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  • Ulrich Oevermann Mrz 2002

    Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung1.

    A. DIE METHODOLOGIE DER OBJEKTIVEN HERMENEUTIK ALS PARADIGMA.

    Die Methodologie der objektiven Hermeneutik stellt in meinem Forschungsschwerpunkt seit langem erprobte Methoden und Techniken der Sozial- und Kulturforschung bereit, die sich vor allem dazu eignen, auf wenig erforschten Gebieten und bei neuen, noch wenig bekann-ten Entwicklungen und Phnomenen, die typischen, charakteristischen Strukturen dieser Erscheinungen zu entschlsseln und die hinter den Erscheinungen operierenden Gesetzm-igkeiten ans Licht zu bringen. Es handelt sich um eine Methodologie, die bewut und stra-tegisch darauf aus ist, die Ebene der bloen Deskriptivitt, die im 19. Jahrhundert metho-disch die Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt bestimmt hat, zu verlas-sen und zu berwinden zugunsten einer erschlieenden und aufschlieenden Gegenstands-analyse.

    I. SCHLSSELBEGRIFFE UND -THESEN DER OBJEKTIVEN HERMENEUTIK.

    - Latente Sinnstrukturen und objektive Bedeutungsstrukturen statt subjektiver Dispositionen.

    Zentraler Gegenstand der Methodologie der objektiven Hermeneutik sind die latenten Sinn-strukturen und objektiven Bedeutungsstrukturen von Ausdrucksgestalten, in denen sich uns als Erfahrungswissenschaftlern von der sinnstrukturierten Welt die psychischen, sozialen und kulturellen Erscheinungen einzig prsentieren, und in denen wir als Lebenspraxis uns selbst verkrpern sowie die uns gegenberliegende Erfahrungswelt reprsentieren. Konstitutions-theoretisch steht hinter dieser Bestimmung die Prmisse, da die kategorial von den stocha-stischen Welten verschiedenen Bedeutungswelten uns als verstehbare dadurch gegeben sind, da die Bedeutung von Ausdrcken grundstzlich sprachlich durch generative Algorithmen erzeugt werden. Damit soll gesagt sein, da die sprachlich erzeugten objektiven Bedeutungen den subjektiven Intentionen konstitutionslogisch vorausliegen und nicht umgekehrt der je subjektiv gemeinte bzw. intendierte Sinn die objektive Bedeutung von Ausdrcken erzeugt. Allerdings ist damit keineswegs behauptet, da nicht die je subjektiven Intentionen als ue-rungen des Lebens ihrerseits als auf anderes nicht reduzierbare eigenlogische Wirklichkeiten

    Quelle: Homepage des Instituts fr hermeneutische Sozial- und Kulturforschung e.V. (IHSK), www.ihsk.de

    1 Es handelt sich um die grndliche berarbeitung und Ergnzung eines Textes, der ursprnglich im Mrz 1996 unter dem Titel Konzep-tualisierung von Anwendungsmglichkeiten und praktischen Arbeitsfeldern der objektiven Hermeneutik (Manifest der objektiv-hermeneutischen Sozialforschung) verfat wurde und als download im Internet verfgbar war und noch ist unter der Adresse http://www.objektivehermeneutik.de.

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    dessen zu gelten haben, was man konstitutionstheoretisch in unseren Wissenschaften am przisesten mit dem Grundbegriff von Lebenspraxis umschreibt, und insofern der Generie-rung von Ausdrcken und Ausdrucksgestalten ihrerseits dynamisch vorausgehen. Es soll nur in Rechnung gestellt sein, da methodologisch ein berprfbarer und erschliebarer

    Zugriff auf diese eigenlogische Wirklichkeit von Intentionen bzw. intentionalen Gehalten, generell: der innerpsychischen Wirklichkeit von Empfindungen, Affekten, Vorstellungen, Kognitionen und Volitionen, nur vermittelt ber Ausdrucksgestalten mglich ist, in denen sie sich verkrpern, ebenso wie in der Unmittelbarkeit der Vollzge der Praxis selbst sowohl die dialogische Vermittlung wie die selbstreflexive Vergegenwrtigung solcher innerpsychi-scher Wirklichkeiten auf jene Verkrperung in Ausdrucksgestalten notwendig angewiesen ist. Intentionale Gehalte, generell: innerpsychische Wirklichkeit zum Gegenstand wissenschaft-lich-methodisierter Erkenntnis zu machen, setzt deren methodisch greifbare Verkrperung in Ausdrucksgestalten voraus. Einen unmittelbaren Zugriff auf sie haben wir nicht einmal in der Introspektion, ganz abgesehen davon, da die Introspektion methodisch gesehen eine hchst problematische Quelle von Protokollen innerpsychischer Wirklichkeit ist. - Latente Sinnstrukturen und objektive Bedeutungsstrukturen sind also jene abstrakten, d.h. selbst sinnlich nicht wahrnehmbaren Konfigurationen und Zusammenhnge, die wir alle mehr oder weniger gut und genau "verstehen" und lesen, wenn wir uns verstndigen, Texte le-sen, Bilder und Handlungsablufe sehen, Ton- und Klangsequenzen hren und alle denkba-ren Begleitumstnde menschlicher Praxis wahrnehmen, die in ihrem objektiven Sinn durch bedeutungsgenerierende Regeln erzeugt werden und unabhngig von unserer je subjektiven Interpretation objektiv gelten. Die objektive Hermeneutik ist ein Verfahren, diese objektiv geltenden Sinnstrukturen intersubjektiv berprfbar je konkret an der lesbaren Aus-drucksgestalt zu entziffern, die ausdrucksmaterial als Protokoll ihrerseits hr-, fhl-, riech-, schmeck- oder sichtbar ist.

    Es ist also ein Verfahren, das sich auf die "verstehbaren" Gegenstandsbereiche der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften nicht dadurch richtet, da es, wie alle sonstigen Metho-den dieser Wissenschaften, primr deren subjektiven Niederschlag oder subjektive Reprsen-tanz im Bewutsein der Handelnden nachvollzieht oder zu erschlieen versucht. Das wre grundstzlich mit Unsicherheiten behaftet und ein Verfahren, das selbst noch der zu untersu-chenden Praxis des Verstehens angehrt. Viel mehr macht die objektive Hermeneutik ernst mit den Konsequenzen der grundlegenden Erkenntnis, da jede subjektive Disposition, d.h. jedes psychische Motiv, jede Erwartung, jede Meinung, Haltung, Wertorientierung, jede Vor-stellung, Hoffnung, Fantasie und jeder Wunsch methodisch berprfbar nie direkt greifbar sind, sondern immer nur vermittels einer Ausdrucksgestalt oder einer Spur, in der sie sich verkrpern oder die sie hinterlassen haben. Zutreffend entschlsseln lt sich daher eine solche Disposition erst, wenn man zuvor die objektive Bedeutung jener Ausdrucksgestalt entziffert hat. Erst dann kann man zur begrndeten Erschlieung der Struktur der subjekti-ven Disposition selbst bergehen. Die brigen Methoden der Forschung leiden darunter, da sie entweder diesen Schritt der Vermittlung ber die objektiven Bedeutungs- und Sinn-strukturen einer Ausdrucksgestalt berschlagen und auslassen oder von vornherein die Ebe-nen von Sinn- und Bedeutungshaftigkeit menschlichen Handelns ganz ausblenden und sich reduktionistisch auf die Beobachtbarkeit ueren Verhaltens beschrnken.

    - Zwei verschiedene Empirie-Begriffe: Die Lesbarkeit von Sinnstrukturen und die Wahr-nehmbarkeit von stochastischen Welten.

    Eine angemessene Methodologie der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften mu mit der alten Anschauung brechen, derzufolge die Gegenstnde der Erfahrungswissenschaften

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    an die sinnliche Wahrnehmbarkeit gebunden und insofern konkret seien. Sinn- und Bedeu-tungsstrukturen sind grundstzlich abstrakt. Sie lassen sich als solche sinnlich nicht wahr-nehmen, aber sie sind dennoch empirisch und als empirische erfahrungswissenschaftlich analysierbar. Sinnlich wahrnehmen lt sich an den Sinngebilden bzw. den Ausdrucksgestal-

    ten immer nur der ausdrucksmateriale Trger, in dem sie faktisch protokolliert sind also die Weie des Papiers eines bedruckten Textes und die Farbe und Form der typographischen Zeichen; der auf einem Oszillographen abbildbare Klang der mndlichen Rede, die plasti-sche Textur eines gestalteten Gegenstandes, usf., aber was da wahrgenommen wird, ist nicht selbst die Bedeutung oder der Sinn der Ausdrucksgestalt, sondern nur deren materiales Sub-strat. Weil Bedeutung und Sinn selbst nicht wahrnehmbar sind, sie aber gleichzeitig genau das konstituieren, was die Lebenspraxis des Menschen, sein Handeln und dessen Objektiva-tionen als Erfahrungsgegenstand kategorial ausmacht und von der Naturdinglichkeit menschlicher Erscheinungen systematisch unterscheidet, mssen wir mit dem auf David Hume zurckgehenden Begriff von Empirie brechen, fr den empirisch nur das ist, was durch die Wahrnehmungssinne in den erkennenden Geist gelangt (Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu), und alles, was dieses Kriterium nicht erfllt, metaphysisch, und damit auerhalb der Reichweite der Erfahrungswissenschaften liegt. Deshalb berschreitet die objektive Hermeneutik die mit dem Hume`schen Empiriebegriff gekoppelte implizite dogmatische Ontologisierung von Realitt und erfahrbarer Welt und folgt einem methodolo-gischen Realismus, indem sie als empirisch alles das ansieht, was sich durch Methoden der Geltungsberprfung in der Gegenstndlichkeit erfahrbarer Welt nachweisen lt. Das trifft auf die objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen von Ausdrucksgestalten fraglos zu.

    - Ausdrucksgestalt, Text und Protokoll statt Medaten.

    Das Gesamt an Daten, in denen sich die erfahrbare Welt der Sozial-, Geistes- und Kultur-wissenschaften prsentiert und streng methodisch - im Unterschied zu: praktisch - zugng-lich wird, in denen also die sinnstrukturierte menschliche Praxis in allen ihren Ausprgungen erforschbar wird, fllt in die Kategorie der Ausdrucksgestalt.

    Unter dem Gesichtspunkt der Strukturierung von Sinn und Bedeutung, also dessen, was sie symbolisieren, werden Ausdrucksgestalten als Texte behandelt. Fr Texte gilt entsprechend, da sie wie die Bedeutungs- und Sinnstrukturen, deren Zusammenhang sie herstellen als solche der sinnlichen Wahrnehmung verschlossen sind und nur gelesen werden knnen. Unter diesen methodologisch erweiterten Textbegriff fallen selbstverstndlich nicht nur die schriftsprachlichen Texte der Literaturwissenschaften, sondern alle Ausdrucksgestalten men-schlicher Praxis bis hin zu Landschaften, Erinnerungen und Dingen der materialen Alltags-kultur.

    Unter dem Gesichtspunkt ihrer ausdrucksmaterialen, berdauernden Objektivierung werden diese Texte als Protokolle behandelt. Dabei kann es sich um gegenstndliche Objekti-vierungen in Produkten, um hinterlassene Spuren, um Aufzeichnungen vermittels techni-scher Vorrichtungen, um intendierte Beschreibungen, um institutionelle Protokolle oder um knstlerische oder sonstige bewute Gestaltungen handeln, und die Ausdrucksmaterialitt kann sprachlich oder in irgendeinem anderen Medium der Spurenfixierung oder der Gestal-tung vorliegen. Protokolle, als die ausdrucksmateriale Seite von Ausdrucksgestalten, lassen sich selbstverstndlich sinnlich wahrnehmen.

    Die Grundbegriffe von Text und Protokoll beziehen sich also unter je verschiedenen Ge-sichtspunkten auf den je identischen Gegenstand von Ausdrucksgestalt: Text meint deren

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    symbolischen Charakter und Protokoll deren ausdrucksmateriale Erscheinung. Damit hngt methodisch ein wichtiger Umstand zusammen: Unter dem Gesichtspunkt des Textes sind Ausdrucksgestalten ebenso wie die objektiven Sinnstrukturen grundstzlich der Zeitlichkeit und Rumlichkeit von Praxis enthoben, als Abstrakta sind sie gewissermaen zeit- und

    raumlos in dem Sinne, da ihre Realitt auch dann nicht verschwunden oder gelscht ist, wenn sie nicht von einem produzierenden oder rezipierenden Bewutsein aktual, d.h. an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle, gelesen und subjektiv intentional realisiert werden. Unter dem Gesichtspunkt der Ausdrucksmaterialitt des Protokolls allerdings sind sie raum-zeitlich gebunden wie jede sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit. Wenn an keiner Raum-Zeit-Stelle von einer Ausdrucksgestalt mehr ein einsehbares Protokoll als deren ausdrucksmateriale Sei-te vorliegt, dann sind auch alle ihr entsprechenden latenten bzw. objektiven Sinnstrukturen des Textes trotz ihrer grundstzlichen Zeit- und Raumlosigkeit gelscht. Das unterscheidet sie entschieden von bloen Ideen im Sinne der platonischen Philosophie. Das gilt auch noch und gerade fr den Grenzfall eines Protokolls, wie es in der Erinnerung vorliegt. Unter dem Gesichtspunkt der Textfrmigkeit ist die Erinnerung ja gerade ein Vorgang, durch den die Flchtigkeit der in der Unmittelbarkeit eines Hier und Jetzt vollzogenen Handlung oder Wahrnehmung, z.B. einer Beobachtung, prinzipiell unbegrenzt hufig vergegenwrtigt und damit auf Dauer gestellt werden kann. Darin realisiert sich die Zeitlosigkeit der objektiven Sinnstrukturen von Ausdrucksgestalten. Unter dem Gesichtspunkt des Protokolls allerdings, unter dem die Erinnerung ja grenzfllig die isolierte Beobachtung des einsamen Subjekts in den Status der intersubjektiven berprfbarkeit hebt, d.h. wiederholbar macht, ist sie, die Erinnerung, entweder, sofern sie aufgezeichnet worden ist, eine objektivierte konkrete Aus-drucksgestalt, die als Protokoll an einer bestimmten Raum-Zeitstelle identifizierbar ist, oder ein raum-zeitlich indiziertes konkretes Ereignis der Wiederholung der Vergegenwrtigung eines Gedchtnisinhaltes, die als solche grundstzlich protokollierbar wre.

    Da letztlich Protokolle die einzige methodisch zureichende Grundlage fr zwingende Schlufolgerungen in der erfahrungswissenschaftlichen Erforschung der sinnstrukturierten Welt abgeben, lt sich allein schon an folgendem bemessen: Wollten wir ein vorliegendes Protokoll eines wirklichen Vorgangs als unvollstndig oder verzerrt kritisieren, so mten wir dazu wiederum ein anderes, plausiblerweise gnstigeres oder zumindest in seiner Selekti-vitt andersartiges Protokoll zu Rate ziehen. Niemals stnde uns der protokollierte Vorgang selbst zum kritischen Abgleich zur Verfgung. Denn er ist einmalig an eine unwiederbringli-che Raum-Zeit-Stelle des Sich-Ereignens gebunden und auerhalb des flchtigen Hier und Jetzt des unmittelbaren Erlebens und der unmittelbaren Erfahrung als solcher endgltig ver-gangen und nicht mehr greifbar, es sei denn in hinterlassenen Protokollen. Auch unsere Er-innerung an diesen Vorgang ist ein solches Protokoll und unser Gedchtnis taugt als Ab-gleichfolie erst dann, wenn wir es in eine prinzipiell erzhlbare Erinnerung umgewandelt haben.

    Das fhrt im brigen zu dem nicht nur fr die Erfahrungswissenschaften von der sinnstruk-turierten Welt, sondern fr alle Erfahrungswissenschaften gleichermaen zentralen metho-dologischen Argument, demzufolge die Beobachtungen, ganz im Gegensatz zu den landlu-figen Auffassungen, wie sie vor allem neuerdings in der Systemtheorie kultiviert werden, als solche methodologisch vollkommen unerheblich sind. Methodologisch ist einzig und allein von Belang, welche Protokolle die Beobachtungen, die als solche kognitive Operationen in der unmittelbaren Lebenspraxis selbst sind und deshalb als flchtige Vollzge an das Hier und Jetzt der Handlungsgegenwrtigkeit gebunden bleiben, hinterlassen haben. Deshalb ist auch die Charakterisierung des Unterschiedes zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften nach dem Kriterium, die ersteren htten es mit Beobachungstatsachen

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    zu tun und die letzteren mit interpretativen oder normativen Tatbestnden, schon immer irrefhrend gewesen. Fr beide Wissenschaftsabteilungen gilt gleichermaen, da sie ihre theoretischen Erklrungen und Deutungen mit den Erfahrungstatsachen zu konfrontieren haben, die ihnen einzig und allein in Form von Protokollen von Ereignissen und Prozessen

    gegeben sind. Der Hinweis auf die Dignitt einer Beobachtung durch ein isoliertes Erkennt-nissubjekt, die nicht zugleich protokolliert worden ist oder durch Zeugen nicht besttigt werden kann, ndert daran nichts. Denn eine solche Beobachtung kann methodisch relevant auch nur ins Spiel gebracht werden durch die Erzhlung einer Erinnerung an sie und das ist dann ein Protokoll, wenn auch hufig ein wenig verlliches.

    Protokolle nun haben die grundlegende, methodisch immer in Rechnung zu stellende Eigen-schaft, da sie nicht nur die methodisch-wissenschaftlich unbersteigbare Grenze zur proto-kollierten Wirklichkeit selbst markieren und damit die Notwendigkeit, sich methodologisch auf die Analyse von Protokollen bzw. Texten oder Ausdrucksgestalten explizit zu konzen-trieren, was in den brigen Methoden nicht zureichend reflektiert wird, sondern darber hinaus sowohl die protokollierte Wirklichkeit als auch die protokollierende Handlung oder den protokollierenden Vorgang selbstreferentiell zu protokollieren, so da beide Schichten in der Analyse sich voneinander lsen lassen, um die protokollierte Wirklichkeit unvermischt herauszuprparieren.

    Mit Hilfe dieser Kategorien von Ausdrucksgestalt, Text und Protokoll lt sich eine voll-stndig vernderte, die gegenstandsabhngigen Unterschiede zwischen den Einzeldisziplinen in den Psycho-, Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften auf ganz neue Weise vereinheitli-chende Methodologie der Datenerhebung und Datenauswertung einrichten, im Vergleich zu der die bisher bekannten und gebruchlichen Methoden und Techniken als vorlufig und zu-dem dem Gegenstand, den sie analysieren sollen, selbst paraphrastisch noch viel zu sehr ver-haftet sich erweisen.

    - Objektivitt statt Subjektivitt.

    Indem die objektive Hermeneutik sich, unabhngig davon, welchen konkreten Gegenstand sie zu analysieren hat, immer primr auf die Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen bzw. objektiven Bedeutungsstrukturen derjenigen Ausdrucksgestalten richtet, in denen sich der zu untersuchende Gegenstand oder die zu untersuchende Fraglichkeit authentisch verkrpert, kann sie in demselben Mae Objektivitt ihrer Erkenntnis bzw. ihrer Geltungsberprfung beanspruchen wie wir das selbstverstndlich von den Naturwissenschaften gewhnt sind. Dies einfach deshalb, weil jene zu rekonstruierenden Sinnstrukturen durch prinzipiell angeb-bare Regeln und Prozeduren algorithmischer Natur przise berprfbar und lckenlos am jederzeit wieder einsehbaren Protokoll erschlossen werden knnen. Diese Objektivitt wird erst dann gelockert, wenn es in weiteren Schritten darum geht, von den objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen auf die Bewutseinsrealitt oder innere psychische Realitt der an der protokollierten Wirklichkeit beteiligten Subjekte zurckzuschlieen. Aber diese Rckschlsse sind auf der Grundlage der vorausgehenden Erschlieung der objektiven Sinnstrukturen sehr viel zuverlssiger und sicherer durchzufhren als ohne deren Einschaltung. Anders ausge-drckt: Es ist kein sichereres Verfahren der Erschlieung subjektiver Dispositionen vorstell-bar, wenn man nicht von vornherein Magie und intuitive Wahrnehmungsleistungen der Pra-xis selbst sowie unaufschlureiche Inhaltsangabe zum Bestandteil einer wissenschaftlichen Methode machen und damit die Wissenschaft ihrer methodenkritischen Funktion berauben will.

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    Der Unterschied zu den Naturwissenschaften besteht einzig darin, da nicht prinzipiell durch die Sinneskanle wahrnehmbare, der stochastisch verfaten Welt zugehrige Er-eignisse, sondern sinnstrukturierte, prinzipiell sinnlich nicht wahrnehmbare, also abstrakte Gegenstnde, nmlich Bedeutungs- oder Sinnwelten, untersucht werden. Im Unterschied

    aber zu den brigen Methoden im humanwissenschaftlichen Bereich wird dieser Zugang zu den abstrakten Bedeutungswelten nicht um den Preis der Subjektivierung bzw. um den Preis der Zurechnung der Erfahrungssphre, die sich nicht mit der Kategorie von Materie, Krper oder Leib deckt, zur Kategorie von Subjektivitt erkauft wird, sondern der objektiven Er-kenntnis erhalten bleibt. Mit anderen Worten: Die objektive Hermeneutik ist nicht eine Me-thode des Verstehens im Sinne eines Nachvollzugs subjektiver Dispositionen oder der bernahme von subjektiven Perspektiven des Untersuchungsgegenstandes, erst recht nicht eine Methode des Sich-Einfhlens, sondern eine strikt analytische, in sich objektive Methode der lckenlosen Erschlieung und Rekonstruktion von objektiven Sinn- und Bedeutungs-strukturen.

    Wenn nun auf diese methodisch gesicherte Objektivitt sowohl des Gegenstandes als auch der auf ihn bezogenen Erkenntnis so groen Wert gelegt wird, so hat das ausschlielich eine methodologische Bedeutung. Keinesfalls ist darunter zu verstehen, da Phnomene der Sub-jektivitt und subjektive Befindlichkeiten nicht untersucht werden knnten oder sollten. Im Gegenteil: Eine wissenschaftlich przise Erforschung von Phnomenen der Subjektivitt, die mehr sein soll als bloe unaufschlureiche Wiederholung von Alltagsberzeugungen und -eindrcken nur in anderen Worten, wird erst durch diese methodologischen Klrungen er-mglicht. Wenn nmlich die fr das praktische Handeln notwendige Verstehensform der Rollen- und Perspektivenbernahme und der Einfhlung und Empathie zum wissenschaft-lich-methodischen Verfahren erhoben wird statt zum Gegenstand der Humanwissenschaft, dann gelangt die wissenschaftliche Analyse ber eine bloe verbale Neueinkleidung alltags-praktischen Wissens nicht hinaus, bleibt also Pseudo-Wissenschaft.

    - Sequenzanalyse statt Klassifikation.

    Das Analyseverfahren, durch das sich die objektive Hermeneutik von allen anderen Metho-denanstzen radikal unterscheidet, ist die Sequenzanalyse. Sie lehnt sich an die Sequentialitt an, die fr humanes Handeln konstitutiv ist. Dabei wird unter Sequentialitt nicht ein trivia-les zeitliches oder rumliches Nacheinander bzw. Hintereinander verstanden, sondern die mit jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle sich von neuem vollziehende, durch Erzeugungs-regeln generierte Schlieung vorausgehend erffneter Mglichkeiten und ffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft. Insofern jedes Protokoll ausschnitthaft je konkrete Le-benspraxen authentisch ausdrckt, die sich darin verkrpern, bildet es auch den realen se-quentiellen Proze ab, in dem sich diese konkreten Lebenspraxen, die an einer protokollier-ten Wirklichkeit handelnd beteiligt sind, ganz konkret in eine offene Zukunft entfalten.

    Die Sequenzanalyse macht darauf aufmerksam, da jede konkrete Praxis im menschlichen Leben erffnet und beschlossen werden mu, damit verbindlich und strukturiert gehandelt werden kann. Deshalb ist es immer aufschlureich, die Erffnungs- und Beschlieungspro-zeduren eigens zu untersuchen. Ein typischer, elementarer Fall von Erffnung und Beschlie-ung ist die Begrung. Sie zeigt uns exemplarisch die Einrichtung einer reziproken Ver-bindlichkeit in der Kooperation, ohne die Praxis sich nicht vollziehen kann. Zugleich gibt sie zu erkennen, da erst durch Erffnungen eine sequentiell mit Problemlsungen, Geschften

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    und Geselligkeiten fllbare Praxis - Raum-Zeitlichkeit2 hergestellt wird. Aber diese Praxis - Raum-Zeitlichkeit mu nicht gefllt werden. Wir knnen einander begren, ohne weiter miteinander zu kooperieren. Dann brauchen wir auch die erffnete Praxis nicht eigens durch Verabschiedung zu beschlieen. In einer solchen Begrung fallen Erffnung und

    Beschlieung ineinander. Die Praxis - Raum-Zeitlichkeit bleibt gewissermaen leer. Daraus ist ersichtlich, da Erffnung und Beschlieung, zwei herausgehobene Stellen der spezifisch sozialen Sequentialitt, konstitutionslogisch der sachhaltigen Praxis vorauszugehen haben.

    Diesen herausgehobenen Sequenzstellen ist eigentmlich, da sie immer beides bedeuten: Erffnung und Beschlieung zugleich, wenn auch jeweils eine dieser beiden Markie-rungsfunktionen dominant ist. Denn die z.B. durch eine Begrung vollzogene Erffnung ist immer zugleich auch die Beschlieung einer vorausgehenden Praxis - Raum-Zeitlichkeit und die Beschlieung einer Praxis markiert zugleich auch die Erffnung einer nachfolgenden Praxis - Raum-Zeitlichkeit.

    Diese fr die soziale Sequentialittsstruktur elementare und kennzeichnende Gleichzeitigkeit von Erffnung und Beschlieung kommt nun aber nicht nur den herausgehobenen, in ihrer Primrbedeutung explizit erffnenden oder beschlieenden Sequenzstellen zu, sondern auch jeder einzelnen Sequenzstelle in einem je schon erffneten Praxis-Raum. An jeder Sequenz-stelle werden bis dahin noch offene Mglichkeiten geschlossen und neue Mglichkeiten er-ffnet.

    Am einfachen Beispiel der Begrung kann nun ein wesentlicher Grundzug der Sequenzana-lyse auf einfache Weise veranschaulicht werden: Es wird darin grundlegend zwischen zwei ganz verschiedenen Parametern in der Determination von Sequenzen unterschieden. Ein erster Parameter von Erzeugungsregeln besteht aus dem Gesamt an Sequenzierungsregeln, durch die an einer je gegebenen Sequenzstelle die sinnlogisch mglichen Anschlsse erzeugt werden und auch die je mglichen sinnlogisch kompatiblen vorausgehenden Handlungen festgelegt sind und entsprechend erschlossen werden knnen. Diesen Parameter mu man sich vorstellen als eine Menge von algorithmischen Erzeugungsregeln sehr unterschiedlichen Typs. Dazu gehren z.B. ganz elementar die Regeln der sprachlichen Syntax, aber auch die pragmatischen Regeln des Sprechhandelns und die logischen Regeln fr formale und fr material-sachhaltige Schlssigkeit. Dieses Gesamt an Sequenzierungsregeln erzeugt an jeder Sequenzstelle je von Neuem einen Spielraum von Optionen und Mglichkeiten, aus denen dann die in diesem Praxis-Raum anwesenden Handlungsinstanzen per Entscheidung eine Mglichkeit auswhlen mssen. Welche Auswahl konkret getroffen wird, darber entschei-det ein zweiter Parameter von Auswahlprinzipien und -faktoren, der alle Komponenten und Elemente der Disponiertheit der verschiedenen beteiligten Lebenspraxen oder Handlungsin-stanzen umfat. Das Gesamt der Dispositionen einer je konkreten Lebenspraxis macht de-ren Eigenart oder deren Charakter, sequenzanalytisch ausgedrckt: deren Fallstruktur, aus.

    Beide Parameter mssen analytisch klar unterschieden, aber gleichermaen bercksichtigt werden. Mit dieser Unterscheidung hebt sich die Sequenzanalyse der objektiven Hermeneu-tik deutlich von anderen Analyseverfahren der Sozialwissenschaften ab, in denen, wenn die Sequentialitt berhaupt bercksichtigt wird, die beiden Parameter im Begriff der Erwartung und der Erwartungs-Erwartung, also zu unserem zweiten Parameter, zusammenflieen, so 2 Hier ergibt sich eine kleine terminologische Schwierigkeit. Gemeint ist wrtlich eine Praxis-Rumlichkeit und Praxis-Zeitlichkeit als ein-heitliches Gebilde, weil Praxis-Raum und Praxis-Zeit ber den allgemeineren Begriff der Sequentialitt ineinander bersetzbar sind. Aber der Terminus Praxis-Rumlich- und Zeitlichkeit wre eine Ungetm und der Terminus Praxis-Raum-Zeit wre miverstndlich. Ich ziehe es vor, die Raum-Zeit-Verbindung zu erhalten. Man knnte an die beiden Schreibweisen Praxis-Raum--Zeitlichkeit oder Praxis - Raum-Zeitlichkeit denken. Ich ziehe letztere vor: Die Bindestriche sollen unterschiedliche Ebenen der Verbindung markieren.

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    da eine von der subjektiven Perspektive der beteiligten Handelnden abstrahierende, objek-tivierende und erschlieende Analyse der Sequentialitt nicht mehr mglich ist.

    Die analytische Differenzierung der beiden Parameter der Sequenzanalyse enthlt auch eine Klrung der Probleme der Interdisziplinaritt im Verhltnis zwischen der fachspezifischen Forschung im Ensembe der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften. Der Parameter I der Erzeugungsregeln lt sich ohnehin nicht einer bestimmten Disziplin zurechnen. Er gehrt zum gemeinsamen konstitutionstheoretischen und methodologischen Dach aller Erfah-rungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt gleichermaen, wenngleich die thoere-tische Erhellung dieser Regeln und ihres Status in der jngsten Vergangenheit vor allem in der Linguistik und der Kognitionswissenschaft erfolgte. Aber es wre von vornherein unsin-nig, sie gegenstndlich mit Prferenz einer bestimmten Disziplin zuzurechnen. Disziplinen-spezifische Differenzen in der Thematisierung von Gegenstnden und Gegenstandsaspekten sowie in der konkreten Methodik und Forschungspraxis treffen nur fr den Parameter II der Auswahlprinzipien und faktoren zu. Aber gerade hier fhrt der sequenzanalytische Ansatz der objektiven Hermeneutik zu einer erheblichen Vereinfachung der Problemlage. Denn es wrde in ihr wenig Sinn mehr machen, die unterschiedliche Zugehrigkeit von Variablen, Merkmalen, Eigenschaften und Gegenstandsaspekten zu den verschiedenen Disziplinen auf-recht zu erhalten und die damit verbundenen unterschiedlichen Betrachtungsweisen weiter zu trennen. Entscheidend ist nmlich fr das sequenzanalytische Vorgehen, diese verschie-denen Aspekte, Merkmale und Eigenschaften unter dem Gesichtspunkt ihres je fallspezifi-schen Zusammenwirkens in der Totalitt einer Fallstrukturgesetzlichkeit als eine Einheit zu sehen. Entsprechend machte es wenig Sinn, die je disziplinenspezifischen Hypothesen und Verallgemeinerungen subsumtionslogisch jeweils zur Anwendung zu bringen und den kon-kreten Fall darin jeweils abzubilden. Vielmehr besteht eine Fallstruktur und die sie erklrende Gesetzlichkeit ja gerade darin, da die von den verschiedenen Disziplinien je unterschiedlich in den Blick genommenen und thematisierten Gegenstandsaspekte in ihr zu einer realen Einheit von Strukturreproduktion und transformation dynamisch verschmelzen und sich amalgamieren. Es kommt deshalb alles darauf an, diese Einheit ins Zentrum zu rcken und in ihrer Gesetzlichkeit zu bestimmen, die ohnehin nicht einer je spezifischen Disziplin zuge-rechnet werden knnte, auch wenn es zunchst den Anschein haben knnte, da den unter-schiedlichen Aggregierungsebenen von Lebenspraxis von der einzelnen Person bis zu einer komplexen, z.B. nationastaatlichen Vergmeinschaftung auch unterschiedliche Zustndig-keiten von Disziplinen korrespondieren. Aber auch das erweist sich dann als eine systema-tisch vordergrndige und nicht haltbare Einteilung, einfach deshalb, weil diesen Aggregie-rungsstufenunterschiede nicht eine Systematik der Unterschiede von Fallstrukturgesetzlich-keiten entspricht. Diese stellen ja jeweils gerade das reale Ergebnis eines Zusammenspiels sehr verschiedener Faktoren auf sehr unterschiedlichen strukturellen Aggregierungsniveaus dar. Ebensowenig kann man fallbergreifend von einer durchgehenden Systematik in der relativen Gewichtung von einzelnen Faktoren ausgehen. Ihr Gewicht fllt viel mehr je fall-spezifisch ganz unterschiedlich aus in Abhngigkeit davon, welchen Gebrauch die je konkre-te Bildungsgeschichte einer Lebenspraxis von ihrer je konkreten Ausprgung gemacht hat. Fallstrukturen sind eben nicht als blo passive, extern determinierte Schaupltze der Kombination von in sich eigenlogischen Gesetzmigkeiten zwischen disziplinenspezifi-schen Variablen anzusehen, sondern die jeweilige Resultante eines offenen Prozesses der Strukturtransformation, die auf das prinzipiell zur Individuierung und Autonomie auffor-dernde Strukturproblem antwortet, einer Strukturtransformation, die wir deshalb Individuie-rung oder Bildung nennen, und entsprechend ist auch das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren je fallspezifisch. Dem korrespondiert wie selbstverstndlich die per se nur interdis-ziplinr durchfhrbare sequenzanalytische Fallrekonstruktion.

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    Die Leistungen der Sequenzanalyse sind vielfltig und fr die objektive Hermeneutik insge-samt zentral.

    1. Indem an jeder Sequenzstelle auf der Ebene des Parameters I die je erffneten Mglich-keiten gedankenexperimentell expliziert werden mssen, bevor man sich anschaut, welche dieser Mglichkeiten faktisch eingetreten ist, gewinnt man die Folie, auf der der tatschliche Sequenzablauf, der sich ja immer in Abhngigkeit vom Parameter II als vollzogene Auswahl bzw. Entscheidung unter den mglichen Alternanten ergibt, seine fallspezifische, przise Kontur und Bedeutung. Dadurch gelangt die Sequenzanalyse zu einer genauen Bestimmung des protokollierten Ablaufs, eine Bestimmung, die bei allen anderen Verfahren, die, statt sequenzanalytisch vorzugehen, die erhobenen Daten immer nur statisch-klassifikatorisch einordnen knnen, in dieser Przision nicht mglich ist. Schrfer ausgedrckt: Die realitts-aufschlieende Kraft klassifikatorischer, die Sequentialitt von Sozialitt ausblendender Ver-fahren ist in den Humanwissenschaften von vornherein sehr begrenzt. Diese verbleiben in der Deskriptivitt.

    2. Die Sequenzanalyse schmiegt sich dem realen humansozialen Geschehen in seiner Grund-struktur an und ist deshalb nicht, wie die sonst blichen Me- und Klassifikationsverfahren, eine dem Gegenstand uerliche Methode, sondern eine der Sache selbst korrespondierende und ihr geme. Tatschlich mu im praktischen Leben auch im Prinzip an jeder Sequenz-stelle unter den noch offenen Optionen in eine offene Zukunft entschieden werden. In der bei weitem berwiegenden Zahl der Flle geschieht das jedoch subjektiv gewissermaen un-bemerkt aufgrund von Routinen, die ursprnglich Krisenlsungen waren.

    3. In die Sequenzanalyse ist gewissermaen eine permanente Falsifikation eingebaut. Denn an jeder nchsten Sequenzstelle kann grundstzlich der Mglichkeit nach die bis dahin ku-mulativ aufgebaute Fallrekonstruktion sofort scheitern. Ein strengeres Falsifikationsverfah-ren ist in der Methodologie der Humanwissenschaften schlechterdings nicht denkbar. Man sieht daran auch, da die Sequenzanalyse sichtbar macht, da das wissenschaftlich-methodische Falsifikationsverfahren dem Zusammenspiel von Krise und Routine in der prinzipiell in eine offene Zukunft hinein handelnden Praxis strukturhomolog nachgebaut ist. Ebenso wie neue Hypothesen aus einer Erkenntniskrise hinausfhren knnen und sich be-whren mssen, mu in der Praxis selbst um den Preis des berlebens das Scheitern einer berzeugung als Krise und als Bewhrungsprobe akzeptiert werden. Der Unterschied ist nur, da in der Praxis solche Krisen als negative Ausnahmen gelten, whrend sie in der falli-bilistischen Erfahrungswissenschaft bewut, das Scheitern der Praxis simulierend, herbeige-fhrt werden.

    - Krise statt Routine.

    In der Praxis bemerken wir diese krisenhafte Entscheidungsstruktur nur in seltenen Fllen, weil wir in der Regel die Entscheidung schon immer durch eingespielte Routinen vorweg getroffen haben. Aber diese Routinen sind ursprnglich einmal entwickelt worden als L-sungen einer Krise, die sich bewhrt haben und im Bewhrungsproze sich zu Routinen veralltglichten. Nur im praktischen Grenzfall, wenn berzeugungen und Routinen berra-schend scheitern, oder wenn von vornherein etwas Neues gesucht werden mu, wenn also eine Krise manifest vorliegt, wird uns die Entscheidungssituation und -ungewiheit als sol-che bewut. Fr die Sequenzanalyse aber ist in scharfer Differenz zur Perspektive der All-tagspraxis nicht die Routine, sondern die Krise der Normalfall und nicht die Krise, sondern die Routine der Grenzfall. Das kann man sich daran klar machen, da jeweils die Routine die

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    Schlielung einer offenen Krisensituation bedeutet und umgekehrt die Krise die ffnung einer geschlossenen Routinisierung. Deshalb ist nicht die Krise aus der Routine material ab-geleitet, sondern die Routine aus der Krise. Krise und Routine gehren zu den Grundbe-griffen der objektiven Hermeneutik wie Sequentialitt, latente Sinnstruktur, Authentizitt,

    etc.. Soziale Phnomene lassen sich grundstzlich in einem ersten Ansatz aufschlureich danach differenzieren, ob sie primr der Sphre der Krise oder der Routine angehren.

    - Dynamik statt Statik; Vernderung statt Konstanz.

    Indem nun die Sequenzanalyse in dieser Betrachtungsweise jede Sequenzstelle als Stelle einer potentiellen Krise behandelt, zeichnet sie den realen Ablauf des praktischen Lebens als je fallspezifische Gesetzmigkeit nach. Solange eine konkrete Lebenspraxis sich routinisiert verhlt, reproduziert sie ihre Fallstruktur, d.h. ihre eingespielte Lebensgesetzlichkeit und ihre Identitt und Charakteristik. Erst wenn sie sich in einer manifesten Krisensituation befindet, transformiert sie ihre Ablaufgesetzlichkeit und verndert ihre Fallstruktur. Aber in beiden Fllen handelt es sich um Prozesse, also um dynamische und nicht um statische Erscheinun-gen.

    Daraus folgt ein fr die Humanwissenschaften vollstndig vernderter Strukturbegriff. Struk-turen sind jetzt nicht mehr in einer sonst blichen leeren formalen Bestimmung eine Menge von Elementen, die in einer zu spezifizierenden Relation zueinander stehen. Sie sind viel-mehr fr je konkrete Gebilde, die eine Lebenspraxis darstellen, genau jene Gesetzmigkei-ten, die sich berhaupt erst in der Rekonstruktion jener wiedererkennbaren typischen Aus-wahlen von Mglichkeiten abbilden lassen, die durch einen konkreten Fall aufgrund seiner Fallstruktur bzw. seiner Fallstrukturgesetzlichkeit getroffen werden. Eine Fallstrukturgesetz-lichkeit bzw. eine Fallstruktur kennt man erst dann, wenn man sequenzanalytisch eine voll-stndige Phase in deren Reproduktion oder Transformation rekonstruiert hat. In dieser Be-trachtung fallen nun Struktur und Proze zusammen. Struktur ist nicht statisch vom dy-namischen Aspekt des Prozesses unterschieden, wie das etwa im statisch-komparativen Ana-lyseansatz immer der Fall ist, sondern ergibt sich berhaupt erst als aus dem Proze er-schliebar.

    - Fallrekonstruktion statt Fallbeschreibung; Individuierung versus Individualisierung; Auto-nomie versus Heteronomie. .

    Auf diese Weise lassen sich Fallstrukturgesetzlichkeiten schlssig rekonstruieren, die je kon-krete Lebenspraxen, seien es einzelne Personen, Gruppen, Vergemeinschaftungen wie Fami-lien oder Gemeinden, Organisationen unterschiedlicher Gren: kurz jegliche Aggregierung von Handlungsinstanzen, die eine eigene, historisch gebildete Identitt haben, kennzeichnen. In klassifikatorischen Anstzen ist das grundstzlich nicht mglich. Und die "case studies", die heute hufig als Illustration in Studien verwendet werden, sind nichts anderes als Fallbe-schreibungen, die die Individualitt eines konkreten Falles nur dadurch erfassen, da sie sie in einer greren Anzahl von klassifikatorischen Merkmalen abbilden, so da mit deren er-hhter Anzahl die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung einer identischen klassifikatorischen Merkmalskonfiguration stark abnimmt. Aber diese Individualittsidentifikation bleibt bei genauer Betrachtung rein negativ, residual. Sie schliet das Innere einer Fallstruktur nicht auf und sie leistet in ihrer Trivialitt deshalb nicht mehr als die Bezeichnung einer ganz einfachen Einzigartigkeits- oder Singularittsfeststellung, die im Prinzip fr jedes empirische Ereignis gilt, weil jedes Ereignis konkret an einer einzigartigen bzw. singulren Raum-Zeit-Stelle statt-findet, an der ein anderes Ereignis nicht auch noch stattfinden kann.

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    Humanwissenschaftliche Strukturanalysen mssen aber in der Lage sein, ber diese triviale Individualitt oder Individualisiertheit hinaus das zu erfassen, was als das Ergebnis eines individuierenden Bildungsprozesses gelten mu. Denn Lebenspraxen, konkrete Handlungs-instanzen mit einer Subjektivitt sind jeweils historisch-konkrete Gebilde, die sich - wie

    dieser Begriff schon bezeichnet - in einem je individuierenden Bildungsproze entwickelt sowie eine Identitt ausgebildet haben und sich durch Strukturtransformation tendenziell immer noch in eine offene Zukunft weiterbilden und entfalten knnen. In diesem Bildungs-proze formen sich Fallstrukturen mit einer je eigenen Fallstrukturgesetzlichkeit, in der zu-gleich die grundstzliche Potentialitt einer mehr oder weniger stark entwickelten Autonomie jeder Lebenspraxis als Freisetzung von uerer Determiniertheit oder Fremdbestimmtheit konkret zur Bestimmung kommt. Eine Humanwissenschaft, die diese Autonomie nicht in Begriffen des Allgemeinen wissenschaftlich artikulieren und fassen kann, wird ihrem Gegen-stand von vornherein nicht gerecht, denn fr das humane Leben ist dessen Autonomie pr-gend und bestimmend. Es macht aber einen entscheidenden Unterschied, ob dieser Begriff von der Autonomie wie hier aus der Sache selbst sequenzanalytisch entwickelt ist oder blo als ethisches Postulat von auen an die Phnomene unserer Wissenschaften emphatisch he-rangetragen wird.

    Autonomie der Lebenspraxis wird in der objektiven Hermeneutik als widersprchliche Ein-heit von Entscheidungszwang und Begrndungsverpflichtung gefat. Gemeint ist damit, da jede mit Subjektivitt ausgestattete Handlungsinstanz sich in manifesten Krisensituationen, in denen die alten Routinen gescheitert sind, zu einer Krisenlsung entscheiden mu, ob-wohl geprfte Begrndungen und Argumente noch nicht zur Verfgung stehen. Dennoch aber mu diese Entscheidung mit dem Anspruch auf grundstzliche Begrndbarkeit getrof-fen werden. Im Vollzug solcher krisenhaften Entscheidungen in eine offene Zukunft konsti-tuiert sich die Autonomie der Lebenspraxis. Die innere Fllung und Bestimmtheit nimmt diese je besonderte Autonomie in der Fallstrukturgesetzlichkeit an, die eine objektive Struk-tur ist und scharf von dem bewutseinsfhigen Selbstbild einer Handlungsinstanz unter-schieden werden mu, mit dem sie faktisch niemals, auch nicht im Idealfalle, zur Deckung gelangt. Die Fallstrukturgesetzlichkeit operiert jenseits des bewutseinsfhigen Selbstbildes und ist umfassender als dieses.

    Die Bestimmung von Fallstrukturgesetzlichkeiten oder: die Fallrekonstruktion, ist nun weit mehr als eine bloe Fallbeschreibung im Sinne einer klassifikatorisch gewonnenen Merk-malskonfiguration. Sie bestimmt einen konkreten Fall gewissermaen von innen her positiv und sie erklrt mit der Explikation das Zustandekommen und die Motiviertheit einer Merk-malskonfiguration, bei der eine Fallbeschreibung immer stehenbleiben mu, dadurch, da per Sequenzanalyse die sich reproduzierende oder transformierende Fallstruktur direkt falsi-fizierbar erschlossen und expliziert worden ist.

    Die Bestimmung von Fallstrukturgesetzlichkeiten und die Rekonstruktion von Fallstrukturen sieht nun die objektive Hermeneutik als das eigentliche, zentrale Erkenntnisgeschft der Humanwissenschaften an. Auch wenn es nur um die Analyse von Dokumenten, von einzel-nen Werken oder von Situationen oder auch von hoch standardisierten und routinisierten Phnomenen jeweils gehen sollte, so ist doch immer deren Einbettung und Ableitung aus konkreten, je historischen Fallstrukturen letztlich unverzichtbar, wenn man zu einer wirkli-chen ergebnistrchtigen Bestimmung gelangen und die berschreitung der bloen Deskrip-tivitt zur Explanation hin erreichen will.

    - Sozialer Wandel statt Statik, Neues statt Bekanntes.

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    Indem jeweils die Sequenzanalysen zu Fallrekonstruktionen fhren, wird als Normalfall der objektiv hermeneutischen Strukturanalyse der soziale Wandel, die Entstehung des Neuen angesetzt und vom Grenzfall der Statik und Nicht-Vernderung abgehoben. In den sonsti-gen Methodenanstzen der Sozialforschung erscheint dagegen umgekehrt der soziale Wan-

    del als "Extrafall", was man daran sehen kann, da eigens eine Theorie des sozialen Wandels vor die Klammer der einzelnen gegenstandsspezifischen Forschungsgebiete gestellt wird. Damit wird kategorienfehlerhaft suggeriert, man knne bei den normalen Gegenstandsanaly-sen davon absehen, da sich die soziale, kulturelle und psychische Welt permanent im histo-rischen Wandel und in der Entwicklung in eine offene Zukunft hinein befindet. Da fr die objektive Hermeneutik dagegen die konkrete Identifikation dieser Historizitt der psychi-schen und sozialen Phnomene keine zustzlichen Probleme aufwirft, wie fr die anderen Anstze, mag man auf einfache Weise am folgenden ablesen: Wenn man sequenzanalytisch ein erstes Protokoll einer konkreten Lebenspraxis auf eine Fallstrukturgesetzlichkeit hin re-konstruiert, dann kann man bezglich des Ergebnisses nicht entscheiden, ob sich der unter-suchte Fall gerade in einer Phase der bloen Reproduktion oder schon der Transformation seiner Fallstruktur befunden hat. Denn die Sequenzanalyse rekonstruiert immer einen pro-zessualen Ablauf. Erst wenn man dieses erste Ergebnis mit der Analyse eines zeitlich voraus-gehenden Protokollsegments vergleicht, lt sich diese Unterscheidung sichern. Fr die ob-jektive Hermeneutik ist also die Transformation der Normalfall und die Reproduktion der Grenzfall, zu dessen Nachweis es einer zustzlichen Rekonstruktion der Fallstruktur bei ei-nem weiteren Protokoll-Segment aus einer anderen Zeit bedarf.

    In dieser Feststellung spiegelt sich, inwiefern im sequenzanalytischen im Unterschied zu ei-nem klassifikatorischen Verfahren die Historizitt und die Zukunftsoffenheit menschlicher Praxis direkt erfat wird und deshalb diese Methode zu Recht als eine dialektische gelten darf, weil sie den flieenden bergang von A nach Nicht-A lckenlos zu rekonstruieren vermag, statt ihn durch die Maschen einer noch so dichten klassifikatorischen Erfassung fallen zu lassen, in der immer nur statische Momentaufnahmen von Zustnden mglich sind. Das gilt fr alle Varianten eines statisch-komparativen Ansatzes, in dem bekanntlich der identische Gegenstand als Merkmalstrger zu verschiedenen Zeitpunkten im identischen Variablensystem vermessen wird, so da eine Zeitreihe von Mewertekonfigurationen ent-steht. Die Vernderungen ber die Zeit lassen sich dann zwar als Profile von Verbindungsli-nien zwischen den vorgeblich bedeutungsgleichen Mewerten abbilden, aber die Dyna-mik des Vernderungsprozesses selbst ist dadurch nur indirekt angezeigt, aber nicht prozes-sual rekonstruiert. Wie diese Profile zu interpretieren sind, ist eine Funktion einer von auen an sie herangetragenen Plausibilitt, nicht das zwingende Ergebnis einer immanenten Er-schlieung.

    - Strukturgeneralisierung statt empirischer Generalisierung.

    Damit ist auch schon angedeutet, da die Generalisierung der Forschungsergebnisse solcher Sequenzanalysen mit dem Ziel einer Fallrekonstruktion kein wirkliches Problem ist und da die blichen Einwnde, man knne bei geringen Fallzahlen keine Verallgemeinerungen vor-nehmen, gegenstandslos sind. Sie gelten nur fr den sehr eingeschrnkten Fall, da statistisch gesicherte Schtzungen von auf Frequenzen beruhenden Mewerten oder Zusammen-hangsmaen vorgenommen werden sollen. Solche Generalisierungen beziehen sich aber nur auf empirische Generalisierungen nach dem Muster "je mehr von x, desto weniger (oder mehr) von y" und diese knnen ihrerseits nach dem Induktionsschlu von n auf n+1 gesi-chert werden. Aber solche Generalisierungen haben nur einen sehr begrenzten Erkenntnis-wert und sind auf keinen Fall zur Strukturerkenntnis geeignet. Zwar wird in der forschungs-

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    logischen Literatur immer so getan, als ob durch solche empirischen Generalisierungen Strukturen bestimmt wrden, aber in Wirklichkeit handelt es sich nur um statische Mewer-te- und Zusammenhangskonfigurationen, die allenfalls als Momentaufnahmen eine da-hinterliegende Struktur an der Oberflche verkrpern und indizieren, aber nicht wirklich

    aufschlieen. Die Bestimmung erfolgt im Grunde durch von auen an diese Konfiguration herangetragene, ungeprft aus irgendwelchen Primrerfahrungsquellen des Forschers beige-zogene Interpretationen, die allenfalls Plausibilitt, aber keine methodische Schlssigkeit fr sich in Anspruch nehmen knnen.

    Dagegen stellt eine Fallrekonstruktion eine Strukturgeneralisierung dar. Whrend die empiri-sche Generalisierung zum Argumentebereich durch standardisierte Messung oder Klassifika-tion vergleichbare Beobachtungswerte an einer bestimmten empirischen Menge von Merk-malstrgern (z.B. Stichprobe) hat, ihre Beobachtungsreihe also aus Merkmalstrgern besteht, die unter dem vorgewhlten Gesichtspunkt von allgemein me- oder klassifizierbaren Merkmalen konstituiert wurde, verhlt es sich bei der Strukturgeneralisierung, die man auch mit einem Ausdruck von Charles Sanders Peirce im Unterschied zu einer quantitativen In-duktion als qualitative Induktion bezeichnen knnte, ganz anders: Ihr Argumentebereich besteht nicht aus einzelnen beobachteten Mewerten, sondern aus rekonstruierten Se-quenzen (formal durchaus vergleichbar den Sequenzen der Molekularbiologie). Da nun, wie vorher gezeigt, diese Sequenzen sich aus dem Zusammenspiel von sinnlogischen Er-zeugungsregeln (Parameter I), die die Mglichkeiten schaffen und die Zukunft jeweils erff-nen, und von Auswahlmaximen (Parameter II), die die Fallstrukturgesetzlichkeit ausmachen, ergeben, liefert die Strukturgeneralisierung sowohl Aussagen bzw. Darstellungen von Regeln auf der Ebene des Parameters I als auch Fallstrukturgesetzlichkeiten bzw. Gesetzmigkei-ten, die den Fall als solchen in seiner Besonderheit charakterisieren, auf der Ebene des Pa-rameters II.

    Insgesamt lassen sich sieben Hinsichten unterscheiden, in denen die Strukturgeneralisierung operiert. Davon betreffen nur zwei den Parameter I, die brigen den Parameter II:

    (1) Jede einzelne Fallrekonstruktion ist schon als solche eine Strukturgeneralisierung. Denn ihr je konkretes Ergebnis, das man frher als Darstellung eines Typus bezeichnet htte im Unterschied zu einer Kategorisierung oder Klassifikation eines Einzelfalles in einer vorgefa-ten Kategorie oder Klasse, bildet einen konkreten Fall in seiner inneren Gesetzlichkeit ab, die seine Autonomie bzw. den Grad seiner Autonomie als das Ergebnis seiner Individuie-rungsgeschichte ausmacht. Wie hufig dieser Fall sonst noch vergleichbar oder hnlich auf-taucht, wieviele weitere "token" dieses "type" es also empirisch gibt, ist fr diese Hinsicht der Strukturgeneralisierung vollstndig unerheblich. Denn es wre absurd, wollte man willkrlich ein Kriterium einfhren, wonach erst ab einer bestimmten absoluten oder relativen Frequenz dieser je konkret rekonstruierte "Typus" als solcher eine Realitt htte. Im Unterschied dazu lassen sich natrlich empirische Generalisierungen von Anfang an und wesensgem nur auf der Basis einer Mehrzahl von Beobachtungen treffen.

    Aber es wre nun platter Dogmatismus, der sich allerdings in die Methodenliteratur der em-pirischen Sozialforschung faktisch hufig einschleicht, wollte man die "empirische Generali-sierung", die mit dieser Beschrnkung behaftet ist, als einziges Modell fr die Generalisier-barkeit wissenschaftlicher Analyse-Ergebnisse gelten lassen. An der Unterscheidung von "type" und "token" lt sich nmlich beispielhaft erlutern, warum nicht die empirische Ge-neralisierung sondern die Strukturgeneralisierung der wissenschaftslogisch allgemeinere Fall ist und warum deshalb die Strukturgeneralisierung forschungslogisch der empirischen Gene-

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    ralisierung vorgeordnet ist und nicht umgekehrt; mithin die empirische Generalisierung nicht ohne die Strukturgeneralisierung angemessen bestimmt werden kann, aber die Strukturgene-ralisierung durchaus ohne den Bezug auf die empirische Generalisierung.

    Das Verhltnis von "token" zu ihrem "type" berschreitet die Relation zwischen einem Element (Ereignis oder Merkmal) und seiner Kategorie oder Klasse. Ich mu nmlich die Kategorie oder Klasse vorweg bestimmt haben und kennen, bevor ich ein Element in einer Messung ihr zuordnen kann. Diese Zuordnung ist also immer das Ergebnis einer Subsumti-on. Dagegen kann ich jederzeit an einem "token" eine Fallrekonstruktion als Typusbestim-mung durch Sequenzanalyse vornehmen, ohne diesen Typus vorher zu kennen oder be-stimmt zu haben. Eine Fallrekonstruktion ist als Strukturgeneralisierung immer eine genuine, ursprngliche Typusbestimmung. Vom Ergebnis her kann nachtrglich eine Vergleichbarkeit mit einer oder mehreren anderen Fallrekonstruktionen so festgestellt werden, da sich diese mehreren Flle als "token" desselben "type" erweisen. Aber es macht fr die konkrete struk-turgeneralisierende Fallrekonstruktion keinen Unterschied, ob ihr Ergebnis: die Bestimmung eines allgemeinen Typs, anllich eines konkreten Falles zum ersten oder zum wiederholten Male vorliegt. Auch beim ersten Mal wird ein Fall zugleich als "type" und als dessen "token" bestimmt.

    Daraus geht zwingend hervor, da faktisch und logisch die Fallrekonstruktion als Struktur-generalisierung der Konstitution einer Fall- bzw. Beobachtungsreihe vorausgehen mu, die einer empirischen Generalisierung bzw. einer quantitativen Induktion zugrundeliegt. Um berhaupt eine solche Beobachtungsreihe, z.B. eine Stichprobe herstellen zu knnen, mu ich schon ber die Bestimmung eines allgemeinen Typs bzw. ber die allgemeinbegriffliche Bestimmung eines Zusammenhangs zwischen mindestens zwei Merkmalen verfgen. Diese vorausgehende Bestimmung ist aber nichts anderes als eine Strukturerkenntnis, die als das Ergebnis einer strukturgeneralisierenden Fallrekonstruktion anzusehen ist. Mit dem spteren Peirce knnen wir sie auch als abduktiven Schlu bezeichnen, mit dem eine wissenschaftli-che Erkenntnisoperation berhaupt erst beginnen mu, bevor die in der blichen positivisti-schen Wissenschaftstheorie einzig thematischen anderen Schluweisen, der induktive und der deduktive Schlu, zu operieren beginnen knnen.

    Nur wird gewhnlich in der "quantifizierenden" empirischen Sozialforschung diese Voraus-bedingung der Strukturgeneralisierung fr die Konstitution oder Herstellung einer Beobach-tungsreihe als Argumentebereich einer empirischen Generalisierung nicht mehr reflektiert, sondern stillschweigend bergangen. Darin liegt die Quelle eines verkrzenden Dogmatis-mus.

    Jede konkrete Fallrekonstruktion fhrt also zu einer Strukturgeneralisierung bzw. der Be-stimmung eines allgemeinen Typus. Dessen Allgemeinheit ist in gar keiner Weise von der Hufigkeit seines Vorkommens bzw. von der Frequenz seiner "token" abhngig. Selbst wenn er in einer "Grundgesamtheit" tatschlich nur einmal vorkme, htte er diese Allgemeinheit eines Typus, die die Fallrekonstruktion in der logischen Form einer Strukturgeneralisierung bestimmt.

    (2) Bei jeder konkreten Fallrekonstruktion wird nicht nur der im sequenzanalysierten Proto-koll verkrperte manifeste Fall zur Explikation gebracht, sondern es werden darber hinaus andere, weitere Flle bestimmt, die dieser Fall seinen objektiven Mglichkeiten nach in seiner weiteren historischen, kulturellen und sozialen Umgebung, seinem Milieu, prinzipiell htte werden knnen, aber nicht geworden ist. Denn die Sequenzanalyse erfordert es, an jeder

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    Sequenzstelle im Sinne geltender Erzeugungsregeln den Spielraum von Mglichkeiten kon-kret gedankenexperimentell zu explizieren, mit Bezug auf den der konkrete Fall seine Struk-turgesetzlichkeit als immer wiederkehrende Systematik seiner Entscheidungen und Auswah-len abbildet. Diese gedankenexperimentelle Konstruktion von je konkreten Mglichkeiten

    kommt aber einer Explikation von weiteren Fallstrukturen gleich, so da man mit einer Fall-rekonstruktion immer schon mehrere Flle kennt und nach kurzer Zeit in der fallrekonstru-ierenden Untersuchung einer Fallreihe zu einem bestimmten Untersuchungsthema sich alle weiteren Flle als "dj vues" erweisen. Darin liegt im Hinblick auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse eine enorme Ersparnis.

    (3) Jeder untersuchte konkrete Fall ist in hher aggregierte Fallstrukturen eingebettet: eine Person in eine Familie oder Primrgruppe, diese in ein konkretes Milieu oder per Beruf in einen bestimmten gesellschaftlichen Sektor oder ein soziales Subsystem, diese wiederum in eine Region oder einen gesellschaftlichen, historischen Typus und diese(r) wiederum in eine umfassende Gesellschaft als Totalitt. Insofern stellt jede rekonstruierte Fallstruktur eine je konkrete Variante einer einbettenden, bergeordneten Fallstrukturgesetzlichkeit dar und liefert ber sie eine allgemeine Erkenntnis. Sobald mehrere solcher, auf gleicher Aggregie-rungsebene liegender Fallrekonstruktionen in einer Fallreihe bekannt sind, lassen sich die Generalisierungen dieser Hinsicht erhrten.

    (4) Bei jeder fallspezifischen Sequenzanalyse werden Erfahrungen ber die Geltung bzw. Nicht-Geltung von Regeln der Erzeugung von Sinnstrukturen gemacht, die als Basis fr eine Falsifikation vorausgehender Regelrekonstruktionen oder fr eine Modifikation bzw. Inno-vation von Regeln explizierender Theorien prinzipiell dienen knnen. Zwar widmet sich die objektive Hermeneutik nicht eigens solchen Regelrekonstruktionen, sondern belt es bei der intuitiven Inanspruchnahme des Regelbewuteins des "native speaker", aber es knnen immer Strittigkeiten in der Ausformung dieser Intuition in der Konkretion der Sequenz-analyse vorkommen, die erst durch eine schrittweise Explikation der intuitiv in Anspruch genommenen Regeln zur Entscheidung gebracht werden knnen. In der Regel werden dar-aus kaum erkenntnistrchtige Generalisierungen fr die Teilbereiche der Phonologie, Syntax oder der einschlgigen Logik resultieren, weil diese Teilbereiche inzwischen sehr gut er-forscht sind, aber fr die Teilbereiche der Sprechakttheorie, der Prsuppositionen, der kon-versationellen Implikaturen, der textlinguistischen oder diskursregulierenden Schematisie-rungen, aber auch der praktischen Schlsse und vor allem der Prinzipien der sozialen Ko-operation und der kollektiven Normierungen der je historischen Praxis sind durchaus von Fall zu Fall jenseits der Fallrekonstruktion selbst relevante Generalisierungen zu erwarten, die die den Parameter I betreffenden theoretischen Kenntnisse erweitern und bereichern knnen.

    (5) Jede Fallrekonstruktion kann potentiell Fallstrukturgesetzlichkeiten sichtbar machen, die bisher nicht bekannt waren und auch real bisher in der Praxis nicht vorkamen, so da sie als eine Erneuerung bzw. das Ergebnis einer sozialen Vernderung in der Praxis selbst gelten mssen. Solche Erneuerungen bzw. Vernderungen sind potentiell folgenreiche nderungen in der Menschheitsgeschichte und werden am Anfang nicht massenhaft, sondern vereinzelt auftauchen und sich dann im Falle ihrer Bewhrung erst ausbreiten. Wenn die Fallrekon-struktion - gezielt, vermutend oder unerwartet - auf solche Neuerungen trifft, die potentiell Modelle der Zukunft darstellen, nimmt sie mit der fallspezifischen Strukturgeneralisierung zugleich eine Generalisierung bezglich der Zukunftsentwicklung vor, die etwas anderes darstellt als eine bedingte Prognose auf der Basis einer statistischen Hypothesenberprfung bzw. einer empirischen Generalisierung. Sie expliziert dann nmlich mit dem Anspruch auf

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    Vernnftigkeit auftretende Krisenlsungen, die in sich als Modelle von Praxis die bisherigen Rationalittsmastbe berschreiten. Es liegt auf der Hand, da sich solche Zukunftsent-wicklungen viel eher in detaillierten Fallrekonstruktionen zum Vorschein bringen lassen als in statistischen Frequenzanalysen, in denen sie als "Ausreier" oder auerhalb einer forma-

    len, statistischen "Normalitt" liegend "untergehen".

    (6) An solche Generalisierungen schlieen sich zugleich der Mglichkeit nach Generalisie-rungen mit praktischer Wirkung an. Es kann nmlich sein, da die unter (5) angesprochenen Neuerungen nicht nur rein empirisch als Typen - unabhngig von ihrem tatschlichen Pro-blemlsungspotential - die Zukunft bestimmen werden, sondern da sie darber hinaus auch tatschlich im Sinne der praktischen Vernunft zwingende Lsungen bieten, deren Rationali-tt sich eine mit Anspruch auf Vernnftigkeit handelnde Praxis in Zukunft nicht entziehen kann. Dieser rationale Zwang aufgrund des besseren Argumentes mu sich natrlich empi-risch faktisch nicht durchsetzen oder kann in seiner an sich gebotenen Ausbreitung erhebli-che Widerstnde und Verzgerungen erfahren. Die Fallrekonstruktion, die solche Neuerun-gen erfate, wre fr sich im Sinne einer sokratischen Meutik ein wichtiger Beitrag bei der Durchsetzung solcher Praxisvernderungen. Ich spreche hier nicht von bewut geplanten Neuerungen, die gewhnlich unter dem Titel "Innovation", "Entwicklung" oder "Erfindung" thematisch sind und deren Ausbreitung strategischer Bestandteil ihrer selbst sind, sondern von solchen Neuerungen, die sich "naturwchsig" in der geschichtlichen und individuieren-den Praxisbewhrung als Modelle der kollektiven und individuellen Lebensbewltigung erge-ben.

    (7) Analog zu solchen aus fallstrukturgesetzlichen Transformationen sich ergebenden Neue-rungen knnen natrlich auch im Bereich der Sinnstrukturen erzeugenden Regeln - vor allem im Unterbereich sozialer Normierungen, aber auch im Bereich einzelsprachlicher Regeln - Neuerungen bzw. Transformationen auftreten, deren frhzeitige Registrierung wissenschaft-lich von groer Bedeutung sein kann.

    Alle diese unter den sieben Gesichtspunkten zusammengestellten Dimensionen der auf der Basis von Fallrekonstruktionen mglichen Strukturgeneralisierungen beziehen sich auf Strukturerkenntnisse, die in den Humanwissenschaften durch Operationen der empirischen Generalisierung gar nicht oder nur sehr beschrnkt generiert und artikuliert werden knnen. Auch darin zeigt sich, da die Strukturgeneralisierung eine genuin dem Strukturalismus zu-gehrige Erkenntnisoperation darstellt, die den handlungstheoretisch affinen methodischen Vorgehensweisen fremd ist.

    - Sequenzen von maximal kontrastierenden Fllen statt Stichproben.

    Natrlich wird man auch in der objektiven Hermeneutik eine Untersuchungsfrage nicht durch eine einzige Fallrekonstruktion, sondern eine Reihe von Fallrekonstruktionen empi-risch beantworten. Aber in scharfer Differenz zur Logik der Ziehung einer Zufallsstichprobe fr die statistische Hypothesenberprfung bzw. die Schtzung von relativen Frequenzen auf der Basis empirischer Generalisierungen, bei der die einzelnen Elemente voneinander unabhngig sein mssen, werden hier die Flle einer Untersuchungsreihe sequentiell in Ab-hngigkeit voneinander nach dem Kriterium des maximalen Kontrastes ausgewhlt. Die Lo-gik der Sequenzanalyse wird also sinngem auch auf die Anordnung der Fallerhebungen und Fallauswertungen einer zusammenhngenden Untersuchung angewendet.

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    Man geht dabei in der folgenden Weise vor: Es werden zunchst Protokolle nur eines Falles ausgewhlt oder erhoben, der fr die jeweilige Untersuchungsfrage zentral ist. Natrlich mssen auch die Protokolle selbst aus der Lebenspraxis des Falles Ausschnitte abbilden, die fr die Untersuchungsfrage von Bedeutung sind. Dann analysiert man das Material dieses

    ersten Falles einer Reihe detailliert und ausfhrlich, so da an seinem Beispiel mglichst viele Antworten zur Untersuchungsfrage entwickelt werden und mglichst przise erste Struktur-gesetzlichkeiten des die Untersuchungsfrage betreffenden Gegenstandsbereiches herauspr-pariert werden knnen. Erst wenn das maximal geleistet ist, erhebt man das Material des nchsten Falles. Dieser wird nun so ausgewhlt, da er nach Magabe der Erkenntnis zum ersten Fall maximal mit diesem kontrastiert. Wiederum wertet man dieses Material aus, bevor man den nchsten Fall so erhebt, da er seinerseits maximal mit den vorausgehenden Fllen kontrastiert. Man schreitet so immer weiter voran. Die Auswertungen werden beim jeweils nchsten Fall exponentiell abnehmend krzer, weil immer weniger an Erkenntniszuwachs ber die den Gegenstand kennzeichnenden Strukturgesetzlichkeiten hinzukommt. Man bricht die Fallreihe ab, wenn evident geworden ist, da der Erscheinungsspielraum innerhalb des Gegenstandsbereichs fr die Zwecke der Modellrekonstruktion im wesentlichen ausge-schpft ist. Dafr kann ein prinzipielles Kriterium nicht angegeben werden, aber die Erfah-rung zeigt, da angesichts des Umstandes, da mit jeder Fallrekonstruktion immer mehr Flle als der im Fallmaterial tatschlich verkrperte zur Geltung kommen, in der Regel zehn bis zwlf Fallrekonstruktionen auch fr komplexere Untersuchungsfragen ausreichen, um hinreichend gesicherte Antworten zu erhalten. Man ist dann in der Strukturerkenntnis und in den Strukturgeneralisierungen so weit vorangekommen, da die Erforschung von struktur-theoretischen Folgefragen konomischer ist, als die weitere Detaillierung der gesuchten Antworten. Diese Detaillierung zu vervollstndigen, lohnt sich dann letztlich nur noch im Hinblick darauf, relative Hufigkeiten ber die Verteilung von verschiedenen Typen und - darauf beruhend - Schtzungen ber die relative Strke des Zusammenhangs zwischen ein-zelnen Strukturelementen zu erhalten. Dazu sind dann die blichen spezifischen, auf stan-dardisierten Messungen beruhenden Erhebungen in greren Stichproben als Ergnzung zum Zwecke der verwaltungsrationalen Entscheidung ber den Einsatz standardisierter praktischer Problemlsungen notwendig.

    - Klinische, nicht-standardisierte statt standardisierte Datenerhebung und rekonstruktionslo-gische statt subsumtionslogische Auswertung.

    Seit einiger Zeit hat sich die sogenannte "qualitative Sozialforschung" ein gewisses Terrain und eine gewisse Anerkennung gegenber der sogenannten "quantitativen Sozialforschung" erobert. Aber immer noch zeigen allein die Vorlesungsvorzeichnisse in den Sozialwissen-schaften noch, da - mehr oder weniger dogmatisch - unter den Methoden der empirischen Sozialforschung wie selbstverstndlich die der "quantitativen" verstanden werden und die der "qualitativen" als bei Bedarf diesen "Normalfall" ergnzende Zustze. In den unter dem irre-fhrenden Begriff der "qualitativen" oder "interpretativen Sozialforschung" zu-sammengefaten, untereinander recht heterogenen und keinesfalls miteinander kompatiblen Methoden findet sich in den mit diesem Titel mittlerweile im Umlauf befindlichen Lehrb-chern auch die objektive Hermeneutik.

    Aber aus deren Sicht ist die Unterscheidung von quantitativen Methoden einerseits und qua-litativen oder interpretativen andererseits nicht haltbar. Denn zum einen mssen an jeder quantifizierenden Forschungsmethode "qualitative" oder "interpretative" Momente notge-drungen beteiligt sein. Wie anders wollte man die Merkmals- oder Eigenschaftsdimensionen der quantifizierender Operationalisierungen von Begriffen denn bestimmen? Rein quantifi-

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    zierend ist das gar nicht mglich. Zum anderen aber - und das ist von grerer Bedeutung - ist diese Unterscheidung viel zu vage und mehrdeutig, weil sie die wesentlichen Unterschiede zwischen einer traditionellen, auf quantifizierendes Messen abstellenden Methodologie der Sozialwissenschaften und einer auf Fallrekonstruktion und konkrete Strukturanalyse ausge-

    richteten Methodologie falsch benennt.

    Die objektive Hermeneutik trennt in der Betrachtung der mit der miverstndlichen Gegen-berstellung von quantitativen und qualitativen Methoden gemeinten Unterschiede zunchst einmal zwischen den Methoden der Datenerhebung und der Datenauswertung.

    Zur Ebene der Datenerhebung:

    Auf dieser Ebene mssen grundstzlich zwei Dimensionen unterschieden werden: (1) Die Methoden und Praktiken des sozialen Arrangements bei der Datenerhebung und (2) die Techniken der Protokollierung bei der Datenerhebung.

    Da jedes Datum fr uns als Ausdrucksgestalt einer Lebenspraxis und damit als Text und als Protokoll zu gelten hat, ist von vornherein der Weg dazu geffnet, nicht nur mit eigens zum Untersuchungszweck erhobenen Daten operieren zu mssen, sondern auch von der Unter-suchungswirklichkeit selbst schon hergestellte Ausdrucksgestalten (Dokumente, Objektivie-rungen, Akten, Briefe, Publikationen, etc.) als gleichwertig heranzuziehen. Dadurch werden die empirischen berprfungsmglichkeiten der Forschung wesentlich erweitert und berei-chert und es wird nebenbei der Graben zur Geschichtswissenschaft zumindest methodisch eingeebnet. Denn diese hat es naturgem viel mehr mit recherchierbaren Daten zu tun, weil sie an ihrem der Vergangenheit zugehrigen Gegenstand in der Regel keine eigenen Erhe-bungen mehr vornehmen kann.

    Zu (1): Der Generierung eines jeden Datums liegt ein spezifisches soziales Arrangement zugrunde. Auch bei den standardisierten Messungen der sogenannten quantifizierenden So-zialforschung ist, wie der Begriff der Operationalisierung schon in sich birgt, der Erhebungs-vorgang vor allem in ein bestimmtes soziales Arrangement der Operation des Messens ein-gebettet. Dieses soziale Arrangement mu bei einer vom Forscher selbst vorgenommenen Datenerhebung bzw. - generierung genau vorbedacht sein. Bei der Sammlung von Daten, die die untersuchte Wirklichkeit selbst produziert, mu der dabei mitbeteiligte pragmatische Rahmen der Produktion genau rekonstruiert werden. Die entscheidende Dimension fr die Variation zwischen verschiedenen sozialen Arrangements lt sich mit den ge-genberliegenden Polen von "standardisiert" und "klinisch, bzw. nicht-standardisiert" be-zeichnen.

    Es liegt auf der Hand, da der Vorteil standardisierter Verfahren vor allem in der konomie der Erhebung und der spteren Auswertung3 liegt, aber nicht, wie in der Regel unterstellt, in der besseren Vergleichbarkeit ber verschiedene Merkmalstrger hinweg, und schon gleich gar nicht in der angeblich greren Przision. Viel mehr erkauft man gerade mit der Stan-dardisierung des sozialen Arrangements bei der Datenerhebung erhebliche Nachteile be-zglich der Prgnanz der Daten. Das soziale Arrangement bei der Erhebung mu zum einen

    3 Im subsumtionslogischen Ansatz lt sich im Grunde genommen zwischen der Datenerhebung und der Datenauswertung nicht mehr sinnvoll forschungslogisch unterscheiden, weil die Datenauswertung mit der Operationalisierung der Begriffe und mit der Art der Datener-hebung gewissermaen vorprogrammiert ist und nur noch mechanisch erfolgt. Ein eigenstndiges Interpretationsproblem beginnt erst wieder nach den statistischen Hypothesenberprfungen bzw. nach den induktiven Herausrechnungen von Konfigurationen in Faktoren- und "cluster"-Analysen. Diese Deutungen sind dann aber der statistischen Prparation von Daten uerlich, diese verhalten sich grundstz-lich jenen gegenber wie Artefakte.

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    der spezifischen Charakteristik des Gegenstandes und der Fragestellung und zum anderen der Lebenslage und Situation des je konkreten Falles bzw. Merkmaltrgers angemessen sein und sich mimetisch anschmiegen. Das ist nur in Analogie zum klinischen Vorgehen mg-lich.

    Zu (2): Auch fr die Variation der Techniken der Protokollierung bei der Datenerhebung wird die zentrale Dimension durch die Pole "standardisiert" und "nicht-standardisiert" gebil-det. Unter standardisierten Techniken der Protokollierung werden hier z.B. das Ankreuzen von standardisierten Vorgaben bei Befragungen oder das Anfertigen von Strichlisten bei Beobachtungen, aber auch das Anfertigen von ethnographischen Beschreibungen nach ei-nem vorgegebenen Gliederungsschema verstanden. Nicht-standardisierte Techniken sind vor allem alle direkten, "natrlichen" Aufzeichnungen von Vorgngen, Handlungen und ue-rungen durch Aufzeichnungsgerte wie Film- oder Videokameras, Fotoapparate und Ton-bandgerte. Zwar sind hier die Gerte hoch-standardisiert, aber nicht die Aufzeichnung, denn sie protokolliert "unintelligent" und "semantisch unselektiv" alles, was an physikali-schen Impulsen der protokollierten Wirklichkeit die Aufzeichnungsgerte erreicht.

    Aufzeichnungen sind gewissermaen "natrliche" Protokolle und den von intelligenten Sub-jekten angefertigten Beschreibungen in jedem Falle vorzuziehen, weil diese immer schon von einer - in der Regel vereinseitigenden - Interpretation geprgt sind. Die "Verdichtungen" solcher Beschreibungen behindern die sptere Datenauswertung eher als da sie sie befr-dern. Der Begriff der "dichten Beschreibung" (Clifford Geertz) hat hier in neuerer Zeit viel Verwirrung gestiftet. Darunter knnen nmlich drei ganz verschiedene Dinge verstanden werden. Zum einen eine tatschlich literarisch gelungene Beschreibung einer zu protokollie-renden Wirklichkeit, die den Namen "Verdichtung" auch verdient. In ihr wird durch knstle-rische Gestaltung eine Wirklichkeit nicht abgebildet, sondern zu einer eigenlogischen Wirk-lichkeit auf hchst subjektive Weise transformiert, aber gerade durch diese Subjektivitt in eine erkenntnistrchtige, in sich stimmige Kohrenz gebracht. Es handelt sich um eine im Modus der knstlerischen Prgnanzbildung verfahrende Erkenntnisleistung per Darstellung, die den Namen der Verdichtung im Sinne einer sthetisch suggestiven Fallrekonstruktion auch verdient. Nur ist festzuhalten, da es sich hier um Kunst und nicht um Wissenschaft handelt, um eine Erkenntnisform also, deren Wahrheitskriterium in der zwingenden Sugge-stivitt der sinnlichen Prsenz ihrer Darstellung besteht und nicht in der Methode der Logik des besseren Argumentes. Zum anderen wird darunter das Resultat einer vom Forscher vor-genommenen Wirklichkeitsinterpretation verstanden, die ihrerseits schon auf irgendwelchen Daten beruht. Dann handelt es sich eigentlich nicht um eine Beschreibung, schon gar nicht um eine Technik der Protokollierung, sondern um eine Analyse. Schlielich wird drittens darunter eine ethnographische Beschreibung verstanden, die in besonderer Weise auf Pr-gnanz und Wesentlichkeitserfassung aus sei. Sofern es sich hier wirklich um eine Beschrei-bung handeln sollte, so ist ihr immer die Aufzeichnung vorzuziehen. Denn wenn sie wirklich "dicht", also verdichtend sein sollte, und dennoch nicht literarisch oder schon eine theoriege-leitete Interpretation, so enthlt sie immer schon Abkrzungen und selektive Zusammenfas-sungen, die spter nicht mehr mit einem detaillierten "natrlichen" Protokoll abgeglichen werden knnen und deren Subjektivitt man deshalb unkritisch und unberprfbar ausgelie-fert ist. "Dichte Beschreibungen" sind also, wenn sie wirklich Beschreibungen sind und nicht schon methodisch kontrollierte Interpretationen oder Analysen, allenfalls als knstlerisch-literarisch gelungene von eigenem Wert.

    Innerhalb der nicht-standardisierten Techniken der Protokollierung ist also als weitere, ein-gebettete Unterscheidungsdimension die zwischen technischer Aufzeichnung an einem Ende

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    und verdichteter, knstlerischer Gestaltung am anderen Ende anzusetzen. Dazwischen liegen die Varianten der Beschreibung. Diese liefern die schlechtesten Daten und die nachteiligsten Techniken der Protokollierung, weil bei ihnen die je subjektive Interpretation bzw. Kon-struktion schon immer in die Erhebung der Daten eingeht, so da diese Kontamination

    nachtrglich nicht mehr geschieden werden kann und so die berprfungsrelevanz der er-hobenen Daten entscheidend eingeschrnkt wird bzw. eine den Fallibilismus entscheiden beeintrchtigende schlechte Zirkularitt mit sich bringt. Vorzuziehen sind fr die Forschung immer die bezglich der involvierten Sinnstrukturen vollkommen unintelligenten und des-halb unselektiven technischen Aufzeichnungen. Sie knnen als "natrliche" Protokolle gel-ten.

    Bezglich der Datenerhebung ist also an die Stelle der Unterscheidung von "quantitativer" und "qualitativer" Sozialforschung jene von "standardisierten" und "nicht-standardisierten, klinischen" Methoden zu setzen.

    Zur Ebene der Datenauswertung:

    Wesentlich wichtiger als die Methoden der Datenerhebung sind fr die Qualitt der For-schung die Methoden der Datenauswertung. Eine noch so gute Datenerhebung ntzt nichts, wenn die Auswertungsmethoden nicht gut sind. Und noch so schlechte Daten knnen bei guten Auswertungsmethoden immer noch sehr aussagekrftig sein. Deshalb ist es fr die objektive Hermeneutik besonders wichtig, die Probleme der Datenerhebung von den Pro-blemen der Datenauswertung klar zu trennen, - eine Trennung, die in der blichen Unter-scheidung von quantitativer und qualitativer Sozialforschung untergeht. Dadurch kommt z.B. auch nicht in den Blick, da sich "qualitativ" erhobene Daten, "quantitativ" auswerten lassen und umgekehrt.

    Die entscheidende Dimension der Unterscheidung zwischen der traditionellen "quantitati-ven" Sozialforschung und der "qualitativen" bzw. " interpretativen" wird in der Regel bei den blichen Betrachtungen gar nicht deutlich gesehen. Ich bezeichne sie als die Differenz zwi-schen subsumtionslogischen und rekonstruktionslogischen Verfahren. In der Bezeichnung "qualitative Inhaltsanalyse" z.B. geht sie unter, denn dies ist ein Verfahren, in dem Texte eindeutig subsumtionslogisch ausgewertet werden und nicht rekonstruktionslogisch. Den-noch wird es als "qualitativ" bezeichnet.

    Subsumtionslogische Verfahren an dem einen Ende entsprechen der blichen wissenschafts-logischen Auffassung, wonach - in dieser Schrittfolge - Hypothesen aufgestellt, aus bewhr-ten Theorien abgeleitet werden, deren Begriffe als Variablen zu Meinstrumenten operatio-nalisiert werden, deren Reliabilitt und Validitt in Stichproben geprft werden mu, die zur Vermeidung von Zirkularitt unabhngig von den Stichproben fr die Hypothesenber-prfung sein mssen, die dann entweder besttigende oder widerlegende Ergebisse zeitigt, so da im letzteren Fall eine Deutung entwickelt werden mu, die zu einer neuen Hypothese fhrt. In dieser Auffassung, deren Ideal im brigen selten wirklich eingehalten wird, liegt einerseits eine starre Trennung zwischen Theorie und Daten vor, insofern die uerungen der zu messenden Wirklichkeit unter vorgefate operationale Indikatoren, Kategorien oder klassifikatorische Begriffe eingeordnet, d.h. subsumiert werden. Sobald an diesen "uerun-gen" etwas sichtbar wir, was unter diese vorgefaten Kategorien klassifikatorisch nicht pat, wird es "abgeschnitten", denn bercksichtigt werden knnte es erst, wenn die Ope-rationalisierungen selbst gendert wrde, wozu dann eine neue Stichprobe gezogen werden mte. Andererseits ist das Verhltnis zwischen Theorie und Daten im subsumtions-

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    logischen Ansatz zu eng, ja zu zirkulr, denn von der Wirklichkeit, an der ja die Theorien maximal scheitern knnen sollen, wird nur das hindurchgelassen, was unter die Operationali-sierungen der Theorie pat, um deren Prfung es ja letztlich geht. Diese theoriesprachliche Hermetik kommt schon einer Immunisierung der Theorie gegen die Wirklichkeit gleich, so

    da der berhmte Vorworf, es werde in dieser Art der empirischen Sozialforschung hinten herausgeholt, was vorne hineingesteckt worden sei, nicht unberechtigt ist, wenn er auch nicht alles trifft, sondern nur einen vermeidbaren Grad der Immunisierung.

    Der rekonstruktionslogische Ansatz dagegen, in dem im Unterschied zum subsumtionslogi-schen eine klare Trennung zwischen Datenerhebung und Datenauswertung berhaupt erst mglich wird, wendet zur Realittsaufschlieung und zur Datenerzeugung nicht operationale Indikatoren und klassifikatorische Begriffe an, sondern verfhrt in der "Sprache der Wirk-lichkeit" selbst, d.h. er rekonstruiert unter Bezug auf die in der Wirklichkeit selbst operieren-den Sequenzierungsregeln die je konkreten objektiven Bedeutungen bzw. latenten Sinnstruk-turen von Textsegmenten. Dabei wird das Protokoll der Wirklichkeit nicht von vornherein auf die zu prfende Theorie oder Hypothese hin durch vorausgehende "Operationalisierung" zugeschnitten, sondern semantisch unselektiv einer vollstndigen Sequenzanalyse unterzo-gen. Die Wirklichkeit hat also tatschlich eine maximale Chance, die Theorie zu Fall zu brin-gen. Die Daten sind nicht dazu da, die Theorie, sondern die Wirklichkeit selbst authentisch zum Ausdruck zu bringen. Erst wenn diese unverstellte Wirklichkeit, wie sie uns in authenti-schen, "natrlichen", aufgezeichneten Protokollen begegnet, durch je lckenlose Sequenz-analyse als Totalitt4 rekonstruiert worden ist, wobei nicht ein einziger objekttheoretischer Begriff explikativ verwendet wird, sondern ausschlielich in der "Sprache des Falles", d.h. ausschlielich mit Bezug auf die lesbaren, hrbaren und sichtbaren Zeichen und Markierun-gen des je zu rekonstruierenden Protokolles operiert wird, bringen wir die innere Struktur der Wirklichkeit selbst als abstrakte Sinnkonfigurationen vor uns, die dann schon als reale Strukturen den Gehalt von theoretischen Begriffen und Modell ausmachen. Theorien sind in dieser rekonstruktionslogischen Auffassung nichts anderes als die Konvergenz von Fallre-konstruktionen, als geronnene Fallrekonstruktionen.

    Im rekonstruktionslogischen Vorgehen ist also das Modell nicht das Ergebnis einer nach Zweckmigkeitsgesichtspunkten gerechtfertigten Konstruktion des Wissenschaftlers, das von auen an die Wirklichkeit herangetragen wird und sie mehr oder weniger zweckmig abbildet, sondern immer das Ergebnis einer Rekonstruktion von Sequenzen. Insofern ver-krpert es Strukturgesetzlichkeiten der Wirklichkeit selbst, sie operieren in der Wirklichkeit.

    Der subsumtionslogische Ansatz in der traditionellen Sozialforschung lehnt sich an ein - so gar nicht zutreffendes - Verstndnis der naturwissenschaftlichen Forschung als "normal science" an. Und in der Tat bildet er eine wesentliche Komponente des Vorgehens in den Naturwissenschaften, der Natur der Sache entsprechend. Das liegt aber daran, da im natur-wissenschaftlichen Gegenstandsbereich tatschlich die erscheinende Wirklichkeit in der Re-gel nicht rekonstruiert werden kann, weil sie in sich ja nicht sinnstrukturiert ist, also nicht

    4 Das bliche, leider auch von Popper in der berhmten Schrift "The Poverty of Historicism" verwendete Argument gegen die wichtige Kategorie der Totalitt, man knne sie nie erreichen, weil ein konkreter Gegenstand sich nie erschpfend beschreiben liee, und sie sei des-halb eine sinnlose Kategorie, ist eben von vornherein nur gltig und auch nur gemeint in einem subsumtionslogischen, klassifikatorischen Ansatz, in dem die konkreten Gegenstnde unter eine beliebige Zahl von Kategorien oder Merkmalsdimensionen rubriziert werden. Sobald man aber im Modell der Sequenzanalyse rekonstruktionslogisch denkt, erfat man genau jene Totalitt eines Falles, die in seiner Fall-strukturgesetzlichkeit verkrpert ist. Die Phnomene im Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften sind tatschlich als Gesetzmigkei-ten, als Regularitten, extern durch Gesetzlichkeiten determiniert, die wir in Gesetzeshypothesen artikulieren. Aber die Fallstrukturgesetz-lichkeiten einer Lebenspraxis bestimmen diese intern, machen als deren Lebensgesetzlichkeit den Grad von deren Autonomie aus. Diese wrde in einem subsumtionslogischen Vorgehen dogmatisierend unterschlagen werden, insofern es immer schon die reelle Subsumtion unter eine externe Determination prsupponiert.

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    nach bedeutungserzeugenden Regeln selbst sich protokolliert, wie die sinnstrukturierte Wirk-lichkeit der Humanwissenschaften das tut. Der Naturwissenschaftler mu zwar auch Proto-kolle seiner Beobachtungen und Messungen herstellen und diese sind natrlich auch sinn-strukturiert, aber er protokolliert dabei nicht eine in sich schon ein Protokoll darstellende,

    sinnstrukturierte Wirklichkeit, sondern er subsumiert die fr ihn relevante Wirklichkeit unter operationale Indikatoren, unter durch Theoriebildung erst ermglichte Meinstrumente bzw. er gewinnt seinen Gegenstand erst durch vorausgehende relevante Beschreibung und Prdi-zierung. Allerdings scheinen sich die Verfahren der zeitgenssischen Molekularbiologie bei der Dechiffrierung von DNA-Strngen und RNA-Matrizen als sequentiellen Strukturen zu-mindest vom Vorgehen her sehr stark einem Modell der rekonstruierenden Sequenzanalyse zu nhern, das auch den Kern der objektiven Hermeneutik ausmacht.

    Sequenzanalyse und Rekonstruktionslogik sind miteinander verschweit, das eine ist ohne das andere nicht mglich. Deshalb sind auch alle gegenwrtig unter "qualitativer Sozialfor-schung" rubrizierten Verfahren, die nicht dem Modell der Sequenzanalyse entsprechen, letzt-lich keine rekonstruktiven, sondern subsumtive Auswertungsverfahren. Erst eine Dimensio-nierung der Methoden der Datenauswertung nach der zentralen Unterscheidung von Rekon-struktionslogik und Subsumtionslogik vermag hier Klarheit zu schaffen. In der Rekonstruk-tionslogik wertet man sequenzanalytisch in der Sprache des Falles aus, in der Subsum-tionslogik klassifiziert man unter theoretische Begriffe. In der Rekonstruktionslogik ist das Verhltnis von Theorie und Daten dort scharf getrennt, wo es in der Subsumtionslogik ten-denziell zirkulr ineinanderluft: Die Daten haben als semantisch unselektive Protokolle der Wirklichkeit in der rekonstruierenden Sequenzanalyse eine maximale Chance gegen die zu prfende Theorie, die Konfrontation der Theorie mit den Daten ist nicht durch die Vor-abfilter der Operationalisierungen gemildert. Dagegen besteht eine vollkommene Unge-trenntheit zwischen Theorie und Daten im rekonstruktionslogischen Ansatz dort, wo im subsumtionslogischen die Getrennheit sehr gro ist: Die theoretischen Begriffe und Modelle lassen sich vollstndig auf sequenzanalytisch rekonstruierte Strukturen zurckfhren, die als Totalitten gelten knnen. Theorien sind geronnene Fallrekonstruktionen. Der bergang von Theorien zu Daten und zurck bildet in der Auswertung in sich eine Totalitt, beide Bereiche lassen sich unter diesem Gesichtspunkt gar nicht mehr voneinander unterscheiden. Dagegen ist die Auswertung im subsumtionslogischen Ansatz durch die Operationalisierung schon "vorprogrammiert". Sie vollzieht sich nach der Datenerhebung letztlich nur noch me-chanisch. Den Daten stehen die Eigenlogik und berschssigkeit der theoretischen Begriffe gegenber. Sie gehen nicht einmal in den Operationalisierungen des fundamentalen und de-rivativen Messens auf, und in den Verfahren des konventionellen Messens oder des "measu-rement by fiat", ber das die Humanwissenschaften nicht hinauskommen, wird in den sub-sumtionslogischen Ansatz noch einmal zwischen Theorie und Daten eine - willkrliche - Trenngrenze der auf bloer Vereinbarung beruhenden Konventionalisierung eingefhrt.

    - Authentizitt der Fallrekonstruktion und Falsifikation durch Sequenzanalyse statt Opera-tionalisierung theoretischer Begriffe, Prfung der Validitt und Reliabilitt von Operationali-sierungen und statistische Hypothesenberprfung.

    Was ber die Differenz zwischen einem subsumtionlogischen und einem rekonstruktionslo-gischen Ansatz gesagt wurde, gilt auch fr diesen Gesichtspunkt, unter dem die for-schungslogische Differenz der objektiven Hermeneutik zu anderen Methodologien der Hu-manwissenschaften allgemeiner gefat wird. Authentizitt bzw. Gltigkeit der Ausdrucks-gestalt ist ein wichtiger Grundbegriff der objektiven Hermeneutik. Er hat fr sie ungefhr den Stellenwert, den der Rationalittsbegriff fr die Handlungstheorien hat. Gewhnlich

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    wird der Begriff der Authentizitt fr die Relation zwischen Selbstbildern eines Subjekts und dessen wirklichen Lebens, fr die Gltigkeit eines Dokuments oder fr die Relation der Gl-tigkeit zwischen einem Kunstwerk und der ihn ihm entworfenen fiktionalen Realitt reser-viert. So z.B. in den sthetik-Wissenschaften und in den historischen Wissenschaften. Der

    Authentizittsbegriff der objektiven Hermeneutik ist umfassender und allgemeiner. Er be-zieht sich ebenfalls auf die Relation der Gltigkeit, deren Gegenbegriff der der Flschung oder Ungltigkeit wre. Aber als Grundbegriff der objektiven Hermeneutik ist ganz allge-mein die elementare Relation der Gltigkeit zwischen jeglicher Ausdrucksgestalt und der in ihr objektiv verkrperten Lebenspraxis gemeint. Jede Ausdrucksgestalt - und verkrperte sie ein noch so beschdigtes, noch so pathologisches Leben - besitzt in mindestens einer Hin-sicht Gltigkeit. Sie verkrpert immer noch authentisch das Verflschte, das Milingen, das Beschdigte, das Verrckte, sonst wrden wir es als solches gar nicht erkennen knnen. Selbst ein vollkommen verderbter, bewut geflschter, nicht einmal mehr eine tatschliche Pathologie gltig verkrpernder Text wrde immer noch eine Relation der Gltigkeit zu dieser Flschungspraxis aufweisen.

    Diese grundlegende Authentizitt von Ausdrucksgestalten, Texten und Protokollen hat demnach eine dialektische innere Struktur. Ihre Gltigkeitsrelation verweist selbst bei jenen uersten Beschdigungen einer Praxis, die in ihr sich gltig verkrpern, noch auf die Mg-lichkeit des Anders-Seins dieser beschdigten Praxis. Denn indem dieser Rest an objektiver Authentizitt qua Ausdrucksgestalt nicht getilgt werden kann, bildet er gewissermaen jen-seits der Verdsterung des Subjekts noch die Nabelschnur zur objektiven Vernunft. Er ent-hlt damit ein Selbstheilungspotential der Praxis, das sie sich in dem Mae erffnen kann, in dem sie sich der objektiven latenten Sinnstruktur der Ausdrucksgestalten ihres Beschdigt-Seins zu stellen vermag.

    Die zuvor referierten gelufigen Verwendungen des Begriffs von Authentizitt in den Gei-steswissenschaften sind diesem Grundbegriff nachgeordnet, sie setzen seine Gltigkeit vor-aus. Denn erst, wenn eine objektive Authentizitt von Ausdrucksgestalten nachgewiesen ist, macht es Sinn und wird es methodisch berprfbar zu fragen, wie authentisch ein bewut hergestelltes Werk oder Dokument, ein Bild einer Praxis von sich selbst ist. Auf dieser nach-geordneten Ebene der Verwendung des Begriffs geht es darum, wie gut eine in einem "ge-machten", edierten Text je angestrebte Verkrperung praktisch gelungen ist.

    Fallrekonstruktionen beziehen ihre Geltung aus der methodisch expliziten und in ihrer Gel-tung berprfbaren, sequenzanalytisch verbrgten Rekonstruktion jener Gltigkeit oder Au-thentizitt, die jeglicher Ausdrucksgestalt durch Regelerzeugung der Sinn- und Bedeutungs-strukturen basal zukommt. Sie stellen in sich wiederum Gltigkeit beanspruchende Aus-drucksgestalten der Explikation des objektiven Sinns jener primren Ausdrucksgestalten dar, die der Gegenstand der methodisch kontrollierten Rekonstruktion waren. Die empirische Wahrheit der Fallrekonstruktion der objektiven Hermeneutik ist also nicht eine Funktion isomorphen Messens im Sinne der Zuordnung numerischer Relationssysteme zu empiri-schen, durch operative Manipulationen erzeugten Relationssystemen, also nicht eine Relation der Abbildung oder der Korrespondenz zwischen Begriff und sinnlichem Eindruck bzw. Erfahrungsdatum, sondern eine Funktion der Authentizitt einer eine objektiv gegebene Authentizitt von latenten Sinnstrukturen rekonstruie


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