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Glacé fürs VolkExperiment mit zwei Zürcher Stadt-Aktivisten

Text Ellen Girod, Bild Lee Jakob

«Das heute hat aber schon nichts mit Drogen zu tun, oder?», begrüsst uns Heinz Entzeroth in seinem Glacé-Laden im Hottinger-Quartier in Zürich. Natürlich sollte das ein Scherz sein. Und natürlich meint er es ernst. Der Gründer des Zürcher Glacé-Labels «Sorbetto» empfängt heute einen besonderen Gast in seiner Produktionsstät-te: Guerilla-Gärtner und Koch Maurice Maggi darf in der Sorbetto-Küche an einer Glacé aus Schlafmohn experi-mentieren. Am Schlafmohn fasziniert Maurice Maggi, dass er als eine der ältesten Kulturpflanzen gleichzeitig Fluch und Segen sei. Bereits die Pfahlbauer zogen in der Jungstein-zeit grosse Mohngärten an den Seeufern. Rund um den Boden-, Bieler-, Sempacher- und zuletzt Zürichsee fan-den Archäologen Mohnsamen. Ob unsere Ahnen sich am Mohn berauschten oder diesen primär als Heilmittel, seine opiumfreie Samen als Nahrung oder gepresst als Öl nutzten, ist unklar. Was hingegen klar ist: Das in den Mohnkapseln enthaltene Opium ist das stärkste natürli-che Schmerzmittel. Die älteste Medizin der Welt prägt die Geschichte bis heute.Papaver somniferum – der botanische Name heisst aus dem Lateinischen übersetzt schlafbringender Mohn. Sei-ne Wirkung kannten schon die alten Griechen: Sie weih-ten die schöne Blume Morpheus, dem selig lächelnden

Gott der Träume, und gaben ihren Säuglingen zum Ein-schlafen einen mit Mohnsaft angerührten Brei. Mögli-cherweise eine der ersten Erwähnungen der narkotischen Wirkung des Mohns finden wir in Homers Odyssee: Um ihren Liebsten zu vergessen, trinkt die schöne Helena Nepenthes – einen Trank aus Opium. Oder handelte es sich doch um das mysteriöse Bilsenkraut (S. 46)? Der griechische Dichter Theokrit jedenfalls beschreibt, wie Mohn den Tränen Aphrodites entwuchs, als diese um ihren geliebten Adonis trauerte. Karl der Grosse liess Schlafmohn-Beete auf seinen Landgütern anpflanzen, während Alexander der Grosse damit seine Krieger eu-phorisierte. Und es war Opium, das zum dramatischen Untergang der über 2000 Jahre alten Kaiserdynastie in China geführt haben soll.Doch zurück in den lauschigen Kreis 7. Zwei Häuser neben dem Sorbetto-Laden, im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, liegt die Glacé-Manufaktur. Es ist Feierabend, das Produktionsteam ist weg. In der gross-zügigen Küche hört man lediglich den Kühler brummen. In den drei Kochgeräten für Glacé (im Jargon: Pastomate) brodeln Milch, Zucker und Johannisbrotkern-Mehl (als

Einst vergöttert, heute verpönt – Schlafmohn, eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt. Diesen Sommer erlebt sie in Zürich eine Renaissance. Als Glacé.

Los geht’s: Maurice Maggi bei der Ernte. →

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Papaver somniferum – Schlafmohn VerwendungDie angenehm süss-nussig schmeckenden Samen des Schlaf-mohns werden vor allem in Süssspeisen und Gebäck, aber auch aufgrund ihres hohen Fettgehalts von 40 bis 50 % zu Öl verarbei-tet. Im Alpenraum war Schlafmohn früher eine wichtige Ölpflanze und wird heute noch in Österreich und Ungarn viel angebaut und in der traditionellen Küche verwendet. Die Mohnsamen sind reich an Kalzium und Vitamin B. Der Rest der Pflanze ist giftig.

WissenswertesIn früheren Zeiten war in jedem Garten ein Beet für Schlafmohn be-stimmt; daraus wurde Laudanum hergestellt, das wichtigste Mittel gegen Schmerzen, Schlaflosigkeit und zur Beruhigung. 1903 wur-de es europaweit verboten. Der aus einer Blütenkapsel gewonnene Milchsaft enthält etwa 25 mg Rohopium mit einem Gehalt von 15 % Morphin.

Infos aus: «Essbare Stadt – Wildwuchs auf dem Teller. Vegetarische Rezepte mit Pflanzen aus der Stadt», Maurice Maggi, AT-Verlag, 2014. at-verlag.ch

natürliches Bindemittel) vor sich hin. Über Nacht werden darin die zuerst auf 85 Grad erhitzten Mischungen herun-tergekühlt. Und am Morgen entstehen Vanille-, Fior-di- Latte- und, mit beigefügtem Kaffeepulver, Mocca-Glacé daraus. Doch vorerst gehört die Küche uns. Heinz Entze-roth holt Messer, Brett und Pfanne aus den Schubladen hervor. Maurice Maggi packt die abgeschnittenen Blü-ten aus seinem blauen Plastiksäckli aus und befreit die Mohnkapseln von den giftigen Blättern. Seit den 1980er-Jahren prägt Maurice Maggi Zürichs Stadtbild. Der distinguierte Herr mit Hut und Schal wan-derte nachts durch die Stadt und streute heimlich Mal-vensamen rund um die Strassenbäume. 1990 erhielt Grün Stadt Zürich so viele Komplimente von ihren Einwohnern für die Malven, dass sie Maggis Bepflanzungsstreifzü-ge nicht mehr verbieten konnte und diese selbst zu för-dern begann. Kürzlich ist Maggis Buch «Essbare Stadt» erschienen. Die Rezeptzutaten erntet man allesamt in der Stadt: essbare Blumen, Pflanzen, Kräuter, Sträucher und Gemüse. In dem 300 Seiten starken Kochbuch ste-chen der Taubenbraten mit Holunderbeersauce und die Marinade für Zürichsee-Felchen als nichtvegetarische Exoten heraus. Er habe bewusst kein rein vegetarisches Kochbuch herausgeben wollen, was der Verlag erst nach längerer Überzeugungsarbeit verstand. Auch die heuti-ge Hauptzutat, den Schlafmohn, erntet Maggi zwischen vorbeifahrenden Autos und quietschenden Trams mitten in der Stadt. «Komm, ich helfe Dir!», meint Entzeroth. Gemeinsam zerhacken sie die Mohnkapseln, kochen diese kurz mit Bio-Rahm auf und rösten parallel dazu Blaumohnsamen in einer grossen runden Messingpfanne. Der nussige Duft des kochenden Mohns steigt in der Küche auf. Durch ein Sieb giesst Maggi den Mohn-Rahm zu den Samen in die Messingpfanne. «Schön diä Farb, wos abgeh hät!», lacht er. Seine Augen fangen an zu leuchten, als er das satte Rosarot in der Pfanne betrachtet. Entzeroth rührt die Sauerrahm-Glacé von Sorbetto dazu, verrührt es kräf-tig und schiebt sich ein Löffelchen in den Mund. «Und? Schmeckt’s?», fragt Maggi gespannt. «Weder zu nussig, noch bitter? Vielleicht noch Sauerrahm?» Ja, entschei-den beide einstimmig. Zum Schluss kommt die Mischung in die Glacé-Maschine und 12 Minuten später quillt die luftige und cremige Glacé heraus. Ob die richtige Kon-sistenz erreicht ist, erkennt Entzeroth mit seinem Ohr, daran nämlich, ob es richtig tönt. Es begann während seinen Zimmerstunden in den 1980er-Jahren. Heinz Entzeroth war Kellner in der Kronenhalle, nutzte die langen Pausen für sein Hobby: Eismachen. Mit Büchern aus der Kochlehre, einer kleinen und güns-tigen Glacémaschine probierte er in der Kronenhalle-Küche verschiedene Glacé-Rezepte aus und ergatterte vom Opernhaus-Restaurant ein Glacé-Velo. Während Maurice Maggi Malven am Limmatquai zu pflanzen be-gann, kurvte Heinz Entzeroth weiter vorne an der See-promenade herum und verkaufte seine ersten Glacés. 20 Jahre und einige Velofahrten später produziert seine

13-Mann-Firma jährlich 70 Tonnen handgemachte Glacé aus frischen Zutaten. Die Sorbetto-Eiskübeli sind stadt-bekannt. Und dies, obwohl Schweizer im Vergleich zu Deutschen oder Italienern nicht zu den grossen Glacé-Essern zählen.Mit einem Spritzsack füllt Entzeroth zwanzig weiss-gelb gestreifte Kübeli mit der Aufschrift «Sorbetto» ab. Eins davon geht direkt zum Hygienetest ins Labor Veritas. Danach wird er entscheiden, ob unser Experiment schon bald als neue Sorte in die Sorbetto-Vitrine kommt. Ein berühmtes Zitat von Paracelsus lautet: «Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.» Einen Rausch bewirkte un-ser Experiment mit den zwei Stadtakteuren nicht, dafür einen tiefen, gesunden Schlaf. ●

Rezept Schlafmohn-Glacé → S. 54

Ellen Girod ist freie Journalistin aus Zürich. Nachdem sie dasMohn-Glacé probiert hat, schlief sie von 20h bis 8h durch.twitter.com/ellengriod

Lee Jakob, selbständige Fotografin aus Zürich, sieht vor lauter Mohn die Stadt nicht mehr. leejakob.ch

Ice-creamSorbetto Glacé-Laden, Rotbuchstrasse 66 & Neptunstrasse 49,Zürich. sorbetto.ch

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53Zwei Helden der Stadt: Heinz Entzeroth & Maurice Maggi.

Ein Experiment: Erst werden die Mohnkapseln zerhackt und dann mit Rahm aufgekocht.

Vollendet: Von zwanzig Kübeli wandert eins ins Labor.

Von Selbstversuchen rät Transhelvetic

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lich ab!

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Schlafmohn-Glacéauf der Basis von Sauerrahm-Glacé von Sorbetto

Rezept Maurice Maggi

10 Portionen

1 l Sauerrahm-Glacé von Sorbetto

ca. 100 g Blaumohnsamen *

Zwei Stunden lang im Kühlschrank(nicht Kühltruhe) kalt stellen.

in einer grossen Pfanne rösten.

Die gerösteten Samen sorgfältig in die geschmolzene Sauerrahm-Glacé einrühren.

Über Nacht in der Kühltruhe gefrieren lassen.

* Blaumohnsamen sind in jedem Supermarkt erhältlich.

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