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Page 1: MZ-Sonderbeilage zur Buchmesse

ZehnTage im

SeptemberCHRISTA WOLF Die Aufzeichnungen von

2001 bis 2011 vollenden dasTagebuchwerk „Ein Tag im Jahr“.

VON CHRISTIAN EGER

C hrista Wolf ist immer imDienst. Mehr oder wenigergenervt. Was da auch alles

ins Haus flattert. Hinaufzutragenist, Tag für Tag, vom Briefkastenweg in die erste Etage des herr-schaftlichen Mehrfamilienhausesam Amalienpark in Berlin-Pankow.Einladungen zu gesellschaftlichenEreignissen (überflüssig). Anfra-gen zu Lesungen (lästig). Auto-grammwünsche (oft unverschämt).

Die Schriftstellerin hat einenVordruck fertigen lassen, den siepostwendend zuschickt: „Frau Wolfvergibt keine Autogramme außerbei Lesungen in ihre Bücher.“ Ist jaauch nachvollziehbar. Anderer-seits: „Aus irgendeinem Grund be-leidigen mich diese Autogramm-wünsche“, notiert die Autorin.Dann läutet wieder das Telefon.27. September 2007: „Bin ich dortrichtig beim Friseur Wolf?“ Komikdes Alltags. Konnte die 78-jährigeChrista Wolf darüber lachen?

Der Anruf war ihr einen kom-mentarlosen Eintrag wert. Zu fin-den in den heute veröffentlichtenTagebuchblättern von 2001 bis2011, jenem Jahr, in dessen Dezem-ber Christa Wolf 82-jährig starb.„Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhun-dert“ ist das Buch überschrieben,das die letzte Fortsetzung der 2003mit großem Erfolg veröffentlichtenTagebuchblätter von 1960 bis 2000bietet. Blätter, die der 1935 von Ma-xim Gorki geäußerten Idee folgen,weltweit jeweils den 27. Septemberzu beschreiben. Eine Langzeitbeo-bachtung, ganz nach der Den-kungsart der Autorin. Was die Defamit dem Dokumentarfilm „Kindervon Golzow“ über 46 Jahre hinwegschaffte, gelingt der Schriftstelle-rin über 51 Jahre in eigener Sache.

Ein Projekt, das die Frage klärensoll: „Wie kommt Leben zustande?“Um Jahr für Jahr möglichst „pur,authentisch, frei von künstleri-schen Absichten“ zu schreiben.

Aber nicht frei von der Absichtder Veröffentlichung. Was heißt:Christa Wolf zeigt sich auch so, wiesie gesehen werden will. Dasmacht die Notate interessant. Überdas Literarische hinaus: Die Auto-rin von Bestsellern wie „Kindheits-muster“ (1976) und „Kassandra“(1983) war in den 1980er Jahren inOst- und Westdeutschland in ei-nem Maße verehrt worden, wie eskeiner deutschsprachigen Autorinzuvor oder bislang danach gelang.So kann man die Blätter mit priva-ter Neugier oder zeitdiagnosti-schem Interesse lesen. Im klassi-schen Sinne „rezensieren“ lässtsich dieses Buch nicht. Man würdeein Leben „rezensieren“ müssen.

Eines, das sich längst selbst his-torisch geworden war. „Meine Er-fahrung ist: Von einem bestimmtenZeitpunkt an, der nachträglichnicht mehr zu benennen ist, be-ginnt man, sich selbst historisch zusehen“, schreibt Christa Wolf, „washeißt: eingebettet in, gebunden anseine Zeit.“ Mit der Folge: „Mansieht, wieviel Allgemeines auch inPersönlichstem steckt“. Und dasBesondere, das die Autorin inmenschlicher, literarischer und ge-sellschaftlicher Hinsicht ausmacht.

Jeweils am 27. September. Freinach Harry Belafonte: „Try to re-member the kind of September“,versuche, dich an den Septemberzu erinnern. Dessen äußeres Bildgleicht sich Jahr für Jahr. In derWohnung am Amalienpark - zwi-schen Küche und Wintergarten, Ar-beits- und Schlafzimmer - ziehendie Tage einher. Die Post, die Anru-fe, die Lektüren, ab und an ein Aus-flug: Das sind die privaten Ereig-nisse der Tage, die Christa Wolfmitschreibt, die am Anfang der No-tate 72 Jahre alt ist. Eine Frau, diehart an der körperlichen Überfor-derung entlang denkt und schreibt.Die sich das Elend der Welt buch-stäblich einverleibt. Der Stress,dem sich diese Autorin zeitlebensaussetzte, muss groß gewesen sein.

2001, wenige Wochen nach demAnschlag auf die Twin Towers in

New York, beschreibt sie ihr mor-gendliches Erwachen: „Mit einemSchlag sind die Gefühle von Span-nung und Angst wieder da, die die-ser Realität entsprechen und dieschon so oft in meinem Leben denTagesanfang begleiteten.“ Im Kü-chenradio hört sie den von einemJournalisten bejahten Satz des US-Präsidenten: „Wer nicht für uns ist,ist für unsereFeinde“. EinStatement, dasChrista Wolf zudem Kommen-tar veranlasst:„Vielleicht weißer nicht, daßdas einmal un-terdrückte kritische Denken, wenn,diese Zeiten’ wieder vorbei seinsollten, nicht so einfach wieder an-zuknipsen ist.“

Eine Aussage, zu der sich an an-deren Stellen Varianten finden las-sen. So notiert Christa Wolf 2010,dass sie 1961 beim Bau der Mauergehofft hätte, dass nunmehr „einanderer Geist einziehen würde“ indie Spitzen von Partei und Staat.„Aber warum haben wir nicht da-mals schon sehen können, daß esdiesen ,Geist’ in diesem Apparatnicht gab - und nicht geben konn-

te?“ Man hätte hier gern Genaueresgewusst. Aber der Leser muss sichdie Antwort selbst geben, weilChrista Wolf bereits die Nachttisch-lampe ausgeknipst hat: „immer einerleichternder Moment“.

Erleichternde Momente hat dasErinnern an die Kämpfe in dermittleren DDR nicht zu bieten, diefür die Autorin in eine Art von Vor-

vergangenheitentrückt sind.Über das Aus-brechen derkulturpoliti-schen Eiszeitim Jahr 1965schreibt sie2002: „Die Emo-

tionen von damals sind vollständigerloschen, ich wundere mich, wieradikal meine Einsichten schonwaren“. Welche Einsichten das ge-wesen sind, erfährt man nicht.Aber, dass das „Drüben“ niemalseine „Alternative“ für die Autoringewesen sei. Wie auch? , fragt mansich. Und warum? Christa Wolf leb-te eine andere „Alternative“ längst:im Ost-„Hier“ zu wohnen und imWest-„Drüben“ wirken zu können.

Erhellender gelingen da die Bli-cke auf die eigene Geschichte derSchriftstellerin. Dass sich die 1929

im neumärkischen Landsberg,dem heutigen westpolnischenGorzów, geborene und 1945 nachMecklenburg Geflohene zeitlebensals eine Vertriebene, also immerauch als eine Deklassierte begrif-fen hat, war bislang unbekannt.2004: das „Dauergefühl, als ,Ver-triebener’ zurückgesetzt zu sein.War das in der DDR, wo es viel we-niger Vermögensunterschiede alsim Westen gab, weniger der Fall?“

Kaum, meint sie. „Das läßt sichnicht alles durch Einsicht in histo-rische Zusammenhänge und Not-wendigkeiten kompensieren, wieich es ziemlich lange versucht ha-be.“ Doch die Vergangenheiten rü-cken von ihr ab. 2008: „Meine Zeitist vorbei. Ich sehe den Ereignissenzu. Dies ist nicht mehrmeine Zeit.“ Was fürsie daran spürbarwird: „Ich fühle michnicht mehr verantwort-lich für das, was ge-schieht.“

Aber für Empörun-gen reicht die Kraft.Gegenüber Journalis-ten, denen ChristaWolf je nach Rezensi-onslage mit einem ri-gorosen, merkwürdigfamiliären Affekt be-gegnet. Dass sich derum 36 Jahre jüngereThomas Brussig 1995 in seinem Er-folgsbuch „Helden wie wir“ übersie lustig machte, indem er dieSchriftstellerin mit KatharinaWitts Eislauftrainerin Jutta Müllerverglich, nimmt Christa Wolf die-sem Autor übel bis zuletzt. Undauch, dass einige ihrer Kinder undEnkel trotzdem Umgang mit ihmpflegen. Da kennt Christa Wolf kei-nen Spaß, nirgends. Das kann be-drücken. Als Stimmungsaufhellerdienen da die allabendlich von ih-rem Ehemann einfallsreich zube-reiteten Speisen. Auf deren Genussfreut sie sich als eine „Zeit des rei-nen Konsums“.

Beiläufig fallen einige Urteileüber Kollegen und Zeitgenossen.Die Nach-89er „Konterrevoluti-ons“-Thesen von Peter Hacks? Ein„Kuriosum“. Tellkamps Erfolgs-buch „Der Turm“? „Überbewertet“,was Christa Wolf zweimal bemerkt.

Die Schauspielerin Martina Ge-deck im Film „Hunger auf Leben“als Brigitte Reimann? Die passe „indie Rolle der betrogenen Witwe vielbesser“ als in die der Dargestellten.Erstaunlich: Noch in der Phase ih-res Rückzuges aus der Öffentlich-keit gibt die Schriftstellerin eineAhnung davon, zu welcher Ent-schiedenheit und Schärfe in ihrenÄußerungen sie auch in der Lagewar. Im Persönlichen genauso wieim Politischen, etwa wenn sie den„Raubtierkapitalismus“ im Landein den Blick nimmt.

Mal winkend, mal abwehrend: Sonimmt man bei der Lektüre die Au-torin wie in einem Rückspiegelwahr. Christa Wolf: Wer war dieseFrau? Keine Staats-, sondern eine

Gesellschaftsschrift-stellerin in einemStaat, der eine freieGesellschaft nicht zu-ließ, bei Gefahr seinesUntergangs nicht zu-lassen konnte. Einefürsorgliche, autoritärgeprägte Linke, derenThemen einigeSchnittmengen mit de-nen der christlichen,pazifistischen, alterna-tiven und DDR-skepti-schen Milieus bot. Wasaber gern - und durch-aus nicht zum Vorteil

ihres Werkes - überblendete, dassdie Anna-Seghers-Schülerin Chris-ta Wolf ihrem Selbstverständnisnach eine sozusagen sozialistischeAutorin war, die sich selbst bis zu-letzt nicht als eine „bürgerliche“Schriftstellerin begreifen wollte.

Gegen Ende hin zog sich fürChrista Wolf die unmittelbare Le-benswelt auf die der Familie zu-sammen: „das andauernde wich-tigste Ereignis in meinem Leben“,wie sie notiert. Äußerlich versuchtsie ihre Zeitgenossenschaft auf-rechtzuerhalten durch das seiten-weise Abschreiben von Überschrif-ten aus der „Berliner Zeitung“. Ei-ne mühevolle Pflicht, der keine Kürmehr folgen kann. Im Kranken-haus brechen die Einträge am27. September 2011 unvermitteltab. Christa Wolfs letzte Notiz istder Presse entnommen: „BZ: ,Eswird laut über dem Müggelsee’.“

ZU DEN FOTOS DER BEILAGE

Von der Straße aus gesehen: Harald Hauswald erkundet den Osten von 1986 bis 1990Das ist eine Überraschung: DerAlltag der späten DDR in Farbe!Man hatte sich doch angewöhnt,die DDR-Jahre durchweg inSchwarz-Weiß zu erinnern. In jenenTönen, die die künstlerische Ostfo-tografie vorzugsweise bediente.Ernsthaft, klassisch, von Schwer-mut getränkt. Davon sind die Foto-grafien frei, die Harald Hauswaldunter dem Titel „Ferner Osten. Dieletzten Jahre der DDR“ im LeipzigerLehmstedt Verlag veröffentlicht.

Erstaunlich, dass so ein einzigar-tiges Werk noch 24 Jahre nach demEnde der DDR ans Licht gebrachtwerden kann. Auch deshalb, weilder 1954 in Radebeul geborene Fo-tograf in der Branche kein Unbe-kannter ist. Im Gegenteil. Der Re-

porter, der heute der Berliner Ost-kreuz-Agentur angehört, hatte1987 von der DDR aus gemeinsammit Lutz Rathenow in München denBildtextband „Ostberlin - die andereSeite einer Stadt“ veröffentlicht.Ein Buch, das Epoche machen sollteund im Osten verboten wurde.Denn zum Mainstream gehörteHauswald nie, dessen Fotos in derDDR nur ab und an in der evangeli-schen Wochenzeitung „Die Kirche“

erscheinen durften. Der vormaligekirchliche Pressereferent und heuti-ge „Zeit“-Journalist ChristophDieckmann erinnert sich an die Jah-re mit Hauswald im Buch, zu dem erein gültiges Vorwort beitrug.

Hauswald zeigt den Osten von1986 bis 1990. Sozusagen das Bo-denpersonal der DDR-Gesellschaft,aufgenommen von ihren Rändernher. Die Alten, die Erwachsenen, dieKinder, fotografiert von Bautzen bisHiddensee. Und fast durchweg vonder Straße aus. Hauswald, der land-auf, landab fahrende Reporter, einJack Kerouac der Ost-Fotografie.Motto: „On the Road“. Er zeigt, wasihm auffällt: Poesie und Gegen-Poli-tik. Unverstellte Wirklichkeiten. ImNachhinein malerisch schön. CEG

Harald Hauswald:Ferner Osten.Die letzten Jahreder DDRLehmstedtVerlag,176 Seiten,29,90 Euro

Das sind wir

Ein Tag im Jahrim neuenJahrhundert2001-2011Herausgegebenvon Gerhard Wolf,Suhrkamp Verlag,163 Seiten,17,95 Euro

„Meine Zeit istvorbei. Ich sehe denEreignissen zu.“Christa Wolfam 27. September 2008

SPEZIAL MZ-Literaturbeilagezur Leipziger Buchmesse,die nächste Woche öffnet.

LEIPZIG LIEST Die bestenBücher und diewichtigsten Termine

Harald Hauswald FOTO: DPA

PioPioniere in der S-Bahn, 1. Mai in Ostberlin FOTO: HARALD HAUSWALD

Christa Wolf FOTO: DPA

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ImFroschgang

MO YAN Der Literaturnobelpreisträger beschreibt dieverheerenden Folgen der chinesischen Ein-Kind-Politik.

VON STEFFEN KÖNAU

D ie Kinder heißen hier wieKörperteile. Das soll Glückbringen, dabei sind alle die,

die in Mo Yans neuem Buch einenNamen haben und laute er auchGalle oder Bein, ohnehin unter denGlücklichen. Sie sind geboren wor-den, sie wurden nicht abgetrieben,auch nicht im siebten oder achtenMonat, als ihre Mütter schonglaubten, die verbotene Schwan-gerschaft mit weiten Kleidern undeng geschnürten Tüchern gut ver-borgen zu haben. Und doch er-wischt wurden.

Erwischt von Tante Gugu, der bi-zarren Hebammenfigur, die Litera-tur-Nobelpreisträger Mo Yan in denMittelpunkt seines neuen Buches„Frösche“ gestellt hat. Vordergrün-dig lässt der 58-Jährige darin sei-nen Erzähler Wan Fuß vom Lebenauf dem Land im China der End-50er bis heute erzählen. In Wirk-lichkeit aber kreist der Roman umdas zentrale Thema der staatlichenGeburtenkontrolle, die die chinesi-sche Führung Mitte der 60er Jahremit der Zwei-Kind-Politik einge-führt und ab 1979 als Ein-Kind-Po-litik fortgeführt hatte.

Von fern klingt das wie eine ge-sellschaftliche Verabredung, dieeinzuhalten in aller Interesse ist.In Mo Yans Buch aber entpupptsich die Maßnahme zur Wohl-standshebung als Auslöser fürLeid, für Tod und Traumata, dieganze Generationen prägen.

Guan Móyè, der sich „Mo Yan“nennt, was zu deutsch „sprichnicht“ heißt, hat das Buch, das erschrieb, als er noch kein Nobel-

preisträger war, als Mischung ausFarce, Klamotte und Schocker an-gelegt. Sein Erzähler Wan Fuß be-richtet vermeintlich plauderndvom Dorfleben im Gaomiland, vonden Hungerjahren, in denen dieKinder Kohle aßen, und von den

aufrechten kommunistischen Hel-den im Ort, die dennoch immer„wie ein Fels“ zur ruhmreichenPartei Maos standen. Ein bisschenklingt das wie Ephraim Kishons„Blaumilchkanal“, ein bisschen hates auch die altbackene Behäbigkeitdes Witzes von Rudi Strahls „DerKrösus von Wölkenau“ - freilich

nur, bis zum ersten Mal eine paral-lele Wirklichkeit hereinweht: Einreisender Kinovorführer zeigt ei-nes Tages vor dem Hauptfilm Wer-bung für Geburtenkontrolle. Unddie nette Gugu, inzwischen Chefinder frauenärztlichen Abteilung derKrankenstation, beginnt, die vomPolitbüro erdachte Staatspolitik beiden Nachbarn durchzusetzen.

Mo Yan ist immer noch in den60er Jahren, er bildet die Politspra-che von damals eins zu eins ab, er-klärt aber nie, wie die erst Ende der70er praktizierte Ein-Kind-Politikhierher geraten konnte. Ein Kunst-griff? Eine Anspielung auf die Ver-antwortung Einzelner? Auf dieMacht über Leben und Tod, die Tan-te Gugu hat? Die „Kaulquappen“ je-denfalls sollen keine Frösche mehrwerden und wo am Anfang nochWiderstand sich regt, finden sichdoch bald alle hinein in die neueZeit, die mit Spirale und durch-trenntem Samenleiter marschiert.

Wenigstens nach außen hin.Denn so laut auch die Zustimmung

der Menschen zu den klugen Be-schlüssen des Führers Mao Zedongin den Dorfversammlungen er-schallt, so klein schrumpelt sie zu-sammen, wenn es um das eigeneSchicksal geht. Schwangerschaftenwerden verborgen, Menschen ver-steckt. Im Froschgang geht es umsLeben, denn Tante Gugu, längst dieExorzistin der bösen Geister vonzweiten Geburten, jagt die Schwan-geren, treibt zum Abort, selbst umden Preis, Mutter und Kind zu ver-lieren.

Was zählt ist die Doktrin, waszählt ist das Staatsziel. Auch der in-zwischen erwachsene ErzählerWan Fuß gerät in die Realitätsfalle:Seine Frau wird zum zweiten Malschwanger, um seinen Posten beider Volksarmee behalten zu kön-nen, überredet er sie zur Abtrei-bung... Die Komödie, die Mo Yanseiner eigenen Schuld hinterher-schrieb, weil auch er seiner Fraudasselbe antat, kippt hier ins Dra-ma, das niemand unbeschädigtübersteht. Auch der Leser nicht.

Zaa-Poo-TekkKRIMI Zwei Tote am Bodden: Jetzt schickt

auch Claudia Rusch einen Kommissar ins Rennen.VON PETER GODAZGAR

E inen Kriminalroman hatteman nicht unbedingt erwar-tet von Claudia Rusch. Ein

bisschen berühmt wurde die Auto-rin nämlich mit Büchern aus gänz-lich anderen Genres - vor allem mitdem Generationenband „Meinefreie deutsche Jugend“, der ange-nehmerweise und im Gegensatz zuvielen anderen DDR-Kindheitserin-nerungen ohne Verklärungen aus-kam. 2003 war das. Es folgten - im-merhin sechs Jahre später - eineArt ostdeutsches Reisetagebuch so-wie 2010 ein eher privater Rügen-Reiseführer.

Auf Rügen wuchs Rusch auchauf. Zwar lebt sie seit langem in

Berlin, den Kontakt in die alte Hei-mat hat sie indes nicht verloren.Auge und Ohr für den dort leben-den Menschenschlag ganz offen-sichtlich auch nicht, wie sie nun inihrem Krimi beweist.

Auftritt KriminalkommissarHenning Zapotek - „Zaa-Poo-Tekk.Oder Zatopek andersrum“, wie derKommissar an einer Stelle erklärt,was sein deutlich jüngeres Gegen-über in der Szene aber schon nichtmehr versteht. Zapotek floh vor 27Jahren in einem Container aus derDDR in den Westen und arbeitetbei der Hamburger Polizei. Weilsich der Mieter seines Elternhau-ses erhängt hat, muss Zapotek zu-rück ins ungeliebte Heimatdorf,ein fiktves Kaff namens Klokenzin.

Es kommt, wie es kommen mussim Krimi: Zapotek beginnt sich fürden vermeintlichen Selbstmord zuinteressieren - und statt, wie ge-plant, sein Sabbatjahr zu nutzen,um mit einem Einhandseglerdurchs Nordmeer zu schippern,hat er sich bald in alten Dorfge-schichten verstrickt. Natürlich

trifft er auch eine Jugendliebe wie-der, die er seinerzeit, bei der Fluchtvor fast drei Jahrzehnten, ohne Er-klärungen verlassen musste.

Ja, es ist vieles geradezu klas-sisch an diesem Kriminalroman,der Aufbau ist streng linear. Unddoch ist es ausgesprochen wohltu-end, dieses Buch zu lesen. ClaudiaRusch beweist, dass es eben dochnoch möglich ist: einen Krimi zuschreiben, bei dem nicht das Blutaus allen Seiten tropft. Und derdennoch packend ist. Es funktio-niert, weil sich Rusch auf die Ge-schichte verlässt und die Charakte-re konzentriert, ihren Figuren Tie-fe gibt. Mit den meisten von ihnenmöchte man sich glatt zum Biertreffen.

So ist Zapoteks Premiere ein er-staunlich vielversprechender Auf-takt. Auf Fortsetzungen darf manhoffen, denn unter dem Buchtitelsteht schon mal „Der erste Fall“.

DONNERSTAG, 14. MÄRZ

Sabine Ebert: Gespräch,10.30 Uhr, 1813 - Kriegsfeuer,LVZ-Autorenarena, Messe. PeterEsterházy: Gespräch, 11 Uhr,Esti, Berliner Zimmer, Halle 5,Messe. Buchpreis-Kandidatenim Gespräch, Kategorie Sach-buch: Götz Aly, Kurt Ayertz, HansBeltin, Helmut Böttiger, WolfgangStreeck, 12 Uhr, Literaturforum,Halle 4, Messe. Udo Reiter:Gespräch, 12 Uhr, Gestatten,dass ich sitzen bleibe, LVZ-Au-torenarena, Messe. HellmuthKarasek: Gespräch, 12 Uhr, Ber-liner Zimmer, Halle 5, Messe.Robert Schindel: Lesung undGespräch, 13 Uhr, Leipzig liest-Lesebühne, Glashalle. PaulMaar: Gespräch, 13 Uhr, LVZ-Autorenarena, Messe. MargotKäßmann: Gespräch und Le-sung, 13.30 Uhr, Gott will Tatensehen, 3sat, Glashalle. DaveEggers: Gespräch, 13.30 Uhr,Ein Hologramm für den Alltag,Das Blaue Sofa, Glashalle. UlrichWoelk: Lesung und Gespräch,14 Uhr, Was Liebe ist, Lesebüh-ne, Glashalle. Ernst-WilhelmHändler: Gespräch, 14.30 Uhr,Der Überlebende, 3sat, Glas-halle. Egon Bahr: Gespräch,15.30 Uhr, Erinnerungen an Willy

WER, WANN, WO

Brandt, LVZ-Autorenarena, Mes-se. Jakob Hein und JacintaNandi: Gespräch, 15.30 Uhr,Warum Ossis öfter Sex und Eng-länder mehr Spaß haben, ARD-Forum, Halle 3. Waldemar Hart-mann: Gespräch, 19 Uhr, DritteHalbzeit, Restaurant BayerischerHof, Leipzig. André Schinkel,Bernhard Spring: Lesung,19 Uhr, Moritzbastei, Leipzig.Heiner Lauterbach: Gespräch,20 Uhr, Man lebt nur zweimal,Passage Kinos, Leipzig. WilhelmBartsch: Lesung, 20 Uhr, Dasbisschen Zeug zur Ewigkeit, NT-Café, Halle. Dave Eggers: Le-sung und Gespräch mit DenisScheck, 20 Uhr, Ein Hologrammfür den König, Bibliothece Al-bertina, Leipzig. Katharina Saal-frank: Lesung, 20.30 Uhr, Dubist o.k., Stadtbibliothek, Leipzig.Hans-Eckardt Wenzel, Chris-toph Hein: Lesung und Musik,20.30 Uhr, Vor der Zeit, Schau-bühne Lindenfels, Leipzig. LangeLesenacht: Martini, Findeis,Bleutge, 23 Uhr, Moritzbastei.

FREITAG, 15. MÄRZ

Irina Liebmann: Lesung, 11 Uhr,Drei Schritte nach Russland,Berliner Zimmer, Halle 5, Messe.Michail Gorbatschow: Ge-spräch, 11.30 Uhr, Alles zu seinerZeit, LVZ-Autorenarena, Messe.György Konrad: Gespräch,11.30 Uhr, Heute im Osten, MDR-Stand, Glashalle. Michail Gor-batschow: Gespräch mit Hans-Dietrich Genscher, 16 Uhr, Pe-terskirche, Leipzig Marina Weis-band: Gespräch, 14 Uhr, Wirnennen es Politik, taz-Studio,Halle 5, Messe. Peer Stein-brück: Gespräch, 19 Uhr, MehrDemokratie wagen, Peterskirche.

RÜCKBLICK

Christine Hoba legteinen DDR-Roman vor.

VON ANDREAS MONTAG

U nd immer noch die DDR.Natürlich, sie lebt ja in ih-ren Kindern fort, die nun

richtige Autos besitzen, Reisen un-ternehmen und ganz andere Sor-gen haben. Aber dieses versunke-ne Land steckt seinen ehemaligenBürgern wie ein Schmerz in denKnochen. Eigentlich davon schreibtChristine Hoba in ihrem schmalen,poetischen Roman „Die Nelkenfal-le“, der im Mitteldeutschen VerlagHalle erschienen ist.

TraurigeMenschen,traurigesHalle

Der Handlungsort des Buches,Halle an der Saale, ist zugleich eineseiner Hauptfiguren. Halle, dieschmutzige, nach Schwefel stin-kende Stadt der späten 1980er Jah-re, gibt nicht nur die Kulisse fürHobas traurige Menschenkinderab, Halle steht auch für die geschei-terte ostdeutsche Republik.

Nicht oft hat man das so ein-dringlich beschrieben gefunden:Den galoppierenden, schwindsüch-tigen Verfall einer Stadt, eines Ge-meinwesens, einer verrottetenFührungselite. Und die Hilflosig-keit derer, die sich aus unbefriedi-gender Arbeit, schimmligen Woh-nungen und tiefer Verzweiflungnicht befreien können.

Der Atem, den die Autorin fürdiesen Text geholt hat, hätte aller-dings für einen großen Roman ge-reicht. Aber die Vielzahl von Figu-ren, die sie auf weniger als 200 Sei-ten miteinander in Beziehungbringt, und der Sprung in die Nach-wendezeit nehmen dem Entwurfauch etwas von der erzählerischenKraft, die in ihm steckt.

Zu viele Wechsel, zu viele kleineGeschichten, die den Blick von Bru-ni, der Hauptfigur, lenken. Sie hatden Mut, das Land verlassen zuwollen. Und sie schafft es auch.Aber sie ist krank, sie trinkt undwird am Ende teuer bezahlen fürihr Leiden im eingemauerten Land.

Bierchen

Mo Yan:FröscheHanser Verlag512 Seiten24,90 Euro

Claudia Rusch:Zapotek und diestrafende HandMareverlag288 Seiten14,95 Euro

Christine Hoba:Die NelkenfalleMitteldeutscherVerlag190 Seiten12,95 Euro

Gaststätte in Beeskow, Brandenburg FOTO: HARALD HAUSWALD

Margot Käßmann: 14. März

Gorbatschow: 15. März FOTOS: DPA

Page 3: MZ-Sonderbeilage zur Buchmesse

FREITAG, 15. MÄRZ

Feridun Zaimoglu: Lesung,19 Uhr, Der Mietmaler, plan b-Kulturkaffee, Leipzig. Eva Me-nasse: Lesung, 19 Uhr, Quasi-kristalle, Ariowitsch-Haus, Leip-zig. Thomas de Maiziere: Ge-spräch, 19 Uhr, Über Macht undregieren, Deutsche Bundesband,Leipzig. Wibke Bruhns, Wolf-Dietrich Schilling, Eckart Mi-chels: Gespräch, 19 Uhr, Guil-laume - der Spion, Zeitgeschicht-liches Forum. Johanna Adorjan:Lesung, 20 Uhr, Meine 500 bes-ten Freunde, Centraltheater.

WER, WANN, WO

SONNABEND, 16. MÄRZ

Christian Rath: Gespräch,11 Uhr, Der Schiedsrichterstaat,taz-Studio, Messe. Eckard Hen-scheid: Gespräch, 11.30 Uhr,Erinnerungen, ARD-Forum, Mes-se. Veronika Fischer: Gespräch,12.30 Uhr, Das Lügenlied vomGlück, LVZ-Autorenarena, Mes-se. Martin Walser: Gespräch,13 Uhr, Meßmers Momente, LVZ-Autorenarena. Thomas Brussig:Gespräch, 14 Uhr, Sonnenalleeund weiter, Arte-Stand, Glas-halle. Alfred Neven DuMont:Gespräch, 15 Uhr, Drei Mütter,LVZ-Autorenarena, Messe. KlausF. Messerschmidt: Lesung,17 Uhr, Die Angst der Spaßma-cher, Galerie Kontrapost, Leipzig.Christoph Hein: Lesung, 19 Uhr,Vor der Zeit, Ägyptisches Mu-seum, Leipzig. Günter Kunert:Lesung und Gespräch,19.30 Uhr, Tröstliche Katastro-phen, Centraltheater. DanielaDahn: Lesung und Gespräch,19.30 Uhr, Wir sind der Staat,Haus des Buches, Leipzig. PeterGodazgar: Lesung, 20 Uhr, Kurzund tot, Bahnhofsmission.

SONNTAG, 17. MÄRZ

Friedrich Schorlemmer: Ge-spräch, 10.30 Uhr, Klar sehen,Das Blaue Sofa, Messe. MartinWalser: Gespräch, 11 Uhr, DasEnde der Rechthaberei?, Cent-raltheater. Rolf Schneider: Ge-spräch, 13 Uhr, Schonzeiten,LVZ-Auotrenarena. FelicitasHoppe: Lesung, 18 Uhr, Hoppe,Volkspark, Halle.

MESSE-SERVICE

Die Buchmesse öffnet Don-nerstag, 14. März, um 10 Uhrauf der Neuen Messe in Leipzigund ist bis Sonntag, 17. März,täglich 10-18 Uhr geöffnet. Ta-geskarte: 13,50 Euro (erm. 10 Eu-ro), Gruppenkarte ab zehn Per-sonen: pro Person 9 Euro, Grup-penkarte Schüler: 7 Euro. Kinderbis 5. Lebensjahr freier Eintritt.Vom Hauptbahnhof aus fährtdie Straßenbahn 16 und die S-Bahn direkt zur Messe.

Messe-Besucherhotline:(0340) 6 78 68 62

Informationen zur Messe:www.mz-web.de/buchmsse

(Alle Angaben zu den Veranstal-tungen ohne Gewähr)

Das beste Lebenist das heutige

ROMAN Eva Menasse erzählt aus dreizehn unterschiedlichenSichten die Biografie einer Frau.

VON CHRISTINA ONNASCH

E in schöner Anblick sind sieund von einer verstörendenRätselhaftigkeit. In ihrer Ge-

samtheit ergeben sie ein Muster,dass sich als ein kompliziertes In-einander von Ordnung und Chaosoffenbart. Dessen Gesetzmäßigkei-ten scheinen kaum entschlüssel-bar.

Mit seiner Entdeckung der „Qua-sikristalle“, für die er 2011 den No-belpreis bekam, wies DavidShechtman nach, dass es Kristallenicht nur in ihrer bekannten wohl-geordneten Struktur gibt, sondernauch in dieser gebrochenen Form.Die 1970 in Wien geborene und in-zwischen in Berlin lebende AutorinEva Menasse hat ihren neuen Ro-man nach diesem naturwissen-schaftlichen Phänomen benannt.

Dass Schriftsteller so etwas tun,ist keine Seltenheit und nicht im-mer geht das auch gut. In diesemFall ist das anders. Eva Menassebenutzt den Titel nicht als Etikett,sondern überführt ihn in ein Er-zählprinzip.

Jedes der insgesamt 13 Kapiteldes Romans wird aus dem Blick-winkel einer anderen Figur er-zählt. Dabei geht es aber immernur um eine, um Xane Molin, dieeigentlich Roxane heißt. 13 Mal er-leben wir sie aus unterschiedlicherDistanz betrachtet. Xane als 14-Jäh-rige, die mit ihrer Freundin Judithdie Dritte im Bunde, Claudia,mobbt. Xane, die bei einer Exkursi-

on nach Auschwitz der Geschichteihrer jüdischen Familie auf dieSpur kommen will. Xane als Wie-ner Künstlerin. Xane, die nach Ber-lin zieht, um ein neues Leben alsProfessorengattin zu beginnen. Xa-ne als Freundin, die sich durch ihre„leicht übergriffige Hilfsbereit-schaft“ auszeichnet. Xane, diedurch künstliche Befruchtung En-de 30 doch noch schwanger wird.Xane als engagierte Patchwork-

Mutter. Xane als eiskalte Werbe-agentur-Chefin. So wird die Pro-tagonistin, deren Leben von derKindheit bis ins Alter erzählt wird,aus verschiedenen Perspektivenbesichtigt.

Diese Erzählungen wollen undsollen sich aber nicht zum großenGanzen, zu einem Lebensbild run-den. Zu unzuverlässig, zu fragmen-tarisch, zu widersprüchlich sindsie. „Nichts war einfach, bekannt,sicher, geglaubt, verbürgt“, heißtes in einem Zitat der neuseeländi-schen Schriftstellerin Janet Frame,das Eva Menasse dem ersten Kapi-tel voranstellt.

In diesen oszillierenden Mo-mentaufnahmen von Xanes Biogra-fie, in denen viel die Rede von Hoff-nungen und Enttäuschungen, ver-tanen Chancen und trostlosen Ab-schieden ist, geht es Eva Menasse

um ein Nachdenken über etwas,das man das Geheimnis eines je-den Lebens nennen könnte. Das er-fahrbar zu machen, ist der Autoringroßartig gelungen.

Viele Gegenwartsthemen wie dienationalsozialistische Vergangen-heit und ihre Aufarbeitung, dieDDR-Zeit oder die Gleichberechti-gung von Frauen und Männerntauchen im Roman auf, aber esgeht dabei nicht um das Vorder-gründige, sondern um die Erkennt-nis dessen, was ist. „Das beste Le-ben ist das gegenwärtige; abermeistens kommt einem die Gegen-wart blass vor, so dass man frucht-los und ermüdend an Vergangen-heit und Zukunft herumzupft.“

Wer Eva Menasses Debütroman„Vienna“ und ihren Erzählband„Lässliche Todsünden“ gelesen hat,der kennt ihre komisch-skurrilen

Charaktere, den Wiener Schmähund ihrem Sarkasmus. In „Quasi-kristalle“ wird er all dem wiederbe-gegnen, aber die Balance zwischenfeiner Melancholie, schwarzemHumor und blitzender Boshaftig-keit ist dieses Mal noch austarier-ter. Herrlich lesen sich die Passa-gen, in denen Xane voller Inbrunstgegen die „Wiener Humormafia“wettert.

Schön, wie Eva Menasse Xane alshysterische Zicke vorführt, die imClinch mit ihrer Stieftochter liegt:„Sie regte sich auf, wenn der Radio-sender in der Küche verstellt war,dabei konnte man umgekehrt ge-nauso gut sagen, dass StarFM dieGrundeinstellung war, die sie mitihrem blöden Nachrichtensenderdauernd verstellte.“

Das siebente, zentrale Kapiteldes Romans ist das einzige, in demXane selbst zu Wort kommt. In klu-gen, manchmal essayistischen Pas-sagen denkt sie über Frauen, Män-ner und das Altern nach.

Und manche zielen mitten insLeben: „Es gibt Frauen, die alsClown geboren werden. Als plap-pernde Kumpel. Sie finden späterschweigsame Männer, die Windja-cken zum Bürstenschnitt tragenund die, gemeinsam mit ihren pfer-destehlenden Clown-Frauen, ihrLeben lang nicht erfahren, was Lie-be wirklich ist, wie hysterisch, wi-derlich, grausam, göttlich und ver-nichtend sie sein kann.“ Auch des-halb kann man Eva Menasses Ro-man schätzen.

GESELLSCHAFT

Jakob Hein tauscht sichmit Jacinta Nandi aus.

J acinta Nandi ist eine Englände-rin, Jahrgang 1980, die im Altervon 20 Jahren nach Berlin ge-

zogen ist - und die von heute ausgesehen die DDR rätselhaft undfaszinierend findet, jedenfalls umvieles spannender als ihre eigeneHerkunft in London. Jakob Hein istein Ostdeutscher, geboren 1971 inLeipzig, der seit 1972 in Ostberlinlebt und mit zahlreichen Veröffent-lichungen ein Fachmann für diehumorvolle, aber kitschfreie DDR-Kunde ist. Ihm erscheint das Ost-Interesse von Jacinta Nandi als rät-

WarumOssisdieEngländer liebenundumgekehrt

selhaft und faszinierend. Er hattesich doch in seiner Kindheit nachLondon gewünscht. War der Ostenspannender?, fragt er sich. „Ande-rerseits kannten wir den Begriff,langweilig’ gar nicht, so wie dieGriechen kein Wort für ,Auslän-der’, sondern nur das Wort ,Gast’kennen, gab es im Ostdeutschenkeinen speziellen Ausdruck für,Langeweile’. Dem Begriff amnächsten kam unser Wort ,Leben’.“

Das ist gut gesagt, wie vieles indiesem satirisch aufgedrehten Lan-deskunde-Dialog, in dem sich dieBerliner Lesebühnen-Profis Jacintaund Jakob Kapitel für Kapitel er-zählen, was sie jeweils von den Ost-deutschen oder den Engländerndachten und denken. „Gesellschaftund Kritik“, „Sex und Einsamkeit“,„Bildung und Verblödung“: So gehtes Bonmot-satt voran durch My-then und Realitäten. Nacktbaden inder Ostsee, Sex im Ferienlager, dasLeben als Pionier. Sogar Diane,Tom und Peggy aus der DDR-Sen-dung „English for you“ werden ausdem Vergessen gerissen. Die „dreiVollpfosten“, schreibt Jakob Hein,machten ihre Sendung, „mit demdoppelten Anliegen uns Englischbeizubringen und England ab-spenstig zu machen“. Und das mit„Topfschnitten vom Feinsten, dieihnen selbst auf unserem Schulhofeine ordentliche Tracht Prügel ein-getragen hätten“. ceg

Nach MitternachtBERICHT David Wagner erzählt vom Überleben einer

lebensgefährlichen Krankheit. Der eigenen.VON CHRISTIAN EGER

A lles war genau so und auchganz anders.“ So lautet derVorspruch zu David Wag-

ners Buch „Leben“. Ein Allerwelts-spruch auf den ersten Blick, der aufdie Liste der verbotenen, weilnichtssagenden Formeln gehörenwürde. In diesem Fall aber nicht.Unterm Strich sagt die Zeile hier:Dieses Buch ernährt sich vom Le-ben seines Autors - und das in ei-ner Unmittelbarkeit, wie es bei Bel-letristik nicht üblich ist.

Damit haben wir es hier zu tun,wenngleich die Sache nicht eindeu-tig liegt. Wie schon der Titel nicht.Nicht: „das“ Leben. Sondern: Le-ben. Was auch: „die“ Leben heißen

könnte. Man darf es sich aussu-chen. So wie man sich bei der Lek-türe der folgenden 288 Seiten aus-suchen darf, was man hier eigent-lich zur Kenntnis bekommt: Doku-mentation oder Fiktion - oder eineMischung aus beidem?

„Kurz nach Mitternacht kommeich nach Hause“ beginnt der Text,um schnell auf die Katastrophe zu-zulaufen. Der Erzähler spürt einKratzen im Hals, beugt sich überdie Badewanne, „da schwappt esschon aus mir heraus. Als ich dieAugen öffne, wundere ich michüber das viele Blut in der Wanne. “

Die Leber des Erzählers ist zer-stört. Notarzt, Krankenhaus, Trans-plantation eines Spenderorgans,Reha-Aufenthalt: In sieben Abtei-

lungen bildet das Buch das Gesche-hen ab, in der Mitte des Buch-blocks durch zwei graue Seiten ge-trennt - den Moment der Rettung.

Namen von Menschen werdengenannt, die es tatsächlich gibt.Kollegen des Autors. Denn das, wasder 1971 geborene Erzähler hierpräsentiert, ist seine eigene Kran-

kengeschichte, die in ihrer langmü-tigen Detailgenauigkeit keineWünsche offen lässt. Reflexionendes Todkranken heben das Repor-tierende ins Allgemeine. Das Erle-ben des fremden Organs im eige-nen Körper. Die Trauer. Die Fragen.

Aber es bleibt: ein Krankenbe-richt. Stünde das auf dem Cover,könnte jeder entscheiden: Ich inter-essiere mich für Leber-Transplan-tationen oder nicht. So ist das abernicht ausgestellt und absichtsvollin einer Unschärfe gehalten. Deraber hält dieser Text nicht stand,der - bei aller literarischen Aufhel-lung - ein Selbstbericht bleibt, wiees davon schon einige kluge undgute gibt. Der Impuls dieses Bu-ches ist indes klar: Es ist die über-große Freude des überlebendenAutors. Wie sie sich im letzten Satzmitteilt, der den Erzähler zum Tele-fon greifen und hören lässt: „Papa?Kommst du bald nach Hause?“

Eva Menasse:QuasikristalleKiepenheuer &Witsch,432 Seiten,19,99 Euro

Im Angebot

Jakob Hein,Jacinta Nandi:Fish'n'Chips& Spreewald-gurkenKiepenheuer &Witsch,290 Seiten,8,99 Euro

David Wagner:LebenRowohlt Verlag;288 Seiten,19,99 Euro

Wibke Bruhns: 15. März FOTO: DPA

Martin Walser: 17. März FOTO: DPA

Dorfkonsum in Sachsen FOTO: HARALD HAUSWALD

Page 4: MZ-Sonderbeilage zur Buchmesse

Offene Worte ausdem RuhestandERINNERUNGEN Udo Reiter, langjähriger Intendant des

Mitteldeutschen Rundfunks, beschreibt sein Leben.

VON ANDREAS MONTAG

E in ausgesprochen munteresBuch ist das geworden, mitdem Udo Reiter aus seinem

Ruhestand grüßt. Flott und über-wiegend souverän geschrieben,durch Witz und Angriffslust ge-würzt, ragt es deutlich heraus ausder grauen Wand der Memoiren-bände, deren Abfassung so vielenehemaligen Schalthebelverwalternein unbezwingliches Bedürfnis ist.

„Gestatten, dass ich sitzen blei-be“, hat der langjährige Intendantdes Mitteldeutschen Rundfunks(MDR) seinen im Aufbau-Verlag er-schienen Lebensbericht genanntund damit den Stier bei den Hör-nern gepackt: Reiter ist seit einemAutounfall im Jahr 1966 vom fünf-ten Brustwirbel abwärts gelähmt.

Lange habe er nach dem Unfalldie Annahme dieser Nachricht ver-weigert. Und dann nahm sie ihmschier die Luft: „Alle Pläne kaputt.Ade, Lufthansa, ade, Pilotenlauf-bahn. Mit dreiundzwanzig Jahrendas Leben in Trümmern. Kein ferti-ges Studium, kein Beruf, kein Geld,vermutlich ein Pflegefall.“

Dass es dazu nicht gekommenist, verdankt Reiter vielen Men-schen, die ihm geholfen haben.Aber vor allem seiner eigenenEnergie. Geschenkt hat man ihmseine Karriere nicht, der studierteGermanist, Historiker und Politolo-ge hat sich erst als Journalist, dannals Manager buchstäblich hochge-arbeitet. Und schließlich den MDRseit seiner Gründung über zwei

Jahrzehnte hinweg durchaus er-folgreich geführt - bis ihm eine Rei-he von Skandalen in seinem Hausdie Lust am Weitermachen vergäll-te, 2011 schied er auf eigenenWunsch und lange vor Ablauf sei-nes Vertrages aus.

Das, was er selbst nicht ohne Pa-thos sein Lebenswerk nennt, willer sich dadurch allerdings nicht be-schädigen lassen, am Ende wirdReiters Buch deshalb gallig, derheitere, ironische Ton, der den Text

über weite Passagen auszeichnet,geht dem Autor hier fast völlig ver-loren, bis er sich mit einer trocke-nen, sarkastischen Pointe im aller-letzten Satz wieder fängt.

„Der König ist tot, es lebe der Kö-nig“ ist das letzte Kapitel von Rei-ters Rückblick überschrieben, hierrechnet er ab. Zwar gehe es ihm imRuhestand gut, lässt Reiter wissen,und er sei auch nicht in der Gefahr,es seinem Freund Jürgen Keller-meier, dem früheren Fernsehdirek-tor des Norddeutschen Rundfunks,gleichzutun, der sich wenige Mo-nate nach seiner Pensionierungaus dem Fenster gestürzt hatte.

Aber ein Fazit wie das folgendelässt doch Verbitterung erkennen,von der Reiter eigentlich nichtswissen will: „Die Aufmerksamkeitund der Respekt, die man mir ent-gegengebracht hatte, waren demAmt geschuldet, nicht der Person,

das muss man wissen...“ Reiter hatsich über Aussagen der Erben geär-gert und spielt ganz offensichtlichauf seine Nachfolgerin an, derenNamen er allerdings nicht nennt.Da werde davon gesprochen, wieverdorben das Unternehmen dochsei. Das habe ihm einen Knacks imHerzen gegeben. Die Skandale sel-ber hält Reiter hingegen sehr aufDistanz von sich und seiner Ära.

Am Ende findet er wieder ausdieser Verspannung und rettet seinBuch mit einer hübschen Anekdo-te. Gemeinsam mit der Autorin El-se Buschheuer, seiner nunmehri-gen Frau, sei er in New York gewe-sen. „Die ich inzwischen geheiratethabe“, formuliert Reiter übrigens,was sein traditionelles Rollenver-ständnis im Nebensatz auf dasSchönste erhellt. Vielleicht siehtFrau Buschheuer es ja genau ge-genteilig? Die Geschichte, zu der

sie ihm verhalf, ist jedenfalls köst-lich. Die Buschheuer stellte ihn ih-rem ehemaligen Guru in dessenHare-Krishna-Tempel vor, der heili-ge Mann schenkte ihm eine ArtGlückskeks, „der verhindert, dassman als Hund wiedergeboren wird.Das zumindest ist also ausge-schlossen.“, endet Reiter.

Ein angemessen schöner Schlussfür einen Text, der oft durch seineGenauigkeit und Aufrichtigkeitüberrascht. Etwa, wenn der 1944 inLindau am Bodensee geborene Au-tor über seinen Vater, einen funda-mentalistisch-religiösen Wüterich,berichtet, der die Seinen mit eiser-ner Hand regierte und überzeugtdavon war, dereinst vom Herrn Je-sus höchstpersönlich aus dem irdi-schen Jammertal abgeholt und insParadies eskortiert zu werden.

Diesem Glauben hat auch UdoReiter als Kind angehangen, erschildert es ebenso unbefangenwie das einfache Leben in der Fa-milie oder die ersten Doktorspielemit Mädchen aus der Nachbar-schaft. In diesen Passagen wird dasBuch zu einem Dokument der west-deutschen Alltagsgeschichte.

Ebenso offen geht Reiter mit sei-ner Behinderung um - und mit denTabus, an die man aus Taktgefühlnicht rührt. Zumal an jenes nicht:Haben Menschen im Rollstuhl einSexualleben? Reiter schildert ohneUmstände, wie er Vater einer Toch-ter werden konnte. Seinen Humorfreilich wird nicht jeder mögen:Was Rollstuhlfahrer für Kanniba-len sind? „Essen auf Rädern.“

Antragsgrund: GlückROMAN Der bislang als Krimiautor bekannte

Andreas Izquierdo legt eine romantische Komödie vor.VON FRAUKE HOLZ

A lbert Glück, knapp überfünfzig, ist ein Beamter wieer im Buche steht: Er erle-

digt seine Arbeit ordnungsgemäß,penibel korrekt und umgehend.Für Außenstehende mag sein Jobim Amt für Verwaltungsangelegen-heiten eintönig wirken, doch dermenschenscheue Albert liebt die-se - seine - Welt, die von Formula-ren mit Namen wie A 401 undD 23, Stempeln und Dienstvor-schriften bestimmt wird. Er hatsich eingerichtet, ganz wörtlich,denn Albert arbeitet nicht nur inder Behörde, sondern lebt auchdort. Und das unbemerkt von sei-nen Kollegen seit nunmehr 30 Jah-

ren. Für ihn ist das Amt „das Para-dies“, seine Familie „nur ohne diestörende Verwandtschaft“.

Täglich lebt er nach ein und dem-selben Rhythmus: Mit Mayonnaiseund einem Gläschen Sekt startet eram Morgen und geht nach getanerArbeit punkt 22 Uhr, nachdem erin seiner Lieblingslektüre „Apostil-le - Vorschriften zur Beantragungeiner Endbeglaubigung zum Zwe-cke der Legalisation“ geblätterthat, zu Bett. Bis eines Tages der du-biose Antrag E 45 auf seinem Tischlandet und seine sorgsam eingehal-tene Ordnung durcheinander-bringt. Das Kuriose an dem Antrag:Er beantragt nichts!

Vergeblich versucht Albert denAntrag loszuwerden, doch dieser

kehrt immer wieder zu ihm zu-rück. Deshalb beschließt er schwe-ren Herzens, sein geordnetes Reichzu verlassen und die Antragstelle-rin zu besuchen. Seit mehr als30 Jahren hat er das Amt nichtmehr verlassen, „aber jetzt mussteer“ und trifft auf Anna Sugus, einechaotische, schräge Künstlerin, die

ganz anders ist als er und seineWelt auf den Kopf stellt.

Mit „Das Glücksbüro“ veröffent-licht der als Krimi- und Drehbuch-autor bekannte Andreas Izquierdonun eine „romantische Komödie“,die man einmal begonnen, nichtmehr aus der Hand legen kann. Dieersten 40 Seiten mögen manchemLeser etwas zu grau und öde, viel-leicht sogar langweilig erscheinen,aber so ist er nun mal, Alberts All-tag, bis er aus seinen Gewohnhei-ten ausbricht und die „Welt drau-ßen“ kennenlernt. Locker undschnörkellos erzählt der 42-jährigeIzquierdo die heiter-spannende bistragisch-melancholische Geschich-te von einem warmherzigen Kauzund einer wilden Malerin, die zumLachen bringt, aber auch traurigstimmt. Es ist die Geschichte voneinem Mann, „der auf einen Antragwartete, der nichts beantragte - au-ßer vielleicht ein neues Leben“.

ROMAN

Emma Bieling schreibtüber die Reise zum Ich.

N ein, ein großes Gesell-schaftsbild entwirft dieserkleine, heitere Roman von

Emma Bieling, die in Sachsen-An-halt lebt, nicht. Aber das ist ganzoffensichtlich auch nicht der Plangewesen. „Rapunzel auf Rügen“,als Taschenbuch im Aufbau-Verlagerschienen, ist vielmehr das, wasman ein Selbstfindungsbuchnennt, eine sympathische undrecht frisch geschriebene Reisebe-schreibung also - im übertragenenwie im wörtlichen Sinne. Und umdie Liebe geht es natürlich auch.

Die Protagonistin des Buches isteine junge Frau mit dem zeitge-rechten Namen Jessica. Sie lebt inBerlin, will Schauspielerin werdenund fällt neben ihrer Eigenart, inFettnäpfchen zu treten und kleine-re Katastrophen zu verursachen,vor allem durch ihr ultralangesHaar auf: Einen Meter und 25 Zen-timeter ist es lang, dekorativ ohneZweifel, aber eben auch eine Plage,wenn man an die Pflege denkt.

Rapunzel wird Jessica genannt,was nahe liegt und passend ist.Und zwar nicht allein wegen derHaarlänge. Rapunzel alias Jessicaist auch ein bisschen eingespon-nen im Turm ihres Lebens. Dabeiwäre ein Prinz nicht unwillkom-men. Der liebste Mensch, den sieeinstweilen nur hat, ist ihr FreundRichard. Und der ist schwul.

So ist das Tableau bereitet. Hinzukommt ein Unfall, den Jessica mitihrem Motorroller verursacht. Fürden Schmerz des Opfers muss Jes-sica zahlen, hat aber kein Geld. Al-so unterbricht sie ihr Studium undknattert mit dem kleinen Roller andie Ostsee. Auf der schönen InselRügen übernimmt sie einen Sai-sonjob auf einem Kutter, dessenCrew auf Seebestattungen für ge-hobene Ansprüche spezialisiert ist.Dass es dabei zu Turbulenzen allerArt kommt, liegt in der Natur derSache. Heiteres Büchlein. amo

RapunzelerobertdieInsel

ROMAN

Unter ThüringerBrüder und SchwesternDer Mann traut sich was! Ins-gesamt 704 mit kleinen Zeileneng gesetzte Seiten. Und dannnoch mit der Schlussformel

„wird fort-gesetzt“. Esist ein Wäl-zer, den dader 1959 inOstberlingeborene,vormaligeJournalistBirk Mein-hardt zu Pa-

pier gebracht hat unter demschmissigen Titel „Brüder undSchwestern“. Den Kindern näm-lich des Thüringer Druckerei-Direktors Willy Werchow. Britta,Erik und Matti, aus deren Ost-Lebensgeschichten hier facet-tenreich der Roman zusammen-gepuzzelt wird. Ein Werk fürLangzeitleser, die den langenAtem haben, um eine nur par-tienweise fesselnde, im großenBogen aber doch sehr betulichund konventionell gestrickteProsa zu lesen. Aber: In denOst-Details ist das Ganze durch-weg Fakten-Check-tauglich.

B. Meinhardt: Brüder und Schwes-tern. Hanser, 704 S., 24,90 Euro.

BUCHTIPPS

APHORISMEN

Die Leute hören nur aufunbequeme WahrheitenLässig, witzig, pointensicher:Das ist nicht nur der Autor MarkTwain (1835-1910) selbst, son-dern das sind auch die Apho-

rismen, dieer liefert.Nachdemder AufbauVerlag mitder „Gehei-men Auto-biographie“des „TomSawyer“-Autors ei-

nen Überraschungserfolg fei-erte, liefert er nun die kleinenWeisheiten des unzeitgemäßmodernen Weltliteraten nach.„Jeder Mensch ist ein Mond undbesitzt eine dunkle Seite, dieer niemals jemandem zeigt“,schreibt der. Und: „Gib deineIllusionen nicht auf. Wenn dusie verloren hast, existierst duwohl noch, aber du hast auf-gehört zu leben.“ Oder: „Es istleichter, draußen zu bleiben,als herauszukommen.“ Und:„Die Leute hören nur auf un-bequeme Wahrheiten.“ Twain?Man muss ihn lesen.

M. Twain: Lautstärke beweist garnichts. Aufbau, 192 S., 14 Euro

NOTIZEN

Martin Walsersammelt MomenteLebensweisheiten hat nicht nurMark Twain zu bieten. MartinWalser kann das auch. Nach„Meßmers Gedanken“ (1985)

und „Meß-mers Rei-sen“ (2003)liefert ernun „Meß-mers Mo-mente“: ei-ne Samm-lung vonGedanken-splittern.

Meßmer ist Walser, der sicheinerseits mit glasklaren Sätzenals der Weise, anderseits mitallzu kunstfertigen Sprüchenals das Orakel vom Bodenseezu erkennen gibt. Seelisch: „Ichleide an Verfolgungswahn. Dasist das Einzige, was mich vonmeinen Verfolgern unterschei-det.“ Poetisch: „Der Regen trifftmich nicht. Die Sonne scheintan mir vorbei.“ Gewerblich: „So-lange man Geld verdienenmuss, muss man sich beleidigenlassen. Dass muss jeder.“ Undselbst: „Ich bin eine abgewählteRegierung, die nicht geht.“

Martin Walser: Meßmers Momen-te. Rowohlt, 112 S., 14,95 Euro

Udo Reiter:Gestatten, dassich sitzen bleibe.Mein LebenAufbau Verlag,248 Seiten,19,99 Euro

Gegen die Zeit

AndreasIzquierdo:Das GlücksbüroDumont Verlag,272 Seiten,9,99 Euro

Emma Bieling:Rapunzelauf RügenAufbauTaschenbuch,255 Seiten,8,99 Euro

Halberstadt, ohne Titel FOTO: HARALD HAUSWALD

Page 5: MZ-Sonderbeilage zur Buchmesse

Der Geistaus der

MaschineDEBATTE Frank Schirrmacher entwirft

in „Ego“ eine Gesellschaft, die nachunmenschlichen Vorgaben funktioniert.

VON STEFFEN KÖNAU

E r ist ein Unmensch, ein Re-chengerät auf zwei Beinen,eine Maschine aus Fleisch

und Knochen. Geboren wurde derHomo oeconomicus nach Überzeu-gung von Frank Schirrmacher, ei-nem der Mitherausgeber derFrankfurter Allgemeinen Zeitung,in einem dunklen Bunker der US-Streitkräfte. Hier saßen damals, inden ersten Jahren des Kalten Krie-ges, junge Männer vor vorsintflut-lichen Computerbildschirmen undlauerten auf grüne Punkte, die an-zeigen würden, dass die RussenAtomraketen losgeschickt haben.

Ein komplizierter Job, denn wäh-rend die Computer 24 Stunden amTag getreulich ihren Dienst versa-hen, schliefen die Soldaten vor denBildschirmen immer mal ein. Wis-senschaftler begannen nun, denidealen Computersoldaten zu be-rechnen und diesem gedachtenModellathleten für das Pokerspielmit den Russen ein Denkkorsettanzumessen, das alle Emotionenund jede Empathie ausblendensollte. Getreu den Erkenntnissender Spieltheorie - von der SängerinJuliane Werding einst im Hit„Wenn Du denkst, du denkst, danndenkst du nur, du denkst“ zusam-mengefasst - sollten die Krieger amComputer einerseits davon ausge-hen, dass ihre Gegenspieler an denrussischen Computern nur an sich,sprich an den Sieg ihrer Seite den-ken. Und andererseits sollten sieselbst genau dasselbe tun.

Bei Frank Schirrmacher, derüber die Jahre immer wieder er-folgreiche Debattenbücher wie„Das Methusalem-Komplott“ vorge-legt hat, geschieht nun Rätselhaf-tes: Sein neues Buch „Ego“ schreibtden Sieg der Amerikaner im KaltenKrieg der Spieltheorie zu. Undmacht diesen Sieg dafür verant-wortlich, dass die Theoreme vomrationalen, nur auf Eigennutz be-

dachten Menschen heute an denBörsen, in der Wirtschaft, bei Ebayund Amazon, ja, sogar bei Face-book zur bestimmenden Ideologiegeworden sind. Ökonomen hättendie Seele des Menschen geraubt, soseine These, der Informationskapi-talismus vereinfache die menschli-che Natur auf simple Formeln, umden Menschen selbst berechenbarmachen zu können.

Schirrmachers Fehler ist so of-fensichtlich wie seine Argumenta-tion schlüssig ist: Wenn Amerika-ner und Russen die Axiome derSpieltheorie über ihre Strategie imKalten Krieg haben entscheidenlassen, aber nur einer von beidenobsiegte - wieso sollte die Spielthe-orie erfolgreich sein im Versuch,unser ganzes „Spiel des Lebens“ zubestimmen?

Eine Antwort gibt es auf den 352mit vielen Anmerkungen und Fuß-noten versehenen Seiten nicht. Da-für aber Gesellschaftsanalyse, wiesie gründlicher derzeit vielleichtnirgends zu lesen ist. Immer ent-lang seiner zweiten Ausgangsthesevon der Wissenschaft, deren Entde-ckungen Gesellschaften nicht nurbeschreiben, sondern durch dieseBeschreibung auch verändern kön-nen, fräst sich der langjährige Chefdes Feuilletons der FAZ durch diejüngere Geschichte. Von der Hoch-zeit des Kalten Krieges, in der diegrößten Spieler beim Militär sa-ßen, geht es in die Neuzeit, in derHedge Funds und Hochfrequenz-händler mit den mathematischenWaffen kämpfen, die sie von denKalten Kriegern geerbt haben.„Monster“ sieht Schirrmacher daerschaffen, wo Algorithmen gegenAlgorithmen um Profite rangeln,wo Eigennutz triumphiert, weilnach der alten Regel gehandeltwird, dass an jeden gedacht ist,wenn jeder an sich denkt.

Das Problem dabei ist Schirrma-chers von seinem Gesamtansatzdiktierter Versuch, dem Menschendas Ego abzusprechen, das ihn ge-legentlich eben auch zum Handelnaus Eigennutz drängt. In den flottgeschriebenen, mit zahlreicheneindrucksvollen Beispielen undvielen Zahlen unterfütterten 31 Ka-piteln entwirft der 53-Jährige einMenschenbild, das Misanthropieso wenig kennt wie Egoismus. Erstdie neoliberale Ideologie, so meinter, nachweisen zu können, habeaus dem mit seiner Umwelt leiden-

den Gefühlswesen, das er „Num-mer 1“ nennt, den groben Rationa-listen gemacht, der heute als„Nummer 2“ die Welt beherrscht.

Überall sieht Frank Schirrma-cher die Profiteure am Werk - beiden Datenkraken, die den Men-schen auswertbar für jeden Zweckmachen, bei den Vermarktern, dievor ihrem Zielobjekt wissen, wasdiesem gefallen wird. Die Ich-Ge-sellschaft zahlt mit ihrer Seele, siebekommt dafür das gute Gefühl,nicht zu kurz zu kommen, sondernam längeren Hebel zu sitzen. DasEgo füttert sich selbst, etwa so, wiedas Nutzer des Online-Kaufhauses

Amazon beobachten können. JederKauf hier resultiert in der Empfeh-lung: „Andere Nutzer, die das ge-kauft haben, haben auch dies ge-kauft“. Das Individuum löst sich inder Datenbank auf. Glück des Ichist, Teil einer Menge zu sein.

Für eine korrekte Wirklichkeits-beschreibung ist das natürlich zukurz gegriffen. Nicht nur bei Flug-lärmdemos, Protesten gegen Bahn-hofsumbauten oder der Lückenbe-bauung in Innenstädten sind eshäufig gerade die mitleidenden,empathiebegabten Gefühlsmen-schen, die in ihren eigenen Interes-sen den Nutzen für das große Gan-

ze entdecken - und eben nicht um-gekehrt. Der Eigennutz als Trieb-kraft befeuert den rein rechneri-schen Investitionsansatz großerHedge Funds ebenso wie rendite-starke Solarfonds, auch wenn de-ren Anleger sich selbst davon über-zeugen, eigentlich ja nur aus Grün-den der umweltschonenden Aus-richtung investiert zu haben.

Dagegen hilft dann nicht malmehr ein Maschinensturm, keinWerbeblocker für den Browser undkein Sparstrumpf unter dem Kopf-kissen. Jeder ist Teil des Spiels, obEgomane oder Altruist. Und jederAussteiger ist einkalkuliert.

Super Nanny erzieht nicht mehrPÄDAGOGIK Katharina Saalfrank will jetzt alles anders machen

und wirbt für eine neue Beziehung zu den Kindern.VON ANTONIE STÄDTER

S ie war Deutschlands bekann-teste TV-Erzieherin. Eine, dieschreiende Kinder gern mal

für eine Auszeit in die „stille Ecke“verbannte. Und sich damit den Rufals „Gouvernante der Nation“ ein-trug, wie sie der „Spiegel“ einmalnannte. Katharina Saalfrank. Die„Super Nanny“, die in der RTL-Do-ku-Soap verzweifelte Eltern in Er-ziehung trainierte. Sie war streng,stellte Regeln auf, verhängte Stra-fen. Millionen Zuschauer diskutier-ten, ob das nun echte Hilfe oder rei-nes Spektakel war. Und jetzt ver-kündet dieselbe Frau das „Endeder Erziehung“. Schreibt in ihremgleichnamigen Buch Sätze wie die-

sen: „Jede Art von Erziehung dientnur als Schutzschild der Erwachse-nen, um sich vor der Beziehung zuKindern zu schützen.“

Genau darum geht es der 41-Jäh-rigen bei ihrer pädagogischenKehrtwende: um eine erfüllendeBeziehung zwischen Eltern und ih-ren Kindern. Eine, von der beideSeiten profitieren. Eine, die vonLiebe und Zuwendung geprägt ist -und nicht von Hierarchien oderMachtgehabe. Eine, in der sich El-tern ehrlich für die Anliegen ihrerKinder interessieren und „stilleEcken“ nichts zu suchen haben.„Kinder erleben durch BestrafungDemütigung und Ablehnung“, sagtdie Diplompädagogin und Muttervon vier Söhnen, die ihren TV-Job

2011 nach sieben Jahren aufgab -auch wegen inhaltlicher Differen-zen mit dem Sender, wie es hieß.

Wer ihr Buch liest, dem könnendie Kinder von heute, wie sie siebeschreibt, leidtun: überbehütet,stets betreut und gefordert. Kinder,die in diese perfektionistische Weltpassen sollen. „Sie sind in die Müh-

len unserer Ansprüche (...) geratenund stehen deshalb vor allem mitihren Defiziten und ihren Schwä-chen im Vordergrund.“ Kein Wun-der, dass immer mehr „Problem-kinder“ diagnostiziert werden odervon „kleinen Tyrannen“ die Redeist, bei denen nur die Rückkehr zustrenger Disziplin helfe.

Bloß nicht, sagt Saalfrank. Undmeint damit nicht, dass Kinderantiautoritär aufwachsen sollen.Die vielbeschworenen Grenzen sei-en für ihre Entwicklung wichtig.Doch Kinder müssten als gleich-wertig behandelt werden. Was dasbedeutet, untermalt sie immer wie-der mit Beispielen aus ihrer Bera-tungspraxis - ein echtes Plus. Manmag von der früheren Super Nannyhalten, was man will: KatharinaSaalfrank hat ein kluges Buch ge-schrieben. Eines, das beweist, dasses ihr um die Kinder geht - undnicht allein um die Quote.

ZEITGESCHICHTE

BahrerinnertsichanBrandtAls Willy Brandt (1913-1992) kurzvor seinem Tod gefragt wurde, werseine Freunde gewesen seien, ant-wortete der vormalige Bundes-kanzler: „Egon“. Das Wort ermutig-te Egon Bahr, 90, seine Erinnerun-gen an den großen Sozialdemokra-ten zu notieren, dem er bis zu des-sen Rücktritt als Kanzler 1974 alsengster Vertrauter diente. WerBahr schätzt und Brandt liebt,muss dieses Buch lesen.

STREITSCHRIFT

Harald Welzer preistdas SelbstdenkenSelbst denken - oder sich den-ken lassen? Das ist für HaraldWelzer die Frage, den BerlinerSozialpsychologen, der zu denanregends-ten Intellek-tuellen desLandes ge-hört. Der54-Jährigeplädiert fürdas Selbst-denken, daser zum Titelseiner „An-leitung zum Widerstand“ macht.Eine wirtschaftliche, gesell-schaftliche und moralische Kri-tik der Gegenwart auf eine zu-kunftsfähige Gesellschaft hin.Wofür Welzer steht: Kultivie-rung statt Wachstum, Achtsam-keit statt Effizienz, Genauigkeitstatt Schnelligkeit, Saison statt„Alles immer“ und Glück stattKonsum. Eine sachkundige undmeinungsfreudige Analyse derGegenwartskultur, der ein paarinhaltliche Straffungen gut ge-tan hätten. Dafür gibt es alshandliche Zugabe: zwölf Regelnfür erfolgreichen Widerstand.

Harald Welzer: Selbstdenken.S. Fischer, 330 Seiten, 19,90 Euro

BUCHTIPPS

LESEBUCH

Christlicher Widerstandgegen HitlerDie christliche Kirche standnicht in Opposition zu Hitler.Einzelne Christen hingegenschon. Und das gegen den Rö-merbriefdes Apo-stels Pau-lus: „Jeder-mann seiuntertander Obrig-keit, die Ge-walt überihn hat.Denn es istkeine Obrigkeit außer vonGott...“ Um so interessanter sinddie Argumente, die Christendazu bewegten, gegen staat-liches Unrecht aufzubegehrenund ihren verfolgten Nächstenzur Seite zu stehen. Auf Vor-schlag des Beck Verlages hatnun Margot Käßmann ein Le-sebuch zum christlichen Wi-derstand - dem protestantischenund katholischen - zusammen-gestellt, aus Selbstzeugnissenvon Verfolgten und Getöteten.Keine wohlfeile Erbauung, son-dern ein ernsthaftes, gut undklug arrangiertes Buch.

M. Käßmann (Hg.): Gott will Tatensehen. Beck, 479 S., 19,95 Euro

AUTOBIOGRAFIE

Literarisches Solo fürCarmen-Maja AntoniBlond, strubbelig, spitznasig,frech. Immer mehr Clown alseine tolle Frau, das seien dieKlischee-Bilder, die von ihr imUmlauf sei-en, schreibtdie Schau-spielerinCarmen-Maja Antoni(„Der La-den“,„KrausesFest“). Die„Ost-Masi-na“, das sei noch das „heißesteKompliment“ gewesen. Damitist nun Schluss. Weil die 67-jährige Berlinerin ihr Lebenaufschreiben ließ. Und, zwei-tens, weil dazu der SchriftstellerChristoph Hein ein Vorwortgeliefert hat, das sich andereMenschen einrahmen lassenwürden. Die Antoni, schreibtHein, sei eine „der ganz Großendes Theaters, des Spiels, desFilms“. Warum das tatsächlichso ist, kann man nachlesen indiesem unaufdringlichen, fak-tenreichen Lebensreport.

Carmen-Maja Antoni: Im Lebengibt es keine Proben. Das Neue

Berlin, 356 S., mit Abb., 19,99 Euro

Brigade

FrankSchirrmacher:Ego. Das Spieldes LebensBlessing Verlag,352 Seiten,19,99 Euro

KatharinaSaalfrank:Du bist ok,so wie du bist.Das Ende derErziehungKiepenheuer &Witsch288 Seiten18,99 Euro

Egon Bahr:„Das musstdu erzählen“Erinnerungen anWilly BrandtPropyläen Verlag,240 Seiten,19,99 Euro

Galvanisierungsbetrieb im Oderbruch FOTO: HARALD HAUSWALD

Page 6: MZ-Sonderbeilage zur Buchmesse

KLASSIKER

Neues von Petterssonund FindusElf Jahre mussten die Freundevon Pettersson und Findus war-ten. Jetzt legt der schwedischeZeichner und Geschichtener-

finder SvenNordqvistein neuesBilderbuchvor überden kauzi-gen Altenund seinenredseligenKater. Undsiehe da:

Das Duo läuft zu großer Formauf. Obwohl es erst einmal ganzanders aussieht. Denn Petters-son ist nicht mehr der Jüngste.Und weil das so ist, meint er,dass er besser schlafe ohne denKater im eigenen Haus. Derfindet das prima und schlägtvor, das ausgediente Plumpsklozu seinem eigenen Häuschenumzubauen. Mit echten Tape-ten, Bett, Stühlchen und Tisch.Aber als dann die Nacht kommt,sieht die Welt doch wieder etwasanders aus. Ein schöner Schwe-den-Spaß: fantastisch, augen-zwinkernd und sehr behaglich.

Sven Nordqvist: Findus zieht um.Oetinger, 32 Seiten, 12,95 Euro

BUCHTIPPS

HAUSBUCH

Es rappelt in derAugsburger PuppenkisteUrmel. Jim Knopf. Lukas, derLokomotivführer. Kater Mi-kesch. Der Kleine König KalleWirsch. Namen, die man kennt.

Figuren, dieman nichtvergisst.Seit 1948begeistertdie Augs-burger Pup-penkisteMillionenvon Kin-dern und

Erwachsenen gleichermaßen.Eine Leidenschaft, die nichtverfliegt. Und weil das so ist,war es eine gute Idee, „Das gro-ße Buch der Augsburger Pup-penkiste“ herauszugeben. EinSach- und Lesebuch, ein Bilder-und Anekdotenschatz, der alleserklärt: Wie die Puppen ausLindenholz geschnitzt werden,wie sie ins Fernsehen kamen(nur die „Tagesschau“ ist älter)und was Jim Knopf oder dasSams so treiben. Ein Puppen-kisten-ABC im Anhang: vonAbraxas (Zauberrabe) bis ZwergNase (Märchen von Hauff).

Das große Buch der AugsburgerPuppenkiste. 176 S., 24,99 Euro

BILDGESCHICHTEN

Die komischen Kindervon AndernNikolaus Heidelbach! Zeichnerund Erzähler aus Köln, geboren1955. Einer der besten Buch-grafiker überhaupt. Jetzt legt

er einenhandlichenSammel-band vor,zwei neueGeschich-ten inklusi-ve. Zum Bei-spiel: „DieKinder vonAndern“

(ein Ortsname), eine hochmerk-würdige Bildgeschichte. Dennwer kommt aus Andern? JanaFaust, die jeden Vorwand nutzt,um ihre Unterhose zu zeigen.Und Friedemann Schloth, dermeint, man könnte mit einemMeerschweinchen einen Adleranlocken. Großartig auch dieBildgeschichte „Mein FreundHeinrich“, der niemand anderesals Freund Hein ist: der Tod.Mit dem geht ein Junge durchsLeben: hochkomisch. Und vontiefer Freundlichkeit.

Nikolaus Heidelbach: DreizehnGeschichten von Bösen und Wich-

ten für Neffen und Nichten. Beltz &Gelberg, 176 Seiten, 14,95 Euro

Heißer SommerROMAN Zwei Teenager, zwei Systeme: Claudius und Milena

durchbrechen die Berliner Mauer - mit einem Moped und Musik.VON MARIA BÖHME

E r ist heiß, dieser deutscheSommer 1989. Die BerlinerLuft flirrt, als sich die Blicke

von Milena und Claudius zum ers-ten Mal in der S-Bahn treffen - undes blitzt. Liebe auf den ersten Blick,das große Kribbeln, so abgegriffenes auch klingen mag. So weit, soschnulzig. Doch zwischen die ver-liebten Teenager hat Autorin Cori-na Bomann in „Und morgen amMeer“ die Berliner Mauer gesetzt.

Ein Umstand, der Schmalz in die-sem Jugendroman weitestgehendverhindert. Denn Milena, das „Ka-ramellmädchen“, wie Claudius siebald nennt, lebt im Osten der Stadt.Dort, wo es nach Qualm, Trabi und

Planerfüllung riecht. Claudius isthier nur auf Stippvisite. Für denWest-Berliner sind buntes Fernseh-flimmern, Abitur und Fernreisennormal. Er will „drüben“ nur malgucken, wie die Läden aussehen, indenen es nichts zu kaufen gibt, unddie gammeligen Häuser. Und vorallem die Ossis, die wie Höhlen-menschen rumlaufen sollen.

Als er bei Besuchen und überBriefe Milena näher kennenlernt,revidiert er viele seiner Vorurteile.Der 18-Jährige ist erstaunt darüber,wie lebenslustig die 15-Jährige ist,obwohl sie in einem „Gefängnis“lebt. Dass sie überwacht wird undeingesperrt ist, wird Milena selbsterst so richtig klar, als sie es wegeneines Briefes von Claudius mit der

Stasi zu tun bekommt. Das jungeMädchen beschließt, gemeinsammit Claudius zu fliehen. Mit demMoped ans Mittelmeer.

Mit dieser Ost-West-Lovestorygelingt es Corina Bomann, von ei-nem wichtigen Stück deutsch-deut-scher Geschichte aus der Sicht vonTeenagern für Teenager zu erzäh-

len, ohne zu belehren. Und die ausdem Osten stammende Wahl-Berli-nern tut das detailgetreu und inklarer, verständlicher Sprache, deres nicht an kleinen poetischen Aus-flügen fehlt. In „Und morgen amMeer“ gibt es höchstens einen ganzkleinen erhobenen Zeigefinger, derdaran erinnern soll, dass Freiheitein hohes Gut ist. Doch das wirdkein junger Leser übelnehmen.

Trotz der schweren Themenrockt dieser Roman: Denn auchwenn vieles Milena und Claudiustrennt, die Liebe zu David Bowie,The Clash oder A-Ha ist ein starkesBand, das sich nicht nur in derHandlung, sondern auch in den mitMusiktiteln überschriebenen Kapi-teln wiederfindet. Und wer dabeiLust auf Rock’n’Roll bekommt,kann sich alle beschriebenen Lie-der kostenlos im Internet anhören.Beim Lesen oder danach. Den Linkgibt es am Ende des Buches.

KINDERBUCH

RitterTrenkrettetMia-MinaSo nicht! Nicht mit dem kleinenRitter Trenk, der nicht mehr so ge-nau weiß, warum er eigentlich Rit-ter werden wollte. Stall ausmisten?Muss das sein? Aber mitten in derSinnkrise überrascht ihn die Kun-de, dass der gemeine Ritter Wertoltseine Schwester Mia-Mina gefan-gen hält. Also: Her mit den Waffen!Raus aus der Burg! Ein neues, be-zauberndes Kapitel der Ritter-Trenk-Saga von Kirsten Boie.

Das Wunderin der fünften

KlasseROMAN In ihrem Debüt erzählt die New

Yorker Autorin Raquel J. Palacio von einemJungen mit entstelltem Gesicht.

VON JULIANE GRINGER

A ugust Pullman, SpitznameAuggie, ist zehn Jahre altund er sieht schrecklich aus:

Sein Gesicht ist schwer entstellt,von Geburt an. Auch viele Opera-tionen haben daran nicht viel än-dern können. Wie abstoßend erwirken muss, das kann man sichals Leser nur vorstellen, es wird imBuch nicht genau beschrieben.Und wahrscheinlich stellt man essich nicht mal schlimm genug vor.

Auch wenn die meisten Leute inseiner Umgebung sich bemühen,so normal wie möglich mit ihm um-zugehen und sich nichts anmerken

zu lassen: Wenn sie Auggie daserste Mal begegnen, sieht der Jun-ge es ihnen immer für einen kur-zen Moment an den Augen an, wiesie bei seinem Anblick erschre-cken. Was tut er? Er hat sich einlanges Pony wachsen lassen, mitdem er wenigstens die Augen ver-decken kann. Und er nimmt es miteiner unerschütterlichen Größe,die vielleicht nur so kluge und her-zensgute 10-Jährige wie er besitzenkönnen.

Das Cover dieses Buches zeigt ei-nen Jungen, der sich einen Papp-karton über den Kopf gezogen hat.Die New Yorker Autorin Raquel J.Palacio hat 20 Jahre lang solche Co-ver von Büchern gestaltet, bevorsie beschlossen hat, selbst zuschreiben. Die Begegnung mit ei-nem besonderen kleinen Mädchenwar die Initialzündung für den Be-ginn ihres Schreibens. Herausge-kommen ist ein Buch mit demschönen Titel „Wunder“ und ohnePathos kann man es als kleinesWunder bezeichnen, was hier aufknapp 400 Seiten passiert.

Auf ganz wundervolle Weisenämlich nimmt diese Geschichteuns mit in das Leben und die Seeleeines beeindruckenden kleinenJungen. Raquel J. Palacio, selbstMutter von zwei Söhnen, erzählt so

feinsinnig und mit einem sehrcharmanten Witz von ihm und sei-ner Familie, dass man als Leser Au-gust sehr zu mögen beginnt undam liebsten zwischen die Seitenkriechen und sich an Auggies Seitestellen will, um ihn gegen die gan-zen Ungerechtigkeiten und Ge-meinheiten dieser Welt zu verteidi-gen. Doch Auggie braucht das garnicht, er bekommt sein Leben sehrgut alleine auf die Reihe.

Manchmal hat er aber auch gro-ße Angst. So wie jetzt, als er in diefünfte Klasse der Schule gehensoll. Seine Eltern haben es be-schlossen. Bisher hat seine Mutterihn zu Hause unterrichtet, abernun finden sie und sein Vater, dasser den heimische Schutz verlassenund sich dem Alltag mit anderenMitschülern aussetzen soll. Die El-tern haben diesen Plan heimlichgefasst, sie haben ihm sogar heim-lich die Einstellungsprüfung fürdie Schule als Intelligenztest unter-gejubelt. Auggie fühlt sich verra-ten, als er davon erfährt, dass erschon an der Schule angemeldet istund dort erwartet wird. Doch erwagt es, sich den Blicken der ande-ren Kinder dort und der neuen Um-gebung zu stellen. Denn auch wennAuggie Angst hat: Er spürt, dass erdiesen Weg jetzt gehen muss. Be-lohnt wird er mit einem spannen-den neuen Lebensabschnitt, dernicht ohne Hindernisse abläuft,aber auch sehr bereichernd ist.

Geschrieben ist die Geschichtefür junge Leser ab zehn Jahren undsie können sicher eine Menge vondem „Wunder“ für sich mitneh-men. Doch auch ältere und selbsterwachsene Leser finden hier ei-nen durchweg faszinierendenStoff. Palacio erzählt sehr ange-nehm: unaufgeregt, dabei absolutehrlich und unglaublich liebevoll.

Sie lässt nicht nur Auggie selbstzu Wort kommen, sondern in ein-zelnen Passagen unter anderemauch seine 15-jährige SchwesterVia sowie Freunde von ihr undAuggies neuen Freund Jack, den erin der Schule kennen lernt. Sie allebeschreiben aus ihrer Perspektive,wie sie Auggie erleben und was siean ihm schätzen. Was dieses Buchschafft: Es zeigt, wie man die Stär-ken eines Menschen entdeckenkann, ohne die Schwächen zu igno-rieren - wie man Wunder auch dorterkennt, wo viel Leid ist und wieman sie wahr werden lassen kann.

Corina Bomann:Und morgenam MeerUeberreuterVerlag,350 Seiten,12,95 Euro

Kirsten Boie:Der kleine RitterTrenk und derganz gemeineZahnwurmOetinger Verlag,59 Seiten,10,95 Euro

Raquel J. Palacio:WunderHanser Verlag,384 Seiten,16,90 Euro

Freie FahrtHinterhof in der Kastanienallee, Berlin-Prenzlauer Berg FOTO: HARALD HAUSWALD


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