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Goethe-Universität Frankfurt / Main Fachbereich 8: Philosophie SoSe 2010 Seminar: Markt und Moral. Karl Polanyi und die Folgen Dozent: A. Honneth Modul: VM3b Karl Polanyi und der Neoliberalismus Zur Entwicklung von liberalem Kredo und gesellschaftlicher Doppelbewegung Jan Schiller Marie-Alexandra-Straße 46 76135 Karlsruhe [email protected] Fachsemester: 6 Matr. Nr.: 3477627

Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

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In seinem Hauptwerk „The Great Transformation“ von 1944 beschreibt Karl Polanyi den gesellschaftlichen Strukturwandel am Beginn der Moderne. Die tiefgehenden Umwälzungen hin zum liberalistischen Marktsystem bedeuteten ein großes Maß an persönlichem und gesellschaftlichem Leid, weshalb es auch immer wieder Bestrebungen gab, die negativen Auswirkungen des Marktmechanismus zu begrenzen. Diese kollektivistischen Strömungen bildeten zusammen mit der Implementierung des modernen Marktsystems eine Doppelbewegung, die für Polanyi den zentralen Begriff der Gesellschaftstransformation des 19. Jahrhunderts darstellt. Es sollen nun im Folgenden die historischen Grundlagen und die Struktur dieser Doppelbewegung eingehend dargestellt und die theoretische Konzeption Polanyis verdeutlicht werden. Im Anschluss daran soll der Versuch unternommen werden, einen historischen und theoretischen Bezug zwischen dem klassischen Liberalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts und dem sogenannten Neoliberalismus des letzten Jahrhunderts herzustellen, indem beide in ihren Grundzügen und folgenreichen Anwendungen untersucht werden. Anhand der Kontinuitäten und Korrekturen des Neoliberalismus soll dann mit Hilfe Polanyis Ansatz gezeigt werden, warum das liberalistische Marktsystem in seinen theoretischen Grundzügen keine Weiterentwicklung erfahren hat und die negativen Folgen des Marktmechanismus unverändert auftreten.

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Goethe-Universität Frankfurt / Main Fachbereich 8: Philosophie SoSe 2010 Seminar: Markt und Moral. Karl Polanyi und die Folgen Dozent: A. Honneth Modul: VM3b

Karl Polanyi und der Neoliberalismus Zur Entwicklung von liberalem Kredo und gesellschaftlicher Doppelbewegung Jan Schiller Marie-Alexandra-Straße 46 76135 Karlsruhe [email protected] Fachsemester: 6 Matr. Nr.: 3477627

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Inhalt: 1. Marktsystem und Doppelbewegung 1

1.1 Das ökonomische System der Marktwirtschaft 1

1.2 Die Warenfiktion 2

1.3 Der Selbstschutz der Gesellschaft 3

2. Die Geburt des liberalen Kredo 7

3. Neoliberalismus 13

3.1 Kontinuitäten und Korrekturen 13

3.2 Neoliberale Politik in der Bundesrepublik 19

4. Abschlussbetrachtung 22

Literatur 24

Page 3: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

In seinem Hauptwerk „The Great Transformation“ von 1944 beschreibt Karl Polanyi den

gesellschaftlichen Strukturwandel am Beginn der Moderne. Die tiefgehenden Umwälzungen

hin zum liberalistischen Marktsystem bedeuteten ein großes Maß an persönlichem und

gesellschaftlichem Leid, weshalb es auch immer wieder Bestrebungen gab, die negativen

Auswirkungen des Marktmechanismus zu begrenzen. Diese kollektivistischen Strömungen

bildeten zusammen mit der Implementierung des modernen Marktsystems eine

Doppelbewegung, die für Polanyi den zentralen Begriff der Gesellschaftstransformation des

19. Jahrhunderts darstellt. Es sollen nun im Folgenden die historischen Grundlagen und die

Struktur dieser Doppelbewegung eingehend dargestellt und die theoretische Konzeption

Polanyis verdeutlicht werden. Im Anschluss daran soll der Versuch unternommen werden,

einen historischen und theoretischen Bezug zwischen dem klassischen Liberalismus des

ausgehenden 19. Jahrhunderts und dem sogenannten Neoliberalismus des letzten

Jahrhunderts herzustellen, indem beide in ihren Grundzügen und folgenreichen

Anwendungen untersucht werden.

Anhand der Kontinuitäten und Korrekturen des Neoliberalismus soll dann mit Hilfe Polanyis

Ansatz gezeigt werden, warum das liberalistische Marktsystem in seinen theoretischen

Grundzügen keine Weiterentwicklung erfahren hat und die negativen Folgen des

Marktmechanismus unverändert auftreten.

1. Marktsystem und Doppelbewegung

1.1 Das ökonomische System der Marktwirtschaft

Eine Marktwirtschaft bezeichnet nach Polanyi ein System, das ausschließlich von Märkten

gesteuert, geregelt und kontrolliert wird.1 Historisch ist das moderne

Marktwirtschaftssystem einmalig, die Idee eines sich selbst regulierenden Marktes war

gerade dort, wo die größten Märkte entstanden waren, am weitesten entfernt.2 Alle

dagewesenen Systeme hatten sich auf verschiedene Formen von Zentralverwaltung von

Distribution und Produktion gestützt, und alle vorhandenen Formen von Märkten waren in

1 Polanyi, Karl: The Great Transformation, S. 102. 2 Polanyi bezieht sich aufgrund der politischen Vorreiterrolle und der anschaulichen Extreme der Entwicklung im Folgenden stets auf die Entwicklungen in Großbritannien. Um Unklarheiten zu vermeiden beziehen sich alle folgenden historischen Darstellungen ebenso auf Großbritannien, sofern nicht anders angegeben.

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das Gesellschaftssystem integriert.3 Das liberalistische Marktsystem nun beruht auf einer

Reihe von Annahmen, die sich auf nahezu alle Bereiche der Gesellschaft auswirken.

Der augenfälligste Bereich ist die entbettete Wirtschaft: Die Produktion von Gütern und ihre

Verteilung werden im Liberalismus dem Marktsystem selbst überlassen. Der zentrale Aspekt

der Marktwirtschaft ist daher der Preis, der den Wert aller Güter innerhalb des Systems

bestimmt. Verschiedene Formen von Preisen decken alle Formen wirtschaftlicher Interaktion

und Handel ab. Das System fungiert in der Annahme als Selbstregulativ, da die gesamte

Produktion am Markt handelbar ist und auch die Einkommen aus diesen Verkäufen

entstehen.4 Weitere Annahmen beziehen sich auf die Rollen von Staat und Politik: Um die

Funktion des Systems zu gewährleisten, darf es nichts geben, was die die Bildung von

Märkten verhindern würde, ebenso darf kein Einkommen existieren, dass nicht durch

Verkäufe erzielt wurde.5 Des Weiteren dürfen keine politischen Maßnahmen die

Geschehnisse an den Märkten beeinflussen, es sei denn zu dem Zweck, die Selbstregulierung

des Marktes zu sichern. Dies kann nur dadurch geschehen, den Markt zum einzigen

bestimmenden Faktor des Wirtschaftssystems zu machen.6 Daraus folgt, dass auch drei der

zentralsten Aspekte der Gesellschaft dem Marktsystem unterworfen werden müssen: Arbeit,

Boden und Geld.

1.2 Die Warenfiktion

Die Unterwerfung von Arbeit, Boden und Geld unter die Macht des Marktes bedeutet nichts

anderes, als sie in eine Ware zu transformieren, die für den Markt produziert und an diesem

gehandelt wird. Diese Transformation kann allerdings nicht vollständig durchgeführt werden,

da weder Arbeit noch Boden noch Geld für den Markt produziert werden. Arbeit ist nur ein

Synonym für menschliche Tätigkeit, die konstitutiver Bestandteil des Lebens ist, sie kann

nicht von diesem abgetrennt werden. Boden ist gleichfalls ein Synonym für die Natur, die

kein Produkt menschlichen Schaffens ist. Geld wiederum ist nur ein Symbol für die Kaufkraft

3 Ebd. 4 Ebd. S. 103. 5 Ebd. S. 103. 6 Ebd.

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und wird selbst nur durch das Bankwesen oder Staatsfinanzen erschaffen.7 Daher ist der

Begriff Ware im Bezug auf Arbeit, Boden und Geld für Polanyi rein fiktiv, er spricht von einer

Warenfiktion.

Die Fiktion der Waren Arbeit, Boden und Geld kann in der Gesellschaft nicht völlig aufrecht

erhalten werden, da die natürlichen Entsprechungen, die wirklichen Gegenstände

menschliche Tätigkeit, Natur und Kaufkraft nicht der Künstlichkeit des Marktsystems

unbeschadet ausgesetzt werden können. Die völlige Transformation in Waren hätte nach

Polanyi die Zerstörung der Gesellschaft und der Natur zur Folge.8 Arbeitskraft als Ware kann

nicht verschoben, unterschiedslos eingesetzt oder ungenutzt gelassen werden, ohne den

jeweiligen Träger der Arbeitskraft zu beeinträchtigen. Außerdem müsste der Mensch als

Träger vollständig dem Marktmechanismus ausgesetzt werden, da er ja zwangsweise mit

seiner Arbeitskraft als Ware zusammenhängt.9 Dasselbe gilt für die Natur als reelle

Entsprechung der Ware Boden: Sie würde auf ihre Bestandteile reduziert und damit

Verschmutzung und Zerstörung ausgesetzt werden, die die Reproduktionsfähigkeit der

Bevölkerung vernichten würde. Mit der Ware Geld verhält es sich ähnlich, auch wenn für

ihre Entsprechung, die Kaufkraft, die Existenz eines Handelssystems vorausgesetzt werden

muss. Wirtschaftsunternehmen würden aufgrund von periodischem Geldmangel und

Geldüberfluss in verheerendem Ausmaß zu Grunde gehen.10 Daher sind in einem

marktwirtschaftlichen System zwar Märkte für Arbeit, Boden und Geld notwendig, doch

kann eine Gesellschaft die Belastung durch die Warenfiktion nur verkraften, wenn sich in ihr

Schutzstrukturen gegen eben diese bilden.

1.3 Der Selbstschutz der Gesellschaft

Ein Jahrhundert lang, vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis an den Vorabend des ersten

Weltkriegs, war die Gesellschaft von der zentralen Doppelbewegung geprägt: Die durch die

Vermarktlichung der fiktiven Waren hervorgerufenen Schutzfunktionen der Gesellschaft

stellten die Gegenströmung zu den sich ständig erweiternden Märkten dar.11 Im Gegensatz

7 Ebd. S. 107. 8 Ebd. S. 108. 9 Ebd. 10 Ebd. S. 109. 11 Ebd. S. 182.

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zu den „normalen“ defensiven Reaktionen einer Gesellschaft auf Veränderungen handelte es

sich bei dieser Gegenströmung allerdings um eine echte Schutzfunktion. Dies ist vor allem in

der Tiefe begründet, mit der die Implementierung des Marktsystems an der Substanz der

Gesellschaft schürfte. Ohne diesen Schutz wären die durch das Marktsystem geschaffenen

Produktivkräfte, also die arbeitende Bevölkerung, durch dieselben Marktmechanismen

aufgerieben worden.12

Polanyi sieht die Erkenntnis zuerst von Robert Owen postuliert, dass eine sich selbst

überlassene Marktwirtschaft große und permanente gesellschaftliche Missstände

hervorrufen muss. Owen erkannte, dass Produktion durch ein Zusammenwirken von Mensch

und Natur entstand. Wenn die Produktion nun einem selbstregulierenden Marktsystem

unterworfen wurde, so musste dies zwangsweise auch die Unterwerfung von Mensch und

Natur als Waren unter das Marktsystem zur Folge haben.13

Schon hier ist erkennbar, worauf

das System der Marktwirtschaft hinauslaufen muss: Die Enteignung des Menschen als einem

Selbstzweck durch das herrschende Wirtschaftssystem. Im Gegensatz zur Vormoderne ist

nicht mehr die Arbeit das Mittel zum Zweck der Reproduktion des Menschen, sondern der

Mensch wird zum Mittel des Zwecks der Produktion. Aber nicht nur der Mensch und die

Natur, sondern auch das kapitalistische Produktionsprinzip selbst unterliegt der

Warenfiktion. Nach der klassischen Geldtheorie stellt Geld nur ein repräsentatives Gut für

andere Waren dar, um den Handel zu erleichtern.14 Dieses Gut ist im 19. Jahrhundert das

Gold, und daher müssen Banknoten auch ein symbolischer Ersatz für Gold sein. Das Gold

allerdings unterscheidet sich als Zahlungsmittel nicht von anderen Waren, das heißt es

bestehen Angebot und Nachfrage, und es darf ihm kein anderer Charakter als der eines

repräsentativen Zahlungsmittels zugewiesen werden.15 Die Schaffung einer Währung

außerhalb des Marktes wäre ein Gegensatz zum Marktsystem selbst. Damit nun das

Geldwesen vor den Eingriffen des Staates geschützt wird, regelt eine Zentralbank die

Ausgabe von Geld, damit die Selbstregulierung des Markts gewährleistet wird.16 Hierin

12 Ebd.: Polanyi bleibt an dieser Stelle etwas vage, er beschreibt eine Art Zugrundegehen des Menschen durch das gesellschaftliche ausgesetzt sein. Sie würden seiner Ansicht nach Opfer akuter Zersetzung der Gesellschaft und würden an Laster, Perversion, Verbrechen und Hunger sterben. Polanyi geht an anderer Stelle näher darauf ein, dass der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Institutionen, hervorgerufen durch die ungebremste Anwendung von Marktmechanismen, ein Zustand ohne jede soziale Kontrolle heraufbeschwören kann, der dann die obigen Folgen mit sich bringt. Vgl. dazu auch Polanyi, a. a. O., S. 217-222. 13 Ebd. S. 183. 14 Ebd. S. 184. 15 Ebd. S. 184. 16 Ebd.

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besteht nun das Paradox der Warenfiktion: Es wurden Fabrik- und Sozialgesetze nötig, um

den Menschen vor den Auswirkungen der Warenfiktion zu schützen, Bodengesetze und

Agrarzölle zum Schutz der natürlichen Ressourcen und ländlichen Kulturen, und ebenso war

ein zentrales Bankwesen von Nöten, um die Schädigungen durch die auf das Geld

angewandte Warenfiktion zu verhindern. Nicht nur Mensch und Natur, auch die

Organisationsweise der kapitalistischen Produktion selbst musste vor den Folgen des

selbstregulierenden Marktsystems geschützt werden.17 Da es sich dabei um aktive

Maßnahmen gesellschaftlicher Akteure handelte, spricht Polanyi von einem

Interventionismus.18

Um die Fragen zu klären, woher die interventionistischen Maßnahmen stammten und durch

wen sie umgesetzt wurden, ist der Begriff der Klasse für Polanyi zentral. Die soziale

Differenzierung des 19. Jahrhunderts fügt sich in etwa in drei große Klassen ein: Die

Landbesitzer, das Bürgertum und die Arbeiterschaft.19 Ihre Rollen bestimmten sich

weitestgehend durch ihre Interessenübereinstimmung mit den verschiedenen

gesellschaftlichen Funktionen.20 Dabei stehen sich die Klassen oft in wechselnden Konflikten

gegenüber, je nachdem wie stark sie von den verschiedenen Auswirkungen ihrer Interessen

betroffen wurden.

Das Bürgertum war die treibende Gruppe hinter der sich entfaltenden Marktwirtschaft: Das

Geschäftsinteresse deckte sich zu großen Teilen mit dem allgemeinen Interesse an

wirtschaftlichem Wohlstand. Jedoch unterschied der Liberalismus des Bürgertums seinem

Wesen nach natürlich nicht zwischen profitorientiertem und privatem Handeln. Die

Ausweitung des Markts auf alle Bereiche der Gesellschaft hatte aber vor allem für die

anderen Klassen negative Folgen, wie etwa die physische Ausbeutung des Arbeiters, die

Zerstörung der nicht profitgeleiteten Beziehungen und die Verwüstung der natürlichen

Güter. Durch seinen quasi-religiösen Glauben an die Förderung des Wohlstands durch den

Profit war das Bürgertum nicht in der Lage, andere, nicht profitgeleitete Interessen zu

vertreten, die für ein gutes Leben21 ebenso wichtig waren wie die Ausweitung der

Produktion.

17

Ebd. S. 185. 18 Ebd. S. 183. 19 Ebd. S. 185. 20 Der Klassenbegriff Polanyis ist dabei im Gegensatz zum Marx’schen Modell weit weniger starr. 21 Ebd. S. 186. Polanyi spezifiziert den Begriff nicht genauer. Allerdings spricht die Formulierung für einen Glücksbegriff, in dessen Zentrum nicht der materille Besitz steht. Daher lehnt er auch die populäre liberale

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Die durch das allgemeine Wahlrecht zu eigener Stimme gekommene Arbeiterklasse stellte

einen neuen Faktor im gesellschaftlichen Ringen um Einfluss dar. Sie war auf natürliche

Weise eine Heimat für all jene Interessen, die nicht mit der Organisation der Produktion

zusammenhingen, Polanyi spricht von allgemeinen menschlichen Interessen.22 Zusammen

mit dem Landadel fällt der Arbeiterklasse zum Beispiel die Wahrung der militärischen

Fähigkeiten des Staates zu, da die Erfordernisse des Krieges nach Polanyi noch weitgehend

auf die Ressourcen Boden und Menschen ausgerichtet war.23

Da die Klassen der Arbeiterschaft und des Landadels im größten Umfang von der durch die

Transformation des Wirtschaftssystems hervorgerufene Warenwerdung von Arbeit und

Boden betroffen waren, waren es auch ihre Angehörigen, die die Gegenbewegung zur

Markterweiterung maßgeblich trugen. Die Klassenkonflikte des 19. Jahrhunderts sind daher

nicht die Quelle einer gesellschaftlichen Gegenbewegung, auch wenn diese in weiten Teilen

von typischen Klasseninteressen geprägt war. Letzten Endes war sie ein

gesamtgesellschaftliches Interesse, auch wenn ihre Durchführung mal mehr dem einen oder

anderen Teil der Gesellschaft zufiel.24 Durch die Komplexität der gesellschaftlichen

Zusammenhänge wurde jede der Klassen ebenso zum Träger der Interessen anderer Klassen,

auch wenn dies teilweise unbewusst geschah.25

Ansicht ab, dass die von der Marktwirtschaft geschlagenen Lücken in der Kultur (den etablierten Formen des Zusammenlebens der Menschen) sich mit ökonomischem Wohlstand auffüllen lassen. 22 Ebd. S. 186. 23Teilweise dagegen sprechen die Ansichten von Fuller, nach dem das 19. Jahrhundert gerade eben die neue Form des Wirtschaftskriegs hervorbringt. Auch er ist überzeugt, dass die Ausweitung der Märkte einen Verfall des kulturellen Lebens mit sich führte, doch sieht er gerade in dieser Entwicklung auch eine verheerende Evolution der Kriegsführung. Nicht nur werden Märkte als moderne Schlachtfelder genutzt, auch die Kriegsstrategien verschieben sich hin zu einem Abwägen zwischen Wirtschafts- und Militärkonflikt. Allerdings fällt es nach wie vor den unteren Schichten, damit auch der sich neu herausgebildeten Arbeiterklasse zu, die Masse der Soldaten zu stellen. Daher ist in diesem Bereich ein differenzierterer Blick nötig. Vgl. dazu: Fuller, J. F. C.: Die Entartete Kunst Krieg zu führen, S. 83ff. 24 Polanyi, a. a. O., S. 223. 25

Ebd. S. 186. An späterer Stelle verweist Polanyi darauf, dass gesellschaftliche Entwicklungen, zumal vom Ausmaß der Marktliberalisierung, nicht einfach aus dem klassenspezifischen Interesse einer einzelnen Klasse heraus erklärt werden können. Die Ursache einer Veränderung ist stets eine äußere (wie Klimaveränderung oder Krieg), die Umsetzung dann das Werk von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Die Herausforderung einer neuen Situation betrifft jeweils die gesamte Gesellschaft und ihre einzelnen Gruppen auf unterschiedliche Weise, die dann ihrem Interesse entsprechende Lösungsstrategien entwickeln. Die Antwort der Gesellschaft auf die neue Situation ergibt sich folglich aus dem Wirken der einzelnen Klassen. Vgl. dazu: Ebd. S. 210f.

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2. Die Geburt des liberalen Kredo

Das liberale Kredo bedeutet für Polanyi die Rechtfertigungsgrundlage des

Wirtschaftsliberalismus, gleichsam der Glaube an die heilsbringende Wirkung des freien

Marktsystems. Es ist das zentrale Anliegen Polanyis zu zeigen, dass dieser Glaube eine

Utopie darstellt, da das marktliberale System in sich selbst den Hang zur Zerstörung der

Lebensgrundlage birgt und dass der Marktliberalismus in seiner Anwendung schwere Folgen

für große Teile der Bevölkerung hat. Um aber zu verstehen, wie der Marktliberalismus trotz

dieser schwerwiegenden Folgen für die große Masse der Menschen zum weltweit

vorherrschenden Organisationsprinzip werden konnte, muss seine Genese genauer

betrachtet werden.

Wichtig ist zuerst einmal die dominante Ansicht im 19. Jahrhundert, dass ein

selbstregulierendes Marktsystem die natürliche Folge expandierender Märkte sei. Polanyi

unterstellt den Zeitgenossen Naivität, da sie nicht erkannten, dass das selbstregulierende

System vielmehr die Folge von künstlichen Anreizen war, die an das Gesellschaftssystem

herangeführt wurden.26 Diese neuen Anreize wiederum wurden durch die vom

Maschineneinsatz beschleunigte Produktion hervorgerufen.27 Die Existenz von Märkten ist

für Polanyi mit Verweis auf ethnologische Untersuchungen für das Vorhandensein einer

Volkswirtschaft belanglos.28 Die Ansicht einer natürlichen Entwicklung des

selbstregulierenden Marktsystems entbehrt daher jeder Grundlage. Aufgrund der

Profitaussichten in der herrschenden Produktionsweise wurde die Ansicht geboren, dass ein

Abbau von bürokratischen Strukturen vorteilhaft für die wirtschaftliche Entwicklung sei.

Daraus entwickelte sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Begriff des Laissez-faire, doch

war dieser zu jener Zeit noch in keiner Weise mit dem Gedanken an ein selbstregulierendes

Marktsystem verknüpft.29 Nach Polanyis Ansicht war der Wirtschaftsliberalismus erst in den

1820er Jahren soweit vorangeschritten, dass er die zentralen Aspekte der Marktsystems

26 Ebd. S. 89. 27 Mit dem Einsatz von komplizierten Maschinen entsteht ein neuer Produktionstyp, die Manufaktur. Da allerdings die Zunftverfassungen in den deutschen Städten diese Konkurrenz verhindern wollten, bildeten sich die neuen Manufakturen vor allem in See-Exporthäfen und auf dem Land außerhalb des städtischen Einflussbereichs. Dies kann allerdings noch nicht als Beispiel der Doppelbewegung gesehen werden, da eher um die normalen Schutzinteressen einer bestehenden gesellschaftlichen Struktur handelt. Vgl. dazu Schütz, Rosalvo: Die abstrahierende Dynamik der modernen Gesellschaft, S. 127. 28 Ebd. S. 90. 29 Ebd. S. 187.

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umfasste: Einen Arbeitsmarkt, einen automatisierten Geldschöpfungsmechanismus in Form

des Goldstandards und den Freihandel.30 Auch entwickelte sich der glühende Eifer, mit dem

der Wirtschaftsliberalismus von seinen Befürwortern im Bürgertum in die Welt getragen

wurde, erst mit der Zeit. Der Fanatismus im Glauben an die heilsbringende Wirkung des

selbstregulierenden Marktsystems entstand erst mit dem Gegendruck, mit dem sich die

Gesellschaft gegen die Folgen dieses Systems zu schützen suchte. Das gewaltige Ausmaß des

Leids, das den Menschen aufgebürdet werden sollte und die Tiefe der gesellschaftlichen

Umwälzungen erforderten bei seinen Befürwortern ein religiöses Festhalten am

Liberalismus.31

Diese Entwicklung ist vor allem ab den 1830er Jahren sichtbar. Als Beispiel fungieren bei

Polanyi an dieser Stelle die alten Armenrechtsgesetze und ihre Abschaffung, die den

Stimmungsumschwung in dieser Phase abbilden.32 Die alten Gesetze der Armenfürsorge, die

die ausschließliche Bindung der Arbeitereinkommen an ihre Leistung und damit einen freien

Arbeitsmarkt behinderten, standen dem Marktliberalismus im Wege und sollten daher außer

Kraft gesetzt werden. Jedoch war man angesichts der tiefgreifenden Veränderung und des

abzusehenden Leids für die arbeitende Bevölkerung dafür eingetreten, die Angleichung des

Rechts an die Erfordernisse des Marktsystems langsam und in Stufen zu vollziehen. Nach

dem politischen Sieg des Bürgertums in England im Jahr 1832 wurde die Neufassung des

Armenrechts jedoch in seiner extremsten Form und ohne Verzögerung in Kraft gesetzt.

Somit war aus dem deregulierenden Prinzip des Laissez-faire ein politischer Vorgang

kompromissloser Härte geworden.33 Allerdings wurde nicht nur im Bereich der Arbeit das

akademische Interesse34 in die Tat umgesetzt, auch in den anderen beiden kritischen

Bereichen Währung und Handel wurde offensichtlich, dass nur die völlige Transformation

des bestehenden Systems in die Kategorien des Marktliberalismus wirksam war. Durch die

vom sich selbst überlassenen Markt gestiegenen Lebenshaltungskosten und gesunkenen

Reallöhne wurde eine gesunde Währung zu einem Prinzip des Wirtschaftsliberalismus, und

die Aufrechterhaltung des bereits eingeführten Goldstandards bedurfte nicht weniger als

30

Ebd. S. 188. 31

Ebd. S. 187. 32 Ebd. S. 190. 33 Ebd. 34 Ebd. Der Ausdruck macht deutlich, dass mit dem politischen Sieg des Bürgertums die kompromisslose Umsetzung des Marktliberalismus einsetzte, wobei die auch vorher teilweise bekannten äußerst negativen Folgen für die betroffenen Teile der Bevölkerung in zynischer Weise in Kauf genommen wurden.

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einen Akt des Glaubens.35 Gleiches galt für den Freihandel: Man war der Ansicht, dass die

Nahrungsmittelversorgung durch Importe es ermöglichen würde, zu unschlagbaren Preisen

in Großbritannien zu produzieren. Diese voraussetzungsreiche und mit schweren

Konsequenzen verbundene Ansicht konnte sich nur deshalb durchsetzen, da alle drei

Faktoren Arbeit, Währung und Handel ein zusammenhängendes Ganzes bilden und die zu

erbringenden Opfer in jedem der Bereiche umsonst gewesen wären, wären die anderen

Bereiche nicht mit der gleichen Kompromisslosigkeit den Erfordernissen des Marktsystems

angeglichen worden. Daher ging es für die Wegbereiter des Liberalismus um alles oder

nichts.36 Nicht weniger als ein selbstregulierender Markt in weltweitem Maßstab war

erforderlich, um das Funktionieren des Systems zu gewährleisten, weshalb in allen

wesentlichen Bereichen das Recht an die Erfordernisse angepasst wurde. Aufgrund der

enormen Risiken und Gefahren dieses Unterfangens ist es für Polanyi nicht verwunderlich,

dass der Wirtschaftsliberalismus zu dieser Zeit die Form einer säkularen Religion annahm.37

Aber nicht nur der Wirtschaftsliberalismus als Modell, auch seine politische Entsprechung

Laissez-faire war etwas durch und durch Künstliches und musste vom Staat selbst

durchgesetzt werden. Somit wurden in der 1830er und 40er Jahren nicht nur viele Gesetzte

zur Aufhebung von Marktschranken erlassen, sondern auch eine Zentralbürokratie

aufgebaut, die eine wichtige Rolle für jene Güter spielte, die außerhalb des Marktes

einfacher zu produzieren waren: Bildung und Wissenschaft.38 Im zeitgenössischen

utilitaristischen Denken war der Wirtschaftsliberalismus ein soziales Anliegen, der das

größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl an Menschen hervorbringen sollte. Daher

war das Laissez-faire nicht ein Mittel zum Zweck, sondern selbst Zweck.39 Allerdings

bedeutete der Abbau von restriktiven Regelungen keinesfalls einen Abbau von Bürokratie.

Um das Marktsystem funktionsfähig zu halten, waren unzählige neue Formen von

Administration nötig, was sogar eine Ausweitung der Interventionen bedeutete.40 Auf diese

Weise waren die Vertreter des Marktliberalismus dazu gezwungen, paradoxer Weise den

35 Ebd. S. 191. 36 Ebd. 37 Ebd. S. 192. 38

Ebd. S. 193. Polanyi bezieht sich an dieser Stelle auf Jeremy Bentham, der der Ansicht war, dass der Privatmann von den drei zum wirtschaftlichen Erfolg nötigen Eigenschaften Neigung, Wissen und Macht nur die Neigung besaß. Wissen und Macht konnten seiner Meinung nach durch die Exekutive deutlich kostengünstiger eingesetzt werden als durch private Unternehmer, daher sollten sie im Aufgabenbereich der Regierung verbleiben. In diesem Sinne wandelt sich das Parlament in ein zentrales Verwaltungsorgan. 39 Ebd. 40 Ebd. S. 194.

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Staat mit mehr statt weniger Organen und Instrumenten auszustatten, um die Durchsetzung

des Laissez-faire zu sichern.

Ein weiteres Paradox wurde nach Polanyi erstmals von Dicey41 entdeckt: Die Politik des

Laissez-faire wurde durch staatliche Intervention in das Wirtschaftssystem installiert, die

Gegentendenz der Einschränkung von Marktmechanismen, der oben genannte

Interventionismus, war jedoch spontan.42 Die marktbeschränkenden Vorhaben traten dabei

in der Gesetzgebung selbst auf, ohne dass es vorher in der öffentlichen Meinung

irgendwelche Trends in diese Richtung gegeben hätte. Wenn es irgendwelche

„kollektivistischen“43 Strömungen gab, dann nur als Folge eben jener Gesetze. Daraus folgert

Polanyi, dass die gesetzgeberischen Akte zur Einschränkung des Marktliberalismus rein

spontane, pragmatische und nicht von der öffentlichen Meinung gelenkte Antworten auf

dessen Folgen waren.44 Die Doppelbewegung bestand also auf der einen Seite aus

geplantem staatlichen Eingriff zur Ausweitung der Marktfreiheit und auf der anderen Seite

aus einer pragmatischen, spontanen Antwort auf die fatalen Auswirkungen der sich

entfaltenden Marktwirtschaft.

Für Polanyi drehen sich die zentralen Punkte des liberalen Kredo um die Interpretation

dieser gesellschaftlichen Doppelbewegung. Im Sinne des Marktliberalismus, der Laissez-faire

für eine natürliche Entwicklung hielt, mussten die späteren Anti-Laissez-faire-Gesetze eine

planmäßige Aktion von ideologischen Gegnern des Liberalismus sein. 45 Mit dieser

Interpretation steht und fällt für Polanyi die gesamte Rechtfertigungsstrategie des

Liberalismus, weshalb diese auch im Folgenden in mehreren Schritten dekonstruiert wird.

In der Ansicht liberaler Autoren46 waren Akte des Protektionismus gegen den

Marktliberalismus Folgen von Ungeduld, Habgier oder Kurzsichtigkeit, ohne die das

Marktsystem die auftretenden Probleme selbst gelöst hätte. Dieses bis heute stets

wiederkehrende Argument wird von Polanyi anhand mehrerer Punkte widerlegt. Hierin liegt

die historisch-logische Verbindung zwischen dem Wirtschaftsliberalismus des 19.

Jahrhunderts und modernen marktliberalen Argumentationen. Im späteren Verlauf der

Arbeit wird der Versuch unternommen werden, anhand Polanyis Dekonstruktion den

41

Ebd. S. 195. Polanyi bezieht sich an dieser Stelle auf: Dicey, Albert Venn.: Lectures on the relation between law and public opinion in England during the nineteenth century (2nd Edition), London 1914. 42 Ebd. S. 195. 43 Polanyi übernimmt diese Vokabel von Dicey, gemeint sind dem Laissez-faire konträr gestellte Ansichten. 44 Ebd. 45 Ebd. S. 196. 46 Ebd. Polanyi nennt an dieser Stelle Spencer, Summer, von Mises und Lippmann.

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immanenten Trugschluss aller liberalen Ansätze aufzuzeigen. Dazu ist allerdings erst die auf

die historischen Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts bezogene Darstellung Polanyis zu

beleuchten.

Polanyi prognostizierte, dass die 1920er bis 40er Jahre im Rückblick das Ende des

selbstregulierenden Marktes darstellen würden.47 Während in den zwanziger Jahren das

Prestige des Wirtschaftsliberalismus auf seiner höchsten Stufe angekommen war, begann

danach eine stete Abkehr bis hin in die extremen Formen des europäischen Faschismus und

Kommunismus. Nach dem ersten Weltkrieg war der Glaube an die Heilsamkeit des

selbstregulierenden Marktes so stark, dass keines der furchtbaren Ereignisse schwer genug

wiegen konnte, einen Umschwung einzuleiten. Die Widerherstellung der Währungsstabilität

nach dem Zusammenbruch durch die sogenannte Weltwirtschaftskrise war das höchste Ziel

aller Politik, dem alle anderen untergeordnet waren.48 Um dies zu erreichen, war kein Mittel,

und mochte es noch so grausame Konsequenzen für Teile der Bevölkerung haben, ungenutzt

zu lassen. Nicht einmal der Abbau verfassungsmäßiger Rechte und Freiheiten wurde als zu

schwerwiegend empfunden, wenn es um die Aufrechterhaltung der Währungsstabilität ging.

In den 30er Jahren stellte sich in gewissen Bereichen ein Stimmungsumschwung ein.

Großbritannien und die Vereinigten Staaten verließen den Goldstandard und zwangen

andere Staaten zur Abkehr. In den 40er Jahren war man zwar vom monetären Grundsatz

abgewichen, hielt aber in den anderen Bereichen des Handels und der

Produktionsorganisation an den liberalistischen Methoden fest. Denn auch die

Auswirkungen des zweiten Weltkriegs konnten die über ein Jahrhundert lang gefestigten

Wirtschaftsordnungen nicht einfach umstoßen.49 Dies führte zu der Situation, dass das

Prinzip des Laissez-faire zwar auf einer Ebene versagte, dieser Umstand aber nicht seine

Glaubwürdigkeit in den anderen Bereichen zerstörte. Aus ihr heraus konnte sich das bis

heute in ähnlicher Form vorgebrachte liberale Argument befeuern, dass die unvollständige

Anwendung der liberalen Grundsätze die Ursache aller im Marktsystem auftretenden

Schwierigkeiten sei. Nicht das System selbst verursachte die negativen Folgen, sondern

vielmehr die Intervention in das Marktgeschehen. Daher scheint es kaum verwunderlich,

dass die Vertreter des Liberalismus in der kollektivistischen Gesetzgebung am Ende des

neunzehnten Jahrhunderts die Machenschaften einer antiliberalen Bewegung sahen. Da sich

47 Ebd. S. 196. 48 Ebd. S. 197. 49 Ebd.

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dafür aber beim besten Willen keine Beweise finden ließen, zog man sich auf die praktisch

unwiderlegbare These zurück, dass es sich um eine konspirativ-unterschwellige Aktion

gehandelt habe.50 In dieser Überzeugung sieht Polanyi den Mythos der antiliberalen

Verschwörung begründet, die die Interpretation der gesellschaftlichen Doppelbewegung

durch den Liberalismus wiedergibt. Die Feinde des Liberalismus sahen seine Anhänger in

Monopolisten, Agrarinteressen und Gewerkschaften, die vor allem im heraufziehenden

Nationalismus und Sozialismus eine Stärkung erfuhren. Allerdings ignoriert diese Ansicht die

immense Bandbreite an verschiedenen Formen kollektivistischer Gegenströmungen, die

keineswegs nur dem politischen Interesse an Nationalismus oder Sozialismus entsprungen

waren. Daher ist die antiliberale Verschwörung für ihn nichts weiter als eine bloße

Erfindung.51 Vielmehr liegen die wahren Ursachen der Gegenbewegung wie nationaler

Protektionismus in den offenbar gewordenen Schwächen und Gefahren des Systems selbst.

Hierfür findet er genügend Hinweise. Wie schon erwähnt, war die immense

Verschiedenartigkeit der Gegenströmungen größer als es das Interesse einer einzelnen

gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse hätte sein können. Außerdem entstanden

kollektivistische Regelungen oftmals spontan und ohne jede antiliberale Absicht, sondern

lediglich zur Lösung der durch den Marktliberalismus auftretenden Probleme.52 Und zum

dritten wurden diese Regelungen in den verschiedenen Ländern von jeweils ganz

unterschiedlichen Gruppen durchgesetzt, entsprechend den jeweiligen politischen

Verhältnissen. Trotzdem kann für alle europäischen Staaten, wenn auch zeitlich verzögert,

ein Trend hin zu kollektivistischen Gesetzgebungen beobachtet werden, wie etwa die

Erlassung von Arbeiterrechten und Sozialversicherungen.53 Am schwersten wiegt aber das

Argument, das Vertreter des Wirtschaftsliberalismus zu verschiedenen Zeiten und in

unterschiedlichen Situationen selbst für die Errichtung von Einschränkungen der

Vertragsfreiheit und des Laissez-faire eintraten, wie etwa beim Koalitionsrecht für Arbeiter

oder beim Gesetz für Wirtschaftskonzerne zur Erzielung höherer Preise.54 Dieser Umstand

weist auf ein zentrales Paradoxon innerhalb des Liberalismus hin: Die Prinzipien von Laissez-

faire und des selbstregulierenden Marktes konnten in einigen Situationen unvereinbar sein,

und man entschied sich in dieser Zeit stets für Reglementierung und Restriktion, um die

50 Ebd. S. 200. 51 Ebd. S. 201. 52 Ebd. S. 203. 53 Ebd. 54 Ebd. S. 204f.

Page 15: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

Selbstregulierung des Markts zu erhalten. Damit erhält auch der Begriff Interventionismus

eine neue Bedeutung, mit dem die Anhänger des Liberalismus stets die Vorhaben ihrer

Gegner zu bezeichnen pflegten, der aber nach Polanyi nur umso mehr die Verworrenheit

ihres Denkens aufzeigt.55 Das Gegenteil von Laissez-faire ist der Interventionismus, doch

kann Laissez-faire wie gesehen nicht mit Wirtschaftsliberalismus gleichgesetzt werden. Denn

wie gezeigt wurde, ist staatlicher Eingriff notwendig, um den selbstregulierenden Markt erst

zu installieren und dann aufrecht zu halten. Daher ist das von den Liberalen gebrauchte

Schlagwort des Interventionismus nach Polanyi eine hohle Phrase, die zur Verurteilung von

Handlungsweisen verwendet wird, die in anderen Zusammenhängen ebenso von Liberalen

gefordert und durchgesetzt wurden.56

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass das liberale Kredo von einer

geplanten kollektivistischen Gegenbewegung oder sogar einer antiliberalen Verschwörung

blanker Unsinn war und das ebenso der angeprangerte Interventionismus keine antiliberale

Handlungsweise darstellte, da die Politik des Laissez-faire und das Organisationsprinzip des

Marktliberalismus konkurrierende Handlungsweisen hervorriefen. Aufgrund dieser

Entwicklungen in der von Polanyi prognostizierten Endphase des selbstregulierenden

Marktes entstand in verschiedenen akademischen Kreisen der Versuch einer Neuausrichtung

des Wirtschaftsliberalismus. Um einen historischen und inhaltlichen Zusammenhang

zwischen den Auffassungen und politischen Entscheidungen des klassischen Liberalismus

und seinen heutigen Formen herzustellen, ist eine Darstellung des sogenannten

Neoliberalismus nötig, insbesondere seine Umsetzung in der deutschen Nachkriegsordnung.

3. Neoliberalismus

3.1 Kontinuitäten und Korrekturen

Der Begriff des Neoliberalismus ist eine in der heutigen Zeit vielseitig und vielmals

verwendete Vokabel, die in den 1930er Jahren geprägt wurde und in den 1970er und 80er

Jahren eine Art Renaissance erlebte. Um ihre Entwicklung und die Formen ihrer politischen

Umsetzung nachzuvollziehen, soll eine kurze Darstellung ihrer Genese gegeben werden. Um

55 Ebd. S. 206. 56 Ebd. S. 206.

Page 16: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

anschließend den historischen und inhaltlichen Bezug zum späteren Begriff des

Neoliberalismus und seinen politischen Anwendungen herzustellen, soll der Fokus dabei auf

die sogenannte Freiburger Schule und die Umsetzung neoliberaler Lehren im

Nachkriegsdeutschland begrenzt werden, obgleich auch in den Vereinigten Staaten und

Großbritannien ähnliche Tendenzen zu beobachten waren.

In Deutschland entwickelte sich die neoliberale Lehre in den 1930er Jahren um die

Freiburger Schule unter dem Titel des Ordoliberalismus, aber auch in Chicago, London und

Österreich gab es ähnliche Bestrebungen. Die Grundprinzipien sind ihnen allen jedoch

ähnlich, da das Versagen des Laissez-faire-Liberalismus kein nationales Phänomen darstellte.

Angesichts der riesigen Probleme, denen sich die liberalistischen Wirtschaftssysteme im

Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 gegenübersahen, waren Bestrebungen zur

Neuausrichtung der liberalistischen Theorie kaum verwunderlich. Wie oben bereits

beschrieben war man ohnehin bereits von einigen Grundsätzen der klassischen liberalen

Lehre im Zuge des ersten Weltkriegs abgewichen, wie der Zusammenbruch des

Goldstandards und weitreichende staatliche Interventionen. In Deutschland sollte das neue

liberale Kredo vor allem die Anerkennung der Notwendigkeit staatlicher Intervention zur

Aufrechterhaltung eines freien Marktes und die Abkehr vom Laissez-faire bedeuten, wie

etwa von Alexander Rüstow Anfang der 30er Jahre propagiert. 57 Ein starker Staat und

liberale Wirtschaftspolitik waren seiner Ansicht nach zwei sich gegenseitig bedingende

Strukturen. Im Rückblick auf Polanyis Darstellung war die Intervention aber ohnehin bereits

die Praxis auch liberaler Politik seit dem späten 19. Jahrhundert gewesen. Daher kommt die

Forderung nach einem starken Staat oberhalb der Wirtschaftsinteressen gerade mal einem

Eingeständnis der Praxis der Vergangenheit gleich. Allerdings dürfe aus Sicht der Liberalen

die Intervention keinesfalls soweit gehen, dass der Markt politischer Lenkung unterworfen

würde. Für hochentwickelte, stark arbeitsteilige Gesellschaften stehen für den Liberalen

Walter Eucken allerdings nur die beiden Systeme der Marktwirtschaft und des

Kollektivismus, also der Planwirtschaft, zur Verfügung. 58 Seiner Ansicht nach wären im

Sozialismus die Grundsätze des Rechtsstaats außer Kraft gesetzt, da freier

Wirtschaftsprozess und Rechtsstaat für ihn untrennbar verbunden sind. 59 Ganz im Tenor der

bürgerlichen Lehren ist das Recht auf Privateigentum die Grundlage des Rechtsstaats, denn

57

Rüstow, Alexander: Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftspolitischen Liberalismus, S. 258. 58 Ebd. S. 144. 59 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 130.

Page 17: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

ohne dieses Recht kann keine Marktwirtschaft zustande kommen. Die sozialistische

Produktionslenkung könne auch deshalb nicht dem Rechtsstaat entsprechen, da im

sozialistischen System der Anteil Aller an den Produktionsmitteln nur formaljuristisch

bestehe und in Wirklichkeit in der Hand äußerst weniger Funktionäre verteilt sei, wie

Wilhelm Röpke60 konstatierte (worin ihm die Geschichte der „vulgärmarxistischen“61 Regime

des 20. Jahrhunderts recht gab).

So knüpft der Neoliberalismus grundsätzlich an den klassischen Liberalismus im Sinne einer

freien Marktwirtschaft als bestimmendes Prinzip der Produktionsorganisation an. Allerdings

hatte man sich eingestanden, dass das Marktsystem ohne Kontrolle auch keinen

heilsbringenden Automatismus darstellt, sondern vielmehr ein hochfragiles System, dessen

Funktionieren von einem außerhalb des Marktes gelegenen Verwaltungsapparat gesichert

werden muss. Die Wirtschaftspolitik des Staates sollte auf die Gestaltung der

Wirtschaftsordnung gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses.62 In

diesem Sinne ist es Aufgabe des Staates, als Marktwächter die immanenten Krisenherde des

marktwirtschaftlichen Systems, wirtschaftliche Machtgruppen wie Monopole und Kartelle,

aufzulösen oder ihren Einfluss zu beschränken.63 Dies führt alles auf den Grundsatz hin, dass

eine gegenseitige konstitutive Bedingung zwischen einer Wettbewerbsordnung und einem

funktionierenden Staat bestehe.64

Der Neoliberalismus löste nun zwar das zentrale Problem des Widerspruchs zwischen

Laissez-faire und selbstregulierendem Marktsystem, allerdings zog er aus der Geschichte

keine weiteren Lehren. Anhand Polanyis Kritik am klassischen Liberalismus lässt sich zeigen,

dass der Neoliberalismus vor allem eins war: Ein um den festen Glauben an die

Naturgesetzlichkeit von menschlich geschaffenen Strukturen beschnittener klassischer

Liberalismus. Ohne den Ballast der wissenschaftlich unhaltbaren These von der

Naturgesetzlichkeit der Entstehung eines Marktsystems ließ sich die Hoffnung auf die

60

Röpke, Wilhelm: Civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, S. 74. 61 Polanyi, a. a. O., S. 209. Polanyi führt diesen Begriff als Bezeichnung der primitiven Klassentheorie marxistischer Parteien ein, denen er unterstellt, ein auf die Ökonomie fixiertes Marxbild zu prägen, dass an der seiner Ansicht nach eigentlich die Totalität der Gesellschaft beschreibenden Philosophie Marx vorbeigeht. Durch den ökonomischen Bezug und die spätere propagandistische Verwertung des marxistischen Klassenbegriffs kann der Begriff meines Erachtens nach auf die Frühphase der 1922 gegründeten UdSSR verwendet werden, insbesondere in Anbetracht der totalitären Umsetzung des ökonomischen Konzepts im Zuge der Revolution, dass die Natürlichkeit der Ablösung des kapitalistischen Systems durch das kommunistische bei Marx ad absurdum führt. 62 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 336. 63 Ebd. S. 334. 64 Ebd. S. 338.

Page 18: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

Segnungen durch das Marktsystems weitaus besser anpreisen. Perfider Weise wurde das

größte Hindernis dieses Unterfangens, nämlich die katastrophalen Konsequenzen des

Marktsystems für die Gesellschaft im 19. Jahrhundert, einfach geleugnet.65 Dies geschah vor

allem aus dem Zweck heraus, den Mythos von der antiliberalen Verschwörung glaubwürdig

zu machen, der alle Schuld an den gesellschaftlichen Missständen vom marktliberalistischen

System nehmen sollte. Der Mythos konnte nur aufrecht erhalten werden, wenn man

glaubhaft machen konnte, dass es nie eine Notwendigkeit zum Schutz der Gesellschaft vor

den Auswirkungen des Marktes gegeben hatte.66 Also behauptete man, dass es nie eine

frühkapitalistische Katastrophe gegeben habe, da es nach den Maßstäben des

wirtschaftlichen Wohlergehens, den Reallöhnen und der Bevölkerungszahl, keinen Grund zu

dieser Annahme gäbe. Die arbeitenden Klassen seien wirtschaftlich sogar die Gewinner der

Marktwirtschaft gewesen, und daher könne es keinen Grund geben, einen Schutz gegen ein

System zu errichten, dass allen nütze.67

Da jedoch soziales Elend ein primär kulturelles und nicht ökonomisches Phänomen darstellt,

kann es nicht mit den beiden ökonomischen Maßstäben abgebildet werden.

Landvertreibung, Kinderarbeit, Zwangsarbeit in Fabriken, Hunger und Elend der industriellen

Revolutionsphase wurden somit einfach aus dem Gedächtnis der Marktwirtschaft verbannt,

und es sollte so aussehen, als sei die Vernichtung der ländlichen Kultur ein natürlicher

Evolutionsprozess hin zu einer effektiveren Produktionsweise. Die durch die Warenwerdung

von Arbeit und Boden zerstörten kulturellen Strukturen, die ein kulturelles Vakuum

hinterließen, waren nach Ansicht Polanyis der wichtigste Faktor für das Elend zwischen dem

18. und dem 19. Jahrhundert.68 Durch die Brille der Ökonomie betrachtet sind diese

Faktoren jedoch unsichtbar, und der Wirtschaftsliberalismus wäre rehabilitiert.

Das liberale Kredo entledigte sich auf diese Weise des naturwissenschaftlichen Mantels des

19. Jahrhunderts und kleidete sich bei seiner Anwendung im Nachkriegsdeutschland in das

Gewand der vermeintlich sozialen Marktwirtschaft. Um zu zeigen, in welchem Umfang sich

der Neoliberalismus im Nachkriegsdeutschland manifestierte, soll kurz auf sein Verhältnis

65 Polanyi: a. a. O., S. 215. Polanyi bezieht sich an dieser Stelle auf die Ansicht verschiedener Wirtschaftshistoriker im 19. Jahrhundert, doch bezog man sich auch zur Zeit der Entstehung von The Great Transformation in den 1940er Jahren auf diese Darstellung. Der Neoliberalismus musste zwar nicht versuchen, das Laissez-faire-System zu rehabilitieren, aber die gesellschaftliche Katastrophe war ja vor allem Folge der Warenfiktion des Wirtschaftsliberalismus und ihrer Folgen für den menschlichen Lebensraum, also eine Folge des selbstregulierenden Marktsystems im Allgemeinen. 66 Ebd. 67 Polanyi, a. a. O., S. 216. 68 Siehe dazu: Ebd. S. 218.

Page 19: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

zum Wohlfahrtstaat, zur pluralistischen Massengesellschaft und zur Demokratie

eingegangen werden.

In der liberalen Lehre ist die Freiheit des Einzelnen logischer Weise mit der

Eigenverantwortung für die Sicherung des eigenen Unterhalts verbunden. In ihrer Ansicht

bedeutet staatliche Unterstützung durch ein Wohlfahrtssystem nichts anderes, als

denjenigen, der mit seinen Mitteln dafür aufkommt, um seinen Ertrag zu bringen. Ob dies

mit Hilfe eines vermittelnden Staates oder direkt geschieht, macht dabei prinzipiell keinen

Unterschied. Der helfende Staat mache sich nach Ansicht Röpkes sogar zum

Erfüllungsgehilfen desjenigen, der es auf den Ertrag eines anderen abgesehen hat, weshalb

ein wohlfahrtsstaatliches System abzulehnen sei.69 Dies entspricht der Genese des

klassischen Liberalismus, der um der Installation des freien Marktsystems willen die alten

Armenrechtsgesetze der Ständegesellschaft über Bord warf und damit den Status des Armen

vom mittelalterlichen Gesellschaftsmitglied zum arbeitsunwilligen Landstreicher änderte.

Auch hier zeigt sich also eine Kontinuität, auch wenn der Neoliberalismus ein Minimum an

staatlicher Zwangsvorsorge als notwendig erachtet, um die durch die Marktwirtschaft

bewirkte Lösung sozialer Bindungen auszugleichen. Allerdings geht es dabei natürlich nie um

den Gedanken der gerechten Güterverteilung innerhalb der Gesellschaft, da dies durch den

Marktmechanismus gewährleistet sein soll. Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen dürften

folglich nur zur Linderung akuter Not eingesetzt werden, da sonst der Tüchtige um den

Erfolg seiner Arbeit gebracht werde. Die völlige Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen

Schließungsmechanismen und Kanälen sozialer Mobilität ist bezeichnend, sie zeigt gerade im

Bezug zum Sozialstaat das latent darwinistische Konzept des Menschen in der

liberalistischen Theorie. Die Tüchtigkeit ist die Grundlage des Vermögens, die Faulheit und

Arbeitsscheu der Habitus des Armen. Diese an den sozialen Realitäten vorbei gehende

Interpretation des Menschen in der modernen Gesellschaft gehört bis heute zum innersten

Wesen der liberalen Lehre. Diese überdauerte Grundhaltung zeigt sich ebenso im Verhältnis

des Neoliberalismus zur Demokratie. In der pluralistischen Massengesellschaft fehlt in der

Sicht der Liberalen die eindeutige Trennung zwischen Ökonomie und Staat. Die

Demokratisierung, das heißt das Eins werden von Staat und Volk gefährde ihrer Meinung

nach die freiheitliche Marktordnung, da sich der Wille der Massen schnell hin zu

kollektivistischen Formen wenden könne. Die gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere die

69 Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 253.

Page 20: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

durch das allgemeine Wahlrecht zu politischem Gewicht gekommene Arbeiterklasse,

gefährdeten in der Sicht der Neoliberalen den freien Markt mit Hilfe des Staats, da sie stets

versuchten, ihn zur Umsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen zu nutzen. Dies führe weiter

zu einem Autoritätsverlust des Staates, da er nicht mehr unparteiisch das Gesamtinteresse

durchsetzen könne. Die Selbstherrlichkeit dieser Ansichten ist offensichtlich nahezu maßlos.

Gesamtinteresse wird hier mit liberalem Interesse an einer freien Marktwirtschaft

gleichgesetzt, und der Versuch der betroffenen, sich mit Hilfe des Staats vor den Folgen

dieser zu schützen, wird als Bedrohung gebrandmarkt. Analog zur Leugnung der

frühkapitalistischen Katastrophe wird nun die Gegenbewegung als eine Bedrohung für

Gemeininteresse und Rechtsstaat gesehen, da dieser wie oben gezeigt in der neoliberalen

Theorie mit dem Vorhandensein einer freien Marktwirtschaft gleichgesetzt wird. Zwar wurde

die Entwicklung der modernen Marktwirtschaft von allen gesellschaftlichen Gruppen

getragen, doch waren die negativen Konsequenzen des Systems ja keineswegs auf alle diese

Gruppen gleichmäßig verteilt. Mit Rückgriff auf das darwinistische Erläuterungsschema von

Armut und Vermögen war es allerdings möglich, in ignoranter bis zynischer Weise (da man ja

sehr wohl die soziale Realität beobachten konnte) das Interesse der vermögenden Schicht

als das Gemeininteresse zu verkaufen, da durch das von bürgerlichen Liberalen maßgeblich

entwickelte Marktsystem der materielle Wohlstand durch höhere Produktivität gemehrt

wurde. Natürlich darf der Begriff der Schicht beziehungsweise Klasse an dieser Stelle nicht zu

eng gesehen werden, denn aus allen Klassen gab es, wie oben gesehen, stets Unterstützung

auch für die natürlich erscheinenden Ziele anderer. Vielmehr soll die Darstellung zeigen, dass

der liberale Grundsatz der Marktverantwortlichkeit für die Distribution des gesellschaftlichen

Wohlstands natürlich von eben jenen Gruppen gefördert wird, die am meisten davon

profitieren, und Versuche dieses System einzudämmen von ihnen als Gefahr angesehen

werden.

Page 21: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

3.2 Neoliberale Politik in der Bundesrepublik

Welche Folgen dieses Verständnis von Eigenverantwortung im Zusammenhang mit der

Realität von sozialen Schließungsmechanismen hervorbringt, zeigt die Umsetzung

neoliberaler Ansätze im Wirtschaftssystem der Nachkriegsordnung in Deutschland. Dazu

vorangestellt ein kurzer Abriss dieser Umsetzung: Das System der sozialen Marktwirtschaft,

das unter dem ersten Wirtschaftsminister Erhard zur Anwendung kam, entsprang

maßgeblich der Feder von Alfred Müller-Armack und den bereits bekannten Alexander

Rüstow und Wilhelm Röpke. Sie war also prinzipiell aus dem Gedankengut des Neo-

beziehungsweise Ordoliberalismus geformt.70 Das zentrale Organisationsmittel der sozialen

Marktwirtschaft blieb daher der Wettbewerb, nur wurde dem klassischen

Marktmechanismus die Sozialpolitik an die Seite gestellt, die die negativen Folgen für den

Einzelnen, die aus dem Marktsystem entspringen, abfedern sollte. Dies geschah vor allem

aus Gründen der höheren Akzeptanz, da im frühen Nachkriegsdeutschland durchaus

antikapitalistische Tendenzen sichtbar waren.71

Daher wird von der Sozialen Marktwirtschaft auch oft als einem dritten Weg zwischen

klassischem Liberalismus (und der Politik des Laissez-faire) und den sozialistischen

Zentralverwaltungswirtschaften des dritten Reichs und der Sowjetunion gesprochen.72

Die für den Neoliberalismus festgestellte Ablehnung des Wohlfahrtsstaates wurde zu großen

Teilen übernommen, was die Bezeichnung „sozial“ der Marktwirtschaft zu einer Phrase

verkommen lässt. Denn wie von den Neoliberalen gefordert erfüllt die Sozialpolitik nicht die

Funktion der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit, sondern nur die Linderung akuter

Not. Soziale Gerechtigkeit soll dabei durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der

Marktwirtschaft erreicht werden.73 Um wenigstens den Anschein von sozialer

Verantwortung zu wahren, soll die Marktfreiheit in solchen Fällen beschränkt werden, in

denen sozial unerwünschte Folgen auftreten. Denn im Ganzen gesehen erfährt die

Sozialpolitik in der sozialen Marktwirtschaft eine restriktive Auslegung: Sie darf zwar in

gewissem Umfang die Ergebnisse der Marktwirtschaft korrigieren (d.h. für die Schäden

70

Böhret, Carl: Innenpolitik und politische Theorie, Opladen 1979, S. 40. 71

Ebd. Böhret verweist an dieser Stelle auf die Länderverfassungen von Hessen (1946) und Nordrhein-Westfalen (1950) (Art.38ff HVerf bzw. Art. 27 Verf. NRW). Dort werden vor allem gesetzliche Grundlagen für die Enteignung von Monopolen und solchen wirtschaftlichen Machtzusammenballungen legitimiert, die die soziale oder politische Ordnung gefährden. 72 Ebd. S. 41. 73 Ebd. S. 42.

Page 22: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

aufkommen), aber nicht aktiv und zielbewusst in die Wirtschafts- oder Sozialordnung

eingreifen.74 Nun könnte man postulieren, dass die geschichtliche Entwicklung des

Nachkriegsdeutschland dem System der angeblich sozialen Marktwirtschaft Recht gäbe, da

es in den 1950er Jahren eine Phase extensiven Wachstums und Wohlstandsproduktion

erfuhr.75 Dieser Umstand ist jedoch aus mehreren Gründen äußerst ambivalent zu

betrachten: Zum einen waren die industriellen Produktionsstätten durch den Krieg weit

weniger der Zerstörung anheimgefallen als die Wohngegenden und das Lohnniveau war

nach dem Zusammenbruch des dritten Reichs ein sehr niedriges.76 Zum anderen wurde die

deutsche Wirtschaft mit Hilfe der amerikanischen Gelder aus dem ERP künstlich

aufgezogen.77

Dass die soziale Marktwirtschaft kein Wunder der Geschichte darstellt und die

Konsequenzen des freien Marktmechanismus auch in dieser leicht abgewandelten Form sich

nicht automatisch zum Guten wenden, zeigt die Entwicklung ab den 1960er Jahren. Da nun

nicht mehr die äußerst günstigen Voraussetzungen für einen expandierenden Markt

gegeben waren, wurde aus dem extensiven Wachstum (Ausdehnung gleichermaßen des

Personals und des Produktionsvolumens) ein kapitalintensives.78 Die dazu erforderlichen

Finanzmittel kamen nun allerdings nicht mehr aus amerikanischen Wiederaufbautöpfen,

sondern mussten eigenständig am Kapitalmarkt beschafft werden. Dies führte vor allem

kleine Unternehmen, die in der Regel nicht als Kapitalgesellschaften geführt wurden, in

wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Arbeitskräfteverknappung nach der annähernden

Vollbeschäftigung Ende der 50er Jahre wurde mit billigen ausländischen Arbeitskräften

gedämpft, deren Anteil an den Beschäftigten bis 1971 auf fast 10% anstieg.79 In Anbetracht

der Umstände, dass die Deutsche Mark erst 1958 zu einer international anerkannten und

umtauschbaren Währung wurde, ist es nicht verwunderlich warum das Marktsystem der

frühen BRD nicht die typischen Symptome der Warenwerdung des Geldes zeigte. Da ab nun

aber international größere Märkte mit Exportwaren bedient werden konnten, wirkte sich die

74 Ebd. 75

Ebd. 76

Ebd. S. 49f. Vor allem durch die hohen Zuwanderungsraten von qualifiziertem Personal aus denen durch den Krieg abgetrennten Ostgebieten. 77Ebd. Allein zwischen 1948 und 1951 flossen etwa 1.3 Milliarden US-Dollar an günstigen Krediten und nicht rückzahlbaren Zuschüssen aus dem European Recovery Program nach Deutschland. 78 Ebd. S. 52. 79 Ebd.

Page 23: Schiller, Jan: Karl Polanyi und der Neoliberalismus

wiederhergestellte internationale Konkurrenz nicht schlagartig katastrophal auf die

westdeutsche Wirtschaft aus.

Es ist also ersichtlich, warum die soziale Marktwirtschaft nach einem beachtlichen Start als

Wirtschaftsform der Bundesrepublik zu den klassischen Symptomen des selbstregulierenden

Markts zurückkehrte: Strukturkrisen in wichtigen Bereichen der Volkswirtschaft wie der

Textilindustrie, Konzentrationsprozesse vor allem bei Banken, auch in Handel und Industrie

und konjunkturelle Krisen mit sehr geringen oder negativen Wachstumsraten verbunden mit

hoher Arbeitslosigkeit.80 Die dem Markt anvertraute Regulierung begann also ab dem

Zeitpunkt zu versagen, als der künstliche Vortrieb durch unnatürliche Marktverhältnisse wie

ausländischen Unterstützungsleistungen und eine aus dem Marktmechanismus

herausgelöste Währung aussetzte. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass der als soziale

Marktwirtschaft verkaufte Neoliberalismus trotz der Abkehr vom Laissez-faire des

klassischen Liberalismus die zentralen Funktionen der Gesellschaft, nämlich die Erhaltung

und Prosperierung aller ihrer Mitglieder, nur unzureichend erfüllen konnte. Die auf den

naturwissenschaftlich-darwinistischen Lehren des 19. Jahrhunderts basierenden

Erklärungsversuche für die Lücken des Systems wie unfreiwillige Arbeitslosigkeit trotz

ausreichender Produktionskapazitäten oder die starke Ungleichverteilung des

gesellschaftlichen Wohlstands sind dabei wenig mehr als der zynische Versuch, die Utopie

des heilbringenden Marktsystems zu verteidigen.

Die negative Entwicklung der 1960er Jahre führte zu einem Umdenken, das durch die

Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten ab 1966 umgesetzt wurde.81 Das auf J. M.

Keynes zurückgehende Konzept der Globalsteuerung beinhaltete im Grunde die

Rechtfertigung erweiterter staatlicher Eingriffe auf den Markt zur Beeinflussung des

Konjunkturablaufs. Natürlich handelte es sich dabei nicht um einen kollektivistischen Ansatz,

die Eingriffsmöglichkeiten des Staates sollten auf gesamtwirtschaftliche Größen beschränkt

sein. Doch auch dieses Instrument, das vor allem auf globale und kurzfristige

Konjunkturanreize zielte, zeigte sich unfähig, spätere Rezessionen wie die von 1974 zu

verhindern.82 Es soll hier nicht weiter auf die Müßigkeit der Versuche eingegangen werden,

durch äußere Korrekturen das Marktsystem zu seiner theoretischen Harmonie zu führen, da

alle diese Versuche nur auf Symptome, nicht aber die von Polanyi beschriebenen

80 Ebd. S. 53. 81 Ebd. S. 54. 82 Ebd. S. 57.

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Grundprobleme eingehen: die Entbettung des Menschen und seine Unterwerfung unter die

Ware seiner Arbeitskraft, die Transformation seines Lebensraumes in eine dem Markt

geöffnete Ressource, sowie die Vermarktlichung des gesellschaftlichen Organisationsprinzips

selbst durch die Warenwerdung des Geldes.

4. Abschlussbetrachtung

Aus dem gezeigten lassen sich mehrere grundlegende Thesen postulieren.

Erstens: Die Warenfiktion im Bezug auf Arbeit, Boden und Geld verhindert, da sie

grundlegend zum marktwirtschaftlichen System gehört, die Erfüllung des liberalistischen

Traums vom Paradies des Marktsystems. Da weder der Mensch noch die Natur für den

Markt produziert werden und auch nicht verflüssigt oder einfach verschoben werden

können, kann die Anwendung des Marktmechanismus auf sie nicht vollständig gelingen.

Zweitens: Der Versuch eben dieses zu tun verursacht für die betroffenen Menschen und die

Natur große Schäden, die zu einem Schutzbestreben gegen den Markt führen. Daraus

entsteht eine gesellschaftliche Doppelbewegung, die kein politisches Gegenkonzept oder

ideologische Feindseligkeit gegen die liberalistische Politik darstellt, sondern vielmehr eine

spontane und pragmatische Reaktion zur Bewahrung der Gesellschaft.

Drittens: Zur Verteidigung des klassischen liberalen Kredo müssen diese Schutzmaßnahmen

als gegen das Marktsystem gerichtete ideologische Agitationen bekämpft werden. Da die

Rollen in diesem Konflikt historisch zu weiten Teilen auf gesellschaftliche Klassen verteilt

waren, bedienten sich beide Seiten oft einer engstirnigen Klassenlogik, um ihre politischen

Ziele zu verfolgen. Diese entsprach jedoch oft nicht den historischen Realitäten.

Viertens: Die nicht abreißende Reihe von wirtschaftlichen Krisen und der veränderte

Zeitgeist führten zu einer äußerlichen Neuausrichtung des klassischen Liberalismus weg vom

Laissez-faire hin zum neoliberalen System. Dieses war allerdings nur vom Anstrich her neu,

der Marktmechanismus sollte nach wie vor für die Regulierung der Wirtschaft und die

Produktion des Wohlstands verantwortlich sein, auch wenn dies durch die nach wie vor

vorhandene Warenfiktion nicht möglich war.

Fünftens: Alle weiteren Versuche, das Marktsystem durch Korrekturen und Erweiterungen

doch noch zu rehabilitieren, waren und mussten vergebens sein. Die soziale Marktwirtschaft

in Deutschland bildet keine Ausnahme, da das sogenannte Wirtschaftswunder auf

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künstlichen Zuständen beruhte, nach deren Auflösung der Marktmechanismus die alten

Wirkungen zeigte.

Daraus folgt: Das Marktsystem kann nicht in das liberale Paradies führen, da es an zentralen

Stellen Widersinnigkeiten aufweist. Gleichzeitig ist der Marktmechanismus unbrauchbar zur

Produktion gesamtgesellschaftlichen Wohlstands, da er zwar Güter und technischen

Fortschritt, aber keine kulturellen, das heißt nicht preisgebundenen Werte oder

Gegenstände produzieren kann. Die Enteignung des Menschen um seinen Selbstzweck, die

mit seiner Unterwerfung unter den höheren Zweck des Marktsystems einherging, kann nicht

mit der Produktion materiellen Wohlstands ausgeglichen werden. Die zu diesem Ausgleich

nötigen Strukturen verhindern allerdings die in der Theorie kalkulierte Funktionstüchtigkeit

des Marktsystems. Damit ist das Marktsystem zwar produktiv, aber gibt den Menschen

seiner Vernichtung preis. Alle Versuche, die Auswirkungen des Marktes durch politische

Intervention auszugleichen, müssen letzten Endes an der Utopie des Marktsystems

scheitern.

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Literatur

Böhret, Carl: Innenpolitik und politische Theorie, Opladen 1979.

Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern 1952.

Fuller, J. F. C.: Die Entartete Kunst Krieg zu führen, Köln 1964.

Polanyi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften

und Wirtschaftssystemen, Wien 1977.

Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich 1961.

Röpke, Wilhelm: Civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich 1949. Rüstow, Alexander: Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftspolitischen Liberalismus, in: Hoch, Walter (Hrsg.): Alexander Rüstow: Rede und Antwort, Ludwigsburg 1963, S. 249–258. Schütz, Rosalvo: Die abstrahierende Dynamik der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007.