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Page 1: NOIR - Ausgabe 28: Außenseiter

Ausgabe 28 (November 2012)www.noirmag.de

RepoRtage

Angst vorm Arzt: Illegale im Ge-sundheitssystem

LifestyLe

Bahnhofs-Orakel: Was der Koffer über uns verrät

thema

So ticken die Außenseiter von heute

AußenseiterAuf der Flucht oder voll im Trend?

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Editorial

1NOIR Nr. 28 (November 2012)

Corinna Vetter lernte den syrischen Aktivisten Ibrahim auf einem Work-shop für europäische und arabische Journalisten kennen. Nach ihrem In-terview mit ihm gab es für alle Teil-nehmer eine riesige Party. Der Ernst des Lebens und die nächste Feier sind manchmal nur eine Haaresbrei-te entfernt. Interview ab Seite 12.

Markus Erdlenbruch macht seit September sein FSJ Kultur bei der Ju-gendpresse BW. Wäre er Arzt, wür-de er auch Menschen behandeln, die den »falschen« Pass in der Hosenta-sche haben. Auch ohne weißen Kit-tel und Stethoskop macht er auf die Missstände im Gesundheitssystem aufmerksam: ab Seite 7.

Wenn Lisa Kreuzmann ihre Bril-le aufsetzt, hat sie damit nicht nur den Durchblick gewonnen  –  auch ein Stempel ziert nun ihre Stirn  …äh Nase: Nerd! Ist Lisa ein Nerd? Welchen Durchmesser brauchen Brillengläser, um seinen Träger aus-zugrenzen? Was macht ihn aus, den Außenseiter 2012? Thema ab Seite 4.

Soll eine Entscheidung gefällt werden, kann eine große Gruppe Gift sein. Sie droht, die Meinun-

gen zu verzerren. Ein Vorredner gibt den Ton an und im Sitzkreis hagelt es die Ditos und Amen.

Nach dem Motto: Wenn der das sagt und keiner widerspricht, muss es ja stimmen. Die »pein-

lichen« Einwände im Hinterkopf verpuffen unisono. Manchmal wäre es besser, sie blieben.

Mischa Meier, Professor für Alte Geschichte, hat in dem Lexikon »Der Neue Pauly« einen Fan-

tasieartikel über Fußball in der Antike verfasst: das sogenannte Apopudobalia. Die frühe Vor-

form des neuzeitlichen Fußballspiels habe es bis nach Rom geschafft. Im vierten Jahrhundert

verbannte das frühe Christentum die Sportart schließlich trotz ihrer großen Beliebtheit. Jedes

Wort hat Meier sich feierlich an den Haaren herbeigezogen und hat wie Rumpelstilzchen trium-

phiert. Andere Wissenschaftler haben den Eintrag kommentiert, alles Mögliche kritisiert und

angezweifelt, nur nicht Apopudobalia selbst. In Parlamenten, im Radio, in der Wissenschaft, in

der Mode, ja selbst im Journalismus gibt es genau ein Rezept: Kopf an – und zwar den eigenen.

Anika Pfisterer, Chefredakteurin

apopudobalia

auS dEM rEdaKtioNSlEbEN …

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NOIR Nr. 28 (November 2012)2

iNhalt

iNhaltSübErSicht

01 Editorial. rEdaKtioNSGESchichtEN

03 titElthEMa. diE hilfloSEN MobbiNGopfEr

04 titElthEMa. outSidEr SiNd diE NEuEN iNSidEr

07 KoMMENtar. aNdErS SEiN alS diE aNdErEN

08 rEportaGE. illEGalE iM GESuNdhEitSSYStEM

10 rEportaGE. WaS daS GEpÄcK übEr EiNEN VErrÄt

12 iNtErViEW. diE aNGSt iSt VErSchWuNdEN

14 lifEStYlE. to-do-liStE für dEN WiNtEr

16 quErbEEt. aSchENbEchEr KüSSEN

16 iMprESSuM. WEr StEcKt hiNtEr Noir

14 l ifEStYlE

08 rEportaGE

16 quErbEEt

03 titElthEMa

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3NOIR Nr. 28 (November 2012)

titElthEMa

JuNG, dYNaMiSch uNd GEMobbt

Der Streber, der von seinen Klassenkameraden fertig gemacht wird – das typische Mob-bingopfer? Falsch gedacht! Gemobbt werden besonders Berufsanfänger und Fast-Rentner. Silke Brüggemann berichtet über die kaum erkannten Mobbingopfer.

D er Einstieg in die Arbeits-welt ist eigentlich schon schwer genug: eine neue

Umgebung, unbekannte Kollegen und neue Aufgaben. Und genau dann ist man ein besonders gefährdetes Mobbingopfer. Das zumindest ist das Ergebnis des Mobbing-Reports der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Das typische Mob-bing-Opfer steht kurz vor der Rente oder ist gerade in der Ausbildung be-ziehungsweise beim Einstieg ins Be-rufsleben. Berufsanfänger sind des-halb so gefährdet, weil sie nach den neusten Standards ausgebildet sind und sehr engagiert zeigen wollen, was sie können – das macht sie zur Gefahr für ihre routinegeschädigten Kollegen.

Offiziell wird Mobbing als ein hoch eskalierter Konflikt definiert, bei dem es regelmäßig Angriffe auf eine Person gibt. Diese Person wird in eine unterlegene Position ge-bracht, mit dem Ziel, sie auszugren-zen. »Umgangssprachlich wird der Begriff › Mobbing ‹ zu oft verwendet, da muss man unterscheiden«, sagt Martin Zahner, der für die Katholi-sche Betriebsseelsorge an der Mob-binghotline Baden Württemberg verantwortlich mitarbeitet. »Einma-lige Hänseleien sind noch kein Mob-bing.«

Wer mobbt, hat immer ein Motiv: Neid, Machtsicherung oder Rache. Der Mobber versucht, das Opfer un-

text: Silke brüggemann | layout: Jan Zaiser

fähig erscheinen zu lassen, indem er seine Fachkom-petenz angreift – und damit direkt die Person. Die »besten« Mobber sind erstaunlicherweise Frauen im sozialen Bereich. Sie haben ein hohes Maß an Sozial-kompetenz und können das als Waffe einsetzen. Wer wirkungsvoll mobben will, sollte das Opfer genau einschätzen können. So kann man die Stellen treffen, an denen psychische Angriffe am meisten wehtun.

Dabei sind Mobbing-Opfer oft nicht schwach, son-dern starke Persönlichkeiten und fachlich gute Leu-te. »Ein Mauerblümchen geht beim ersten Angriff ein«, sagt Experte Zahner. Stärkere Leute werden zu Mobbing-Opfern, weil sie sich ihrer Konfliktfähig-keit zu sicher fühlen und den Konflikt unterschätzen. Außerdem nehmen sie die vermeintlichen fachlichen Fehler, die ihnen die Mobber unterstellen, oft sehr ernst. Schlafstörungen, psychosomatische Störungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstö-rungen können Mobbing folgen. Außerdem wird das Arbeitsklima zerstört.

»Wer betroffen ist, muss sich Hilfe von außen ho-len«, sagt Martin Zahner. »Starke Persönlichkeiten, die zu Mobbing-Opfern werden, haben meistens auch den starken Part in Beziehungen.« Deswegen ist es für Partner, Familie und Freunde oft schwierig, ihnen zu helfen. Auch ein Tagebuch hilft, die Erfahrungen zu bewältigen. Außerdem ist es vor Gericht ein Be-weismittel, wenn es gebunden ist und an jedem Tag geführt wurde.

Damit es nicht so weit kommt, müssen Führungs-kräfte in einem Betrieb früh eingreifen, sagt Martin Zahner. Konflikte sollte man im Team ansprechen und direkt aus der Welt schaffen.

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4 NOIR Nr. 28 (November 2012)

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text: lisa Kreuzmann | fotos: Markus Erdlenbruch | layout: tobias fischer

WaruM dEr iNSidEr out iSt

An alle, die anders denken: Die Rebellen, die Idealisten, die Visionäre, die Querdenker. Jene Zielgruppe kreierte Apple in einer Werbe-

kampagne aus dem Jahr 1997 für iPhone und Co.

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»

5NOIR Nr. 28 (November 2012)

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H ier geht es um die Verrückten. Die Au-ßenseiter«, erklärte Firmengründer Ste-ve Jobs seinen Spot. Unter dem Leitsatz

»Think different« zeigte die Kampagne Bilder von Andersdenkenden wie dem Physiker Albert Ein-stein, dem Folkmusiker Bob Dylan oder der Bür-gerrechtlerin Joan Baez. Eben jene, die verrückt genug sind, zu denken, sie könnten die Welt ver-ändern, heißt es weiter im Spot. Ein Apple an das Anderssein. »Und während einige sie als verrückt betrachten mögen«, so Jobs, »sehen wir hier das Genie.« Apple – das Label der Genies und Rebel-len. Der Außenseiter?

In den USA müsste das Insider-Outsider-Ver-hältnis demnach ziemlich ausgewogen sein. Laut einer Umfrage des amerikanischen Nachrichten-senders CNBC besaßen im März 2012 über die Hälfte aller US-amerikanischen Haushalte min-destens ein Apple-Produkt. 51 Prozent amerikani-sche Außenseiter?

Apple erklärt Erfolg durch Andersartigkeit. Das entspricht nicht der klassischen Vorstellung eines Außenseiters, der – oft erfolglos – am Rande der Gesellschaft schwimmt: der dicke Junge, das un-sichere Mädchen, der Ausländer, der Obdachlose, die Homosexuelle, der Jude. Gemobbt, getreten, diskriminiert. Der Außenseiter in apfelgrün sitzt in Szenecafés, bestellt Matetee und komponiert ein politisches Lied mit dem Apple-Musikprogramm »GarageBand«. Verschwimmt das Bild vom Au-ßenseiter? Ist es überhaupt wichtig, auf wessen Seite man steht? Was macht den Außenseiter von heute aus, wo fängt der Insider an, und will der Outsider überhaupt in den Führungszirkel?

Der Mensch ist von Natur aus ein soziales We-sen. Die Gruppe bietet Schutz und sichert Überle-ben. Gleichzeitig aber grenzen Menschen Andere auf ebenso natürliche Weise aus. In der Tierwelt werden deformierte oder sonst wie andersartige Tiere von ihren Artgenossen deswegen verstoßen, da sie nicht mehr als Gleichgesinnte erkannt wer-den. Ebenso steckt es in der Natur des Menschen, diejenigen auszugrenzen, die nicht zu seiner Grup-pe gehören. Sie sind ihm fremd und somit feind-

lich. Wer zu seiner Gruppe gehören darf, definiert sich stammesgeschichtlich über eine gemeinsame Abstammung. Damit ist es aber nicht getan, denn auch Kriterien für eine Verwandtschaft lassen sich manipulieren. So können wir uns schließlich auch Nicht-Verwandten nahe fühlen, wenn wir Ge-meinsamkeiten entdecken, die uns ein verwandt-schaftsähnliches Wirgefühl vermitteln. Ob bluts-verwandt oder nicht – auch wer uns ähnlich ist, darf unserer Gruppe also zugehören. Wer es nicht ist, kann unseren Empfindungen nur schwerlich eine gemeinsame Abstammung vorgaukeln. Der Andersartige muss deshalb leider draußen bleiben und wird zum Außenseiter.

Doch nicht jeder Einzelgänger ist ein Außensei-ter – viele entscheiden sich bewusst dafür keiner Gruppe anzugehören. Schließlich bedeutet ein Leben ohne Anhang auch die Freiheit der Norm zu entgleisen. Und »Eigensinn macht Spaß«, pro-klamierte Hermann Hesse, den man ebenfalls am Rande der Kunst verortete. In der Volkswirtschaft bekommt der Außenseiter eine weniger unterhalt-same Rolle zugeschrieben: Der »Insider-Outsider-Ansatz« zur Erklärung von Arbeitslosigkeit macht klar, warum der Insider im Job den Outsider ohne Job als Konkurrenz nicht fürchten muss. Den Out-sider einzustellen würde dem Unternehmer Mehr-kosten verursachen, die er einsparen möchte. So bleibt der Insider »Inside Job« und der Outsider arbeitslos.

Einen erfolglosen Außenseitertyp hatte die Apple-Kampagne Think different sicherlich nicht im Sinn. Wer arbeitslos ist, kann zwar rebellisch und anders denken, sich jedoch keinen iMac leis-ten. Auch Hermann Hesse sah mehr im Außen-seiter. Sich selbst bezeichnete er als »Verfechter des Einzelnen«. Gesetze seien für die Vielen, nicht aber für den Einzelnen, so Hesse. Der Einzelne, der Außenseiter setze sich über sie hinweg. Sie beugen sich keinen Regeln, und sie haben keinen Respekt vor dem Status Quo, kultivierte der Apple-Wer-bespot jene, die anders sind. Und Hesse wusste: Sie haben es schwerer im Leben; den Schutz der Gruppe können sie nicht erwarten. Hesses ▶

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NOIR Nr. 28 (November 2012)6

titElthEMa

Außenseiter-Dialektik: Er habe es zwar schwerer im Leben, jedoch auch schöner, da er die »Freu-den der eigenen Phantasie« genießen könne. Und so trage er – insofern er die harten »Jugendjahre« überstehe  –  eine »sehr große Verantwortung«, formulierte Hesse in einem Brief.

Die Jugendjahre, die Schuljahre  –  schlechte Jahre für den Außenseiter. Für den dicken Jun-gen, der Jahre später für seinen Humor geschätzt wird oder den Juden, der überlebt und heute mit dem Literaturnobelpreis geehrt wird. Einst für Andersartigkeit ausgegrenzt, wird der Außensei-ter im Hesseschen Sinne später genau ihretwegen gefeiert. Eine romantische Sicht, die das Außen-seitertum attraktiv erscheinen lässt und vielleicht Grund dafür ist, warum es Künstler wie Nina Hagen oder Udo Lindenberg zum Beruf gemacht haben. Und vor allem, warum das Außenseiterda-sein zum Lebensstil konstruiert wird. Warum es jetzt in ist, out zu sein.

Warum man sich Nerd-Brillen auf die Nase setzt und Hermann Hesse liest. Warum Second Hand Läden zum Großhandel mutieren und H&M nicht mehr salonfähig ist. Der neue, hippe Außenseiter strebt nach Individualität, strebt nach Einzigar-tigkeit und Eigensinn. Denn »Eigensinn macht Spaß«, Grenzen zu überschreiten auch. Drogen- und Alkoholexzesse gehören zu seinem Leben wie fieberhafte Gespräche über Politik und Literatur. Er ist sozial engagiert und doch egoistisch, emsig wie aufmüpfig, verantwortungsvoll und selbstzer-störerisch. Zwei Seelen wohnen in seiner Brust. Er will sie beide: den Innen- und den Außenseiter. Schließlich sind ehemalige Außenseiter auch die-jenigen, die schon mit zehn ihr erstes Computer-

spiel programmierten oder bei dem Musikwettbe-werb »Jugend musiziert« gewannen. Und das will er auch: Inmitten des Geschehens sein und doch nicht in, zur Bildungsspitze gehören doch nicht Elite sein, schicke Altbauten bewohnen und sich gleichzeitig in Bescheidenheit kleiden. Er ist wie Goethes Faust oder Hesses Harry Haller in Der Steppenwolf: »Die eine Hälfte will fressen, saufen, morden und dergleichen einfache Dinge, die ande-re will denken, Mozart hören ( …)«, erklärte Hes-se seine Hauptfigur, für dessen Lage er nur zwei Auswege sieht: »entweder sich aufzuhängen oder aber, sich zum Humor zu bekehren«.

Und da steht er nun, der neue, moderne Außen-seiter 2012. Mittendrin am Rande der Gesellschaft, mit seinem iPhone in der Hand, Visionen im Kopf und Hermann Hesse unterm Arm. Seine Dialek-tik: Einzigartig oder nicht, auch dieser Wunsch kann zur Massenbewegung werden. 51 Prozent amerikanische Außenseiter. Ansteckungsgefahr garantiert. Und dann? Diejenigen, die die Masse um jeden Preis hinter sich lassen müssen, ziehen wohl weiter. Andere lehnen sich vielleicht ent-spannt zurück, bekehren sich zum Humor und bleiben dennoch – nicht als Innen- oder Außen-seiter, Individualisten oder Idealisten  –  verrückt genug zu denken, sie könnten die Welt verändern. Denn diejenigen sind es, die es wirklich tun, ver-traut man Steve Jobs und seiner Werbekampagne.

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7NOIR Nr. 28 (November 2012)

KoMMENtar

Z usammen mit dem Schul-direktor stei-

ge ich die marmorne Schultreppe hinauf. Ein paar Augenblicke und er wird mich der Klasse vorgestellen- was erwartet mich? Werde ich mich mit ih-nen verstehen?

Die Klasse  –  eine brüllende Masse. Zusammenhaltender Kollektiv, wie ich später erfahren sollte. Der Direktor stellt mir eine Frage, ich verstehe sie nicht und antworte verlegen mit »ja«. Lautes Lachen. Ich bin Außen-seiterin hier – ich verstehe weniger als 20 Prozent und bin hier gegen meinen Willen. Aber ich muss weitermachen, muss mich integrieren. Ich kann es nicht. Ich frage mich, ob man für immer ein Au-ßenseiter bleiben kann.

Es gibt Leute, die ihr Outsider-Dasein geradezu genießen und feiern. Es ist modisch, wunderlicher Außeinseiter zu sein, à la Amélie von Montmar-tre  oder etwa wie »Einstein von morgen«  –  ein einsames Genie, das abseits der Außenwelt sein großes Werk vollbringt. Es ist nicht modisch, zu einer Gruppe zu gehören. Der Individualismus ist Mode, das demonstrative Außenseitertum. Aber dieses Außenseitertum ist ein schönes Bild, das eine unschöne Realität verschleiert. Das ist kein Argument für die ständige Anpassung und den Konformismus, welcher ein Extrem ist.

Doch man will ein Teil einer Gesellschaft sein und Gemeinsames mit anderen haben. Dies bedeu-tet nicht etwa, eigene Besonderheiten zu verlieren. Es bedeutet die Akzeptanz gewisser Regeln der um-gebenden Gesellschaft für den eigenen Komfort.

text: Susanne Nicolai text: Elena lasko

rEVoluZZEr odEr MaSSE ?

Contra: richtiGE aNpaS-SuNG braucht JEdEr!

M e n s c h e n sind einzig-artig: Schon

allein durch unseren Fingerabdruck unter-scheiden wir uns von-einander. Und das ist auch gut so!

Was wäre aus der französischen Revolu-tion geworden, hätte Jean-Jaques Rousseau

nicht seinen aufklärerischen Gesellschaftsver-trag ausformuliert? Eine Gesellschaft braucht Andersdenkende, um voranzukommen. Ohne Querdenker keine neuen, innovativen Ideen, kei-ne weiteren Forschungen, keine mutigen Helden und Revoluzzer. Würden sich alle dem kollekti-ven Mainstream unterwerfen, so wäre die Welt öde und monoton. Alles würde gleichgemacht werden, jeder hätte den gleichen Geschmack. Klar, die Marx‘sche Idee, jedem Menschen glei-che Chancen zu ermöglichen, indem alle die glei-chen Voraussetzungen bekämen, klingt vorerst ganz verlockend. Immerhin könnte man dadurch soziale Unterschiede beheben. Doch der Mensch ist glücklicherweise intelligent genug geschaffen, sich eine individuelle Meinung zu bilden, kreativ zu werden und eigene Lösungsansätze für Pro-bleme zu entwickeln. Die Art und Weise, wie er das tut, macht schließlich seinen Charakter aus. »Du bist so seltsam selten und das ist es, was ich an dir mag!«, singt die Mannheimer Band Bakku-shan. Das Besondere an einem Menschen ist seine Einzigartigkeit: Je weiter man sich von der Allge-meinheit entfernt, desto besonderer ist man. An-derssein benötigt zwar Mut und Selbstvertrauen, doch dadurch gewinnt man auch die Gewissheit, nicht einfach austauschbar zu sein.

Pro: uNtErSchiEdE briN-GEN VoraN!

Der schmale Grat zwischen Anpassung und Individualität

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NOIR Nr. 28 (November 2012)8

rEportaGE

ohNE StatuS, ohNE arZt

Wer krank ist, geht zum Arzt – das steht für die meisten hier fest. Eine Ausnahme bilden die 100.000 bis zu einer Million illegal in Deutschland lebenden Menschen, die aufgrund politischer Verfol-gung, Kriegen oder Hungerkatastrophen aus ihrer Heimat geflo-hen sind. Ein Arztbesuch könnte für sie drastische Folgen haben …

Nach dem Asylbewerberleis-tungsgesetz haben Asylbe-werber neben Unterkunft,

Ernährung und Kleidung auch ein Recht auf medizinische Versor-gung  –  insbesondere bei akuten Krankheiten, Schwangerschaft oder der Geburt eines Kindes. Trotzdem machen Flüchtlinge einen weiten Bo-gen um Arztpraxen. Aber woran liegt das? Hauptgrund ist die Meldepflicht für alle Asylbewerber, der öffentliche Stellen unterliegen: Sie haben nach dem Ausländergesetz unverzüglich die zuständige Ausländerbehörde zu unterrichten, wenn sie Kenntnis von dem Aufenthalt eines »Ausländers ohne eine erforderliche Aufenthalts-genehmigung oder Duldung« bekom-men. Das gilt auch für das Sozialamt, das die Gesundheitsleistungen geneh-migen muss.

Was daraus folgt, ist klar: Aus Angst vor einer Abschiebung holen sich ille-gale Einwanderer keine medizinische Hilfe, was auch eine Studie der Stadt München besagt. Es sind Fälle be-kannt, in denen Menschen direkt im Krankenhaus festgenommen wurden: Der bayerische Flüchtlingsrat berich-tet von einer psychisch kranken Frau, die von Polizeibeamten in Handschel-len direkt in ihr Heimatland Aserbaid-schan abgeschoben wurde – ihr Mann und ihre drei kleinen Kinder blieben zurück. Seit das Grundrecht auf Asyl 1993 hierzulande stark eingeschränkt wurde, ist die Chance für Flüchtlinge auf ein Leben in Legalität noch gerin-ger. Das Gesundheitssystem bleibt für

sie in weiter Ferne. Auch wenn kirchliche und private

Krankenhausverwaltungen nach Ein-schätzungen des Juristen Ralf Fodor im Gegensatz zu Arztpraxen nicht als öffentliche Stellen gelten und somit auch nicht meldepflichtig sind, ist der rechtliche Rahmen nicht vollständig geklärt. Viele Krankenhausärzte und Verwaltungsangestellte seien sich laut Fodor im Unklaren darüber, dass sie nicht der Meldepflicht unterliegen und dass solche Fälle außerdem unter die ärztliche Schweigepflicht fallen. Zu-dem würden sie fürchten, auf den Kos-ten sitzen zu bleiben. Ein Betroffener kann eine Behandlung ohne Kranken-versicherung in den seltensten Fällen aus dem eigenen Geldbeutel zahlen. Für die circa eine Million Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus gibt es in Deutschland also enorme Hürden, gesund zu bleiben oder zu werden. Dabei sind besonders sie auf medizi-nische Versorgung angewiesen. Men-schen ohne Aufenthaltsstatus können nur schwarzarbeiten: Jenseits von Arbeitsbestimmungen und Rechten leben sie in körperlicher und psychi-scher Überlastung. Dazu kommen oft nicht überwundene Traumata aus der Vergangenheit.

In vielen Großstädten haben sich Vereine gegründet, die Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung an Ärzte vermitteln, die in diesen Fällen kostenlos behandeln. Diese MediNetz-Initiativen müssen die Ärzte durch persönlichen Kontakt für ihr Projekt gewinnen. Die medizinische Versor-

gung von Menschen ohne Aufent-haltsstatus beruht so auf dem Enga-gement Weniger. Christopher Lobin vom MediNetz Rhein-Neckar spricht von einer »Parallelstruktur«, die die »medizinische Regelversorgung nicht ersetzen kann und auch nicht sollte«. Gesundheitspräventive Maßnahmen, stationäre Behandlungen und teure Eingriffe sind in der Parallelversor-gung nämlich nahezu ausgeschlossen. Lobin plädiert für eine gesetzlich gere-gelte Basisversorgung. »Am Ende un-seres Strebens steht ironischerweise unsere Selbstabschaffung«, kommen-tiert er.

Politische Lösungsansätze gibt es, sie warten nur auf ihre Umsetzung. Eine Idee ist ein »anonymer Kran-kenschein«. Den könnten Ärzte ohne Personendaten an die Sozialämter weiterleiten, um Behandlungen ohne Registrierung bei den Behörden mög-lich zu machen. Eine andere Möglich-keit wären laut dem MediNetz soge-nannte Fonds, aus denen behandelnde Ärzte die Kosten ohne Umwege bean-tragen könnten. Sie könnten von staat-licher Seite und zivilgesellschaftlichen Spenden finanziert werden.

Einige von Deutschlands Nachbar-ländern haben ähnliche Modelle be-reits in die Realität umgesetzt: In den Niederlanden wird das Fonds-Modell praktiziert. In Spanien reicht bereits eine Anmeldung bei einer kommuna-len Behörde, um Zugang zur öffentli-chen Gesundheitsversorgung zu er-halten. In Italien besteht für Menschen ohne Papiere die Möglichkeit, über an-onyme Registrierkarten Zugang zur staatlich finanzierten Versorgung zu erhalten. Die Daten dieser Registrier-karten an die Ausländerbehörde wei-terzugeben, ist gesetzlich verboten.

Es sollte klargestellt werden, »dass es sich bei illegalisierten Migran-ten nicht um gefährliche Kriminelle, sondern um Menschen in Notlagen handelt«, fordert Lobin. Die Gesell-schaft dürfe nicht wegschauen, sonst entstünden zukünftige Probleme: »In Deutschland wächst eine ganze Ge-neration undokumentierter Kinder auf, die kaum Möglichkeiten auf eine richtige Zukunft hat.« Auch nicht auf Gesundheit.

text: Markus Erdlenbruch | layout: Jan Zaiser

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9NOIR Nr. 28 (November 2012)

aNZEiGE

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NOIR Nr. 28 (November 2012)10

rEportaGE

Wie gehören der merkwürdige Tattoo-Typ und die alte Frau zusammen? Und warum schleppt der Anzugstyp einen pinken Koffer mit sich herum? An

Bahnhöfen drängen sich einem viele Fragen auf, die einen eigentlich nichts angehen – und genau deshalb spannend sind. NOIR-Autor Lukas Ramsaier hat am Stuttgarter Hauptbahnhof unverblümt gefragt. Was war dran an seinen

ersten Eindrücken und was steckte wirklich im Gepäck der Passanten?

GEpÄcK-GEflüStEr: WaS dEr KoffEr VErrÄt

text & fotos: lukas ramsaier | layout & illustration: tobias fischer

# B e s c h r e i b u n g d e s G e p ä c k s :

L o n g b o a r d v o r d e n Fü ß e n , im

G e p ä c k b e f i n d e n s i c h e i n i g e

K l am o t t e n u n d e i n g r o ß e r

Te d d y b ä r .

# Me i n e V e rmu t u n g :

W o c h e n e n d -Tr i p z um F r e u n d .

V e rmu t l i c h g e h t s i e m i t i hm

d i e S t r a ß e n u n s i c h e r m a c h e n :

M i t d em L o n g b o a r d , d em

Te d d y u n d d em F r e u n d z um

r om a n t i s c h e n P i c k n i c k im G r ü n e n .

# D i e w a h r e G e s c h i c h t e :

L i s a i s t u n t e rw e g s z u i h r e r F am i l i e a n d i e O s t -

s e e . D e r Te d d y mu s s m i t , d am i t s i e d i e F a h r t

h e i l ü b e r s t e h t . D e r F r e u n d m a c h t a l l e i n e d i e

S t r a ß e n u n s i c h e r .

# B e s c h r e i b u n g d e s G e p ä c k s :G r o ß e r Tr e k k i n g -r u c k s a c k , a u s d em Z e l t s t a n g e n h e r -v o r s c h a u e n . I n d e r l i n k e n H a n d e i n C o l a - K a s t e n , i n d e r a n d e r e n e i n e

ü b e r q u e l l e n d e P l a s t i k t ü t e m i t C h i p s u n d S a l z -

s t a n g e n .

# Me i n e V e rmu t u n g : A u f d em Rü c kw e g v o n e i n em C amp i n g - U r l a u b

m i t F r e u n d e n a n e i n em B a g g e r s e e . D o r t g a b e s

w o h l s o v i e l B i e r , d a s s n u r a l k o h o l f r e i e G e t r ä n k e

ü b r i g b l i e b e n .# D i e w a h r e G e s c h i c h t e : D om i n i c k ommt g e r a d e v o n S t u t t g a r t -U n t e r -

t ü r k h e im , w o s e i n e e h em a l i g e S t u f e z e h n J a h r e

A b i g e f e i e r t h a t . W e i l e r b e f ü r c h t e t h a t t e , d o r t

k e i n e n S c h l a f p l a t z z u f i n d e n , h a t e r d a s Z e l t

m i t g e n omme n . D i e G e t r ä n k e , C h i p s u n d S a l z s t a n -

g e n s i n d b e im F e s t ü b r i g g e b l i e b e n .

dominic (29), pforzheim

lisa (17), Sigmaringen

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11NOIR Nr. 28 (November 2012)

rEportaGE

# B e s c h r e i b u n g d e s G e p ä c k s :

K l e i n e r R o l l k o f f e r u n d e i n e

S t o f f t a s c h e v o l l e r L e b e n sm i t t e l .

# Me i n e V e rmu t u n g :

K u r z u r l a u b b e im F r e u n d .

D i e s e r w o h n t i n e i n e r h i p p e n

G r o ß s t a d t m i t S z e n e k n e i p e n

u n d I n d i e -D i s k o s . D e r

R o l l k o f f e r s i e h t s o a u s , a l s

h ä t t e A n n i e v i e l e s c h i c k e K l am-

o t t e n im G e p ä c k u n d n o c h g e n u g P l a t z , um

n o c h m e h r K l e i d e r w i e d e r h e im z u b r i n g e n .

# D i e w a h r e G e s c h i c h t e :

R i c h t i g ! A n n i e i s t t a t s ä c h l i c h u n t e rw e g s n a c h

Am s t e r d am , um d o r t i h r e n F r e u n d u n d i h r e n

B r u d e r z u b e s u c h e n . Fü r e x z e s s i v e s E i n k a u f e n

f e h l t i h r a b e r l e i d e r d a s G e l d . D a s g i n g f ü r d a s

Zu g t i c k e t d r a u f .

annie (21), birmingham (uK)

# B e s c h r e i b u n g d e s G e p ä c k s : G r o ß e r Tr e k k i n g r u c k s a c k , i n d em s i c h e i n Z e l t u n d e i n e P l a n e b e f i n d e n u n d e i n k l e i n e r R u c k s a c k am B a u c h m i t v i e l P r o v i a n t .

# Me i n e V e rmu t u n g :U n t e rw e g s z u e i n em p o l i t i s c h e n C amp v o l l e r a l t e r n a t i v e r M e n s c h e n u n d L a g e r f e u e r m i t G i t a r -r e n u n t e rm a l u n g . E v e n t u e l l a u c h e i n Mu s i k - o d e r S t r a ß e n k u n s t f e s t i v a l

# D i e w a h r e G e s c h i c h t e : F a l s c h ! R o b e r t i s t a u f d em We g z u e i n e r „ V i s i o n s s u c h e “ i n d i e S c hw e i z , b e i d e r e r zw ö l f Ta g e a l l e i n i n d e r „W i l d n i s “ u n t e rw e g s s e i n w i r d .

robert (25), Kreßberg

# B e s c h r e i b u n g d e s

G e p ä c k s : G r o ß e r Tr e k -

k i n g r u c k s a c k m i t K l a -

m o t t e n , H a n d t ü c h e r n

u n d S o u v e n i r s . K l e i n e r

R u c k s a c k m i t Bü c h e r n u n d

Z e i t s c h r i f t e n u n d e i n e k l e i n e

S t o f f t a s c h e m i t P r o v i a n t .

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R om a n h a t g e r a d e s e i n A b i g em a c h t u n d n u t z t d e n

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R i c h t i g ! R om a n k ommt a u s A u s t r a l i e n u n d r e i s t

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A u s t r a l i e n d i e Ü b e r h a n d g ew i n n t . A u s R a c h e

s t a r t e t e r n u n e i n e G e g e n b ew e g u n g i n E u r o p a .

roman (19), australien

# B e s c h r e i b u n g d e s G e p ä c k s :G r o ß e r R o l l k o f f e r u n d e i n e Ta s c h e m i t B a d e u t e n s i l i e n .# Me i n e V e rmu t u n g :N a c h r e i s e z um F e r i e n h a u s d e r E l t e r n . D o r t w i l l

s i e s i c h v e rmu t l i c h e r s t e i nm a l v o n P a p i m i t d em

Mo t o r b o o t ü b e r d e n B a d e s e e k u t s c h i e r e n l a s s e n .# D i e w a h r e G e s c h i c h t e :R i c h t i g ! L i l l y k ommt g e r a d e v o n e i n e r zw e iw ö c h i -

g e n S p r a c h r e i s e a u s E n g l a n d u n d i s t u n t e rw e g s

z um F e r i e n h a u s d e r E l t e r n i n S t e i n b e i s i n d e r

N ä h e d e s B o d e n s e e s . S i e mu s s d o r t a b e r m i t e i n e r

L u f tm a t r a t z e V o r l i e b n e hm e n .

lilly (15), heilbronn

Page 14: NOIR - Ausgabe 28: Außenseiter

12 NOIR Nr. 28 (November 2012)

iNtErViEW

» diE aNGSt iSt VErSchWuNdEN «

Ibrahim Fayad, 1988 in Syrien geboren, setzt sich als Aktivist gegen das Assad-Regime ein. Nach einer Reihe von Verhören floh er 2011 aus Syrien und hält sich seitdem in Europa auf. Er arbeitet zurzeit als Projektmanager bei der Organisation »Association de Soutien aux Médias Libres« in Paris. Zudem engagiert er sich im größten syrischen revolutionären Nachrichtennetzwerk »Shaam News Network«.

interview & foto: corinna Vetter | layout: tobias fischer

W ie hast du das Leben unter dem Assad-Regime erlebt?

Es gibt einen Artikel über Syrien, der den Titel »Das Königreich der Angst« trägt. Das beschreibt das Leben unter Assads Regime am besten: das Wort Angst. Man lebte in totaler Unsicherheit. Tag und Nacht. Nicht wegen der Kriminalität, sondern wegen des Polizeistaats. Alles wurde kontrolliert und bewacht. Wir fühl-ten uns würdelos, auf viele Arten gedemütigt und sehr unfrei. Ich hatte definitiv Angst vor dem Re-gime. Bevor ich Syrien verließ, wurde ich in drei verschiedenen Städten verhört. Es hat in Aleppo angefangen. Das schlimmste Verhör war in Da-maskus.

Wieso wurdest du verhaftet?Um ehrlich zu sein, ich kenne nicht den genauen

Grund. Aber ich habe in meiner Freizeit oft etwas mit Ausländern gemacht. Das Regime hat Auslän-der immer für verdächtig gehalten  –  und somit auch die Menschen, die mit ihnen Zeit verbrach-ten. Ich war auch aktiv dabei, Freiheit zu propa-gieren. Ich habe immer versucht, junge Menschen dazu zu bringen, für sich selbst einzustehen. Ich war kein Mitglied irgendeiner Organisation oder Bewegung – weil es keine gab. Es war mir immer ein persönlicher Drang, mich gegen die Gräuel-taten des Regimes auszusprechen. Ich habe mich nur mit meinen Freunden und in kleinen Kreisen

darüber unterhalten. Aber alles kann leicht auf-gedeckt werden. Ich konnte legal ausreisen und musste nicht fliehen. Am Flughafen war ich mir nicht zu 100 Prozent sicher, ob es klappen würde. Das Regime hätte mich abhalten können, aber es hat geklappt.

Wie hast du die syrische Revolution von au-ßerhalb erlebt?

Ich war sehr traurig, nicht dabei sein zu kön-nen. Ich konnte an den ersten Protesten nicht teilnehmen, die sehr farbig und divers waren. Die Menschen fühlten sich frei. Meine Freunde ha-ben mir erzählt, dass Protestieren süchtig macht. Man könne dabei die Freiheit fühlen. Danach war ich wegen der Gewalt sehr traurig. Wir dachten, dass wir die Revolution nach ein oder zwei Mo-naten beenden könnten, so wie in Ägypten oder in Tunesien. Aber es dauerte länger. Momentan geschieht eine systematische Zerstörung Syri-ens, das Regime lässt nichts heil. Das alles macht mich sehr traurig und wütend. Aber ich bin auch glücklich, weil wir unsere Zukunft selbst verän-dern, ohne eine Intervention, ohne Unterstützung. Viele Staaten stehen gegen uns, aber wir machen weiter.

Was denkst du über die Berichterstattung über Syrien in den westlichen Medien?

In den Medien gab es einen sehr erbitterten

Page 15: NOIR - Ausgabe 28: Außenseiter

13NOIR Nr. 28 (November 2012)

iNtErViEW

Kampf zwischen dem Regime und den Revoluti-onären. Das Regime hat seine Arbeit tatsächlich gut gemacht. Sie konnten irgendwie ein vages Bild der Geschehnisse in Syrien zeichnen, sodass die Menschen nie richtig wussten, was los war. Auch haben sie im Land die internationalen Medien aus-gegrenzt. Ich denke, das Syrienbild in den westli-chen Medien ist falsch – in Wirklichkeit ist es in Syrien tragischer und trauriger als viele glauben.

Was hat dir deine Familie über die Situation in Syrien erzählt?

Es ist sehr schwer, mit meiner Familie in Kon-takt zu bleiben, weil das Internet und die Handy-netze ausgeschaltet wurden. Ich benutze das Fest-netz, um meine Familie anzurufen – aber das ist auch nicht immer möglich. Meine Familie meinte, die Situation sei sehr schlecht und würde leider immer schlimmer. Es gibt kollektive Bestrafun-gen der Bürger in ganz Syrien. Obwohl die freie syrische Armee immer mehr Macht gewinnt, ist die syrische Armee noch in Besitz des Luftraums und kann alles bombardieren. Die syrische Armee tut das leichtfertig, weil sie weiß, dass sie später nicht wieder aufbauen muss. Die Zerstörung ist systematisch und allumfassend – auch in meiner Stadt. Aber das ist ein Preis, den wir zu zahlen be-reit sind.

Wie bekommst du die Informationen und Vi-deos von den Revolutionären ins Ausland?

Von Anfang an haben wir den Aktivisten in Syrien Satellitentelefone geschickt, damit wir fast immer mit ihnen verbunden sind. Das ist üb-rigens Teil meiner Arbeit. Wir vom Shaam News Network versuchen, die Aktivisten untereinan-der durch Satellitentelefone zu verbinden. Das ist auch etwas, wofür wir bezahlt haben. Hier könnte die internationale Gemeinschaft uns helfen – für sie ist das weder teuer noch unsicher.

Was denkst du über die Zukunft Syriens?Ich denke, dass das Regime früher oder später

zusammenbrechen wird. Der Countdown zum Kollaps hat begonnen. Die freie syrische Armee ist leider nicht stark genug, das Regime komplett zu besiegen. Aber wir haben Rückhalt in der Bevöl-kerung. Deswegen denke ich, dass wir gewinnen werden. Nach dem Ende des Assad-Regimes wird es erst mal ein Vakuum ohne staatliche Instituti-onen geben – aber das ist immer so nach einer Re-volution. Wenn die revolutionären Kräfte sich neu organisiert haben, werden sie hoffentlich bald die Sicherheit wiederherstellen. Ich habe große Hoff-

nungen für die Zukunft Syriens. Wir haben viele tolle junge Leute. Wir können das alles schaffen.

Denkst du, dass Religion künftig eine größere Rolle spielen wird?

Ja, das wird sie. Die meisten Westler waren überrascht, als die Staaten des arabischen Früh-lings religiöser wurden. Die Realität ist aber, dass alle Regime zu säkular für ihre Länder waren. Die Bevölkerung ist muslimisch und ihnen wurde nicht genug Raum gegeben, um ihre Religion zu praktizieren.

Deswegen wurden viele Länder religiöser, zu-mindest aus westlicher Sichtweise. Unabhängig von der Religion radikalisiert eine Krise die Men-schen. Es wird auch Extremismus geben, aber ich denke, er wird beherrschbar sein.

Was sind deine Pläne für die Zukunft?Ich bin in einigen Projekten involviert, die sich

mit Syrien und der Jugend in den arabischen Staa-ten beschäftigen. Danach will ich zurück nach Syrien. Ich hoffe, dass ich nach dem Ende der Re-volution helfen kann, die Gesellschaft wieder mit aufzubauen. Wir haben viel zu tun. Ich habe keine Angst zurückzugehen. Vor zwei Tagen habe ich mit meiner Familie geredet und sie wollen nicht, dass ich zurückkomme. Aber nach eineinhalb Jahren im Ausland, nachdem ich eineinhalb Jah-re darüber nachgedacht habe, ist die Angst ver-schwunden.

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NOIR Nr. 28 (November 2012)14

lifEStYlE

ENGEl iM SchNEE, ZiMt iM tEE …

… und andere Dinge, die ihr im Winter unbedingt tun solltet! Zu kalt, zu glatt, zu dunkel – über keine Jahreszeit wird so viel gemeckert wie über den Winter! Dabei macht er so viele schöne Dinge erst möglich. Damit ihr euch also während der kurzen Tage und der kalten Nächte nicht langweilt, haben wir mit und für euch eine To-Do-Liste für den Winter erstellt.

text: bettina Schneider | layout: Jan Zaiser

in der Weihnachtszeit

nachts auf den höchs-

ten aussichtspunkt

steigen und die lichter

der Stadt genießen

Eine echte heiße Schokola-de trinken (50g Schokolade klein hacken oder raspeln und in 250 ml Milch schmel-zen. Gut umrühren, damit nichts anbrennt. Je nach Geschmack noch (Vanille)Zucker und / oder Zimt rein-rieseln lassen)

bratäpfel backen: Äpfel waschen, einen »deckel« abschneiden und das Kerngehäuse entfernen. Vanillepudding anrühren und circa 30g haselnusskrokant darunter heben. das ganze in die Äpfel füllen und dann ab in den ofen! 30-40 Minuten bei 175° umluft backen. Wichtig: apfeldeckel erst nach der hälfte der backzeit dazugeben. die füllung kann natürlich nach eurem Geschmack variieren: zerbröselter Spekulatius, pflaumenkompott, Knuspermüsli, Vanillesoße …

plätzchen backen mit einer omaschürze um

Ein lagerfeuer ma-

chen und Stockbrot

essen (trockenes

holz gibt’s im bau-

markt)

»Eine Schneebar

bauen und eis-

kalte Getränke

genießen.«

Kadda, 21

Schneepicknick, mit Glühwein, lebkuchen und anderen winter-lichen dingen

urlaubsfotos des letzten Sommers sortieren, ent-wickeln lassen und an freunde schicken »Ich möchte wieder in die Sauna gehen und

danach in den Schnee liegen und Schneeengel machen, aber halt nackig zur Abkühlung!« Simone, 21

Einen ganzen tag mit euren

freunden dVds schauen:

Kevin – allein zu haus, der

Grinch, das letzte Einhorn,

tatsächlich … liebe, und für

Kitschfans darf natürlich die

Sissi-reihe nicht fehlen!

Mit einer freun-din, mit der du schon ewig wieder was unternehmen wolltest ins Kino gehen.

»Wärmelampe an,

Liegestuhl raus,

Sonnenbrille raus

und Cocktails

trinken!«

christoph, 24

Mit deiner Klasse nach

der Schule ins nächste

Eisstadion fahren und

Schlittschuh laufen

»Eine Sache wäre, nur mit Handtuch bekleidet einkaufen zu gehen, eine andere, mit dem Hund Schlittschuh laufen zu gehen …« carlo, 24

»Ein Wochenende in

die Berge zum Snow-

boarden fahren.«

Meike, 20

Page 17: NOIR - Ausgabe 28: Außenseiter

15NOIR Nr. 28 (November 2012)

lifEStYlE

Mit einer tüte

heißer Maro-

nen über den

Weihnachtsmarkt

schlendern

Etwas stricken oder häkeln (wer’s noch nicht kann, kann es mit Youtube-Videos lernen!)

barfuß durch den

Schnee laufen

»Auf beschlagene

Fenster malen.«

Sonja, 24

Ganz früh aufstehen und die gefrorenen fenster der autos in deiner Straße freikratzen

»Ins Thermalbad

fahren und im

beheizten Außenbe-

cken schwimmen.«

Jasmin, 20

Einen Spielabend mit freunden organisieren: tabu, activity oder ri-siko, dazu punsch und plätzchen gegen die Winterdepression!

Einen Zauber-

trick lernen

und bei den

Großeltern

Eindruck

schinden

durch Stadt, Wald und über felder spazieren und Schneelandschaften fotografieren

»Für jeden ordentlichen

Mann heißt der erste

Schnee im Jahr, sich

umgehend ins Auto zu

begeben. Ein Winter-

grillen pro Jahr sollte

auch noch drin sein.«

Simon, 19

Sich mit Wollsocken und Wintertraumtee ins bett kuscheln und ein gutes buch lesen.

falls es nicht schneit:

weißes Konfetti kaufen

oder selber machen, in die

Einkaufsstraße stellen, es

in die luft werfen und da-

bei laut »Schneeglöckchen,

Weißröckchen« singen.

»Eine Schneeballschlacht

machen! Nichts ist toller, als

seine kleinen Geschwister

mal so richtig zu ärgern, ab-

zuwerfen und sie im kalten

Schnee zappeln zu lassen,

bis sie nicht mehr können.«

harriet, 16

Mit euren Geschwistern

einen Schneemann

bauen … und eine

Schneefrau … und

Schneebabys!

»Eine rote Wurst am Lagerfeuer grillen. Im Sommer kann das jeder!« arno, 26

den Kleiderschrank und das

bücherregal durchstöbern

und ein paar gute teile ans

Kinderheim, die Kirche oder

eine wohltätige Einrichtung

spenden

Euch minde-stens einmal das lied »Jetzt ist Sommer« von den Wise Guys anhören

»Bei McDonald‘s schön Bauch anfressen für die kalten Tage!« rahul, 22

»In Badehose oder

Bikini durch die Straßen

laufen und eine Repor-

tage über Reaktionen

und Erlebnisse darüber

schreiben.«

Markus, 20

Page 18: NOIR - Ausgabe 28: Außenseiter

16 NOIR Nr. 28 (November 2012)

quErbEEt

Noir ist das junge Magazin der Jugendpresse baden- Württemberg e.V. ausgabe 28  – November 2012

HerausgeberJugendpresse baden-Württemberg e.V. fuchseckstraße 7 70188 Stuttgart

tel.: 0711 912570-50 www.jpbw.de fax: 0711 912570-51 [email protected]

Chefredaktionanika pfisterer [email protected](V.i.S.d.p., anschrift wie herausgeber)Susan djahangard [email protected] Kurz [email protected] Schneider [email protected]

Chef vom Dienstalexander Schmitz [email protected]

Redaktionbettina Schneider (bs), corinna Vetter (cv), Elena lasko (ela), lisa Kreuzmann (lkr), lukas ramsai-er (lr), Markus Erdlenbruch (me), Silke brügge-mann (sbr), Sophie rebmann (srm), Susanne Nicolai (sun) [email protected]

Lektoratdominik Einsele [email protected]

Layout & Art Directortobias fischer [email protected]

Layout-Teamtobias fischer, Jan Zaiser [email protected]

Anzeigen, Finanzen, KoordinationMiriam Kumpf [email protected]

Druckhorn druck & Verlag Gmbh & co. KG, bruchsal www.horn-druck.de

Titelbildertitel: rubysoho / fotolia.com; teaser-fotos (v.l.n.r): dusklog / photocase.com, a h / photocase.com; hketch / photocase.com

Bildnachweise (sofern nicht auf der entspr. Seite vermerkt)

S. 1 (oben): Juttaschnecke / photocase.com; S. 1 (unten): privat (3x); S. 2 »Schneeball«: bettina Schneider; »aschenbecher«: fraueva / photocase.com; »Kranker«: Jan photographer / jugendfotos.de; »Stühle«: Samuel bayer / jugendfotos.de; S. 7: privat (2x); S. 14 /15: privat (5x); S. 16: chriskuddl | ZWEiSaM / photocase.com

Noir kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im abonne-ment 1,70 Euro pro ausgabe (8,50 Euro im Jahr, Vorauszahlung, abo jederzeit kündbar). bestellung unter der telefonnummer 0711 912570-50 oder per Mail an [email protected]. für Mitglieder der Jugendpresse bW ist das abonne-ment im Mitgliedsbeitrag enthalten.

iMprESSuM

text: Sophie rebmann | layout: tobias fischer

aSchENbEchEr KüSSEN

D ass Rauchen tödlich ist, bläut man

jedem kleinen Kind schon im Kindergar-tenalter ein. Später versucht die Politik, die Menschen durch eine Tabaksteuer vom Rauchen abzuhalten und übersieht dabei, wie erfolglos dieses Unterfangen ist: Die

Einkommensteuer hält auch keinen Menschen vom Arbeiten ab!

Rauchen ist gesundheitsschädlich, teuer und der Gestank bleibt überall haften. Wieso greift

man trotzdem zur Zigarette? Viele rauchenden Frauen glauben, interessant zu wirken, wenn sie umwoben von grauen Nebelschwaden und lasziv mit rot gefärbten Lippen an einer Zigarette ziehen – vielleicht, weil das interessierte Gegenüber sich für nähere Betrachtungen erst durch den grauen Dunstvorhang kämpfen muss. Seit Raucher auf-grund des Rauchverbots in Kneipen nicht mehr toleriert werden, stehen sie davor. Aber statt sie als Außenseiter wahrzunehmen, werden sie um die Gemeinschaft, die sich vor dem Klub bildet, und um den leichten ersten Satz, der vielen sonst so schwer fällt (»Haste mal Feuer?«), beneidet.

Der verstockte Nichtraucher hat nur einen Vor-teil: Er kann andere küssen, ohne bei seinem Kus-spartner Ekel zu erregen. Und in der Evolution ist das der entscheidende Vorteil.

Page 19: NOIR - Ausgabe 28: Außenseiter

Foto

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artin

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Page 20: NOIR - Ausgabe 28: Außenseiter

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