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Kompositorische Strukturen der Lautenfantasie als Gattung in der 1. Hälfte des 16.JahrhundertsAuthor(s): Kateryna ShtryfanovaSource: Archiv für Musikwissenschaft, 65. Jahrg., H. 1. (2008), pp. 31-44Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/25162409 .

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Kompositorische Strukturen der Lautenfantasie als Gattung in der 1. Halfte des 16. Jahrhunderts*

von

KATERYNA SHTRYFANOVA

Issues pertaining to the criteria governing the genre-specific characteristics of the fantasia and its usage have remained relevant up to today. The characteristics of the fantasia in the first half of the sixteenth

century, the period in which the genre's attributes were first formed, rests on the particular understanding of

this genre at that time, which was based on the close relationship between genre, form, and compositional

technique. Form as process plays an important role in these earlier fantasias, which vividly characterize

this genre's compositional components through the variety and combination of formal principles. This

variety is evident on both the macro- and micro level, in the principles of form themselves, and in the

genre's evolving organization (initial-, middle-, and final sections). A comparison of the fantasia's form in

relation to other genres is also included. Independent of a fantasia's individual style, a constant dependence on vocal elements with the incorporation of innovative instrumental features is found. A basic convention

of the fantasia is thus determined by a complicated yet organized flexibility of form.

Die Gattungsmerkmale der Fantasie fur Laute des 16. Jahrhunderts werfen nach wie vor eine Reihe von Fragen auf. Aktuell wirkt die Gattungsfrage insbesondere in Bezug auf die Fantasie der ersten Halfte des 16. Jahrhunderts, die Periode also, in der sich ihre Grundziige herausbilden. Ein Blick auf die Forschungsliteratur zeigt, dass es kaum neuere spezielle Untersuchungen zu diesem Thema gibt1.

Zweifellos von groBer Bedeutung sind, in der wissenschaftlichen Literatur oft betont, die ?Freiheit" der Fantasie, ihre Ungebundenheit von bestimmten und bestimmenden

* Diese Studie entstand wahrend eines Forschungsaufenthaltes als DAAD-Stipendiatin an der Hoch

schule fur Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig. Fur Rat und Hilfe sei Prof. Dr.

Thomas Schipperges herzlich gedankt. 1 Dagmar Teepe, Die Entwicklung der Fantasie fur Tasteninstrumente im 16. und 17. Jahrhundert:

Eine gattungsgeschichtliche Studie, Kassel 1990. In jungerer Zeit erschienen zudem einige Lexikonar

tikel, die reiche Information bieten und ausfuhrliche Literaturhinweise geben: Thomas Schipperges und

Dagmar Teepe, Art. Fantasie, in: MGG 2, Sachteil, Bd. 3, Sp. 316-345; Marianne Betz, Art. Fantasia, in: Handworterbuch der musikalischen Terminologie, hrsg. von Albrecht Riethmiiller, Stuttgart 2001;

Christopher D. S. Field, E. Eugene Helm, William Drabkin, Art. Fantasia, in: NGD 2, Bd. 8, S. 545-558, sowie Bruno Boccia, Art. Fantasia, in: Dizionario enciclopedico universale della musika e die musicisti,

Sachteil, Bd. 3, S. 201-204.

Archiv fiir Musikwissenschaft, Jahrgang 65, Heft 1 (2008) ? Franz Steiner Verlag, Stuttgart

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32 Kateryna Shtryfanova

Normen, oder Verbindungen der Fantasie mit anderen Gattungen2. Hier aber soil es

weniger um Abwesenheit (?Freiheit") und Abhangigkeit (andere Gattungen) gehen, als vielmehr um positive und eigene Gattungskriterien der Fantasie und um die Verwen

dung des Gattungsbegriffs an sich. Die Uberlegungen gehen aus von den Anfangen der

Gattung in der Lautenmusik der ersten Halfte des 16. Jahrhunderts und der sich hier formierenden Gattungsbasis.

Eine Analyse von Fantasien zeigt, dass zugrunde liegende Gattungsmerkmale nur

dann festgestellt werden konnen, wenn zwei Aspekte nicht auBer Acht gelassen werden. Zunachst beruht das spezifische Verstandnis der Gattungskategorie im 16. Jahrhundert auf einer fur diese Zeit eigentiimlich engen Verbindung zwischen Gattung, Form und Satztechnik. Die friihe Fantasie ist ein eindruckvolles Beispiel einer Gattungsform. Deshalb gehort ihre kompositorische Struktur zu jenen wesentlichen Komponenten, welche diese Gattung in hohem MaBe reprasentieren.

Ein anderer Punkt ist die Betrachtung der Gattung nicht in Bezug auf konkrete Ziige (z. B. bestimmte Formnormen), sondern auf das Verhaltnis und die Verbindung unterschied licher ihrer pragenden Elemente3. Das bedeutet, dass hierbei der prozessuale Formaspekt von groBerem Gewicht ist. Fiir die Fantasie erscheint dies besonders virulent, weil sie eine genuin improvisatorische Gattung ist, deren Orientierung an Besonderheiten anderer

Gattungen eines ihrer Grundprinzipien darstellt. Fiir die kompositorische Struktur der friihen Fantasie4 ist gerade die Vielfalt der Formkennzeichen sowie die Kombinatorik in der Vermischung dieser Merkmale hochst charakteristisch. Dabei besitzt die Fanta

sie ihren groBen Erfindungsreichtum in der Formbildung unabhangig davon, welchen anderen Gattungen sie sich annahert. Als Ergebnis bilden sich Mischformen heraus,

2 Hierzu auch Peter Schleuning, Die freie Fantasie. Ein Beitrag zur Erforschung der klassischen

Klaviermusik, Goppingen 1973, S. 5-14; Vsevolod Meduschevskij, Fantasie in der Kultur und Musik, in: Musik. Kultur. Mensch, Heft 2., Swerdlovsk 1991, S. 44-56; Art. Fantasie, in: Musikalisches Kon

versations-Lexikon, hrsg. von Hermann Mendel und August ReiBmann, Bd. 3, Nachdruck: Hildesheim u.a. 200Iff.

3 Methodisch wichtig fur diesen Aufsatz ist die Grundlage, dass eine Gattung ein Typ des Werkes

ist, der eine flexible Verbindung der musikimmanenten und auBermusikalischen Kriterien spiegelt. Und

zwar ist das eine Verbindung von Stilistik, kompositorischer Struktur, Inhalt, Existenzweisen und Funk

tionalitat in Gesellschaft, darunter der Kommunikationsstruktur. Entsprechend sind hier wesentlich die

Hauptthesen der Gattungstheorie von Friedrich Blume, Carl Dahlhaus, Wolfgang Marx, Walter Wiora

(Handbuch der musikalischen Gattungen. Theorie der Gattungen, hrsg. von Siegfried Mauser, Laaber

2005, S. 51-91, 115-122, 125-172, 245-256, 269-293). 4 Material fur diesen Aufsatz bildeten die Fantasien fur Laute, vornehmlich aus der ersten Halfte

des 16. Jahrhunderts. Das sind 21 Fantasien von Francesco Canova da Milano, 1536 (aus: The Lute

Musik of Francesco Canova da Milano (1497-1543), Bd. 1 and 2, hrsg. von Arthur J. Ness, Cambridge/ Mass. 1970), 40 Fantasien von Luys Milan, 1535 (aus Libero de musika de vihuela de mano. Intitulado

el Maestro. Compuesto por Luys Milan. In der Originalnotation und einer Ubertragung, hrsg. von Leo

Schrade. Leipzig 1927), 14 Fantasien von Luys de Narvaez, 1538 (aus Luys de Narvaez Los seys libros

delDelphin de musica de cifrapara taner vihuela, hrsg. von Emilio Pujol, Barcelona 1945), 27 Fantasien

von Alonso Mudarra, 1546 (aus Alonso Mudarra Tres libros de musika en cifrapara vihuela, hrsg. von

Emilio Pujol, Barcelona 1949). AuBerdem wurden einige Ricercari, Tientos und Liedbearbeitungen aus

genannten Ausgaben auch in Betracht gezogen.

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Kompositorische Strukturen der Lautenfantasie in der 1. Halfte des 16. Jahrhunderts 33

mit einer freilich wesenhaft strengen Kombination und organisierten Verbindung der

Elemente. Auf dieser Grundlage konnen allgemeine und tiefer liegende GesetzmaBig keiten betrachtet werden, welche die Gattungspoetik unter formalem Aspekt bestimmen.

Und es ist sogar moglich, auf den ersten Blick willkiirlich und individuell scheinende

Besonderheiten als stabile kompositorische Strukturen festzuhalten.

Zu solchen konstanten Merkmalen gehflrt die Anbindung der friihen Fantasie an vokale

Strukturen. Die Art der Verbindung verschiedener Formkennzeichen in Fantasien hangt wesentlich davon ab, in welcher Weise die Komponisten den strukturellen Besonderheiten

der Vokalmusik folgen und inwieweit diese Bindung nicht nur in einer Expositionsetappe der Form wirksam scheint, sondern auch in ihrer weiteren Entwicklung. Die Dominanz

der Vokalmusik fur die Fantasie und die starke Abhangigkeit der Instrumentalmusik von der Vokalmusik in dieser Zeit iiberhaupt, wird durch Otto Gombosis Analysen der

Fantasien von Bakfark5 bekraftigt. Hier nun soil der Versuch gemacht werden, diese

Analysen zu prazisieren und zumal den genannten Aspekt (als ein fur die Betrachtung der friiheren Fantasie allgemeines, korrigierendes Prinzip) auf die Gattung insgesamt auszuweiten und zu vertiefen.

Ein weiteres Hauptprinzip besteht in der Ausbildung von Kontraststufungen nach der

Expositionsetappe. Sie sind teilweise nur als Tendenz bemerkbar, konnen aber auch als

echter Kontrast wirksam werden. In jedem Fall bilden sie das Geriist fur andere Form merkmale. Die allgemeine kompositorische Struktur ist deshalb oft zweiteilig organisiert. Es gibt ein breites Spektrum fur die Realisierung einer solchen Zweiteiligkeit. Sie reicht von nicht kontrastierenden zweiteiligen Fortspinnungsformen iiber variierende Formmo

delle bis zu Kontrastformen, darunter etwa die kontrastierende zweiteilige Suitenform. Dabei konnen sich auch verschiedene Formschichten tiberlagern. Eine Verbindung der verschiedenen Formmerkmale hangt hier davon ab, wie der Gegensatz realisiert wird. Nach dem Funktionsprinzip lassen sich nun (mit Einschrankungen) die kompositorischen Strukturen von Expositions-, Entwicklungs- und Schlussetappe unterscheiden.

1. Die Expositionsetappe

Viele Fantasien sind charakterisiert durch eine klare Bildung dieses Formteils. Die Kom

ponisten verwenden kleingliedrige Phrasengliederungen, viele Kadenzierungen, haufig genaue Wiederholungen und paarweise Abschnitte mit (oder ohne) Registerwechsel. Diese Besonderheiten stehen in einer Periode entweder mit zwei korrespondierenden Halbsatzen (?T

- T" oder ?T -

D", ?D -

T"), oder mit drei Halbsatzen (?T - D -

T")6.

5 Hierzu Otto Gombosi, Der Lautenist Valentin Bakfark. Leben und Werke, Budapest 1967, S. 57 77.

6 Unter traditionellen Bezeichnungen ?T - D

" etc. werden hier die Merkmale der harmonischen T- und

D-Funktionen gemeint. Modi oder alte Tonarten, ihre lineare Logik und melodische Funktionalitat sind in

der weltlichen Musik des 16. Jahrhunderts noch von grofiem Gewicht (hierzu Bemhard Meier, Alte Ton arten dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts, 4Kassel 2005). Ihre Bedeutung

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Einfliisse des Lied- und Tanzgutes der Zeit lassen sich schon hier klar beobachten7. Solche strukturellen Besonderheiten bleiben sogar in den stilistisch ganz unliedmaBigen und untanzerischen Fantasien bestimmend. Sie begegnen uns auch in Werken mit einer

fugierten Exposition (mit altem paarweisen oder modernerem sukzessiven Stimmein

satz), oder in Stiicken, die diinne Tanzliedsatze oder Passagenlaufe an den Anfang setzen

(Mudarra, 4. Fantasie, T. 1-16; Francesco, 31. Fantasie, T. 1-8, Beispiel 1; Luys Milan, 13. Fantasie, T. 1-8, Beispiel 2).

;m r lr err \r r piSJLT^

^jjjjjjjjij- J7ir'rT1 J"J 1J

[

Beispiel 1: Francesco da Milano, Fantasie Nr. 31, T. 1-8.

"235-""#i?J? ?*^-tfz?J? ?*-r-?

Beispiel 2: Luys Milan, Fantasie Nr. 13, T. 1-8.

in den Lautenfantasien wird hier teilweise in den beifugenden Schemata gezeigt. Aber die Entsprechung der die Modi bestimmenden Tonstufen (Finalis und Reperkussio) mit der melodischen Funktionalitat

der Tonstufen der bereits harmonischen Tonarten, deutliches Auftreten der Vertikalen, Einwirkungen der

Akkorde auf das Melodische und die nicht-polyphone Natur der Laute geben wesentliche Griinde fur

die Bestimmung dieser Erscheinungen in funktional-harmonischer Hinsicht. Besonders bezieht sich dies

auf die Akkordfolgen und Tonarten in Kadenzen (hierzu etwa: Jurij Holopov, Praktische Empfehlungen zur Bestimmung der Tonarten in der alteren Musik, in: Harmonie: Probleme der Wissenschaft und der

Methodik, Heft 1, Rostow 2002, S. 39-84). 7 Auf klare Periodisierung als eine Annaherung der Konstruktion der Fantasien Bakfarks (1565) an die

Liedformen hat Gombosi hingewiesen (Der Lautenist, S. 60-61 und 63-65). Diese Besonderheiten sowie

auch die innere Symmetrie der Phrasen oder der ganzen Liedform wurden aber als ein charakteristischer

Formzug der zweiten Halfte des 16. Jahrhunderts betrachtet und mit der Formevolution der Fantasie der

Zeit vom Motetten- zum Liedprinzip, das heiBt zur klaren Formgestaltung, verbunden.

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Zugleich ist fiir die Autoren wichtig, die typische vokale Struktur als Stollen und Ab

gesang darzustellen. Sehr oft kommt diese Organisation in der Verbindung mit einem

Gegensatz des Vokal- und Instrumentalmaterials vor: im Rahmen zweiteiliger Perioden

(z. B. in den Fantasien von Mudarra, Nr. 8; Luys Milan, Nr. 3) oder in dreiteiligen Peri

oden. In letzterem Fall entstehen entweder die Barform (Beispiel 3, Luys Milan, Nr. 4, T. 1-24: a-aj-b) oder die Gegenbarform mit Stollen und sich wiederholendem Abgesang

(Luys Milan, Nr. 5, T. 1-21: a-a^a^.

=&r^ J ̂======g^^ J Ii | 1 lEE^ 1J J IJ == ^ 3 rj

W=?-s -=3=-?.-=J=p;?=2?j? epe \ r H r 1 N ?

y I 1 1 I 1 rJ I g I 1 ? Beispiel 3: Luys Milan, Fantasie Nr. 4, T. 1-24.

Die genannte Bildung erscheint sogar in imitativ durchkomponierten, motettenartigen Abschnitten, obwohl es hier keine deutlichen Zasuren gibt (Francesco, Nr. 30, T. 1-20:

a-a^b). Das Prinzip Stollen-Abgesang kann einen Anfangsabschnitt ohne den oben ge nannten Gegensatz des Vokal- und Instrumentalmaterials behandeln. Auf diese Weise verwenden es die Komponisten sowohl in streng imitativen als auch in frei polyphonen und polyphon-homophonen Anfangsabschnitten. Das spiegelt sich in unterschiedlicher

Phrasendarstellung wider. Eindrucksvolle Beispiele hierfiir sind die dicht imitative,

motettenartige vierte Fantasie von Narvaez (Beispiel 4, Narvaez, Nr. 4, T. 1-30: a-at

aj-a-aj-aj) und eine virtuosere Fantasie desselben polyphonen Typs von Francesco (Nr. 39: a-aj-a2-a2). Eine ahnliche Bildung gibt es auch in Fantasien, die ihrer Stilistik nach

gegensatzlich sind (Narvaez, Nr. 10, T.l-28: a-a-at-a2-a2). Seltener fangen die Fantasien mit einmaliger imitativer Themenfuhrung (Francesco, Nr. 81) oder mit einer Periode des Fortspinnungstyps (Francesco, Nr. 56) an.

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?pe f AAAjJ J /r^JJJ if^,J7Jj ;h

2tf ? ? ?

r ̂p Vrr- r^ f *

Beispiel 4: Luys de Narvaez, Fantasie Nr. 4, T. 1-30.

Solche Verwendungen der Vokalbasis und Abweichungen von derselben legen im An

fangsformbau ein weiteres allgemeines Grundgesetz offen. Fiir die Autoren bleibt in

jedem Fall wesentlich, neben den vokalen Strukturen einen Gegensatz der Vokal- und Instrumentalthematik zu zeigen. Die Komponisten konnen diesen Gegensatz innerhalb der ersten periodischen Struktur aufbauen. Er wird, wie in oben gezeigten Beispielen, entweder durch einen ?Abgesang" (Luys Milan, Nr. 4; Francesco, Nr. 30) oder als eine letzte instrumental improvisierende Phrase eingefuhrt (Francesco Nr. 56; Luys Milan Nr.

6). Wenn kein Gegensatz des Vokal- und Instrumentalmaterials in einer Anfangsetappe ausgepragt ist und die Stollen-Abgesang-Organisation mit vokalen Mitteln realisiert wird, erscheint dieser Gegensatz spater, am Ende der Expositionsetappe, als ein eigenartiges instrumentales Ritornell (Narvaez, Nr. 10, T. 28-35). Auf diese Weise bekommt das

exponierte Formglied eine Erweiterung, die eine Formierung eines entwickelten ersten Teils (in zweiteiliger Form des Fortspinnungstyps) fordert (Luys Milan, Nr. 18). In den

iibrigen Fallen erscheint ein Themengegensatz am Anfang des zweiten Teils. Doch steht dieser in unmittelbarer Verbindung zur nachsten Formetappe.

2. Die Entwicklungsetappe

Es scheint, dass die Lautenisten auch hier, wie in den exponierenden Formgliedern, nicht vollkommen frei waren. Folgende GesetzmaBigkeiten lassen sich betrachten: Je

weniger ein Kontrast nach einer Expositionsetappe erscheint, desto mehr bleibt das

Prinzip der paarweisen Phrasenwiederholung wirksam. Phrasenwiederholung ist typisch fur viele mittelalterliche Vokal- und Instrumentalformen des Sequenztyps (Estampie, Lai, Descort u. a). Solch eine innere Bildung ist mit einer iibergeordneten einteiligen Durchkomposition des ganzen Werkes verbunden.

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Als Haupttendenz ist hier eine entscheidende Rolle der polyphonen Entwicklung spiir

bar, sei es dicht imitativ nach Motettenart (Narvaez, Nr. 1, 6; Francesco, Nr. 28) oder

freipolyphon (Francesco, Nr. 87b, 3, 63). Haufig benutzen diese Werke cantus-firmus

Techniken. Freilich gibt es auch hier Beispiele der akkordisch-passagenartigen Fantasie

(Beispiel 5, Luys Milan, Nr. 7)8. Und nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass die

genannten strukturellen Besonderheiten unabhangig von der stilistischen Orientierung der Fantasien bleiben.

i i ,,-, , iii a ai b bi | a2 a3 [ c ci d di ] e ei ] C2 C3] C4 C5 C6 r n

ii iii

7 16 26 38 50 65 73 81 100 109 122

ephryg. ephryg aharm C e phryg/aol ephryg. G e phryg, C/d F, Flyd./e phryg, C e, ephryg. ephryg./E

Beispiel 5: Luys Milan, Fantasie Nr. 7.

Im Gegensatz zu vokalen Gattungen ist die Abweichung von dieser Wiederholung fur die Fantasien sehr charakteristisch. Dies wird durch die Einfuhrung von frei entwickeln den Abschnitten (Francesco, Nr. 87b) sowie einer Wiederholung der vorausgehenden Phrasen verwirklicht (Luys Milan, Nr. 7, Francesco, Nr. 63). Eine deutlich paarweise

Wiederholung kann dabei nur den Anfangs- oder Schlussteil pragen (Francesco, Nr. 1,

28). Dies ist auch teilweise mit cantus-firmus-Variationen vereinbar (Luys Milan, Nr.

12; Mudarra, Nr. 18, Beispiel 6).

a ai a2 a3 a4 as i a6 > a6 i ai as a9 a9 aio an am an an iii i

cantus_ i__i_i__ _i firmus

~ t ~'

" ~~ ~

iii i 4 7 10 13 16 19 25 29 36 39 45 49 52 55 63

ddor/harm/aol. dmel.,aphryg/dharm.F, ador/harm. ddor/harm. F ddor,dmel, dharm.

Beispiel 6: Alonso Mudarra, Fantasie Nr. 18.

Eine wichtige Organisationsgrundlage der Formentwicklung in den Fantasien bildet das

Refrainprinzip (Coupletprinzip). Haufig kommen die Merkmale der Refrainorganisation nur in der Phrasen- und Kleinabschnittbildung improvisatorisch zum Ausdruck. Die

Realisierung dieser vokalen Besonderheit hangt dabei von einigen Bedingungen ab. Sie tritt deutlicher hervor, wenn es kaum Kontraste nach der Expositionsetappe gibt und

8 In Bezeichnungen der Tonarten werden neben der Abkiirzungen der alten und harmonischen Tonarten

(phryg. -

phrygisch; harm. - harmonisch u.s.w.) ?reine" Buchstaben (C, a, usw.) benutzt. Sie bedeuten bei einem groBen Buchstaben eine ionische oder Durtonart und bei einem kleinen Buchstaben eine aolische oder Molltonart.

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die gesamte Binnenstruktur einer Fantasie auch mehr einteilig als zweiteilig begriffen werden soil. In der Regel ist dabei die Expositionsetappe nicht mehr als eine Periode.

In diesem Abschnitt erscheint eine Stollen-Abgesang-Organisation nicht deutlich und

wird auch nicht mit einem instrumentalen Ritornell abgeschlossen (Mudarra, Nr. 17;

Francesco, Nr. 36; Luys Milan, Nr. 8). Auf diese Weise dargestellte vokale Gesetzma

Bigkeiten fuhren zur Spiegelung klarer Rondo- bzw. Rondeaumerkmale in der ganzen Werkstruktur (Mudarra, Nr. 4, Beispiel 7).

r_ ri n

a I ai I b I bi. i ai ua3)....? a4 i a4.... i ii

i I

9 16 20 28 36 56 61 72

Fion/lyd,F C, F C F,Fmix,lyd,ion C F F

Beispiel 7: Alonso Mudarra, Fantasie Nr. 4.

Bei den Abweichungen von den genannten Besonderheiten steht die Barformstruktur

(Luys Milan, Nr. 3,4,18) oder Gegenbarformstruktur (Narvaez, Nr. 12) im Vordergrund und bestimmt die ganze Form eines Werkes (Luys Milan, Nr. 18, Beispiel 8). In solchem

Kontext verstarken sich die vokalen Merkmale der Grundstruktur. Deshalb wird der

erfindungsreiche Zusammenschluss innerer vokaler Phrasenstrukturen im gemeinsamen vokal gepragten Rahmen besonders sichtbar. Im Falle einer Barform ist deutlich der

Einfluss der Ballade erkennbar.

' ', . ri ? n,n . n n . r3, ta. . rs ..' re. ,

'

a ai ...b bi a2 a3 c ci C2 C2 .... d di... i_ .L_i

16 28 38 49 59 72 77 86 96 112

Gmix/C,G, C Gmix/ion. G Gmix/ion. h (G) Gmix/ion., j) Q (jmjx/jon.

A Ai B

Beispiel 8: Luys Milan, Fantasie Nr. 18.

Daneben konnen Zwischenvarianten in den kompositorischen Strukturen geschaffen

werden, z. B. wenn eines oder einige der oben genannten Prinzipien nicht erfullt werden.

Dann wird eine feste Vereinigung des Refrainprinzips mit der zweiteiligen Fortspinnungs form wahrnehmbar (Mudarra, Nr. 1, 8, 15). So bildet der erste Teil der achten Fantasie

von Mudarra eine zweiteilige Periode mit instrumentalem Refrain: a-r-al-rl. Der zweite

Teil entwickelt frei variierend das Material des ersten Teils bei regularer Wiedergabe des

variierten Refrains. In der 15. Fantasie desselben Komponisten ist der erste Teil starker

entwickelt. Er stellt eine zweiteilige Fortspinnungsform mit Refrainbesonderheiten dar,

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Kompositorische Strukturen der Lautenfantasie in der 1. Halfte des 16. Jahrhunderts 39

allerdings auf der Grundlage vokalen Materials: a-a1-a2-a1. Hingegen wird der zweite

Teil in Coupletform klar strukturiert: dreimal a-b-b^ Solche sehr deutlich vokalen Grundlagen verbinden sich nicht mit der Einfuhrung

von Lied- und Tanzliedthematik, das heiBt mit dem Erscheinen der unmittelbaren Bear

beitungen. In den Fantasien, die Liedern und Tanzen der Zeit sehr ahnlich sind, ist dies

von groBer Bedeutung. Freilich haben diese Strukturmerkmale eine ahnliche Bedeutung fur die Organisation in solchen Fantasien, die sich vorwiegend auf Passagen griinden

(Mudarra, Nr. 3; Luys Milan, Nr. 13). Eine Ausnahme machen jene Fantasien, die in

klarer Coupletform mit Tanzliedstilistik gebaut sind (Francesco, Nr. 7,40). Jedoch ?ver lieren" diese Werke strukturell ihre Gattungsmerkmale als Fantasien. Sie sind einfacher

angelegt und spiegeln die Merkmale nur einer einzigen Form.

Die Einfuhrung von Kontrastmotivik am Anfang des zweiten Teils verandert we

sentlich das Aussehen der Fantasien. Dies geschieht aber nicht nach Belieben der

Komponisten. Vielmehr gibt es iibergeordnete GesetzmaBigkeiten. Der erste und zweite

Teil werden von den Lautenisten mit jeweils neuem Vokal- oder Instrumentalmaterial

gestaltet. Ausgepragte Beispiele von Fantasien mit einem neuen Vokalthema im zweiten

Teil sind nicht eben oft zu finden. Dieses Prinzip wird realisiert, wenn ein erster Teil des

Werkes relativ stark entwickelt ist und eine deutliche Stollen-Abgesang-Organisation sowie kontrastierendes Vokal- und Instrumentalmaterial (als instrumentales Ritornell) aufweist. Ein Refrainbau bleibt in diesem Fall oft nur im ersten Teil erhalten. Entspre chend wird dabei auch ein instrumentales Ritornell nur im ersten Teil verwendet. Der

zweite Teil strukturiert sich in diesem Fall komplexer. Er fangt haufig mit einer fugier ten Exposition an und hat eine andere, vom ersten Teil unterschiedene Organisation, z. B. frei polyphon entwickelte Bildungen (Luys Milan, Nr. 1, 2; Francesco, Nr. 39). Eindrucksvolle Beispiele stellen solche Fantasien dar, deren erste Teile die Merkmale

einer fugierten Exposition und einer Stollen-Abgesang-Organisation erfindungsreich verbinden (Luys Milan, Nr. 3, Beispiel 9).

Stollen - Abgesang Stollen - Abgesang

a ' ri ai 'rivar c ci c ci

fugierte , i Exposition i i

13 21 53 67 91 115

dharm.,G, d F dharm,G, dharm C,F, dharm C,F, dharm

A Ai R Ri

Beispiel 9: Luys Milan, Fantasie Nr. 3.

In diesem Zusammenhang entsteht eine feste Verknupfung der Coupletform mit der in den Fantasien deutlich erkennbaren kontrastierenden zweiteiligen Form mit zwei

gleichberechtigten vokalen Themen. Es scheint, dass die Fantasie eine groBe Rolle bei

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der Herausbildung dieser mehr instrumentalen Form gespielt hat. Entscheidend ist, dass diese Form in der organisierenden instrumentalen Improvisation ausgearbeitet und hier im Verbund mit dem sich formierenden eigenstandigen instrumentalen Denken vorgestellt

wird. Hierbei kommen auch die sichtbare stilistische Vielfalt und eigengepragte Verfah ren des Komponisten zum Ausdruck. Es gibt interessante Kreuzungen der stilistischen

Ziige der Gattungen liturgischer Tradition und struktureller Merkmale des Lied- und

Tanzgutes, obwohl man auch hier die instrumentale Komponente (als instrumentales Ritornell und frei entwickelte Diminutionen) hSren kann.

Bei instrumentalem Material am Anfang des zweiten Teils nutzen die Komponisten zwei Moglichkeiten: die Einftihrung hier relativ neuen Instrumentalmaterials und die

Weiterentwicklung eines instrumentalen Schlussritornells des ersten Teils. Die erste

Moglichkeit verwirklicht sich nach dem frei polyphonen (mdglich mit fugierter Exposi tion) ersten Teil (Francesco, Nr. 33; Mudarra, Nr. 15). Wie in oben genannten Beispielen bildet sich ein Kontrast heraus, der einen Gegensatz der Vokal- und Instrumentalthematik deutlich macht. Ein solcher Kontrast wurde in instrumentalen improvisatorischen Ge

brauchsgattungen probiert (z. B. Tiento Nr. 1,2 von Mudarra). Doch im Gegensatz zur

Fantasie stellt er sich im Tiento in einfacher, klarer Form und ohne andere Formkenn

zeichen dar. AuBerdem wird der strukturelle Unterschied der beiden Teile in der Fantasie

oft dadurch unterstrichen, dass der erste Teil als fugierte Exposition mit stretta-artiger

Weiterentwicklung und der zweite Teil als cantus-firmus-Variation (Mudarra, Nr. 27)

gestaltet wird. Man kann sagen, dass andere improvisatorische instrumentale Gattungen der Zeit dieses Prinzip auf ?reinere" Weise nutzen. In engem Zusammenhang mit der

Fantasie stehend, markieren sie ihren Einfluss auf diese Gattung und fordern die Ent

stehung der starker entwickelten, kontrastierenden, zweiteiligen Form in der Fantasie

heraus.

Typisch ist es, dass die Fantasie aus den Formbildungsprinzipien der anderen Gat

tungen nur Hauptideen oder einige spezifische Details tibernimmt. Dies wird z. B. in

der Orientierung der genannten Fantasien an der zweiteiligen variierenden Tanzsuite

sichtbar, welche sich just in der ersten Halfte des 16. Jahrhunderts formiert. Doch kann

die Verwandtschaft mit der alteren Tanzsuite auch nur als ein Wechsel der metrischen

zwei- und dreiteiligen Taktordnung bei einem Abschnittswechsel ausgedriickt werden.

Dieses Prinzip ist wiederholbar und auf diese Weise schiagt die Fantasie einen Weg hin

zur mehrteiligen Suite ein. In jedem Fall ist das Verfahren mit vielen anderen Form

kennzeichen eng verflochten (Luys Milan, Nr. 15, 20, 28, 30)9. Ein Gegensatz des vokalen und instrumentalen Materials kann in den Fantasien auch

nur als skizzenhafte Idee des Fakturgegensatzes an der Grenze des ersten und zweiten

Teils bestehen. Er wird in ?reinen" instrumentalen Fantasien besonders sichtbar (Mu

darra, Nr. 2, 4).

9 Es ist moglich, dass solch eine ausdruckvolle Annaherung an die altere Tanzsuite bei Luis Milan mit

seinen padagogischen Zielen verbunden war. In seinem Schaffen kann man besonders viel verschiedene

Typen der Fantasie finden.

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Kompositorische Strukturen der Lautenfantasie in der 1. Halfte des 16. Jahrhunderts 41

Ahnlich einer Skizze begegnet uns am Anfang ?des zweiten Teils" ein fur Fantasien

typischer Abschnitt mit oft kanonischen, imitativen Sequenzen (Francesco, Nr. 40, 41,

Beispiel 10) oder wiederholte Schlussformeln (Mudarra, Nr. 7). Durch die Wieder

holung werden diese Merkmale als wichtige Markpunkte der Form befestigt, obwohl sie in diesem Fall keinen Gegensatz vokalen und instrumentalen Materials enthalten konnen. Diese Beispiele bestatigen ihrerseits die fur die Gattung Fantasie bedeutende

komplizierte Formbildung und die Verwendung von Instrumentalthematik. Nicht zufallig stellen diese Werke Ausnahmen dar und nahern sich mehr anderen Gattungen an: die 40. und 41. Fantasie von Francesco an Lied und Tanzlied, die 7. Fantasie von Mudarra an das frei polyphone Ricercar.

Beispiel 10: Francesco da Milano, Fantasie Nr. 40, T. 14-19.

Eine Weiterentwicklung des Schlussritornells des ersten Teils verbindet sich in den Fantasien in der Regel mit der Entstehung eines zweiten Teils, in dem das Instrumental material eine groBe Rolle spielt (Luys Milan, Nr. 6, 5; Mudarra, Nr. 1). Solche Fantasien werden in zweiteiliger Fortspinnungsform organisiert. Diese Struktur lasst sich in unter

schiedlichsten Gattungen des 16. Jahrhunderts beobachten. Gleichzeitig kann ein fur die Fantasie charakteristisches Merkmal benannt werden. Es betrifft eine Erweiterung der

Entwicklungsetappe durch Einfuhrung kontrastierender Abschnitte. Und das beleuchtet schon die nachsten Besonderheiten der Fantasie. Die Formierung des kontrastierenden Abschnittes innerhalb der Entwicklungsetappe (oder Entwicklungsschlussetappe) er

scheint durch Einfuhrung einer sich abgrenzenden Satztechnik, etwa deutliche Akkordik,

typische kanonische Sequenzen oder ausdrucksvolle, virtuose Passagen. Am haufigsten treten aber in verschiedenen Fantasien wiederholte Sequenz-Abschnitte auf. In diesem

Zusammenhang wird klar, dass die Ausarbeitung und Befestigung der Sequenztechnik als instrumentales Entwicklungsmittel in den Fantasien fur die Autoren prinzipiell wichtig und als eigenstandige Etappe der instrumentalen Form begriffen wurde. Dies ist in groBen imitativ-polyphonen oder virtuos-polyphonen Fantasien eingesetzt worden,

womit die Entstehung von Symmetrien fur die ganze Komposition einher geht, was

in den Werken klar (Francesco, Nr. 87b, 33; Narvaez, Nr. 2, Beispiel 11; Luys Milan, Nr. 9) oder auch als Tendenz (Luys Milan, Nr. 5, 6; Francesco, Nr. 55) nachvollzogen werden kann. Diese Besonderheit macht die allmahliche Herausbildung der vielteiligen kontrastierenden (symmetrischen) Formen in den Fantasien sichtbar. Es entstehen sym metrische Formen mit starkerer instrumentaler Entwicklung.

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42 Kateryna Shtryfanova

a lb |c ci d ...JI e eie2e3e4e5e6 II f/a .... ' r/e |n/e j i ' i '

| \ Sequenz jI ?

24 36 45 68 102 125 137 154

d,aaol,dor aharm. aharm., a/ephTyg.dhann.^^'^^^^'^^^'^'^^ dmel.d/D, ador/aol. dharm. d/D i-? i_i

i_i '-'

A B Ai/Bi

Beispiel 11: Luys de Narvaez, Fantasie Nr. 2.

3. Schlussetappe

Fiir die Gattung der Fantasie ist eine Vereinigung der Entwicklungs- und Schlussfunktion in der Schlussetappe typisch. Doch begegnet man haufig deutlichen Abgrenzungen der

Schlussetappe. Nicht seiten treten dabei Reprisenmerkmale auf. Der Schlussabschnitt kann durch ein instrumentales Ritornell, also instrumentale Formeln, die Ritornellfunk tion haben, abgetrennt werden oder auch durch eine vokale reprisenartige Schlussphrase

wie in Mudarras Nr. 5, 9, 7 und Francescos Nr. 3. Dabei kann eine bogenartige Form

entstehen, die eben realisiert wird, wenn ein vokales oder instrumentales Ritornell nach

dem ersten Teil und dann wieder vor dem Schlussabschnitt eingefiihrt wird (Luys Milan, Nr. 6, Beispiel 12; Narvaez, Nr. 2).

a | ai| a2 ] ai ] a3 a3j r I b I bi I c ci b2 D3j C21 C3 I a4 as J n I d ] dil; I i . . .instr , , .instr

Akk(^6lk ji

7 13 21 29 39 43 50 58 72 86 91 97 122 131 140 151

d,a C aharm.,dharm. d, a dmel. aharm, G'***"*' dharm -*^*^*^ G eharnv%'*'ddor,dmel, dharm. ^dharm.

A B

Beispiel 12: Luys Milan, Fantasie Nr. 6.

Sehr gern verwenden die Lautenisten beim Abschluss einer Fantasie allerdings ein

eigenes Schlussritornell10. Dieses Ritornell wird entweder auf vokalem Material, Ak

kordik oder auf instrumentalen Passagen aufgebaut. Das hangt von der Verwendung des

Instrumentalmaterials in der vorherigen Entwicklung der Fantasie ab. Am haufigsten schlieBen die Werke mit einem vokalen oder akkordischen Ritornell, wenn es innerhalb

der Komposition noch ein kontrastierendes instrumentales Ritornell gibt, und umgekehrt

(Luys Milan, Nr. 4, 6 und Francesco, Nr. 30). Dies ist typisch fur Formen des Fortspin

10 Eine Wiederholung der Schlussgruppe als Motettenmerkmal in Fantasien von Bakfark betont

Gombosi, Der Lautenist, S. 58.

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Kompositorische Strukturen der Lautenfantasie in der 1. Halfte des 16. Jahrhunderts 43

nungstyps. Dabei ergeben sich Wiederholungen haufiger, wenn die Coupletmerkmale und paarweisen Phrasenwiederholungen uber die ganze Form hinweg deutlich erkennbar

sind (Luys Milan, Nr. 6, 10 nur der erste Teil).

Unabhangig von der ganzen Struktur bleibt es wichtig, einen Abschlussabschnitt mit

kontrastierender Faktur darzustellen und damit die Schlussetappe der ?freien" Form

klar zu kennzeichnen. Hierin ist die Grundlage des Balladenprinzips zu bemerken: das

Erscheinen eines neuen Abschnittes am Ende der Komposition (barformartig). Das macht es auch moglich, auf Parallelen mit der Madrigalstruktur, sowohl im 14. Jahrhundert

(Barform) als auch im 16. Jahrhundert (Madrigalform mit Schlussritornell), hinzu

weisen. Als stabile Tendenz der Formbildung ist die Bildung des Schlussritornells aus

dem Material des Expositionsteils festzustellen. Dadurch kommen Reprisenmerkmale als Rahmen der Form in Betracht, was die Merkmale des fruheren Virelai- und Balla

taformbaus (nach der Art a-bb-aa) hervorhebt (Francesco, Nr. 30, 55; Mudarra, Nr. 5). Dies geschieht, wie immer in der Fantasie, in Verbindung mit einem Komplex anderer

Formmerkmale, etwa der Verwendung instrumentaler und vokaler Typen des Ritornells

(Mudarra, Nr. 9). Fur andere improvisatorische Gattungen (Tiento, Ricercar), welche der Fantasie

ahnlich sind, sowie fur Liedbearbeitungen sind entweder eine freiere durchkomponierte Formbildung am Ende des Werkes oder eine deutliche Darstellung der Liedform charak teristisch. Beispiele der durchkomponierten Form geben u. a. die Ricercari Nr. 14 und

69 sowie eine Liedbearbeitung Pater noster Nr. 108a von Francesco. Die unmittelbare

Uberlieferung der vokalen Strukturen fiihrt zu einer zweiteiligen Reprisenform (Mudarra, Tiento Nr. 3, 1,5) oder einer Virelai-Struktur a-ara2-a (Francesco, Fortune alors, Nr.

117). Alle bezeichneten Besonderheiten in der kompositorischen Struktur der friihen Fan

tasie weisen darauf hin, dass die oft genannte Willkur und gewisse Eigenart oder die

Wiederholungslosigkeit in der Form dieser Gattung nur scheinbar existiert ist. Es wird

sichtbar, dass dieser Gattung eine genau bestimmte, feste Verbindung und strenge Or

ganisation ihrer Komponenten zugrunde liegt. GesetzmaBigkeiten der Wiederholung in der Verbindung der Formteile werden vielschichtig, in komplizierter Verflechtung schon existierender und entstehender Grundprinzipien der Formgebung im 16. Jahrhundert

organisiert.

Unabhangig vom stilistischen Typ des Einzelwerks spiegeln die Fantasien einerseits viele traditionelle vokale Merkmale in der Form wider und fuhren andererseits mit

neuartigen Elementen zu einer genuin instrumentalen Musik. Das Verhaltnis dieser Be sonderheiten ermoglicht folgende Feststellung: Die Fantasie in der friihen Phase ihrer Existenz steht zwischen Tradition und Innovation, freilich bei einem Ubergewicht des Uberkommenen. Die oft unterstrichene Loslosung von der Vokalmusik erweist sich in den strukturellen Besonderheiten der Fantasie der ersten Halfte des 16. Jahrhunderts

umgekehrt als eine stetige Bewahrung. Gleichzeitig hat diese Gattung zum ersten Mai in der Geschichte der Instrumentalmusik eine derart komplizierte und organisierte Flexibility der Formgebung erreicht und als ein typisches Gattungsmerkmal befestigt.

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44 Kateryna Shtryfanova

Gegeniiber anderen erscheint die Fantasie als eine Gattung, die in bestimmter Hinsicht

die hflchste Ordnung vorweist. Und dies ist es gerade, was die Ausbildung und Verfes

tigung der Fantasie als eine improvisatorische Gattung im 16. Jahrhunderts bedingt. Weiter kann man im Hinblick auf spatere Fantasien (etwa der zweiten Halfte des 16.

Jahrhunderts) zu dem Schluss kommen, dass die meisten der hier genannten Merkmale

auch weiterhin nicht verschwinden und entsprechend ihrer Gattungsbasis die Form be

stimmen. Und lediglich auf dieser Grundlage tritt dann allmahlich in zunehmendem MaBe

die Rolle individueller Initiativen einzelner Komponisten hervor. Dies fiihrt schlieBlich zur Ebene der stilistischen Eigenpragung durch einen Komponisten und wirkt sich auch

auf die Gattungsstruktur der Fantasie, darunter auf ihre Form, aus.

Anschrift: vul. Philipowskaja 50/3, Charkiw, 61157 Ukraine

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