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Page 1: Vegetative Störungen bei der myatrophen Lateralsklerose

Deutsche Zeitsehrift f. Nervenheilkunde, 179, 48--57 (1959)

Aus der Neurologischen Universitatsklinik Hamburg-Eppendorf (Direktor: Prof. Dr. med. H. PETTE)

Vegetative St5rungen bei der myatrophen Lateralsklerose

Zugleich ein Beitrag zur Sudecksehen Dystrophie

Von

OTTO A. BRINK

Mit 4 Textabbildungen

(Eingegangen am 24. Juni 1958)

I n der K h n i k wurden in den vergangenen J a h r e n mehrere Pa t i en t en m i t einer m y a t r o p h e n Latera lsk lerose aufgenommen, die neben den b e k a n n t e n S y m p t o m e n der Muskela t rophie und Spas t ik vege ta t ive St6- rungen der H a u t , des Unte rhau t fe t tgewebes , der Gelenke und Knochen zeigten. H ie r soil e rSr te r t werden: Geh6ren vegetative StSrungen zum kli- nischen Bild der myatrophen Lateralsklerose ? W e n n wir diese F rage be- j ahen k5nnen, is t eine zweite zu s tel len: S ind die vege ta t iven StSrungen ein S y m p t o m der degenera t iven E r k r a n k u n g des Zen t ra lne rvensys tems ? Die angestellte Untersuchung - - sie b le ib t auf die medul la spinalis be- schr/ inkt - - macht eine Beziehung zwischen Riickenmarkserkrankung und vegetativen StSrungen wahrscheinlich.

SCHAFFER verlangte fiir die Diagnose myatrophe Lateralsklerose den elektiven Befall des motorischen Systems. Diese Forderung ist nach anderen Autoren und eigenen histologischen Untersuchungen nicht haltbar. In zahlreichen Arbeiten wer- den StSrungen der Sensibilit~tt beschrieben (MARBURG, FI~IEDMANN, HESS, SODER- BERGH, SJOVALL, LAU:NAY, VAN BOGAERT). Histologische Untersuchungen dieser Autoren ergaben neben der Degeneration motorischer Vorderhornzellen und der Pyramidenbahnen einen Befall der Hinterstr/~nge, des kommafSrmigen Feldes von SeHVLTZE, der tractus spinocerebellares und in einigen FMlen des gesamten Vorder- seitenstranggebietes, in der grauen Substanz Degenerationen der Clarkeschen S~u- len, der Mittelzellen, der Hinterhornzellen, der Zellen der Lissauerschen Randzone. Degenerationen im Bereich des Seitenhornes sind von TOOTH U. TURNER, ORZE- CHOWSKI, BERTRAND U. VAN BOGAERT gefunden worden.

Angesichts der zahlreichen Ursachen, die zur Ausbi ldung vege ta t ive r S tSrungen ffihren kSnnen, is t es im Einzelfal l schwierig, die/~tiologisehe K1/irung durchzuffihren. Zum Beispiel i s t es k a u m mSglich zu beweisen, dab e twa vorhandene UnterschenkelSdeme bei e inem/~l teren an mya t ro - pher Latera lsk lerose e rk rank ten Menschen durch das organische Nerven- le iden hervorgerufen worden sind. Daher muB bei der Verwer tung der L i t e r a t u r a n g a b e n fiber vege ta t ive StSrungen bei der m y a t r o p h e n Late-

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ralsklerose Zurf ickhal tung gewahrt werden. Ffir eine sichere Zuordnung vegeta t iver S t6rungen zu dem degenera t iven ProzeB im Rfickenmark sind folgende Forderungen zu stellen:

1. Der zeitliche Zusammenhang zwischen Muskelatrophien und Bindegewebssch/iden.

2. Der AusschluB anderer Ents tehungsmSgl ichkei ten vegetat iver StSrungen, wie prim~rer Gef/il3erkrankungen, mykotischer u n d bak- terieller I t au t l e iden u n d besonders der Nervensch/~digungen durch Wir- bels~ulenprozesse. Nur bei einer i n t ak t en Wirbels/iule k6nnen bestehende segmentale vegetat ive StSrungen mi t ausreichender Sicherheit auf die myat rophe Lateralsklerose bezogen werden.

3. Der histologische Befund im Zent ra lnervensys tem mi t der Degene- ra t ion vegetat iver Nervenzellen.

4. Die segmentale En t sp rechung yon Nervenzellausfal l u n d vegeta- r iven StSrungen.

Diesen Forderungen geniigen, soweit wir das iibersehen, keine der in der Li te ra tur vo rhandenen Berichte vSllig.

Vegetative StSrungen der Haut und des subcutanen Gewebes wurden yon HEss, Mosv.~ und LAUNAY beobachtet. 0deme an H~nden und Ffil3en yon PATRIKIOS, L~5o~¢~ und LItERMITTE und BRIESE, eine Elephantiasis der Unterschenkel yon HESS. WachstumsstSrungen und Ausfall der Zehenn/igel beschrieben HEss, WECHS- LER, BROCK und WEIL, Brfichigwerden und Ausfall der Haare LAU~CAY. Eine ge- steigerte Sudation beobachtete LAV~AY bei mehr als der H~lfte seiner Patienten, eine einseitige Sudation fand HEss. MARBURG sah 0deme an H~nden und Ffil~en, StSrungen der Vasomotoren, Atrophie der visceralen Muskulatur, die auch L~RI beschrieben hat, und ordnete diesen Symptomen die Degeneration vegetativer Ganglienzellen zu.

Ein Patient yon WILD u. MADLENER erkrankte mit rheumatischen Schmerzen und einer Versteifung der rechten Schulter. AnschlieBend traten Paresen und spas- tische Zeichen auf, so dab die Diagnose myatrophe Lateralsklerose gestellt werden mul3te. Einige Monate sparer erkrankte die linke Schulter in der gleichen Folge. An vegetativen StSrungen bestanden Durchblntungs- und Sehweil~sekretionsano- malien. Beide H/~nde waren gerStet und fiebrig warm. RSntgenaufnahmen der Schultern zeigten eine Osteoporose der gelenknahen Knochen und eine Verschm~le- rung des Gelenkspaltes. In den folgenden Monaten schritt die myatrophe Lateral- sklerose rasch fort und ergriff bulb~re Kerngruppen. Der ankylosierende Gelenk- prozel3 trat auch an den Ellbogen- und Handgelenken auf.

WILD 11. )/~ADLENER fanden bei 18~o ihrer Patienten mit myatropher Lateral- sklerose St6rungen des Gelenkapparates im Sinne einer chronischen Arthritis bzw. Spondylarthrosis, teilweise auch St6rungen der Hautdurchblutung und der SchweiB- sekretion. Diese Schaden seien durch die spastischen und schlaffen Motilit/itsstSrun- gen und durch lokale vegetative Dysregulationen bedingt. Eine konstitutionelle Bereitschaft sei die erste Voraussetzung fiir die Entstehung arthritischer oder arthrotischer Gelenkerkrankungen bei der myatrophen Lateralsklerose.

Nach den Ergebnissen dieser Arbeit ist anzunehmen, daft ein Tell der bei mya. tropher Lateralsklerose relativ h~iu/ig au/tretenden ehronischen Knochen- und Gelenk- erkrankungen dureh die Degeneration vegetativer Ganglienzellen des Ri~ckennvarkes bedingt ist.

Dtsch. Z. Nervenheilk., Bd. 179 4

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L. R. MULLER zeigt in ,,Lebensnerven und Lebenstriebe" das Bild eines Mannes mit myatropher Lateralsklerose, dem das Hautpigment an den Streckseiten beider I-I~nde bis zur Mitte des Handrfickens in symmetrischer Anordnung fehlte, wobei die Haut welch und empfindlich und die Haare briichig waren.

Diese H i n w e i s e in de r L i t e r a t u r u n d e igene k l in ische B e o b a c h t u n g e n

m a c h t e n es wf inschenswer t , an e inem grSBeren a u t o p t i s c h e n Ma te r i a l die q u a n t i t a t i v e n Verh/~ltnisse zwischen den k l in i schen Ze ichen ges tS r t e r

B i n d e g e w e b s t r o p h i k u n d d e m Ausfa l l y o n N e r v e n z e l l e n des R i i cken-

m a r k e s u n t e r be sonde re r Be r i i ck s i ch t i gung der v e g e t a t i v e n Zel len des

Se i t enho rnes zu u n t e r s u c h e n . V o n J a n u a r 1950 bis J u l i 1954 w u r d e n fo lgende P a t i e n t e n aufge-

n o m m e n :

Diagnose ]Manner] Frauen Zu- I ' S a l l l n l e n

Myatrophe Lateralsklerose Myatrophe Lateralsklerose,

Beginn mit Bulb/~rparalyse Spinale Muskelatrophie Spastische Spinalparalyse

39 14

4 10 15 4

6 1 i

64 29

53

14 19 7

93

Zum Vergleich sei die Hi~ufigkeit der disseminierten Encephalomyelitis mit 420 und die der spinalen Tumoren mit 49 Patienten in derselben Zeit genannt.

D ie 93 in de r Tabe l l e ange f f ih r t en K r a n k e n w e r d e n in 3 G r u p p e n

e inge te i l t :

L Gruppe. 4 P a t i e n t e n m i t v e g e t a t i v e n S t S r u n g e n im k l in i schen Bf ld

de r m y a t r o p h e n La te ra l sk le rose u n d m i t D e g e n e r a t i o n e n de r Gangl ien- zel len des Se i t enhornes im R a h m e n des sp ina len Prozesses 1.

Fall 1. G. L., Akte Nr. 22710/50. Mit 55 Jahren bekam Frau L. nach einer an- strengenden Arbeit eine Schwache in der linken Hand und ziehende Schmerzen im linken Unterarm. In 5 Monaten entwickelte sich das Bild einer Sudeckschen Dystro- phie. Die linke Hand war kiihl und feucht, die Haut atrophisch. Das Unterhaut- gewebe fiihlte sich teigig an. Das Wachstum der N~gel war gest61~ (Abb. 1). Die Gelenke des linken Armes und der Hand waren in ihrer Beweglichkeit eingeschr/inkt. Pathologische Reflexe konnten nicht ausgel5st werden. Die Patientin wurde ohne Erfolg mit Bienengift, HeiBluft, Bindegewebemassagen und Stellatumblokaden behandelt. Nach 13 Monaten zeigten RSntgenaufnahmen glasartige Atrophien des Skeletes der linken Hand mit einer Verschm~lerung der Corticalis (Abb. 1). Auf- nahmen der Schulterknochen ergaben /~hnliche Ver/~nderungen. Zu dieser Zeit wurde Frau L. wiederum 9 Wochen lang sehr aktiv behandelt und schlieBlich mit dem Verdacht auf eine zentralnervSse Erkrankung in die neurologische Klinik verlegt.

: Von den 4 Patienten dieser und den l0 der folgenden Gruppe wurde das formolfixierte Riickenmark untersucht. Die Lokalisation der Zellausfiille eines jeden Falles habe ich skizziert und nach dem Vorgehen von KALM von allen 14 Patienten zusammen in eine Serie von schematischen Zeichnungen der Riickenmarkssegmente iibertragen (Abb. 4).

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Hier konnte die Diagnose myat rophe Lateralsklerose gestellt werden. Es be- s tand eine Tetraspastik. Muskelatrophien wurden am linken Arm und an beiden H~nden gefunden. Die Sudecksche Dystrophie t r a t in dieser Zeit auch am rechten Arm auf. Die Untersuchung des Riickenmarkes ergibt einen fast vollst~ndigen

Abb. 1. Fall 1, G. L. Sudecksche Dystrophie der H~ncle

Schwund der Ganglienzellen des Vorderhornes und der Clarkeschen S/~ule und einen Markscheidenzerfall in den Pyramidense i tenbahnen ab L 4 und geringer in beiden Vorderstr/~ngen ab D 5 und im Bereich der Tractus rubro- und reticulospinales. Im Seitenhorn des oberen Brustmarkes und im Winkel zwischea Vorder- und Hin te rhorn des unteren Halsmarkes besteht ein ausgepr/~gter Schwund vegetat iver I~ervenzellen, der Ms eine Bedingung der Sudekschen Dystrophie beider H/~nde

4*

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und Arme angesehen wird. Dariiber hinaus ist eine Degeneration vegetativer Zellen in S 4 und S 3 und yon L 1 an aufw~rts zu verfolgen (Abb. 2 4 ) .

Fall 2. M. H., Akte Nr. 982/50. Fall 3. H. K., Akte Nr. 4645/52. Bei diesen Kranken lautet die Diagnose eben-

falls: Sudecksche Dystrophie bei myatropher LatcrMsklerose.

Abb. 2. Fall 1, G. L. (~bersichtsbild roll D 3. Ganglienzellschwund ill den Vorderh6rncrn und im liuken Seitenhorn. Farbung: Kresylviolett.

i m histologischen Bild sind aui3er dem Befall yon Vorderh5rnern und Pyramiden- bahnen ausgepr~gte Degenerationen der SeitenhOrner und Clarkeschen S~ulen zu finden. Bei Fall 3 besteht ein geringer Markseheidenschwund in den HinterstrKngen des oberen Sacral- und unteren Lendenmarkes.

Fall 4. F. H. (Krankenbla t t eines ausw/~rtigen Krankenhauses). Bei der 32- j~hrigen Frau lautete die Diagnose: Paraly~iseher Ileus unklarer Genese. Bei hefti- gen Klagen fiber Bauchschmerzen war der Leib welch und nicht druckschmerzhaft. zweimal wurde Frau H. im Abstand yon 7 Tagen laparatomiert . Der einzige patholo- gische Befund warcn die schlaffen und weiten Darmschlingen und die stark dila- t ierte Harnblase.

Die Untersuchung des Riickenmarkes ergab eincn iiberraschendcn Befund: Einen hochgradigen Schwund der motorischen Vorderhornzellen, der Zellen der Clarkeschen S~ule und des Seitenhornes in fast allen geschnittenen Segmenten.

I I . Gruppe . 10 P a t i e n t e n (Fall 5--14) m i t m y a t r o p h e r L a t e r a l s k l e r o s e ,

be i d e n e n d ie h i s t o l o g i s c h e U n t e r s u c h u n g n e b e n d e n S c h / i d i g u n g e n i m

V o r d e r h o r n u n d in d e n P y r a m i d e n b a h n e n a u c h D e g e n e r a t i o n e n d e r

C l a r k e s c h e n S ~ u l e n u n d d e r S e i t e n h 6 r n e r ze ig t . I m k l i n i s c h e n B i ld be-

s t a n d e n k e i n e d e u t l i c h e n v e g e t a t i v e n S t 6 r u n g e n .

Zu dem wohlbekannten histologischen Befund der myatrophen Lateralsklerose kommen bei allen 10 F~llen Degenerationen der Clarkcschen S~ule und des Seiten- homes. Bei 4 Pat ienten ist die Clarkesche S~ule fast in ihrer ganzen Ausdehnung

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so hochgradig degeneriert, dab nur einzelne restliehe Zellen gefunden werden. In den Prgparaten der iibrigen 6 Fglle sind in versehiedenen Segmenten kleine Zell- gruppen erhalten, in anderen nut auf einer Seite pathologische Befunde zu erheben.

Abb. 3. Fal l 1, G. L. F a s t v611iger Gang l i enzenschwund i m Se i tenhorn yon D 10. F ~ r b u n g : K r e s y l v i o l e t t

W~hrend in verschiedenen Segmenten die zellreichen SeitenhSrner mi t der fast ganglienzellosen fibrigen grauen Substanz einen auff~lligen K o n t r a s t bilden, unterscheiden sich in den meisten anderen die Degene- ra t ionen des Sei tenhornes nach Art und Ausmal3 n ich t yon denen in Vorderhorn u n d Clarkescher S£ule.

III . Gruppe. Myatrophe Lateralsklerose ohne histologische Unter - suchung bei 79 Pa t i en ten . Von diesen werden 10 erw~hnt, bei denen vegetat ive StSrungen festgestellt wurden.

Fall 15. V. v. S., Akte Nr. 19675/49. Nach 5j~hrigem Verlauf der myatrophen Lateralsklerose standen bei einer erneuten Untersuchung des 50j~hrigen Mannes nicht mehr die Muskelatrophien des rechben Armes, der Hand und Sehulter im Vordergrund des klinischen Bildes, sondern die Symptome einer Sudeckschen Dystrophie an dem paretischen Arm. Die Finger waren geschwollen, die N~gel hart und briiehig, die Gelenkkonturen verstrichen, das Gewebe ftihlte sich schlaff und welch an. Das Schulter- und das Armgelenk versteiften nahezu vSllig. R6ntgen- aufnahmen zeigten eine Osteoporose an den Knoehen der Hand und der Sehulter.

Fall 16. A. B., Akte Nr. 14178/51. Bei der chroniseh verlaufenden myatrophen Lateralsklerose mit Bulb~rparalyse traten naeh 6 Jahren bei dem 45j~hrigen Mann vegetative St6rungen der H~nde und FtiBe auf. Die Haut war teigig angeschwollen, kiihl und feucht, die N~gel waren spr6de und rissig.

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Eine stark vermehrte Schweifl- und Speichelbildung wurde bei der 81j~hrigen A. S., Fall 17, Akte Nr. 6776/53, bei einer myatrophen Lateralsklerose mit Tetra- spastik und bulb~rer Symptomatik beobachtet.

5 Patienten (Fall 18--22) boten vegetative StSrungen an den Beinen, teils 0deme, teils eine brKunliche Pigmentierung der Waden und eine trockene und abschilfernde Haut.

Bei dem 55j~hrigen J. T., Fall 23, Akte Nr. 20634/50, war die Haut beider H~nde sehr derb und 5dematSs.

Mit einer Ausnahme bestanden bei diesen 6 Patienten auch Muskelatrophien an den mit vegetativen StSrungen behafteten Gliedmai~en.

Fall 24. Der 58j~hrige O. S., Akte Nr. 17366/51, litt unter Atrophien im Bereich des Schultergiirtels und beider Oberarme. An vegetativen St6rungen bestanden schwere arthrotische Ver~nderungen im rechten Schultergelenk.

Die vegetativen St6rungen der letzten 7 Patienten diirfen hier nur mit kritischem Vorbehalt angefiihrt werden. Nur wenn durch eine griindliche Untersuchung eine Erkrankung anderer Organsysteme, z. B. des Herzens und Kreislaufes bei Bein- 5demen, ausgeschlossen ist, kann mit mehr l~echt yon vegetativen StSrungen bei der myatrophen Lateralsklerose gesprochen werden.

MARBURG und andere haben auf die Disproportion zwischen Muskel- a t roph ien und Degenera t ionen im Rf ickenmark hingewiesen. Dieses Mi~verh£1tnis is t bei der Gegenfibers te l lung von vege ta t iven StSrungen und Ausfa l l vege t a t i ve r Gangl ienzel len besonders auff~llig. Wi ihrend schon eine geringe Degenera t ion im Vorderhorn Muskelseh/iden bedingt , scheint dem E ind ruck nach ein sti~rkerer Ausfal l vege ta t ive r Zellen nStig zu sein, um den per ipheren vege ta t iven Schaden manifes t zu machen.

So konn t en wir bei l0 Pa t i en t en Degenera t ionen im Sei tenhorn finden, jedoch keine deut l ichen vege ta t iven St6rungen im kl inischen Bild. Bei G . L . (Fal l 1) en t sp r ich t der Sudeckschen Dys t roph ie be ider oberen E x t r e m i t ~ t e n der Ausfal l vege ta t ive r Nervenzel len im un te ren Hals- und oberen Brus tmark . Dar i ibe r h inaus is t eine Degenera t ion der Seiten- hornzel len aueh im Lenden- und un te ren B r u s t m a r k zu finden, ffir die jedoeh das kl inische Bi ld keine en tspreehenden S y m p t o m e an R u m p f und Beinen bot. Wi r vermuten , da~ andere Teile des vege ta t iven Nerven- sys tems, z . B . der Grenzs t rang, die F u n k t i o n e n der Sei tenhornzel len f ibernehmen kSnnen.

Diese Ve rmu tung wird auch durch die therapeutische Beein/lussung vege ta t ive r S tSrungen nahegelegt . Bei G. L. (Fal l 1) ha t t e die Therap ie mi t Massagen, W~rmezufuhr , S t e l l a tumbloekaden usw. keinen Einflu8 auf die Sudecksehe Dys t rophie . Bei V. v. S. (Fal l 15) dagegen t r a t nach mi lder Hydro - und Bewegungs therap ie eine ers taunl iche Besserung der Bewegl ichkei t der vers te i f ten Armgelenke und der vege ta t iven Hau t - ver i inderungen ein. Bei F r a u G. L. ver l ief der ProzeB subaku t bis zum Tode, 2 J a h r e naeh Beginn der Sudeckschen Dyst rophie . I n den zugehS- r igen Segmenten des Hals- und Brus tmarkes fand sich ein fast vollst~n- d iger Ausfa l l der Sei tenhornzel len. Bei V. v. S. dagegen ver l ief der m y a t r o p h e Prozel~ ehronisch fiber 4 J a h r e und blieb dann w~hrend der

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Ausbildung der Sudeckschen Dystrophie fiber 1 Jabr station/~r. Der Patient konnte nach der Behandlung der Sudeckschen Dystrophie ge- bessert entlassen werden. Eine Besserung der Muskelatrophien war nicht eingetreten.

Abb. 4. Schemat i sche Ze ichnungen yon Rf ickerm~arksquersc lmi t ten in t t6he yon C 8, D 4, L 1. Die schraf f ie r ten Felder beze ichnen die L a g e u n d A u s d e h n u n g tier Degenera t ionen bei 14 P a t i e n t e n i m Vorderhorn und in der Clarkesehen St~ule, die k a r i e r t e n Gebie te die Aus-

ft~lle v e g e t a t i v e r Ganglienzel ten (s. A n m e r k u n g S. 50)

Naeh diesen Befunden k6nnen wir die Degeneration im Seitenhorn nur als ein Glied in einem Bedingungsgeffige ansehen. Eine systematisehe Untersuchung des Grenzstranges bei der myatrophen Lateralsklerose kSnnte zeigen, ob auch dieser Tell des vegetativen Nervensystems an dem Krankheitsprozel] beteiligt ist. Beim Uberblick fiber die Zellaus- f/~lle im Rfickenmarksgrau fgllt auf, daB' nicht nur in den VorderhSrnern, sondern auch in den Clarkesehen S/~ulen und den Seitenh6rnern der Untergang der Ganglienzellen fleekf6rmig diskontinuierlieh stattfindet. Einzelne Segmente und Segmentgruppen sind wesentlich st/irker be- troffen als vorangehende und folgende (fragmentierte Degeneration BERTRANDS U. VAN BOGAERTS).

Zusammenfassung Im klinischen Bild der myatrophen Lateralsklerose wurden bei 14

yon 93 Patienten neben Muskelatrophien und spastisehen Zeichen vege- tative StSrungen der tIaut und des Unterhautfettgewebes, der Gelenke und Knochen gefunden. Diese Beobachtungen veranlaBten die Frage, ob die Erkrankung des Rfiekenmarkes eine Bedingung ffir die vegetativen St6rungen sei.

Die mikroskopische Untersuchung des l~fickenmarkes yon 14 Parian- ten zeigte, dab der degenerative Prozeg nicht auf die motorisehen Kern- gebiete und die Pyramidenbahnen besehr/~nkt blieb, sondern aueh die vegetativen Zellen des Seitenhornes, die Clarkesche S/~ule und in der weiflen Substanz Stranggebiete auBerhalb der Pyramidenbahnen befiel.

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56 OTTO A. BRINK:

Diese B e f u n d e b e l e g e n die A u f f a s s u n g , d a b d ie m y a t r o p h e L a t e r a l -

sk le rose n i c h t e ine e l e k t i v e E r k r a n k u n g des w i l l k t i r l i chen m o t o r i s c h e n S y s t e m s is t .

D ie E r k r a n k u n g des S e i t e n h o r n e s , d ie i m R i i c k e n m a r k v o n 14 P a t i e n -

t e n g c f u n d e n w u r d e , w i r d f i i r t i n m o r p h o l o g i s c h e s S u b s t r a t d e r v e g e t a -

t i v c n S t 6 r u n g e n be i d e r m y a t r o p h e n L a t e r a l s k l e r o s e g e h a l t e n .

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Vegetative StSrungen bei der myatrophen Lateralsklerose 57

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Dr. O. A. BRINK, Zentralkrankenhaus, Hohenasperg (Wiirttemberg)

Dtsch. Z. Nervenheilk., Bd. 179 4a


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