegung ist, folgt analog

ϕ−1(Kr(ϕ(M))) ⊆ Kr(ϕ−1 ◦ ϕ(M)) = Kr(M)

und also die Proposition.

Definition 4.71 (E). Sei K = Kr(M) ein Kreis mit M ∈ R2 und r ∈ R>0, und sei P ∈ R2 ein Punkt.Dann heißt

κK(P) := ‖P−M‖2 − r2

die Potenz von P in Bezug auf K.

Offensichtlich gibt das Vorzeichen der Potenz Auskunft darüber, ob der Punkt P in K, auf Koder außerhalb von K liegt. Wir wollen uns jetzt dem Problem des Durchschnitts zweier Kreisewidmen. Dazu führen wir ein Hilfsobjekt ein.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 142

(?) Proposition 4.72 (E). Für je zwei Kreise K = Kr(M) und K′ = Kr′(M′) mit M 6= M′ ∈ R2 undr, r′ ∈ R>0 gilt

(a) pK,K′ := {P ∈ R2 | κK(P) = κK′(P)} ist eine Gerade in E, die sogenannte Potenzgerade vonK und K′.

(b) pK,K′ ⊥ (M ∨M′),

(c) K ∪ K′ = K ∪ pK,K′ = K′ ∪ pK,K′ .

Insbesondere schneiden sich zwei verschiedene Kreise in höchstens zwei Punkten.

Beweis. Zum Nachweis von (a) sei P ∈ R2. Dann gilt

P ∈ pK,K′ ⇐⇒ κK(P) = κK′(P)⇐⇒ ‖P−M‖2 − r2 = ‖P−M′‖2 − r′2

⇐⇒ ‖P‖2 − 2〈P, M〉+ ‖M‖2 − r2 = ‖P‖2 − 2〈P, M′〉+ ‖M′‖2 − r′2

⇐⇒ 〈P, M′ −M〉 = 12 (r

2 − r′2 + ‖M′‖2 − ‖M‖2).

Aufgrund von M 6= M′ ist pK,K′ insbesondere nichtleer. Ist nun A ∈ pK,K′ fixiert, so ergibt sich

P ∈ pK,K′ ⇐⇒ 〈P, M′ −M〉 = 〈A, M′ −M〉 ⇐⇒ 〈P− A, M′ −M〉 = 0.

Die obige Gleichung beschreibt genau die Hesse’sche Normalform der Geraden gA,(M′−M)⊥ ,was neben (a) auch (b) impliziert. Die erste Gleichung in (c) ergibt sich nun direkt aus derÄquivalenz

P ∈ K ∪ K′ ⇐⇒ κK(P) = 0 und κK′(P) = 0⇐⇒ κK(P) = 0 und κK(P) = κK′(P)⇐⇒ P ∈ K ∪ pK,K′ ,

und die zweite Gleichung folgt aus Symmetriegründen.

Dies ist nun der geeignete Moment, um die Kreis-Kreis-Schnitt-Eigenschaft 4.5 zumindest fürdie euklidische Standardebene zu zeigen.

(?) Beweis von Satz 4.5 für die euklidische Standardebene E. Seien K = Kr(M) und K′ = Kr′(M′)zwei Kreise mit M, M′ ∈ R2 und r, r′ ∈ R>0, so dass K einen Punkt innerhalb und einen Punktaußerhalb von K′ besitzt. Die Voraussetzung impliziert sofort M 6= M′, denn im Fall M = M′

wäre K = K′, oder die Punkte von K lägen alle innerhalb oder alle außerhalb von K′.

Sei nun P ∈ K innerhalb von K′ und Q ∈ K außerhalb von K′. Wir können ohne Einschränkungannehmen, P liege im Ursprung, dass also P ∨Q = RQ gelte. Wir definieren

εK′ : R→ R, λ 7→ κK′(λQ).

Offenbar ist εK′ eine stetige Funktion mit εK′(0) = κK′(P) < 0 und εK′(1) = κK′(Q) > 0. Ausdem Zwischenwertsatz folgt die Existenz eines µ ∈ (0, 1) mit εK′(µ) = 0. Wir definieren nunanalog

εK : R→ R, λ 7→ κK(λQ).

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143 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Dies ist eine ebenfalls stetige Funktion mit den Eigenschaften εK(0) = εK(1) = 0 und εK(λ) < 0für λ ∈ (0, 1); insbesondere ist εK(µ) < 0. Die Differenzfunktion δK,K′ := εK − εK′ ist offenbarstetig, und es gilt

δK,K′(0) = εK(0)− εK′(0) > 0 und δK,K′(µ) = εK(µ)− εK′(µ) < 0.

Aus dem Zwischenwertsatz erhalten wir die Existenz eines ν ∈ (0, µ) mit δK,K′(ν) = 0. Setzenwir R := νQ, so folgt wegen εK(ν) = εK′(ν) sofort κK(R) = κK′(R), also ist R ∈ pK,K′ . WegenεK(ν) < 0 ist κK(R) < 0, der Punkt R liegt also im Inneren von K. Somit hat die PotenzgeradepK,K′ einen Punkt im Inneren von K. Nach Proposition 4.68 ist pK,K′ eine Sekante von K, was|pK,K′

∪ K| = 2 impliziert. Mittels Proposition 4.72 erhalten wir |K ∪ K′| = 2.

Satz 4.73 (Zwei-Sehnen-Satz, E). Sei K = Kr(M) ein Kreis mit M ∈ R2 und r ∈ R>0, und seiP ∈ R2 r K ein Punkt. Sei weiter g eine Sekante von K durch P mit g ∪ K = {A, B}. Dann gilt

‖P− A‖ · ‖P− B‖ = |κK(P)|,

für alle durch P verlaufenden Sekanten von K ist also das Produkt der so genannten Sehnenabschnittegleich.

Abbildung 4.5: Eine Sehne eines Kreises K ist die Menge der Punkte auf einer Sekante, diezwischen deren beiden Schnittpunkten mit K liegen.

Beweis. Sei gP,v eine Sekante durch P mit ‖v‖ = 1. Genau dann liegt Q := P + λv im Durch-schnitt gP,v

∪ K, wenn

0 = ‖v‖2 · λ2 + 2〈P−M | v〉 · λ +(‖P−M‖2 − r2)

= λ2 + 2〈P−M | v〉 · λ + κK(P)

gilt; das ist genau wie im Beweis von Proposition 4.68. Da gP,v ja eine Sekante von K ist, hatdiese quadratische Gleichung in λ zwei reelle Lösungen λ1 6= λ2. Es gilt also κK(P) = λ1 · λ2und ohne Einschränkung A = P + λ1v und B = P + λ2v. Es folgt die Behauptung

‖P− A‖ · ‖P− B‖ = ‖λ1v‖ · ‖λ2v‖ = |λ1 · λ2| = |κK(P)|.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 144

Satz 4.74 (Sehnen-Tangenten-Satz, E). Sei K = Kr(M) ein Kreis mit M ∈ R2 und r ∈ R>0, und seiP ∈ R2 ein Punkt außerhalb von K. Seien weiter g eine Sekante von K durch P mit g ∪ K =: {A, B}und t eine Tangente an K durch P mit t ∪ K =: {C}. Dann gilt

‖P− A‖ · ‖P− B‖ = ‖P− C‖2 = κK(P).

Beweis. Nach dem Zwei-Sehnen-Satz 4.73 ist nur das zweite Gleichheitszeichen zu zeigen. Des-sen Beweis erfolgt analog, außer, dass es statt zwei verschiedenen Nullstellen λ1, λ2 der qua-dratischen Gleichung nurmehr eine doppelte Nullstelle µ gibt.

Wir wollen nun Kreise dazu verwenden, Dreiecke genauer zu studieren, und zeigen zunächstVerschärfungen von Inkreis- und Umkreissatz aus Abschnitt 3.9.

(?) Satz 4.75 (E). (a) Mit Ausnahme seiner Eckpunkte liegen alle Punkte auf den Seiten eines Drei-ecks innerhalb seines Umkreises.

(b) Mit Ausnahme der Lotfußpunkte des Inkreismittelpunkts auf den Dreiecksseiten liegen alle Punk-te auf den Seiten eines Dreiecks außerhalb seines Inkreises.

Beweis. Der Umkreismittelpunkt des Dreiecks4ABC sei im Weiteren mit U, der Inkreismittel-punkt mit I bezeichnet.

Wir können jeden Punkt P des Dreiecks4ABC darstellen in baryzentrischen Koordinaten

P = λA + µB + νC mit λ, µ, ν ≥ 0 und λ + µ + ν = 1,

denn: Liegt P auf der Seite AB, so gilt offenbar P = λA + µB mit λ, µ ≥ 0 und λ + µ = 1.Die Behauptung in diesem Fall folgt mit ν := 0. Die Fälle, dass P auf der Seite BC oder CAliegt, behandelt man genauso. Tatsächlich kann man ohne viel Mehraufwand zeigen, dass sichjeder Punkt der abgeschlossenen Dreiecksfläche wie behauptet in baryzentrischen Koordinatenschreiben lässt. #

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145 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Nach dem Umkreissatz 3.88 liegen die Eckpunkte A, B, C auf dem Umkreis. Nennen wir denRadius des Umkreises also r, so gilt

‖P−U‖ = ‖λA + µB + νC−U‖= ‖λ(A−U) + µ(B−U) + ν(C−U)‖≤ λ ‖A−U‖+ µ ‖B−U‖+ ν ‖C−U‖= (λ + µ + ν)r = r,

wobei die Dreiecksungleichung genau dann zu einer Gleichheit entartet, wenn zwei der dreiVorfaktoren λ, µ, ν trivial sind. Insgesamt liegen also mit Ausnahme der Eckpunkte alle Drei-eckspunkte im Inneren des Umkreises.

Nach dem Inkreissatz 3.90 liegen die Lotfußpunkte LA∨B I, LB∨C I und LC∨A I auf dem Inkreis.Da nach Definition die Dreiecksseiten in den Lotfußpunkten senkrecht auf den Loten stehen,sind nach dem Korollar von Proposition 4.68 die Geraden A∨ B, A∨C und B∨C Tangenten anden Inkreis. Tatsächlich liegt daher jeder Punkt auf einer Seite des Dreiecks 4ABC außerhalbdes Inkreises desselben,

denn: Nach Proposition 4.68 gilt für einen beliebigen Punkt P ∈ (A ∨ B)r {LA∨B I} die Ab-schätzung ‖P− I‖ > r, so dass P außerhalb des Inkreises liegt. Analog zeigt man, dass allePunkte in (C ∨ A)r {LC∨A I} und in (B ∨ C)r {LB∨C I} außerhalb des Inkreises liegen. DieBehauptung folgt leicht. #

(?) Bemerkung 4.76. Es ist festzuhalten, dass Satz 4.75 keine Aussage darüber trifft, ob die Punktedes Umkreises bzw. Inkreises im Sinne von Definition 3.42 außerhalb bzw. innerhalb des Dreiecks liegen.Dies gilt zwar, wir wollen die zugehörigen Beweise hier aber nicht durchführen.

Satz 4.77 (Peripheriewinkelsatz, E). Seien A 6= B ∈ R2 Punkte auf dem Kreis Kr(U) um einenPunkt U ∈ R2 mit einem Radius r ∈ R>0. Seien weiter die Seiten der Gerade A ∨ B mit S1 und S2bezeichnet. Dann gilt für einen von A und B verschiedenen Punkt C ∈ Kr(U)

∪ S1

]ACB =

12]AUB für U ∈ S1,π2 für U ∈ A ∨ B,π − 1

2]AUB für U ∈ S2.

Insbesondere ist die Winkelgröße ]ACB nicht von der Wahl des Punkts C ∈ Kr(U)∪ S1 abhängig.

]ACB heißt auch der Peripheriewinkel19 des Kreisbogens Kr(U)∪ S2.

19Strenggenommen müssten wir natürlich von der Peripheriewinkelgröße sprechen.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 146

Abbildung 4.6: U und die drei Punkte C1, C2, C3 liegen auf der selben Seite von A ∨ B. Diemarkierten drei Winkel sind also kongruent.

Beweis. Sei C ∈ Kr(U)∪ S1 ein beliebiger aber fest gewählter Punkt. Dann unterteilt das Drei-

eck4ABC nach Satz 4.75 das Innere des Kreises in vier durch die Lage auf den verschiedenenSeiten von A ∨ B, A ∨ C und B ∨ C definierte Teile und die drei Dreieckskanten AB, AC undBC selbst. So ergeben sich für den Beweis des Satzes sieben Fälle, von denen wir hier allerdingsnur einen behandeln wollen. Die übrigen Fälle werden in Übungsaufgabe 4.22 behandelt.

Liege dafür U im Sinne von Bemerkung 4.76 im Inneren des Dreiecks 4ABC. Nach dem Satzvon der Winkelsumme 4.58 für das Dreieck4AUB gilt

]AUB = π −]UAB−]UBA.

Da U insbesondere im Inneren der Winkel ∠CAB und ∠CBA liegt, gelten nach Proposition 4.56

]UAB = ]CAB−]CAU und ]UBA = ]CBA−]CBU.

Eingesetzt erhalten wir

]AUB = π − (]CAB−]CAU)− (]CBA−]CBU)

= (π −]CAB−]CBA) + (]CAU +]CBU).

Mit dem Satz von der Winkelsumme 4.58 für das Dreieck4ABC folgt

]AUB = ]ACB + (]CAU +]CBU).

Nun ist U auch der Umkreismittelpunkt des Dreiecks 4ABC, so dass ‖U − A‖ = ‖U − B‖ =‖U − C‖ gilt und also die Dreiecke4AUC und4BUC gleichschenklig sind.

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147 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Insbesondere gilt nach Proposition 3.71

∠CAU ' ∠ACU und ∠CBU ' ∠UCB.

Setzen wir dies ein, erhalten wir

]AUB = ]ACB + (]ACU +]UCB) = 2]ACB,

wobei wir für das letzte Gleichheitszeichen verwendet haben, dass U auch im Inneren desWinkels ∠ACB liegt. Damit ist die Behauptung in diesem Fall bewiesen.

Korollar 4.78 (Satz des Thales, E). Seien A, U, B ∈ R2 drei Punkte mit A ? U ? B und ‖U − A‖ =‖U − B‖. Ist dann C ∈ R2 ein dritter Punkt auf dem Kreis K(U, A), so ist der Winkel ∠ACB einrechter.

Beweis. Das ist gerade der Peripheriewinkelsatz für U ∈ A ∨ B.

Satz 4.79 (Verschärfung des Sinussatzes, E). Sei 4ABC ein Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, γ),Seitenlängen (a, b, c) und Umkreis Kr(U). Dann gilt

2r =a

sin α=

bsin β

=c

sin γ.

Beweis. Ohne Einschränkung liege U auf der selben Seite von A ∨ B wie C.20 Nach dem bereitsgezeigten Sinussatz 4.61 genügt es für den Beweis des Satzes sin γ = c

2r zu zeigen. Da U und Cauf der selben Seite von A ∨ B liegen, liegt der zweite Schnittpunkt C′ der Geraden B ∨U mitdem Kreis Kr(U) auch auf der selben Seite wie C.

Nach dem Peripheriewinkelsatz 4.77 gilt also weiterhin ]AC′B = γ. Andererseits ist abera′ := ‖C′ − B‖ = 2r leicht zu berechnen, und nach dem Satz des Thales 4.78 ist ∠C′AB einrechter Winkel. Da nach Korollar 4.62 der Sinus eines Winkels in rechtwinkligen Dreiecken als

20Ist dies nicht der Fall, so liegt U zwangsläufig auf der selben Seite von B ∨ C wie A, und wir können nach einerUmbenennung der Punkte A, B, C den selben Beweis führen. Das schließt ausdrücklich auch den Fall mit ein, dassU auf der Strecke AB liegt.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 148

Quotient von Gegenkathete und Hypothenuse ausgedrückt werden kann, gilt die zu zeigendeBeziehung

sin γ =ca′

=c

2r.

Satz 4.80 (Eulergleichung,E). Sei4ABC ein Dreieck mit Schwerpunkt S, Höhenschnittpunkt H undUmkreismittelpunkt U. Dann gilt die Eulergleichung

3S = H + 2U.

Beweis. Nach Definition gilt für den Schwerpunkt 3S = A + B + C. Es folgt

〈3S | B− A〉 = 〈A + B + C | B− A〉 = 〈A + B | B− A〉+ 〈C | B− A〉.

Da der Höhenschnittpunkt insbesondere auf der Höhe hC liegt, folgt mit der Hesse’schen Nor-malform (4.7) von hC die Gleichheit 〈H | B − A〉 = 〈C | B − A〉. Andererseits lässt sich dieHesse’sche Normalform der Mittelsenkrechten mAB über

P ∈ mAB ⇐⇒ P− 12(A + B) ⊥ (B− A) ⇐⇒ 〈P | B− A〉 = 〈1

2(A + B) | B− A〉

herleiten, und mit U ∈ mAB folgt 〈2U | B − A〉 = 〈A + B | B − A〉. Zusammengenommenergibt sich

〈3S | B− A〉 = 〈2U | B− A〉+ 〈H | B− A〉

und somit〈3S− 2U − H | B− A〉 = 0.

Analog kann man 〈3S − 2U − H | C − A〉 = 0 zeigen. Nun sind aber die Punkte A, B, C inallgemeiner Lage, so dass insbesondere B − A und C − A eine Basis von R2 bilden. Es folgt3S− 2U − H = 0 und somit der Satz.

In Übungsaufgabe 4.23 zeigen wir, dass Schwerpunkt, Höhenschnittpunkt und Umkreismittel-punkt genau dann paarweise verschieden sind, wenn das zugehörige Dreieck nicht gleichseitigist. In diesem Fall gilt noch folgende erstaunliche Folgerung.

Korollar 4.81. Sei 4ABC ein nicht gleichseitiges Dreieck mit Schwerpunkt S, Höhenschnittpunkt Hund Umkreismittelpunkt U. Dann gelten die folgenden beiden Aussagen.

(a) H ? S ? U, insbesondere sind die Punkte H, S, U kollinear.

(b) ‖H−S‖‖U−S‖ = 2.

Die Gerade H ∨U heißt die Eulergerade von4ABC.

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149 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Beweis. Aus 3S = H + 2U folgt S = 13 H + 2

3U. Da nach Übungsaufgabe 4.23 in einem nichtgleichseitigen Dreieck der Höhenschnittpunkt und der Umkreismittelpunkt verschieden sind,folgt daraus H ? S ? U sowie

‖H − S‖ =∥∥∥∥2

3H − 2

3U∥∥∥∥ = 2

∥∥∥∥13

H − 13

U∥∥∥∥ = 2 ‖S−U‖ = 2 ‖U − S‖ .

Die folgende Proposition ergibt sich aus einer kurzen Rechnung.

(?) Proposition 4.82. Sei4ABC ein Dreieck mit Seitenmitten

A′ =12(B + C), B′ =

12(C + A) und C′ =

12(A + B).

Dann sind die Punkte A′, B′, C′ in allgemeiner Lage. Das Dreieck 4A′B′C′ heißt das Mittendreieckvon4ABC. Der Umkreis des Mittendreiecks4A′B′C′ heißt der Feuerbachkreis von4ABC.

(?) Satz 4.83 (Feuerbachgleichung). Für ein Dreieck4ABC mit Schwerpunkt S, UmkreismittelpunktU und Feuerbachkreismittelpunkt F gilt

3S = U + 2F.

Beweis. Sei S′ der Schwerpunkt des Mittendreiecks4A′B′C′ von4ABC. Es ist

S′ =13(A′ + B′ + C′) =

13

(12(B + C) +

12(A + C) +

12(A + B)

)=

13(A + B + C) = S. (4.8)

Aufgrund von

A′ − B′ =12(B + C)− 1

2(A + C) =

12(B− A)

sind die Geraden A′ ∨ B′ und A∨ B parallel. Da die Mittelsenkrechte mAB orthogonal zu A∨ Bist, folgt deshalb mit dem starken Wechselwinkelsatz 3.67, dass mAB auch orthogonal zu A′ ∨ B′

ist. Da der Punkt C′ auf mAB liegt, impliziert dies hC′ = mAB. Analog zeigt man hB′ = mAC undhA′ = mBC, die Mittelsenkrechten des Dreiecks 4ABC sind also die Höhen des Mittendrei-ecks 4A′B′C′. Für den Höhenschnittpunkt H′ von 4A′B′C′ erhalten wir deshalb H′ = U. DieEulergleichung 4.80 für das Mittendreieck4A′B′C′ liefert

3S′ = H′ + 2F = U + 2F.

Mit (4.8) folgt die Behauptung 3S = U + 2F.

Die im gerade geführten Beweis erhaltene Identifikation der Mittelsenkrechten von4ABC mitden Höhen des Mittendreiecks 4A′B′C′ liefert im Übrigen einen alternativen Beweis dafür,dass sich die Mittelsenkrechten des Dreiecks4ABC in genau einem Punkt schneiden.

(?) Korollar 4.84. Für ein Dreieck4ABC mit Schwerpunkt S, Höhenschnittpunkt H, Umkreismittel-punkt U und Feuerbachkreismittelpunkt F gelten die folgenden Aussagen.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 150

(a) Das Dreieck4ABC ist genau dann gleichseitig, wenn S = H = U = F ist.

(b) Ist4ABC nicht gleichseitig, dann liegt der Punkt F auf der Eulergerade. Genauer gilt

F =12

H +12

U =14

H +34

S, S =23

F +13

U,

und insbesondere H ? F ? S ? U.

Beweis. Aussage (a) ergibt sich direkt aus Übungsaufgabe 4.23: Aus S = H = U folgt sofort dieGleichseitigkeit des Dreiecks4ABC. Ist umgekehrt4ABC gleichseitig, so gilt S = H = U undmit der Feuerbachgleichung 4.83 deshalb 2F = 3S−U = 2S und insbesondere F = S.

Im Folgenden sei das Dreieck 4ABC nicht gleichseitig. Aus Eulergleichung 4.80 und Feuer-bachgleichung 4.83 erhalten wir

U + 2F = 3S = H + 2U

und damitF =

12

H +12

U und S =23

F +13

U.

Des Weiteren ist 2U + 4F = 6S, was

4F− H = (2U + 4F)− (H + 2U) = 3S

und somitF =

14

H +34

S

impliziert.

(?) Proposition 4.85. Sei4ABC ein Dreieck mit Umkreisradius r und Feuerbachkreisradius r′. Danngilt

r′ =12

r.

Beweis. Aus der Feuerbachgleichung 4.83 erhalten wir

0 = 3S−U − 2F = A + B + C−U − 2F = A−U + 2(

12(B + C)− F

)und somit U−A = 2(A′− F), wobei wir wie üblich A′ = 1

2 (B+C) gesetzt haben. Insbesondereist

‖A−U‖ = 2∥∥A′ − F

∥∥und deshalb r = 2r′.

(?) Satz 4.86. Auf dem Feuerbachkreis eines beliebigen Dreiecks4ABC liegen

� die Seitenmitten A′, B′, C′,

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151 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

� die Fußpunkte der Höhen hA, hB, hC,

� die Mitten der Höhenabschnitte zwischen dem Höhenschnittpunkt H und dem jeweiligen Eck-punkt, also 1

2 (H + A), 12 (H + B), 1

2 (H + C).

Aus diesem Grund wird der Feuerbachkreis auch der Neunpunktekreis genannt.

Beweis. Die Seitenmitten A′, B′, C′ liegen nach Definition des Feuerbachkreises auf demselben.Auch die Mitten der Höhenabschnitte liegen auf dem Feuerbachkreis,

denn: Nach Korollar 4.84 ist H = 4F− 3S und deshalb∥∥∥∥F− 12(H + A)

∥∥∥∥ =

∥∥∥∥F− 12(4F− 3S + A)

∥∥∥∥ =

∥∥∥∥F− 12(4F− (B + C))

∥∥∥∥ =

∥∥∥∥F− 12(B + C)

∥∥∥∥=∥∥F− A′

∥∥ .

Mit A′ liegt dann auch 12 (H + A) auf dem Feuerbachkreis von 4ABC. Die Argumentation für

die Punkte 12 (H + B) und 1

2 (H + C) verläuft analog. #

Es bleibt zu zeigen, dass die Höhenfußpunkte auf dem Feuerbachkreis liegen. Für den Fall,dass das Dreieck 4ABC gleichseitig ist, ist dies unmittelbar klar, denn dann stimmen der Hö-henschnittpunkt H und der Umkreismittelpunkt U überein, und somit sind die Fußpunkte derHöhen gerade die Seitenmitten A′, B′, C′. Ohne Einschränkung sei daher das Dreieck 4ABCnicht gleichseitig. Sei e seine Eulergerade, und sei P der Höhenfußpunkt von hC. Ist die Geradee orthogonal zur Geraden g := A ∨ B, so stimmt die Eulergerade e mit der MittelsenkrechtenmAB überein. Weil der Höhenschnittpunkt H auf e liegt, stimmt dann der Höhenfußpunkt Pmit dem Punkt C′ überein, und P liegt auf dem Feuerbachkreis. Ohne Einschränkung sei daherim Folgenden die Gerade e nicht orthogonal zu Gerade g. Sei Q der Fußpunkt des Lotes von Fauf g. Es ist Q = 1

2 (P + C′),

denn: Wir setzen s := mAB. Offenbar ist

P = πe,gs (H), Q = π

e,gs (F), C′ = π

e,gs (U).

Nach Korollar 4.84 gilt F = 12 (H + U) und insbesondere HF ∼= UF. Aus Satz 4.23 ergibt sich

PQ ∼= C′Q. Somit erhalten wir Q = 12 (P + C′). #

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 152

Bei Spiegelung an der durch den Mittelpunkt F des Feuerbachkreises verlaufenden Geraden`gF wird der Feuerbachkreis in sich überführt. Da der Punkt C′ auf dem Feuerbachkreis liegtund der Punkt Q auf der Gerade `gF, folgt aus Q = 1

2 (P + C′) und der Orthogonalität derGeraden `gF und g, dass der Punkt P ebenfalls auf dem Feuerbachkreis liegt. Analog zeigtman, dass auch die anderen Höhenfußpunkte auf dem Feuerbachkreis liegen.

Übungsaufgaben

Aufgabe 4.1 (H + V). Seien M 6= A ∈ P zwei verschiedene Punkte und H = H1(M, A) ein Halbkreismit der Anordnung � (vgl. Übungsaufgabe 3.19). Ein Dedekindschnitt von H ist ein Paar (S, T)nichtleerer Teilmengen von P mit

(i) S ·∪ T = H,

(ii) sind P 6= Q ∈ S und R ∈ H mit P � R �Q, so gilt R ∈ S,

(iii) sind P 6= Q ∈ T und R ∈ H mit P � R �Q, so gilt R ∈ T.

Zeigen Sie, dass es für jeden Dedekindschnitt (S, T) von H einen eindeutigen Punkt P ∈ H gibt, sodass für alle B ∈ S, C ∈ T genau eine der folgenden Ausssagen gilt

P = B, P = C oder B � P � C.

Hinweis: Übertragen Sie zunächst die Aussage des Vollständigkeitsaxioms (V) auf Strecken und ver-wenden Sie anschließend Teil (c) von Übungsaufgabe 3.19, um die Aussage für Halbkreise zu zeigen.

Aufgabe 4.2 (H + P). Sei K = K(M, A) ein Kreis mit A 6= M ∈ P. Dann gelten die folgendenAussagen.

(a) Liegt B ∈ P innerhalb von K und ist r ∈ S mit [MB] + r < [MA], dann gibt es einen PunktP ∈ P, so dass K(B, P) innerhalb von K liegt und [BP] = r ist.

(b) Liegt C ∈ P außerhalb von K und ist r ∈ S mit [MA] + r < [MC], dann gibt es einen PunktQ ∈ P, so dass K(C, Q) außerhalb von K liegt und [CQ] = r ist.

Aufgabe 4.3 (E). Sei K = K(M, A) ein Kreis mit A 6= M ∈ P, und sei g ∈ G eine Gerade, die einenPunkt innerhalb von K besitzt. Zeigen Sie mithilfe der Übungsaufgaben 3.17 und 4.2, dass sich g undK dann in genau zwei Punkten schneiden.

Aufgabe 4.4 (I + A + K). Es seien a, b, c, d ∈ S. Zeigen Sie folgende Aussagen.

(a) a < a + b,

(b) Ist a < b, dann ist a + c < b + c.

(c) Ist a < c und b < d, dann ist a + b < c + d.

(d) Ist a < b, dann existiert genau ein x ∈ S mit a + x = b.

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153 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Aufgabe 4.5 (H). Seien A, B, C ∈ P und A′, B′, C′ ∈ P je drei Punkte in allgemeiner Lage. Es gelteAB ∼= A′B′, AC ∼= A′C′ und ∠B′A′C′ < ∠BAC. Zeigen Sie, dass dann B′C′ < BC gilt.

Hinweis: Überlegen Sie sich zunächst, dass ohne Einschränkung A = A′ und B = B′ angenommenwerden kann und zusätzlich, dass C und C′ auf der selben Seite von A ∨ B liegen. Betrachten Sie danndie Winkelhalbierende von ∠CAC′.

Aufgabe 4.6 (H). Seien K = K(M, A) und K′ = K(M′, A′) zwei Kreise, so dass K einen Punktinnerhalb und einen Punkt außerhalb von K′ besitzt. Zeigen Sie, dass dann M 6= M′ gilt, und dassdie Gerade M ∨M′ den Kreis K in genau zwei Punkten schneidet, von denen einer innerhalb und eineraußerhalb von K′ liegt.

Aufgabe 4.7 (H + V). Das Ziel dieser Aufgabe ist es, die Kreis-Kreis-Schnitt-Eigenschaft 4.5 zu zeigen,dass sich also zwei Kreise K = K(M, A) und K′ = (M′, A′), so dass K einen Punkt innerhalb und einenPunkt außerhalb von K′ besitzt, in genau zwei Punkten schneiden. Wir gehen dabei wie folgt vor.

(a) Zeigen Sie mithilfe von Übungsaufgabe 4.6, dass wir ohne Einschränkung annehmen können,dass A auf M ∨M′ und innerhalb von K′ liegt und dass es genügt zu zeigen, dass die HalbkreiseH1(M, A) und H2(M, A) (vgl. Übungsaufgabe 3.19) jeweils einen eindeutigen Schnittpunkt mitK′ haben.

Im Folgenden sei H := Hi(M, A) für ein i ∈ {1, 2}.

(b) Zeigen Sie unter Verwendung von Übungsaufgabe 4.5, dass (S, T) mit

S := {P ∈ H | P liegt innerhalb von K′ oder auf K′},T := {P ∈ H | P liegt außerhalb von K′}

ein Dedekindschnitt von H im Sinne von Übungsaufgabe 4.1 ist.

(c) Verwenden Sie Übungsaufgabe 4.1, um zu zeigen, dass es einen eindeutigen Punkt P ∈ H gibt,so dass für alle B ∈ S, C ∈ T genau eine der folgenden Aussagen gilt

P = B, P = C oder B � P � C.

Zeigen Sie, dass P ∈ K′ gilt und P der eindeutige Schnittpunkt von H mit K′ ist.

Aufgabe 4.8 (H + V). Beweisen Sie die Kreis-Geraden-Schnitt-Eigenschaft 4.6, zeigen Sie also, dasssich ein Kreis K = K(M, A) ⊆ P und eine Gerade g ∈ G, so dass g einen Punkt innerhalb von Kbesitzt, in genau zwei Punkten schneiden.

Hinweis: Der Fall einer Geraden durch den Mittelpunkt wird in Proposition 3.87 behandelt. Im FallM 6∈ g gibt es einen eindeutigen Punkt M′ ∈ P mit M ? Lg M ? M′ und MLg M ∼= M′Lg M. WendenSie die Kreis-Kreis-Schnitt-Eigenschaft 4.5 auf einen geeigneten Kreis K′ mit Mittelpunkt M′ sowie Kan.

Aufgabe 4.9 (H). Sei ϕ : P→ P eine bijektive Abbildung mit AB ∼= ϕ(A)ϕ(B) für alle A 6= B ∈ P.

(a) Zeigen Sie unter Verwendung der Dreiecksungleichung 4.17, dass ϕ eine Bewegung ist.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 154

(b) Folgern Sie aus (a) sowie Übungsaufgabe 3.16, dass die HilbertebeneH genügend viele Bewegun-gen besitzt.

Bemerkung: Zusammen mit Satz 3.46 ergibt sich somit, dass eine ebene Geometrie, die die Anord-nungsaxiome sowie die Kongruenzaxiome (K1) bis (K5) erfüllt, genau dann eine Hilbertebene ist, wennsie genügend viele Bewegungen besitzt.

Aufgabe 4.10 (H). (a) Zeigen Sie, dass jede Bewegung ϕ : P → P, die mindestens drei Fixpunktein allgemeiner Lage besitzt, bereits die Identität ist.

(b) Folgern Sie aus (a), dass sich jede Bewegung als Verkettung von höchstens drei Spiegelungen (vgl.Übungsaufgabe 3.16) schreiben lässt.

Bemerkung: Aus (b) folgt insbesondere, dass die Menge aller Bewegungen einer Hilbertebene bezüglichder Verkettung eine Gruppe bildet und diese Gruppe von der Menge aller Spiegelungen {Sg | g ∈ G}erzeugt wird.

Aufgabe 4.11 (H + P). Führen Sie den Beweis der restlichen Fälle in Lemma 4.22 aus.

Aufgabe 4.12 (H). Beweisen Sie Proposition 4.25.

Aufgabe 4.13 (E). Beweisen Sie die Rückrichtung (ii) =⇒ (i) von Korollar 4.37.

Aufgabe 4.14 (E). Sei e ∈ S fest gewählt, und seien A1, B1, C1 ∈ P und A2, B2, C2 ∈ P je drei Punktein allgemeiner Lage. Zeigen Sie, dass dann die folgenden Aussagen äquivalent sind.

(i) Die Dreiecke4A1B1C1 und4A2B2C2 sind ähnlich.

(ii) Es gilt ∠B1 A1C1 ' ∠B2 A2C2 undde(A1, B1)

de(A2, B2)=

de(A1, C1)

de(A2, C2).

Aufgabe 4.15 (H+P). Seien g, h ∈ G mit g ⊥ h. Dann ist die Abbildung

ωg,h : P→ g× h, P 7→ (LgP, LhP)

bijektiv.

Aufgabe 4.16 (Tangenssatz, E). Zeigen Sie für ein Dreieck 4ABC mit Winkelgrößen (α, β, γ) undSeitenlängen (a, b, c) die folgenden Gleichungen.

a + ba− b

=tan( 1

2 (α + β))

tan( 12 (α− β))

,

b + cb− c

=tan( 1

2 (β + γ))

tan( 12 (β− γ))

,

c + ac− a

=tan( 1

2 (γ + α))

tan( 12 (γ− α))

.

Hierbei bezeichnet tan den auf (−π2 , π

2 ) definierten Tangens tan(x) := sin(x)cos(x) .

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155 Kapitel 4. Euklidische Ebenen

Aufgabe 4.17 (E). Sei4ABC ein Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, γ) und Seitenlängen (a, b, c). Seienweiter U = 1

2 (a + b + c) der halbe Umfang von 4ABC sowie F = 12 ab · sin(γ) der Flächeninhalt

von4ABC.

(a) Zeigen Sie die Heron’sche Formel F2 = U · (U − a) · (U − b) · (U − c).

(b) Folgern Sie aus (a) die Abschätzung

F ≤ 112√

3(a + b + c)2,

bei der Gleichheit genau dann gelte, wenn das Dreieck4ABC gleichseitig ist.

Hinweis: Sie dürfen ohne Beweis die Ungleichung vom arithmetischen und geometrischen Mittelverwenden.

Aufgabe 4.18 (E). Sei 4ABC ein rechtwinkliges Dreieck mit Winkelgrößen (α, β, π2 ) und ganzzah-

ligen Seitenlängen (a, b, c) ∈ Z × Z × Z. Zeigen Sie, dass das Produkt abc dann durch 60 teilbarist.

Hinweis: Zeigen Sie die Teilbarkeit von abc durch 3, 4 und 5 getrennt.

Aufgabe 4.19 (E). Zeigen Sie, dass es kein gleichseitiges Dreieck4ABC mit Eckpunkten A, B, C ∈ Z2

gibt.

Hinweis: Zeigen Sie induktiv, dass ansonsten die quadrierten Seitenlängen durch eine beliebig großePotenz von 4 teilbar sein müssten.

Aufgabe 4.20 (E). Sei K = Kr(M) ein Kreis mit M ∈ R2 und r ∈ R>0, und sei P ∈ R2 ein Punktaußerhalb von K. Dann gelten die folgenden beiden Aussagen.

(a) Es gibt genau zwei Tangenten t1, t2 an K durch P.

(b) Ist t1∪ K =: {A} und t2

∪ K =: {B}, so ist M ∨ P die Winkelhalbierende von ∠APB.

Aufgabe 4.21 (Satz von Monge,E). Es seien M, M′, M′′ ∈ R2 paarweise verschieden sowie r, r′, r′′ ∈R>0. Für die drei Kreise K := Kr(M), K′ := Kr′(M′), K′′ := Kr′′(M′′) gilt

(a) M, M′, M′′ sind genau dann kollinear, wenn die Potenzgeraden pK,K′ , pK,K′′ , pK′,K′′ alle parallelzueinander sind.

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4.10. Kreise in der euklidischen Ebene 156

(b) M, M′, M′′ sind genau dann in allgemeiner Lage, wenn sich die drei PotenzgeradenpK,K′ , pK,K′′ , pK′,K′′ in genau einem Punkt schneiden.

Aufgabe 4.22 (E). Zeigen Sie die übrigen Fälle im Beweis des Peripheriewinkelsatzes 4.77.

Aufgabe 4.23. Sei4ABC ein Dreieck mit Schwerpunkt S, Höhenschnittpunkt H und Umkreismittel-punkt U. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent.

(i) Zwei der drei Punkte S, H, U stimmen überein.

(ii) S = H = U.

(iii) 4ABC ist gleichseitig, es gilt also ‖A− B‖ = ‖B− C‖ = ‖C− A‖.

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KAPITEL 5

Nichteuklidische ebene Geometrie

In diesem Kapitel wollen wir nach Poincaré zwei Modelle der hyperbolischen Ebene studieren,und so eine Hilbertebene mit Vollständigkeitsaxiom (V) kennenlernen, die das Parallelenaxi-om (P) nicht erfüllt. Hiermit ist dann auch klar, dass das historisch ungeliebte Parallelenaxiomfür die Definition der Euklidischen Ebene tatsächlich gebraucht wird.

Das Poincaré’sche Kreismodell wird über einen Kreis in der Euklidischen Standardebene Eeingeführt. Bevor wir dies tun, wollen wir daher noch einige nützliche Konzepte im Kontextzu Kreisen in E einführen.

5.1 Inversion am Kreis

Definition 5.1 (E). Für einen Kreis Kr(M) definieren wir eine Abbildung σr,M : R2 r {M} → R2 r{M}, indem wir jedem A ∈ R2 r {M} den eindeutig bestimmten Punkt σr,M(A) auf dem Strahl # „

MAmit

‖M− A‖ · ‖M− σr,M(A)‖ = r2

zuordnen. Die Abbildung σr,M heißt die Inversion oder auch Spiegelung am Kreis Kr(M), undσr,M(A) heißt das bezüglich Kr(M) zu A Inverse.

157

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5.1. Inversion am Kreis 158

Unmittelbar aus Definition 5.1 folgt

Proposition 5.2 (E). Für die Spiegelung am Kreis Kr(M) gelten die folgenden beiden Aussagen.

(a) σr,M ◦ σr,M = idR2r{M}. Insbesondere ist σr,M bijektiv und zu sich selbst invers.

(b) σr,M bildet Punkte im Inneren von Kr(M) auf Punkte außerhalb von Kr(M) ab und umgekehrt.Punkte auf Kr(M) werden auf sich selbst abgebildet.

Proposition 5.3 (E). Sei A ∈ R2 r {M} ein Punkt innerhalb des Kreises Kr(M). Seien weiter P undQ die Schnittpunkte der Lotgeraden `A∨M A mit Kr(M) und tP bzw. tQ die Tangenten an Kr(M) in Pbzw. Q. Dann schneiden sich die drei Geraden tP, tQ und A ∨M im Punkt σr,M(A).

Beweis. Aus Symmetriegründen haben die drei Geraden tP, tQ und A∨M einen gemeinsamenSchnittpunkt S,

denn: Der Schnittpunkt von A ∨ M mit tP heiße SP, der mit tQ entsprechend SQ. WegenMP ∼= MQ ist das Dreieck 4MPQ gleichschenklig. Nach dem SSrW-Kriterium 3.85 sind da-her die Dreiecke 4MAP und 4MAQ kongruent, insbesondere gilt ∠PMA ' ∠QMA. Nachdem WSW-Kriterium 3.73 sind schließlich auch die Dreiecke4MPSP und4MQSQ kongruent,insbesondere gilt MSP

∼= MSQ und somit die Behauptung. #

Die beiden rechtwinkligen Dreiecke 4MAP und 4MPS haben die selbe Winkelgröße bei M.Mit Korollar 4.62 folgt

‖M− A‖‖M− P‖ =

‖M− P‖‖M− S‖ ,

also‖M− A‖ · ‖M− S‖ = ‖M− P‖2 = r2.

Da σr,M(A) der einzige Punkt auf dem Strahl# „MA mit dieser Eigenschaft ist, gilt S = σr,M(A)

und somit die Behauptung.

Proposition 5.3 liefert offensichtlich für Punkte im Inneren eines Kreises eine Konstruktion vonInversen bezüglich dieses Kreises. Auf nahe liegende Weise lässt sich diese Konstruktion auchauf Punkte außerhalb des Inversionskreises ausdehnen: Hier gilt es zunächst die Tangenten zu

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159 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

konstruieren21 und die Verbindungsgerade ihrer Berührpunkte mit der Verbindungsgeradendes zu spiegelnden Punktes mit dem Kreismittelpunkt zu schneiden.

Proposition 5.4 (E). Sei Kr(M) ein Kreis, A ∈ R2 r {M}, g ∈ GR eine Gerade mit M ∈ g, h ∈ GR

eine Gerade mit M 6∈ h und K ein Kreis durch M. Dann gelten die folgenden Aussagen.

(a) σr,M(# „MA r {M}) = # „

MA r {M},(b) σr,M(g r {M}) = g r {M},(c) σr,M(h) ist ein Kreis durch M, bei dem der Punkt M entfernt ist,

(d) σr,M(K r {M}) ist eine Gerade, die nicht durch M geht.

Beweis. Behauptung (a) folgt unmittelbar aus der Definition von σr,M und aus σr,M ◦ σr,M =idR2r{M}, und Behauptung (b) folgt direkt aus (a).

Zum Beweis von Behauptung (c) betrachten wir nun das Bild L′ := σr,M(L) des LotfußpunktesL := Lh M und den Kreis Ks(M′) mit M′ := 1

2 (M + L′) und s := ‖L′ −M′‖.

Zu zeigen ist σr,M(h) = Ks(M′)r {M}. Sei dafür zunächst P ∈ h beliebig. Dann hat die GeradeM ∨ P noch einen zweiten Schnittpunkt Q mit dem Kreis Ks(M′),

denn: Sonst wäre M∨ P die Tangente an Ks(M′) in M und stünde somit senkrecht auf M∨M′ =`h M. Dann wären h und M ∨ P parallele Geraden durch P, also identisch. Das kann nicht sein,da dann M auf h läge. #

Nach dem Satz von Thales 4.78 ist ∠MQL′ ein rechter Winkel. Andererseits ist nach Konstruk-tion ∠MLP ein rechter Winkel, so dass mit Korollar 4.62

‖M−Q‖‖M− L′‖ =

‖M− L‖‖M− P‖

folgt. Mit L′ = σr,M(L) erhalten wir

‖M− P‖ · ‖M−Q‖ = ‖M− L‖ ·∥∥M− L′

∥∥ = r2

21Etwa als Schnitt des Inversionskreises mit dem „Thaleskreis“ über der Verbindungsstrecke zwischen zu spie-gelndem Punkt und Kreismittelpunkt; man vergleiche auch mit dem Beweis von Teil (c) von Proposition 5.4

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5.1. Inversion am Kreis 160

und somit Q = σr,M(P). Wir haben also gezeigt, dass für einen beliebigen Punkt P ∈ h dasInverse auf dem Kreis Ks(P) liegt.

Für einen beliebigen Punkt Q ∈ Ks(M′)r {M} sind umgekehrt die Geraden M∨Q und h nichtparallel,

denn: Sonst stünde M ∨ Q orthogonal auf M ∨ M′ und wäre somit eine Tangente an Ks(M′),was nicht sein kann, da M ∨ Q ja zwei voneinander verschiedene Schnittpunkte mit Ks(M′)hat. #

Bezeichnen wir den Schnittpunkt von M∨Q und h mit P, dann sind wieder∠MQL′ und∠MLPrechte Winkel, und mit der selben Argumentation wie gerade eben folgt Q = σr,M(P) ∈ σr,M(h).Insgesamt haben wir somit Behauptung (c) gezeigt.

Behauptung (d) zeigt man analog zu Behauptung (c).

Proposition 5.5 (E). Für einen Kreis K und eine Sekante g ∈ GR an K sind die folgenden Aussagenäquivalent.

(i) Die Tangente an K in einem der beiden Schnittpunkte von K mit g ist orthogonal zu g.

(ii) Die Sekante g geht durch den Mittelpunkt von K geht.

(iii) Die Tangenten an K in beiden Schnittpunkten von K mit g sind orthogonal zu g.

Ist dies der Fall, so sagen wir, K und g seien orthogonal zueinander.

Beweis. Seien M der Mittelpunkt von K, P und Q die Schnittpunkte von K mit g und tP und tQdie jeweiligen Tangenten an K in P bzw. Q.

Gelte zunächst Aussage (i), sei also etwa tP orthogonal zu g. Da tP zudem orthogonal auf M∨ Psteht, folgt g ‖ (M ∨ P). Da beide Geraden den Punkt P gemeinsam haben, erhalten wir g =M ∨ P und somit Aussage (ii).

Nun gelte Aussage (ii), also g = M ∨ P = M ∨ Q. Da tP orthogonal auf M ∨ P steht und tQorthogonal auf M ∨Q, ergibt sich unmittelbar Aussage (iii).

Da aus Aussage (iii) trivialerweise Aussage (i) folgt, ist damit die Proposition bewiesen.

Proposition 5.6 (E). Für zwei Kreise K und K′ mit |K ∪ K′| = 2 sind die folgenden Aussagenäquivalent.

(i) Die Tangenten an K und K′ in einem ihrer Schnittpunkte sind orthogonal zueinander.

(ii) Die Tangenten an K und K′ in ihren beiden Schnittpunkten sind orthogonal zueinander.

Ist dies der Fall, so sagen wir, K und K′ seien orthogonal zueinander.

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161 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

Beweis. Seien P und Q die Schnittpunkte von K und K′, und seien tP und t′P die jeweiligenTangenten an K bzw. K′ in P und tQ und t′Q die jeweiligen Tangenten an K bzw. K′ in Q.

Nach dem SSS-Kriterium 3.73 sind die Dreiecke 4MPM′ und 4MQM′ kongruent. Stehen tPund t′P orthogonal zueinander, so gilt offensichtlich tP = M ∨ P und t′P = M′ ∨ P. Es ist dann∠MPM′ ' ∠MQM′ ein rechter Winkel. Es folgt, dass M∨Q und M′ ∨Q orthogonal zueinandersind, und dass tQ = M ∨Q und t′Q = M′ ∨Q gelten. Das zeigt die Proposition.

Proposition 5.7 (E). Für zwei Kreise K = Kr(M) und K′ = Kr′(M′) gelten die folgenden Aussagen.

(a) Ist K′ orthogonal zu K, so gilt σr,M(K′) = K′ und M 6∈ K′.

(b) Enthält K′ zwei bezüglich K zueinander inverse Punkte A 6= A′, so ist K′ orthogonal zu K.

Beweis. Seien K und K′ orthogonal zueinander mit Schnittpunkten P und Q. Dann ist die Tan-gente an K′ in P durch die Gerade M ∨ P gegeben. Sei A ein beliebiger Punkt auf K′ r {P, Q}und A′ der zweite Schnittpunkt von M ∨ A mit K′.

Dann gilt nach dem Sehnen-Tangenten-Satz 4.74

‖M− A‖ ·∥∥M− A′

∥∥ = ‖M− P‖2 = r2.

Nach Definition gilt also A′ = σr,M(A). Da zudem σr,M(P) = P und σr,M(Q) = Q gilt, folgt dieInklusion σr,M(K′) ⊆ K′. Mit σr,M ◦ σr,M = idR2r{M} erhalten wir auch die umgekehrte Inklusi-on und insgesamt σr,M(K′) = K′. Wäre schließlich M ∈ K′, so lägen nach der gerade erfolgtenDiskussion für ein beliebiges A ∈ K′ die drei kollinearen Punkte M, A, σr,M(A) allesamt aufdem Kreis K′, was nicht sein kann. Zusammengefasst haben wir also Behauptung (a) gezeigt.

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5.1. Inversion am Kreis 162

Da K′ mit A und A′ je einen Punkt innerhalb und außerhalb des Kreises K enthält, schnei-den sich K und K′ nach Satz 4.5 in genau zwei Punkten P und Q. Es gilt nach Definition derInversion am Kreis

‖M− A‖ ·∥∥M− A′

∥∥ = r2 = ‖M− P‖2 .

Mit der Umkehrung des Sehnen-Tangenten-Satzes 4.74 folgt,22 dass M ∨ P eine Tangente an K′

ist. Somit stehen die Tangenten von K und K′ in P senkrecht aufeinander, und K und K′ sindorthogonal zueinander.

Proposition 5.8 (E). Für zwei Kreise K = Kr(M) und K′ = Kr′(M′) mit M 6∈ K′ ist σr,M(K′) wiederein Kreis.

Beweis. Nehmen wir zunächst an, M liege außerhalb von K′. Sei dann P der Berührpunkt einerTangente tP aus M an K′. Nach Proposition 5.7 gilt dann

σ‖M−P‖,M(K′) = K′.

Wir können alsoσr,M(K′) = (σr,M ◦ σ‖M−P‖,M)(K′)

schreiben und hoffen, dass sich die so entstandene Abbildung ϑ := σr,M ◦ σ‖M−P‖,M leichterstudieren lässt.

Seien für einen beliebigen Punkt A ∈ R2 r {M} die Bilder A′ := σ‖M−P‖,M(A) und A′′ :=σr,M(A′) = ϑ(A) definiert. Nach Definition der Inversion gilt dann

‖M− A‖ ·∥∥M− A′

∥∥ = ‖M− P‖2 und∥∥M− A′

∥∥ · ∥∥M− A′′∥∥ = r2.

Teilen wir diese beiden Gleichungen durcheinander, so erhalten wir

‖M− A′′‖‖M− A‖ =

r2

‖M− P‖2 ,

also

‖M− ϑ(A)‖ =∥∥M− A′′

∥∥ = λ · ‖M− A‖ mit λ =r2

‖M− P‖2 .

22Die Korrektheit dieser Umkehrung sieht man ein, wenn man sich den Beweis des Zwei-Sehnen-Satzes 4.73 unddes Sehnen-Tangenten-Satzes 4.74 anschaut.

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163 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

Da nach Proposition 5.4 sowohl σ‖M−P‖,M als auch σr,M Strahlen mit Ausgangspunkt M festlas-sen, folgt, dass ϑ eine zentrische Streckung mit dem Faktor λ ∈ R× ist. Mit dem Strahlensatzbzw. mit Korollar 4.37 lässt sich leicht überprüfen, dass ϑ(K′) = σr,M(K′) tatsächlich ein Kreisist.

Den zweiten Fall, dass M innerhalb von K′ liegt, zeigen wir in Übungsaufgabe 5.1.

Ganz ähnlich kann man auch noch zeigen, dass die Inversion σr,M an einem beliebigen KreisKr(M) in E eine konforme, also winkeltreue, Abbildung ist. Das führen wir hier aber nichtmehr vor.

Definition 5.9 (E). Seien A, B, C, D ∈ R2 vier paarweise verschiedene Punkte. Dann heißt

DV(A, B, C, D) :=‖A− C‖‖A− D‖ ·

‖B− D‖‖B− C‖

das Doppelverhältnis der Punkte A, B, C, D.

Bemerkung 5.10. In der Funktionentheorie führt man für paarweise verschiedene a, b, c, d ∈ C ∼= R2

das Doppelverhältnis ein als

DV(a, b, c, d) :=a− ca− d

· b− db− c

∈ C.

Das von uns in Definition 5.9 eingeführte Doppelverhältnis ist gerade der komplexe Absolutbetrag deskomplexen Doppelverhältnisses, welches als zusätzliche Information noch eine Winkelgröße bereithält.Da wir auf R2 keine Multiplikation eingeführt haben, sind wir hier auf den Betrag beschränkt.

Proposition 5.11 (E). Sei Kr(M) ein Kreis, und seien A, B, C, D ∈ R2 r {M} paarweise verschiedenePunkte. Dann gilt

DV(σr,M(A), σr,M(B), σr,M(C), σr,M(D)

)= DV(A, B, C, D),

die Inversion am Kreis Kr(M) erhält also das Doppelverhältnis.

Beweis. Zur Vereinfachung der Schreibweise nennen wir für ein beliebiges X ∈ {A, B, C, D}sein Inverses X′ := σr,M(X).

Nach Definition der Inversion gilt

‖M− A‖ ·∥∥M− A′

∥∥ = r2 = ‖M− C‖ ·∥∥M− C′

∥∥und also

‖M− A‖‖M− C‖ =

‖M− C′‖‖M− A′‖ . (5.1)

Weiter gilt‖M− A‖‖M− C′‖ =

‖A− C‖‖A′ − C′‖ ,

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5.1. Inversion am Kreis 164

denn: Wir machen eine Fallunterscheidung.

Fall 1: M, A, C sind in allgemeiner Lage. Da M, A, A′ bzw. M, C, C′ kollinear sind, haben dieDreiecke 4MAC und 4MC′A′ die selbe Winkelgröße bei M, es gilt also ]AMC = ]A′MC′.Wegen (5.1) und dem SWS-Kriterium 4.39 für Ähnlichkeit sind dann die Dreiecke4MAC und4MC′A′ ähnlich, es gilt also

‖M− A‖‖M− C′‖ =

‖A− C‖‖A′ − C′‖

wie behauptet.

Fall 2: M, A, C sind kollinear. Dieser Fall zerfällt in drei Unterfälle, je nachdem wie die dreiPunkte M, A, C angeordnet sind. Diese lassen sich alle sehr ähnlich beweisen; wir führen nurden Fall M ? A ? C vor. In diesem Fall folgt nach der Definition der Inversion am Kreis M ? C′ ?A′.

Es folgt sofort

‖A− C‖ = ‖M− C‖ − ‖M− A‖ und∥∥A′ − C′

∥∥ =∥∥M− A′

∥∥− ∥∥M− C′∥∥

und somit

‖A− C‖‖A′ − C′‖ =

‖M− C‖ − ‖M− A‖‖M− A′‖ − ‖M− C′‖

(5.1)=‖M− A‖ · ‖M− A′‖ · ‖M− C′‖−1 − ‖M− A‖‖M− C‖ · ‖M− C′‖ · ‖M− A‖−1 − ‖M− C′‖

=‖M− A‖‖M− C′‖ ·

‖M− A′‖ · ‖M− C′‖−1 − 1

‖M− C‖ · ‖M− A‖−1 − 1(5.1)=‖M− A‖‖M− C′‖ ,

was zu zeigen war. #

Analog zeigt man‖M− A‖‖M− D′‖ =

‖A− D‖‖A′ − D′‖ ;

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165 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

hierzu muss man nur im gesamten bisherigen Beweis C und C′ durch D und D′ ersetzen.Kombinieren wir diese beiden Ergebnisse, so erhalten wir

‖A− C‖‖A′ − C′‖ ·

‖A′ − D′‖‖A− D‖ =

‖M− A‖‖M− C′‖ ·

‖M− D′‖‖M− A‖ =

‖M− D′‖‖M− C′‖ .

Analog zeigt man‖B− C‖‖B′ − C′‖ ·

‖B′ − D′‖‖B− D‖ =

‖M− D′‖‖M− C′‖ ,

hierzu muss man nur im bisherigen Beweis A und A′ durch B und B′ ersetzen. Fügen wir dieszusammen, so erhalten wir

‖A− C‖‖A′ − C′‖ ·

‖A′ − D′‖‖A− D‖ =

‖B− C‖‖B′ − C′‖ ·

‖B′ − D′‖‖B− D‖ ,

was sich leicht in die Behauptung DV(A′, B′, C′, D′) = DV(A, B, C, D) umformen lässt.

5.2 Hyperbolische Ebenen

Sei in diesem Abschnitt stetsE = (R2, GR, ?,∼=,') die Euklidische Standardebene, K = Kr(M)ein festgewählter Kreis und σ = σr,M die Inversion an K. Um an diese Festlegung zu erinnernkennzeichnen wir die entsprechenden Ergebnisse durch (E, K, σ). Wir wollen nun nach Poin-caré zwei Modelle der hyperbolischen Ebene als ein Beispiel einer Hilbertebene mit Vollstän-digkeitsaxiom (V) studieren, die das Parallelenaxiom (P) nicht erfüllt.

Zunächst definieren wir das Poincaré’sche Kreismodell und setzen dafür

Pk := {A ∈ R2 | A liegt im Inneren von K},Gk := {g ∪ Pk | g ∈ GR orthogonal zu K} ∪ {K′ ∪ Pk | K′ ⊆ R2 zu K orthogonaler Kreis}.

Abbildung 5.1: Hyperbolische Geraden im Kreis K.

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5.2. Hyperbolische Ebenen 166

Die Elemente von Pk nennen wir k-Punkte und die Elemente von Gk k-Geraden. Zur besserenUnterscheidbarkeit von den Konstruktionen in E werden wir die entsprechenden Konstruk-tionen in (Pk, Gk) künftig immer mit einem Index „k“ kennzeichnen. So soll etwa die Verbin-dungsgerade zweier Punkte A, B ∈ Pk mit A ∨k B bezeichnet werden.

Ein alternatives Modell der hyperbolischen Ebene wird durch die so genannte Poincaréhalbe-bene geliefert, deren Punktmenge durch die komplexe obere Halbebene

Ph := H := {z ∈ C | Im(z) > 0}

gegeben ist. Wie im Kreismodell der hyperbolischen Ebene treten zwei Typen von Geraden auf,nämlich

Gh ={

g ∪ H | g ∈ GR orthogonal zu R}∪{

K′ ∪ H | K′ ⊆ R2 zu R orthogonaler Kreis}

.

Hierbei (und im Weiteren) identifizieren wir wie üblich die Menge der komplexen ZahlenCmitR2 und die Menge der reellen ZahlenR als Gerade darin. Analog zum Kreismodell nennen wirdie Elemente von Ph nennen wir h-Punkte und die Elemente von Gh h-Geraden. Zur besserenUnterscheidbarkeit von den Konstruktionen in Ewerden wir die entsprechenden Konstruktio-nen in (Ph, Gh) künftig immer mit einem Index „h“ kennzeichnen.

Proposition 5.12. Das Poincaré’sche Kreismodell und die Poincaréhalbebene sind zueinander isomorphin dem Sinne, dass es eine Bijektion von Ph nach Pk gibt, die h-Geraden auf k-Geraden abbildet. Genauergilt

(a) Die Cayley-Abbildung

φ :

{Cr {−i} → C,z 7→ z−i

z+i

bildet die reelle Achse bijektiv auf den Einheitskreis ohne w = 1 ab.

(b) Die Einschränkungφ|H : H→ {w ∈ C | |w| < 1}

ist wohldefiniert und bijektiv.

(c) Die Inversion am Kreis K√2(−i) ist durch die Abbildung

σ√2,−i :

{Cr {−i} → C,z 7→ (−i) z+i

z−i

gegeben. Auf diese Weise erhält man eine geometrische Beschreibung der Cayley-Abbildung.

(d) Die Abbildung φ|H überführt h-Geraden in k-Geraden im Poincarémodell bezüglich des euklidi-schen Einheitskreises.23

23Da zentrische Streckungen am Ursprung und Translationen offensichtlich sämtliche relevanten Orthogonali-tätsbeziehungen erhalten, erhalten wir so auch eine Isomorphie der Poincaréhalbebene zum Poincarémodell be-züglich unseres beliebig gewählten euklidischen Kreises K.

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167 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

Abbildung 5.2: Der Standardfundamentalbereich der Aktion von SL2(Z) auf der oberen kom-plexen Halbebene als wird von drei hyperbolischen Geraden berandet.

Beweis. Wir beweisen zunächst Behauptung (a). Für x ∈ R erhalten wir unmittelbar

φ(x)φ(x) =x− ix + i

· x + ix− i

= 1,

so dass φ(x) offensichtlich im Einheitskreis liegt. Klar, dass dabei der Wert w = 1 nicht getroffenwird.

Wir wollen nun die Surjektivität von φ|R zeigen und betrachten dafür ein beliebiges w 6= 1 aufdem Einheitskreis. Aus dem Ansatz w = φ(z) bekommen wir ein komplexes Urbild z = i · 1+w

1−wvon w. Mit ww = 1 erhalten wir

z = −i · 1 + w1− w

= −i · 1 + w1− w

· ww

= −i · w + 1w− 1

= z

und insbesondere z ∈ R.

Schließlich ist φ|R injektiv, da für z1, z2 ∈ R die Rechnung

φ(z1) = φ(z2)

⇐⇒ z1 − iz1 + i

=z2 − iz2 + i

⇐⇒ (z1z2 + 1) + (z1 − z2)i = (z1z2 + 1) + (z2 − z1)i⇐⇒ z1 = z2

gilt.

Zum Beweis von Behauptung (b) betrachten wir nun z = x + iy ∈ H. Eine leichte Rechnungzeigt

φ(z)φ(z) =|z|2 − 2 · Im(z) + 1|z|2 + 2 · Im(z) + 1

=x2 + (y− 1)2

x2 + (y + 1)2 ,

was wegen y > 0 offensichtlich kleiner als 1 ist, so dass φ(z) in der offenen Einheitskreisscheibeliegt.

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5.2. Hyperbolische Ebenen 168

Wir wollen nun die Surjektivität von φ|H zeigen und betrachten dafür ein beliebiges w = u+ ivaus der offenen Einheitskreisscheibe. Aus dem Ansatz w = φ(z) bekommen wir wie oben daskomplexe Urbild z = i · 1+w

1−w und sehen ein, dass

Im(z) = − i2· (z− z) =

1− |w|2(u + 1)2 + v2

wegen |w| < 1 eine positive reelle Zahl ist und somit insbesondere z ∈ H.

Die Injektivität folgt exakt wie oben.

Um Behauptung (c) zu zeigen sehen wir für z = x + iy zunächst ein, dass

−i · z + iz− i

= −i + λ · (z + i) mit λ =2

|z|2 − 2 · Im(z) + 1=

2x2 + (y− 1)2 ∈ R>0

gilt, dass −i · z+iz−i also auf dem Strahl

# „

(−i)z liegt. Weiter gilt

|z + i| ·∣∣−i · z + i

z− i+ i∣∣ = |z + i| ·

∣∣ −2iz− i

∣∣ = |z + i| · 2|z + i|

= 2 = (√

2)2,

und somit tatsächlichσ√2,−i(z) = −i · z + i

z− i.

Schließlich gilt es noch Behauptung (d) zu beweisen. Nach (c) gilt φ|H(z) = −i · σ√2,−i(z). Diekomplexe Konjugation ist gerade die Spiegelung an der reellen Gerade und die Multiplikati-on um −i eine Drehung um π

2 . Klarerweise bewahren solche Drehungen und SpiegelungenOrthogonalitätsbeziehungen innerhalb der Menge der Geraden und Kreise der euklidischenStandardebene. Nach Übungsaufgabe 5.2 trifft dies auch auf Inversionen am Kreis und somitauf φ|H zu. Da die Geraden der Poincaréhalbebene induziert werden durch Geraden und Krei-se orthogonal zur reellen Gerade und Geraden im Poincarémodell durch Geraden und Kreiseorthogonal zum Einheitskreis, folgt die Behauptung nach (a).

Proposition 5.13 (E, K, σ). (Pk, Gk) ist eine Inzidenzebene.

Beweis. Wir wollen das Inzidenzaxiom (I1) zeigen, dass also durch je zwei Punkte A, B ∈ Pkgenau eine Gerade in Gk geht. Seien also A 6= B ∈ Pk.

Fall 1: A, B, M sind kollinear in E. Dann ist offensichtlich (A∨ B) ∪ Pk eine k-Gerade durch Aund B. Weil in E bereits (I1) gilt, muss jede weitere k-Gerade durch A und B vom zweiten Typsein, also ein Durchschnitt eines zu K orthogonalen Kreises K′ durch A, B mit Pk. Eine solchek-Gerade gibt es aber nicht,

denn: Der zugehörige Kreis K′ enthielte mit A, B auch σ(A), σ(B). Wegen

A ∨ σ(A) = A ∨M = A ∨ B = M ∨ B = σ(B) ∨ B

enthielte also K′ vier kollineare Punkte, was nicht sein kann. #

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169 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

Fall 2: A, B, M sind in E in allgemeiner Lage. Offensichtlich kann dann keine k-Gerade vomersten Typ durch A, B gehen. Andererseits enthält nach Teil (a) von Proposition 5.7 jeder zuK orthogonale Kreis K′ ⊆ E durch A, B auch den Punkt σ(A). Die Punkte A, σ(A), B sind inallgemeiner Lage,24 da sonst mit M, A, σ(A) auch M, A, B kollinear wären. Nach dem Umkreis-satz 3.88 gibt es also tatsächlich einen Kreis K′ ⊆ E durch A, σ(A), B, und dieser ist mit diesenEigenschaften eindeutig. K′ ∪ Pk ist also der einzige Kandidat für eine k-Gerade durch A, B.Nach Teil (b) von Proposition 5.7 sind wegen A, σ(A) ∈ K′ die Kreise K und K′ orthogonalzueinander, so dass K′ ∪ Pk tatsächlich die eindeutig bestimmte k-Gerade durch A, B ist.

Für (I2) müssen wir zeigen, dass auf jeder k-Geraden mindestens zwei Punkte liegen. Für einek-Gerade vom ersten Typ ist dies einfach, denn diese ist der Durchschnitt einer Geraden g ∈GR durch M mit dem Inneren des Kreises K. Für einen beliebigen Schnittpunkt P von g mit K istdann beispielsweise 1

2 (M + P) neben M ein zweiter Punkt. Eine k-Gerade vom zweiten Typ istder Durchschnitt eines zu K orthogonalen Kreises K′ mit dem Inneren von K. Nach Definitionist |K ∪ K′| = 2, nennen wir die Schnittpunkte P und Q. Dann liegen zwischen den Strahlen# „MP und

# „MQ unendlich viele Strahlen in E, die alle paarweise verschiedene Schnittpunkte mit

K′ aufweisen.

Zeigen wir schließlich (I3), dass es also in Pk drei Punkte in allgemeiner Lage gibt. Seien dafürA, B ∈ Pk zwei Punkte, so dass A, B, M in E in allgemeiner Lage sind. Dann ist A ∨k B derDurchschnitt eines zu K orthogonalen Kreises K′ durch A, B mit Pk. Nach Teil (a) von Propo-sition 5.7 liegt dann M nicht auf A ∨k B, so dass A, B, M auch in (Pk, Gk) in allgemeiner Lagesind.

Wir wollen zeigen, dass in (Pk, Gk) das starke Parallelenaxiom (P) nicht gilt. Dies folgt offenbardirekt aus der Gültigkeit des folgenden Axioms.

Definition 5.14 (I). Das hyperbolische Axiom besagt

(H) Ist A ein Punkt und g eine Gerade, die nicht durch A geht, dann gibt es unendlich viele zu gparallele Geraden durch A.

Proposition 5.15 (E, K, σ). (Pk, Gk) erfüllt das hyperbolische Axiom (H).

Beweis. Wir nutzen Proposition 5.12 aus und zeigen die Gültigkeit von (H) in der Poincaréhalb-ebene. Sei dafür Kr(A) ein Kreis in C mit A ∈ R und r ∈ R>0 und P ∈ H. Liegt P im Innerenvon Kr(A), so auch auf unendlich vielen Kreisen K′ mit reellem Mittelpunkt und Kr(A)

∪ K′ =∅,

denn: Ohne Einschränkung sei Re(P) ≥ A, sonst spiegeln wir das Problem an der Parallelenzur imaginären Achse durch A. Für ein Q ∈ R≥A mit |Q− A|+ |P− Q| < r liegt dann ganzK|P−Q|(Q) im Inneren des Kreises Kr(A) und hat insbesondere leeren Durchschnitt mit diesem.

24Insbesondere gilt σ(A) 6= B.

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5.2. Hyperbolische Ebenen 170

Es bleibt zu zeigen, dass es unendlich viele solcher Punkte Q gibt. Sei L = LA∨P(Q) der Lot-fußpunkt eines beliebigen Q ∈ R≥A auf der Verbindungsgeraden A∨ P. Nach der Dreiecksun-gleichung 4.17 gilt dann

|Q− A|+ |P−Q| ≤(|Q− L|+ |L− A|

)+(|P− L|+ |L−Q|

).

Nach Satz 3.84 ist in einem rechtwinkligen Dreieck die Hypothenuse die längste Seite. Insbe-sondere gilt |Q− L| < |Q− A| und somit

|Q− A|+ |P−Q| < |P− A|+ 2|Q− A|.

Gilt nun |P − A| = r − ε für ein ε ∈ (0, r), so erfüllen offensichtlich alle Q ∈ (A, A + ε2 ) die

gewünschte Beziehung. Für jede Wahl von P sind dies unendlich viele Möglichkeiten. #

Analog zeigt man, dass es auch durch P außerhalb von Kr(A) unendlich viele Kreise K′ mitreellem Mittelpunkt und Kr(A)

∪ K′ = ∅ gibt.

Insgesamt haben wir nun gezeigt, dass es zu jeder h-Geraden zweiten Typs durch jeden h-Punkt, der nicht auf dieser h-Geraden liegt, unendlich viele Parallelen gibt. Es verbleibt derBeweis der entsprechenden Aussage für h-Geraden des ersten Typs. Sei dafür g = gA,i einezur imaginären Achse parallele Gerade sowie P ∈ Hr {g} beliebig. Dann gibt es durch Punendlich viele Kreise K′ mit reellem Mittelpunkt und g ∪ K′ = ∅,

denn: Ohne Einschränkung sei Re(P) > A, sonst spiegeln wir das Problem an g. Für ein Q ∈R≥A mit |Q− A| > |P− Q| liegt dann ganz K|P−Q|(Q) auf der selben Seite von g wie Q undhat insbesondere leeren Durchschnitt mit g.

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171 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

Es bleibt zu zeigen, dass es unendlich viele solcher Punkte Q gibt. Sei S der Schnittpunkt derMittelsenkrechten von AP mit der reellen Achse. Wegen Re(P) > A liegt dieser in R>A. Mitdem SWS-Kriterium sehen wir ein, dass das Dreieck 4ASP gleichschenklig ist und insbeson-dere AS ∼= PS gilt. Für ein beliebiges Q ∈ R>S gilt dann mit der Dreiecksungleichung 4.17

|Q− A| − |P−Q| >(|Q− S|+ |S− A|

)−(|P− S|+ |S−Q|

)= |S− A| − |P− S| = 0,

so dass alle Q ∈ (S, ∞) die gewünschte Beziehung erfüllen. Für jede Wahl von P sind diesunendlich viele Möglichkeiten. #

Um (Pk, Gk) zu einer Hilbertebene zu machen, müssen wir als nächstes eine Anordnung ?keinführen. Hierzu definieren wir für drei kollineare Punkte A, B, C ∈ Pk.

� Falls A, B, C auf einer k-Geraden des ersten Typs liegen, so setzen wir

A ?k B ?k C :⇐⇒ A ? B ? C.

� Jede k-Gerade des zweiten Typs ist von der Gestalt K′ ∪ Pk mit einem zu K orthogona-len Kreis K′ = Kr′(M′). Die Schnittpunkte von K und K′ bezeichnen wir mit P, Q. Derzugehörige Mittelpunkt M′ liegt außerhalb von K,

denn: Das Dreieck 4MM′P hat nach Definition der Orthogonalität einen rechten Winkel∠MPM′. Mit dem Satz von der Winkelsumme im Dreieck 4.58 und Satz 3.84 gilt dannMP < MM′. #

Liegen also A, B, C auf einer k-Geraden vom zweiten Typ. Dann betrachten wir die dreiSchnittpunkte

A′ := (P ∨Q) ∧ (A ∨M′), B′ := (P ∨Q) ∧ (B ∨M′) und C′ := (P ∨Q) ∧ (C ∨M′).

Wir setzen nunA ?k B ?k C :⇐⇒ A′ ? B′ ? C′.

Proposition 5.16 (E, K, σ). (Pk, Gk, ?k) erfüllt die Anordnungsaxiome (A1) - (A4).

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5.2. Hyperbolische Ebenen 172

Beweis. Die Axiome (A1) und (A3) folgen unmittelbar aus jeweiligen Axiomen für die Eukli-dische Standardebene E.

Wir wollen nun (A′2) zeigen. Seien also A 6= B zwei k-Punkte. Nehmen wir zunächst an, ihreVerbindungsgerade A ∨k B sei vom ersten Typ. Seien S, T die beiden Schnittpunkte von A ∨ Bmit K. Ohne Einschränkung dürfen wir S ? A ? B ? T annehmen. Man rechnet leicht nach, dassdie Punkte

P :=12· (S + A), Q :=

12· (A + B) und R :=

12· (B + T)

die Bedingung P ? A ?k Q ?k B ?k R erfüllen. Sei also nun A ∨k B eine Gerade vom zweitenTyp, und seien wieder S, T die Schnittpunkte des zugehörigen euklidischen Kreises mit K. Wiegerade eben zeigt man, dass es in ST r {S, T} Punkte P′, Q′, R′ mit P′ ? A′ ? Q′ ? B′ ? R′ gibt.Man zeigt leicht, dass die Schnittpunkte

P := (A ∨k B) ∧ (M′ ∨ P′), Q := (A ∨k B) ∧ (M′ ∨Q′) und R := (A ∨k B) ∧ (M′ ∨ R′)

die gewünschte Bedingung P ? A ?k Q ?k B ?k R erfüllen. Um (A4) zu zeigen, überlegt man sich

� Für eine k-Gerade g ∪ Pk vom ersten Typ liegen A, B ∈ Pk genau dann auf der selbenk-Seite von g ∪ Pk, wenn A, B auf der selben Seite von g liegen.

� Für eine k-Gerade K′ ∪ Pk vom zweiten Typ liegen A, B ∈ Pk genau dann auf der selbenk-Seite von K′ ∪ Pk, wenn A, B beide im Inneren oder beide außerhalb von K′ liegen.

Axiom (A4) folgt dann.

Als nächstes wollen wir nun auf (Pk, Gk, ?k) einen Kongruenzbegriff ∼=k für k-Strecken einfüh-ren. Seien dafür A 6= B und A′ 6= B′ zwei Paare verschiedener Punkte in Pk. Dann liegen

die k-Strecken ABkund A′B′

kauf k-Geraden, deren zugrunde liegenden euklidischen Geraden

bzw. Kreise jeweils zwei Schnittpunkte mit K haben. Der näher an A liegende Schnittpunkt zur

Strecke ABkheiße P, der andere Q. Analog seien P′ und Q′ die Schnittpunkte zu A′B′

k. Wir

definieren dann

ABk ∼=k A′B′k

:⇐⇒ DV(A, B, P, Q) = DV(A′, B′, P′, Q′).

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173 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

Proposition 5.17 (E, K, σ). (Pk, Gk, ?k,∼=k) erfüllt die Kongruenzaxiome für Strecken (K1) - (K3).

Beweis. Dass∼=k eine Äquivalenzrelation ist und also das Kongruenzaxiom (K1) erfüllt, ist klar.

Wir wollen nun (K2) zeigen. Dafür betrachten wir zwei Punkte A, B ∈ Pk und deren Verbin-dungsgerade A∨k B, deren zugehörige euklidische Gerade bzw. zugehöriger euklidischer Kreisden Kreis K derart in den Punkten P und Q schneidet, dass P näher an A als an B liegt. Wirzeigen, dass das Doppelverhältnis

DV(A, C, P, Q) :# „AB

k → (0, 1)

als Funktion in C eine Bijektion ist. Wir unterscheiden dabei zwei Fälle.

Fall 1: A ∨k B ist vom ersten Typ. Dann finden wir für A und jedes C ∈ # „AB

kreelle Zahlen

µA ∈ (0, 1) und µC ∈ (µA, 1) mit

A = P + µA(Q− P) und C = P + µC(Q− P),

und es gilt

DV(A, C, P, Q) =‖A− P‖‖A−Q‖ ·

‖C−Q‖‖C− P‖ =

µA

1− µA· 1− µC

µC=

µA

1− µA·( 1

µC− 1).

Letzteres ist als Hyperbel in µC stetig und streng monoton fallend und nimmt für µC = µAbzw. µC = 1 den Funktionswert 1 bzw. 0 an, was die Behauptung in diesem Fall zeigt.

Fall 2: A ∨k B ist vom zweiten Typ. Seien P, Q die Schnittpunkte des zur k-Geraden A ∨k Bgehörigen euklidischen Kreises K′ mit K, und sei P näher an A als an B. Nach dem Sinussatz

4.61 gilt dann für A und jedes C ∈ # „AB

k

sin]PAQ‖P−Q‖ =

sin]APQ‖A−Q‖ =

sin]AQP‖A− P‖ bzw.

sin]PCQ‖P−Q‖ =

sin]CPQ‖C−Q‖ =

sin]CQP‖C− P‖

und somit

DV(A, C, P, Q) =‖A− P‖‖A−Q‖ ·

‖C−Q‖‖C− P‖ =

sin]AQPsin]APQ

· sin]CPQsin]CQP

.

Der Mittelpunkt von K′ liegt als Schnittpunkt der Tangenten an K in P bzw. Q außerhalb vonK und insbesondere auf der Seite von P ∨ Q, auf der A und C nicht liegen. Nach dem Peri-pheriewinkelsatz 4.77 ist demnach ]PAQ = ]PCQ > π

2 . Die Winkelgrößen ]AQP, ]APQ,]CPQ, ]CQP liegen daher nach dem Satz von der Winkelsumme im Dreieck 4.58 allesamt imIntervall (0, π

2 ), und die Behauptung in diesem Fall folgt leicht mit der strengen Monotonie desSinus auf diesem Intervall.

Es verbleibt (K3) zu zeigen. Für je drei Punkte A, B, C bzw. A′, B′, C′ in Pk mit A ?k B ?k C undA′ ?k B′ ?k C′ gibt es25 Punkte P, Q bzw. P′, Q′ auf K mit

ABk ∼=k A′B′k ⇐⇒ DV(A, B, P, Q) = DV(A′, B′, P′, Q′),

BCk ∼=k B′C′k ⇐⇒ DV(B, C, P, Q) = DV(B′, C′, P′, Q′).

25Die Aussage ist hier, dass wir wegen der Kollinearität von A, B, C bzw. A′, B′, C′ jeweils die gleiche Wahl von Pund Q bzw. P′ und Q′ treffen können.

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5.2. Hyperbolische Ebenen 174

Nehmen wir nun an, es gelten ABk ∼=k A′B′k

und BCk ∼=k B′C′k. Mit der Definition des Dop-

pelverhältnisses folgt dann sofort

DV(A, C, P, Q) =‖A− P‖‖A−Q‖ ·

‖C−Q‖‖C− P‖

=

(‖A− P‖‖A−Q‖ ·

‖B−Q‖‖B− P‖

)·(‖B− P‖‖B−Q‖ ·

‖C−Q‖‖C− P‖

)= DV(A, B, P, Q) ·DV(B, C, P, Q)

und analogDV(A′, C′, P′, Q′) = DV(A′, B′, P′, Q′) ·DV(B′, C′, P′, Q′).

Wir erhalten ACk ∼=k A′C′k

und somit die Behauptung.

Einen Kongruenzbegriff'k für k-Winkel führen wir über Euklidische „Tangentialstrahlen“ ein:Seien A, B, C drei k-Punkte in allgemeiner Lage. Diese definieren den k-Winkel ∠kBAC als

Vereinigung der k-Strahlen# „AB

kund

# „AC

k. Letztere k-Strahlen liegen auf eindeutigen k-Geraden,

denen jeweils eine Euklidische Gerade oder ein Euklidischer Kreis zugrundeliegt. Wir könnennun in A an beide Euklidischen Figuren je eine Tangente legen.26 Wir wählen dann auf jederdieser Tangenten einen k-Punkt im k-Inneren von∠kBAC aus und nennen diese Punkte B′ undC′. Für weitere drei k-Punkte D, E, F in allgemeiner Lage definieren wir so

∠kBAC 'k ∠kEDF :⇐⇒ ]B′AC′ = ]E′DF′.

Wir schreiben auch ]kBAC für ]B′AC′ und nennen diesen Wert das hyperbolische Bogenmaßdes k-Winkels ∠kBAC.

Proposition 5.18 (E, K, σ). (Pk, Gk, ?k,∼=k,'k) erfüllt die Kongruenzaxiome für Winkel (K4) - (K6).

Beweis. Dass'k eine Äquivalenzrelation ist und also das Kongruenzaxiom (K4) erfüllt, ist klar.

Der Beweis von (K5) und (K6) geschieht in Übungsaufgabe 5.3.26Diese ist im Falle einer Gerade mit dieser identisch.

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175 Kapitel 5. Nichteuklidische ebene Geometrie

Proposition 5.19 (E, K, σ). In (Pk, Gk, ?k,∼=k,'k) gilt das Vollständigkeitsaxiom (V).

Beweis. Die Dedekindschnitte einer k-Geraden gk sind gegeben durch diejenigen Dedekind-schnitte g = s ·∪ t der nach Definition der hyperbolischen Anordnung zugehörigen euklidi-schen Geraden g, für die weder s noch t leeren Durchschnitt mit Pk haben. Auf diese Weisefolgt das Vollständigkeitsaxiom unmittelbar aus der Gültigkeit desselben in der euklidischenStandardebene E.

Zusammengefasst erhalten wir

Satz 5.20 (E, K, σ). (Pk, Gk, ?k,∼=k,'k) ist ein Beispiel einer Hilbertebene, in der das Vollständig-keitsaxiom (V) und anstelle des Parallelaxioms (P) das hyperbolische Axiom (H) gelten.

Übungsaufgaben

Aufgabe 5.1 (E). Sei M innerhalb von K′, und seien A, B ∈ K′ beliebige Punkte mit σr,M(A) =: A′,σr,M(B) =: B′ und A′′, B′′ dem jeweils zweiten Schnittpunkt von M ∨ A bzw. M ∨ B mit K′. Nachdem Zwei-Sehnen-Satz ist dann

‖M− A‖ ·∥∥M− A′′

∥∥ = ‖M− B‖ ·∥∥M− B′′

∥∥ = |κK′(M)|

unabhängig von A und B. Verwenden wir nun mit Vorzeichen ausgestattete Abstände von M, die sonormiert sind, dass κK′(M) negativ ist, so ergibt sich ‖M− A′‖ = λ · ‖M− A′′‖ mit einem λ < 0.Es ist also σr.M(K′) das Bild von K′ unter einer zentrischen Streckung mit negativem Faktor λ ∈ R×,also wieder ein Kreis.

Aufgabe 5.2 (E, K, σ). Ein verallgemeinerter Kreis von R2 ist ein Kreis oder eine Gerade. Ein ver-allgemeinerter Kreis von R2 r {M} ist der Durchschnitt eines verallgemeinerten Kreises von R2

mit R2 r {M}. Für einen verallgemeinerten Kreis K′ bzw. g von R2 bezeichnen wir den induziertenverallgemeinerten Kreis von R2 r {M} mit (K′)◦ bzw. g◦. Für einen verallgemeinerten Kreis v vonR2 r {M} schreiben wir umgekehrt v für den entsprechenden verallgemeinerten Kreis von R2. Zweiverallgemeinerte Kreise von R2 heißen orthogonal zueinander, wenn die entsprechenden Kreise oderGeraden in R2 zueinander orthogonal sind.

Aus den Propositionen 5.4 und 5.8 ist bekannt, dass die Inversion σ an K verallgemeinerte Kreise aufverallgemeinerte Kreise abbildet.

Zeigen Sie, dass σ Orthogonalitäten verallgemeinerter Kreise bewahrt. Gehen Sie dabei wie folgt vor.

(a) Sei K′ ein weiterer Kreis und t eine Tangente, deren Berührpunkt P von M verschieden ist. ZeigenSie, dass σ((K′)◦) und σ(t◦) im Punkt σ(P) die selbe Tangente besitzen. Hierbei fassen wir eineGerade als ihre eigene Tangente auf.

(b) Reduzieren Sie die Aussage auf verallgemeinerte Kreise, die von einem Paar orthogonaler Geradeninduziert wurden.

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5.2. Hyperbolische Ebenen 176

(c) Sei g eine Gerade mit M /∈ g sowie σ(g) = K(M′, r′)r {M}. Zeigen Sie, dass g und M ∨M′

orthogonal zueinander liegen.Hinweis: Beweisen Sie dies zunächst für Tangenten an K. Suchen Sie dann eine zu g paralleleTangente an K.

(d) Beweisen Sie die Aussage für verallgemeinerte Kreise, die von einem Paar orthogonaler Geradeninduziert wurden.

Aufgabe 5.3 (E, K, σ). Zeigen Sie, dass (Pk, Gk, ?k,∼=k,'k) die Kongruenzaxiome (K5) und (K6)erfüllt.

Aufgabe 5.4 (E, K, σ). Zeigen Sie, dass es für je zwei k-Geraden g, h eine k-Transversale t gibt, diesowohl g als auch h in rechtem k-Winkel schneidet.

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KAPITEL 6

Polytope

6.1 Die Eulersche Polyederformel

Wir haben nun recht ausführlich verschiedene ebene Geometrien studiert. Zum Abschluss wol-len wir uns nun noch ein wenig mit einem Thema der räumlichen Geometrie befassen; den Po-lytopen. Ein besonderes Augenmerk soll hier natürlich auf den Platonischen Körpern liegen.

Definition 6.1. Sei E ein zweidimensionaler affiner Unterraum von R3. Dann zerfällt

R3 r E = S1 ·∪ S2

in zwei Zusammenhangskomponenten S1, S2. Die Mengen S1 und S2 heißen dann offene Halbräume,die Mengen S1 ∪ E und S2 ∪ E abgeschlossene Halbräume.

Eine Teilmenge P von R3 heißt konvexes Polyeder, falls P der Durchschnitt endlich vieler abgeschlos-sener Halbräume ist. Der Durchschnitt der zugehörigen offenen Halbräume wird dann als das Inneredes Polyeders P bezeichnet.

Ein konvexes Polyeder P ⊆ R3 heißt Polytop, falls es beschränkt ist und ein nichtleeres Inneres hat.

Beispiel 6.2. Betrachten wir für i = 1, 2, 3 jeweils den zweidimensionalen affinen Unterraum

Ei := {

x1x2x3

∈ R3 | xi = 0}

von R3. Hier sind die jeweils zugehörigen offenen Halbräume Si1 und Si

2 durch das Vorzeichen der i-tenKoordinate definiert. Ein beliebiger Durchschnitt der so erhaltenen zugehörigen sechs abgeschlossenenHalbräume liefert jeweils ein Beispiel für ein konvexes Polyeder, das kein Polytop ist.

177

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6.1. Die Eulersche Polyederformel 178

Abbildung 6.1: Eine Reihe von Beispielen für Polytope. Weitere findet man beispielsweise ander Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/Polyhedron

Bemerkung 6.3. (a) Da abgeschlossene Halbräume konvex sind, sind konvexe Polyeder in der Tatkonvex.

(b) Ist P =⋂n

i=1 Hi mit abgeschlossenen Halbräumen Hi ein Polytop, dann ist der Rand ∂P von Pgegeben durch

∂P =n⋃

i=1

(P ∪ ∂Hi).

∂Hi ist hierbei gerade der zweidimensionale affine Unterraum des R3, bezüglich dem Hi ein abge-schlossener Halbraum ist. Der Rand ∂P von P besteht aus Flächen, Kanten und Ecken.

Definition 6.4. Sei P ⊆ R3 ein Polytop. Dann schreiben wir

e(P) für die Anzahl der Ecken von ∂P,k(P) für die Anzahl der Kanten von ∂P,f (P) für die Anzahl der Flächen von ∂P

und sprechen dabei auch von den Ecken bzw. Kanten bzw. Flächen von P.

Beispiel 6.5. Für einen Quader ist e(P) = 8, k(P) = 12 und f (P) = 6. Für einen Oktaeder iste(P) = 6, k(P) = 12, f (P) = 8. In beiden Fällen ist e(P)− k(P) + f (P) = 2.

Abbildung 6.2: Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/Polyhedron

Satz 6.6 (Euler’sche Polyederformel). Sei P ⊆ R3 ein Polytop. Dann gilt

e(P)− k(P) + f (P) = 2.

Beweisskizze. Da Polytope ein nichtleeres Inneres haben, können wir nach Anwenden einer ge-eigneten Translation annehmen, dass der Ursprung desR3 im Inneren des Polytops P liegt. Da

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179 Kapitel 6. Polytope

Polytope beschränkt sind, können wir nach Anwenden einer geeigneten zentrischen Streckungv 7→ λv mit einem λ ∈ Rr {0} annehmen, dass P im Inneren der Einheitssphäre

S2 = {v ∈ R3 | ||v|| = 1}

liegt. Beide Abbildungen sind Ähnlichkeitstransformationen und lassen offensichtlich die un-tersuchten Anzahlen e(P), k(P), f (P) fest.

Schritt 1. Wir „blasen“ das Polytop auf, bis alle Eckpunkte zu Punkten auf S2 werden. Formalprojizieren wir ∂P auf S2, indem wir für jeden Punkt A ∈ ∂P den Strahl

# „0A := {λA | λ ∈ R>0}

betrachten. Dieser hat einen eindeutig bestimmten Schnittpunkt mit S2,

denn: Die Gleichung ‖λA‖ = 1 ist wegen λ > 0 äquivalent zu λ ‖A‖ = 1 und hat somit dieeindeutig bestimmte Lösung λ = 1

‖A‖ . #

Abbildung 6.3: Eine zweidimensionale Veranschaulichung des „Aufblasens“

Da Polytope konvex sind, erhalten wir eine Eins-zu-eins-Zuordnung von Punkten, deren Bildein „sphärisches Polytop“ mit der selben Anzahl von Ecken, Kanten und Flächen wie ∂P ist,und dessen Kanten sich nicht schneiden.

Abbildung 6.4: Ein sphärischer Würfel

Schritt 2. Wir fixieren einen Punkt x im Inneren einer der Flächen des sphärischen Polytopsund −x der x gegenüberliegende Punkt. Wir definieren eine stereographische Projektion, in-dem wir jedem Punkt v ∈ S2 r {x} den eindeutigen Punkt auf der Tangentialebene an S2 in

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6.1. Die Eulersche Polyederformel 180

−x zuordnen, der mit x und v auf einer gemeinsamen Geraden liegt. Das Bild des spärischenPolytops unter dieser stereographischen Projektion ist ein so genanntes Netz des Polytops P,wir wollen es im Folgenden mit N bezeichnen. Dieses Netz hat

� genauso viele Ecken wie P: e(N) = e(P),

� genauso viele Kanten wie P: k(N) = k(P),

� eine Fläche weniger als P: f (N) = f (P)− 1.

Die „fehlende“ Fläche entspricht der Umgebung außerhalb des Netzes. Insbesondere gilt

e(N)− k(N) + f (N) = e(P)− k(P) + f (P)− 1.

Um die Euler’sche Polyederformel zu beweisen, genügt es also

e(N)− k(N) + f (N) = 1

zu zeigen.

Abbildung 6.5: Ein Netz eines Würfels

Schritt 3. Wir wählen eine Fläche des Netzes N =: N0 aus und ziehen diese zu einem einzigenPunkt zusammen. So erhalten wir ein neues Netz N1. Hatte diese Fläche n Eckpunkte, so giltin N1

� e(N1) = e(N0)− (n− 1),

� k(N1) = k(N0)− n,

� f (N1) = f (N0)− 1

und somit

e(N1)− k(N1) + f (N1) = (e(N0)− (n− 1))− (k(N0)− n) + ( f (N0)− 1)= e(N0)− k(N0) + f (N0).

Wir iterieren unser Vorgehen und ziehen eine Fläche unseres Netzes nach der anderen zusam-men und erhalten jeweils aus dem Netz Nk−1 ein Netz Nk, für das

e(Nk)− k(Nk) + f (Nk) = e(Nk−1)− k(Nk−1) + f (Nk−1) = e(N0)− k(N0) + f (N0)

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181 Kapitel 6. Polytope

gilt. Da f (P) endlich ist, erreichen wir so nach endlich vielen Schritten ein Netz N f (P)−1 ohneFlächen, ohne Kanten, aber mit einem Punkt. Für dieses Netz gilt offensichtlich die behaupteteGleichheit

e(N f (P)−1)− k(N f (P)−1) + f (N f (P)−1) = 1− 0 + 0 = 1,

so dass insgesamt die Euler’sche Polyederformel folgt.

Abbildung 6.6: Die Folge N0, N1, . . . , N6−1 für den Würfel

Es liegt nahe, dieses wichtige Ergebnis zur Klassifikation von Polytopen zu verwenden. Ganzim Allgemeinen ist uns das allerdings zu schwer, weshalb wir jetzt eine besonders einfacheUnterklasse der Polytope einführen wollen, die regulären Polytope.

6.2 Platonische Körper

Definition 6.7. Sei n > 2 eine natürliche Zahl, und seien A1, . . . , An paarweise verschiedene Punktein R2. Dann heißt das n-Tupel ΠA1 . . . An = (A1, . . . , An) das n-Eck mit Eckpunkten A1, . . . , An.

Drei Eckpunkte Ai, Aj, Ak von ΠA1 . . . An heißen aufeinanderfolgend, falls

i ≡ j− 1 ≡ k− 2 mod (n)

gilt. Ein n-Eck ΠA1 . . . An heißt entartet, falls es drei aufeinanderfolgende Eckpunkte gibt, die kollinearsind, und nicht entartet sonst.

Ein nicht entartetes n-Eck ΠA1 . . . An heißt regelmäßig, wenn die folgenden Bedingungen gelten.

� Für alle 1 ≤ i, j, k ≤ n mit i ≡ j− 1 ≡ k− 2 mod (n) und alle ` ∈ {1, . . . , n}r {i, j, k} liegtA` im Inneren des Winkels ∠Ai Aj Ak,

� Ai Aj∼= A1 A2 für alle 1 ≤ i, j ≤ n mit i ≡ j− 1 mod (n),

� ∠Ai Aj Ak ' ∠A1A2A3 für alle 1 ≤ i, j, k ≤ n mit i ≡ j− 1 ≡ k− 2 mod (n).

Das Innere eines solchen n-Ecks lässt sich definieren als die Menge aller Punkte, die im Innerenaller Winkel ∠Ai Aj Ak aus dem zweiten Punkt liegen. Wir sagen, eine Polytopfläche sei durch

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6.2. Platonische Körper 182

ein regelmäßiges n-Eck gegeben, falls ihr Inneres unter einer Identifizierung27 der Ebene, inder die Fläche liegt, mit der Euklidischen Standardebene E mit dem Inneren dieses n-Ecksübereinstimmt.

Definition 6.8. Ein Polytop P ⊆ R3 heißt regulär oder auch ein Platonischer Körper, wenn alle seineRandflächen durch kongruente regelmäßige n-Ecke gegeben sind und in jeder Ecke die gleiche Anzahlg(P) von Kanten anliegt. Die Anzahl n(P) := n heißt dabei der Grad des regulären Polytops.

Für ein reguläres Polytop gilt n(P) ≥ 3 nach Definition und g(P) ≥ 3, da sonst einer jedenEcke nur je eine Fläche anliegen dürfte und P so kein nichtleeres Inneres hätte. Unser Ziel istnun die Klassifizierung der Platonischen Körper durch die Invarianten n(P) und g(P). Die zuzeigende Behauptung ist, dass es nur fünf Typen von Platonischen Körpern gibt, nämlich

� die Tetraeder mit n(P) = 3 und g(P) = 3,

� die Hexaeder mit n(P) = 4 und g(P) = 3,

� die Oktaeder mit n(P) = 3 und g(P) = 4,

� die Dodekaeder mit n(P) = 5 und g(P) = 3,

� die Ikosaeder mit n(P) = 3 und g(P) = 5.

Abbildung 6.7: Die Platonischen Körper: Tetraeder, Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosa-eder. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/Polyhedron

Hierfür zeigen wir zunächst den folgenden

Satz 6.9. Es gibt ein Tetraeder, und je zwei Tetraeder sind ähnlich.

Beweisskizze. Zur Existenz lässt sich leicht zeigen, dass die konvexe Hülle der Punkte000

,

110

,

101

,

011

ein Tetraeder ist.

27Wir wählen eine Orthonormalbasis dieser Ebene und bilden sie auf die Standardbasis vonR2 ab. Solche Identi-fizierungen sind affine Isomorphismen im Sinne von Definition 2.19. Insbesondere ist das Vergleichen verschiedenerSeitenflächen eines Polytops wohldefiniert möglich.

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183 Kapitel 6. Polytope

Sei andererseits T ein beliebiges Tetraeder. Durch Anwenden einer geeigneten Translation kön-nen wir erreichen, dass einer der Eckpunkte, nennen wir ihn A, im Ursprung liegt. DurchAnwenden geeigneter Drehungen dürfen wir weiter annehmen, dass eine Kante durch A, nen-nen wir sie AB, auf der x-Achse liegt und eine an AB anschließende Seitenfläche, nennen wirden dritten Punkt des begrenzenden Dreiecks C, in der x-y-Ebene liegt. Indem wir gegebenen-falls noch eine Spiegelung anwenden, können wir erreichen, dass AB auf der nichtnegativenx-Achse liegt. Durch Anwenden einer zentrischen Streckung im Ursprung mit den Streckfaktor‖B− A‖−1 erreichen wir, dass alle Kanten die Länge 1 haben.

An jede Kante der durch 4ABC gegebenen Seitenfläche schließt eine weitere Seitenfläche an;die jeweils eindeutigen dritten Ecken dieser Seitenflächen nennen wir D1, D2, D3. Da von ei-ner Ecke nur drei Kanten ausgehen, fallen die Kanten BD1 und BD2 zusammen und müssenverklebt werden.

Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Faltung nach oben und Faltung nach unten. Die dritte Seitemuss mit der analogen Argumentation in die selbe Richtung gefaltet werden. Wir erhalten zweimögliche Tetraeder, die durch Spiegelung ineinander übergehen.

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6.2. Platonische Körper 184

Ähnlich zeigt man, dass die analoge Aussage auch für Hexaeder, Oktaeder, Dodekaeder undIkosaeder gilt.

Proposition 6.10. Sei P ⊆ R3 ein reguläres Polytop vom Grad n(P), bei dem in jeder Ecke g(P)Kanten anliegen. Dann gilt

f (P) =4g(P)

2n(P)− g(P)n(P) + 2g(P),

k(P) =12

n(P) f (P) =12

g(P)e(P).

Insbesondere sind die Größen e(P), k(P), f (P) durch n(P), g(P) bereits eindeutig bestimmt.

Beweis. Von jeder der e(P) Ecken gehen g(P) Kanten aus. Da an jede Kante 2 Ecken angrenzen,folgt

2k(P) = g(P)e(P).

Analog wird jede Seitenfläche von n(P) Kanten begrenzt. Da jede Kante an 2 Flächen angrenzt,folgt

2k(P) = n(P) f (P).

Mit der Euler’schen Polyederformel 6.6 erhalten wir

2 = e(P)− k(P) + f (P) =2k(P)g(P)

− k(P) + f (P).

Nach Multiplikation mit 2g(P) ergibt sich

4g(P) = 4k(P)− 2g(P)k(P) + 2 f (P)g(P) = 2n(P) f (P)− n(P) f (P)g(P) + 2 f (P)g(P).

Lösen wir dies nach f (P) auf, erhalten wir die letzte zu zeigende Aussage.

Für die oben eingeführten regulären Polytope ergeben sich die folgenden Werte.

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185 Kapitel 6. Polytope

P n(P) g(P) f (P) k(P) e(P)Tetraeder 3 3 4 6 4Hexaeder 4 3 6 12 8Oktaeder 3 4 8 12 6Dodekaeder 5 3 12 30 20Ikosaeder 3 5 20 30 12

Satz 6.11. Sei P ⊆ R3 ein reguläres Polytop. Dann ist P ein Tetraeder, ein Hexaeder, ein Oktaeder, einDodekaeder oder ein Ikosaeder.

Beweis. Nach Proposition 6.10 gelten

1g(P)

=e(P)

2k(P)und

1n(P)

=f (P)

2k(P).

Zusammenaddiert ergibt sich mit der Euler’schen Polyederformel 6.6 die Abschätzung

1g(P)

+1

n(P)=

e(P) + f (P)2k(P)

=2 + k(P)

2k(P)=

1k(P)

+12>

12

.

Wegen g(P), n(P) ≥ 3 sind die einzigen ganzzahligen Lösungen dieser Ungleichung durch

(3, 3), (3, 4), (4, 3), (3, 5), (5, 3)

gegeben. Diese Werte entsprechen gerade den in der Tabelle aufgeführten Körpern.

Damit ist das klassische Resultat gezeigt, wonach es genau 5 Typen von Platonischen Körperngibt.


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