„Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet“ – theoretische Grundlagen und empirische...

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© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN (print): 1610-5982, ISSN (online): 2196-8292

»Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« – theoretische Grundlagen, Entwicklung der Instrumente und empirische Erkundungen zur videobasierten Unter-richtsreflexion angehender GeschichtslehrpersonenMonika Waldis, Martin Nitsche, Philipp Marti, Jan Hodel und Corinne Wyss

1. Ausgangspunkt: Professionelle Kompetenz

Wissen und Können von Lehrpersonen gelten allgemein als wichtige Voraussetzung für erfolgreichen Unterricht. In jüngerer Zeit bildet das Konzept des Lehrberufs als professionelle Tätigkeit den metatheoretischen Rahmen, in dem Wissen und Können von Lehrpersonen zur Bewältigung beruflicher Anforderungen beschrie-ben und empirisch erfasst wird. Betont wird dabei sowohl die Erwerbbarkeit und Veränderbarkeit professionellen Wissens, als auch dessen Abhängigkeit von Aus-bildungskontexten und den darin angelegten Lerngelegenheiten, auch wenn des-sen operative Gestalt erst durch praktische Erfahrung erreicht wird.1 Das Konzept der »professionellen Kompetenz« von Lehrpersonen2 unterscheidet sich damit von beruflichen Eignungsmodellen, die Talent, Begabung oder andere stabile Persön-lichkeitsmerkmale als ausschlaggebend für den Berufserfolg halten3 oder von be-rufspraktischen Sozialisationsmodellen, die durch Erfahrung erworbenes implizites Wissen und Können in den Vordergrund stellen.4 Ausgangspunkt der Beschrei-bung »Professioneller Kompetenz« ist in vielen gegenwärtigen Forschungsarbeiten

1 Vgl. Hans-Georg Neuweg: Emergenzbedingungen pädagogischer Könnerschaft. In: Hel-mut Heid/Christian Harteis (Hrsg.): Verwertbarkeit. Ein Qualitätskriterium (erziehungs-)wissenschaftlichen Wissens? Wiesbaden 2005, S. 205–228; Fritz Oser/Franz Achtenhagen/Ursula Renold: Competence oriented teacher training: In: Fritz Oser/Franz Achtenhagen/Ursula Renold (Hrsg.): Competence oriented teacher training. Old research demands and new path ways. Rotterdam 2006, S. 1–7, hier S. 1.

2 Vgl. Jürgen Baumert/Mareike Kunter: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006), S. 469–520; Mareike Kunter u. a. (Hrsg.): Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: Mareike Kunter u. a. (Hrsg.), Professionelle Kom-petenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011, S. 29–53.

3 Vgl. Dale Ballou/Michael Podgursky: Recruiting Smarter Teachers. In: Journal of Human Resources 30 (1995), S. 326–338; Deborah Helsing: Regarding uncertainty in teachers and teaching. In: Teaching and Teacher Education 23 (2007), S. 1317–1333.

4 Vgl. Laura M. Desimone: Improving Impact Studies of Teachers’ Professional Development: Toward Better Conceptualizations and Measures. In: Educational Researcher 38 (2009), S. 181–199, hier S. 182f; Ewald Terhardt (Hrsg.): Unterrichten als Beruf. Neuere amerika-nische und englische Arbeiten zur Berufskultur und Berufsbiografie von Lehrerinnen und Lehrern. Köln 1991, S. 249–267.

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die von Shulman5 und Bromme6 vorgeschlagene Unterteilung des professionellen Lehrerwissens in generisch-pädagogische, fachspezifische und fachdidaktische Anteile.7 Die Unterteilung in Fachwissen (content knowledge), fachdidaktisches Wissen (pedagogical content knowledge) und pädagogisches Wissen (pedagogical knowledge) dient in zahlreichen Projekten als Ausgangspunkt der Ausdifferenzie-rung fachspezifischer Modelle.8 Bei der Definition von Kompetenz wird in der Re-gel der Bogen zur Kompetenzdiagnostik geschlagen.9 »Professionelle Kompetenz« wird sodann als mehrdimensionales Konstrukt aufgefasst, das kognitive, motiva-tionale, volitionale, ethische und soziale Komponenten subsumiert, die Lehrper-sonen als persönliche Voraussetzungen zur erfolgreichen Bewältigung spezifischer situationaler Anforderungen und allgemein zur Erfüllung der Berufsanforderun-gen benötigen.10 Dabei wird unterschieden zwischen a) kognitiven Kompetenzen im engeren Sinne, wie z. B. Fachwissen und fachdidaktischem Wissen, wobei hier von deklarativen und prozeduralen Ausprägungen (Wissen und Können) ausge-gangen wird und b) professionellen Handlungskompetenzen im weiteren Sinne, die epistemologische Überzeugungen zur Fachdisziplin, subjektive Theorien zum Lehren und Lernen in einem schulischen Gegenstandsbereich, professionelle Werte, motivationale Orientierungen und Fähigkeiten der Selbstregulation umfassen.11Dieses Modell wird zum Teil auch in der Geschichtsdidaktik als theoretischer Hin-tergrund für die Beschreibung des Professionswissens herangezogen,12 allerdings

5 Vgl. Lee S. Shulman: Those who understand: Knowledge growth in teaching. In: Educatio-nal Researcher 15 (1986), S. 4–14; Lee S. Shulman: Knowledge and Teaching: Foundations of the New Reform. In: Harvard Educational Review 57 (1987), S. 1–22.

6 Vgl. Rainer Bromme: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. Psychologie des Unterrichts und der Schule. In: Franz E. Weinert (Hrsg.): Pädagogische Psy-chologie, Bd. 3. Psychologie des Unterrichts und der Schule. Göttingen 1997 (Enzyklopädie der Psychologie), S. 177–212, hier S. 196 f.

7 Bromme (Anm. 6) beschreibt den Aspekt der »Curricularen Kompetenz« als separaten Wis-sensbereich, S. 196.

8 Vgl. Sigrid Blömeke/Anja Felbrich/Christiane Müller: Messung des fachbezogenen Wissens angehender Mathematiklehrkräfte. In: Sigrid Blömeke/Gabriele Kaiser/Rainer Lehmann (Hrsg.): Professionelle Kompetenz angehender Lehrerinnen und Lehrer: Wissen, Überzeu-gungen und Lerngelegenheiten deutscher Mathematikstudierender und –referendare. Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit der Lehrerausbildung. Münster 2008; S. 15–48, hier S. 19. Kun-ter u. a. (Anm. 2), S. 32.

9 Vgl. Franz E. Weinert: Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim 2001, S. 27 f.10 Vgl. Baumert/Kunter (Anm. 2), S. 481 f. und Kunter u. a. (Anm. 2), S. 31 f.11 Ebd., S. 32.12 Vgl. Manfred Seidenfuß: Ein Anwendungsfeld qualitativer Empirie in der Geschichtsdidak-

tik. Geschichtslehrer entwickeln ihre Taktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2 (2003), S. 245–262, hier S. 248 f.; Manfred Seidenfuß/Georg Kanert: Die Wirksamkeit der Geschichts-lehrerbildung. Forschungsansätze und Forschungsergebnisse. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Göttingen 2013, S. 139–166, hier S. 145–150; Monika Fenn: Modifikation subjektiver Theorien von Studieren-den über Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht. In: Jan Hodel/Beatrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empi-risch 09«. Bern 2011, S. 83–92, hier S. 83 f.; Monika Waldis/Corinne Wyss/Jan Hodel: Kom-petenzförderung im Geschichtsunterricht. In: Ebd., S. 93–105, hier S. 93–95.

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fehlt bislang eine fachspezifische Ausarbeitung des Modell, was im Folgenden ge-tan werden soll. Für die Definition des »pädagogischen Wissens« wird vorerst auf den Vorschlag der COACTIV-Studie verwiesen.

2. Konzeptualisierung des fachlichen und fachdidaktischen Wissens von Geschichtslehrpersonen in einem übergeordneten Modell professioneller Kompetenz

Ungeachtet der Diskussion um die Struktur von historischem Wissen und histori-schen Kompetenzen ist davon auszugehen, dass Geschichtslehrpersonen über ein reiches themengebundenes Fachwissen verfügen müssen. Nicht umsonst wird der fachwissenschaftlichen Ausbildung und damit der inhaltlichen und methodischen Vertiefung sowohl in der universitären Lehrerbildung als auch in den Curricula Pädagogischer Hochschulen zumeist ein breiter Platz eingeräumt. Aus dieser Per-spektive erscheint eine Gliederung des Fachwissens in die drei Unteraspekte (1) ge-schichtsphilosophisches und geschichtstheoretisches Wissen, (2) Beherrschung des Schulcurriculums sowie (3) geschichtskulturelles Wissen gerechtfertigt. Allerdings ist eine dahinterliegende Konzeption von Wissen, welche ausschließlich Kenntnisse über die Geschichte selbst impliziert – in der Form einer die verschiedenen Akteure, Ereignisse, Strukturen und Prozesse verknüpfenden Meistererzählung – abzuleh-nen. Vielmehr ist das gemeinsame Auftreten von Wissen und Können zu betonen. Hier bietet die aktuelle Diskussion um Kompetenzen historischen Denkens den An-knüpfungspunkt. Ohne im Detail auf vorgeschlagene Kompetenzmodelle und -di-mensionen einzugehen,13 bedeutet dies, dass ausgebildete Geschichtslehrpersonen historisch kompetent Denkende und Handelnde sein sollten, die in der Lage sind, mit der Veränderlichkeit und Vorläufigkeit historischen Wissens umzugehen. Es wird erwartet, dass sie einerseits eine kritisch-reflexive Haltung gegenüber vorlie-genden Narrativen einnehmen und sie befragen können, und dass sie andererseits befähigt sind, unter Offenlegung der angewandten Methoden eigene Geschichten zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Hinzu kommt die Kenntnis von und der kompetente Umgang mit Konzepten, Skripts, Kategorien und Diskursen, wie er im FUER-Modell für den Bereich der Sachkompetenz modelliert ist.14

Die herausragende Bedeutung historischer Kompetenzen ist auch für die Be-schreibung des fachdidaktischen Wissens von zentraler Bedeutung. Lehrperso-nen müssen befähigt sein, im Unterricht Lerngelegenheiten zu schaffen, die eine

13 Für den Überblick vgl. Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber: Historische Kom-petenzen und Kompetenzmodelle. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 207–235.

14 Vgl. Andreas Körber: »Putsch« oder »Revolution« – Begriffe als Voraussetzung und Gegen-stand historischen Lernens. Versuch einer kompetenztheoretischen Interpretation. In: Jo-hannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt gu-ter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012, S. 95–106, hier S. 97–99.

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kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit Geschichte anhand konkreter Themen und Inhalte ermöglichen. Das dazu benötigte fachdidaktische Wissen ist hierbei als Kombination und Integration von fachspezifischem und pädagogischem Wis-sen zur Initiierung und Entwicklung historischen Denkens zu definieren. In An-lehnung an Shulman15 unterscheiden wir drei Unterbereiche fachdidaktischen Wissens. Darin ist der erfahrungsgesättigte Einsatz in der Praxis im Sinne eines »Verfügens über« enthalten:

− Wissen über Bedingungen und Ausprägungen historischen Denkens, d. h. über Er-kenntnismöglichkeiten und Grenzen des Faches, die Genese von Kompetenzen historischen Denkens im Verlauf der Kinder- und Jugendzeit, über Vorstellun-gen der Schülerinnen und Schüler zu Geschichte, sowie Wissen und Können zu Kompetenzdiagnostik und Leistungsbeurteilung.

− Wissen über instruktionale Aktivitäten zur Förderung des historischen Denkens und Lernens, d. h. zu Planung, Inszenierungsformen und Aufgabenformaten. Hierzu gehört Wissen über kognitive und motivationale Prozesse des Lernens und geeignete Unterstützungsformen, d. h. den Einsatz verschiedener Unter-richtsprinzipien, Unterrichtsmethoden und Medien,16 insbesondere der adres-satengerechte Einsatz von Quellen und Darstellungen, Wissen über kompetenz-orientierte Aufgabenformate17 und Rückmeldemöglichkeiten, über geeignete Gesprächsimpulse, die zum Erzählen bzw. zu historischen Fragen anregen, über (adaptive) Repräsentations- und Erklärungsmöglichkeiten.

− Curriculares Wissen, d. h. Kenntnisse des Bildungsziels des Geschichtsunterrichts, der Lehrplanvorgaben und Auswahlkriterien sowie die Befähigung, ausgewählte Inhalte kompetenzorientiert in Unterrichtseinheiten umzusetzen.

Es bleibt zu betonen, dass fachdidaktisches Wissen und Können nicht nur als sub-jektives, erfahrungsgesättigtes Wissen über Unterrichtsprozesse konzipiert werden sollte. Vielmehr ist darunter die flexible Nutzung von theoretisch abgestützten und empirisch validierten Wissensbeständen zur Gestaltung produktiver Lernprozesse zu verstehen.18 Zu Ausprägung und Genese dieses Wissens und Könnens bei an-gehenden Geschichtslehrpersonen liegen derzeit noch kaum empirisch gestützte Erkenntnisse vor.

15 Vgl. Shulman 1986 (Anm. 5), S. 9 f.16 Vgl. z. B. Hilke Günther-Arndt: Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I

und II. Berlin 2007.17 Vgl. z. B. Christian Heuer: Gütekriterien für kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fach

Geschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), S. 443–455; Monika Waldis/Jan Hodel/Nadine Fink: Lernaufgaben im Geschichtsunterricht und ihr Potential zur Förderung historischer Kompetenzen. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissen-schaften 3 (2012), S. 142–157; Birgit Wenzel: Aufgaben im Geschichtsunterricht. In: Hilke Günther-Arndt (Anm. 16), S. 79–86.

18 Ein solcher Versuch einer Synthese wurde jüngst vorgelegt. Vgl. Peter Gautschi/Markus Bernhardt/Ulrich Mayer: Guter Geschichtsunterricht – Prinzipien. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichtes. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 326–348.

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3. Lehrerkognitionen als Untersuchungsgegenstand

Die empirische Bildungsforschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte in der standardisierten Erhebung von Wissenskonstrukten bei (angehenden) Lehr-personen gemacht. So wurde beispielsweise in der Studie TEDS-M-Sekundarstufe ein Paper&Pencil-Test mit Aufgabenformaten zur Erhebung des mathematikdidak-tischen Wissens entwickelt, die Lehrpersonen anleiteten, mit Blick auf eine durch-schnittliche Schülerin bzw. einen durchschnittlichen Schüler Aufgabenschwierig-keiten einzuschätzen und zu begründen19 oder verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu einer Aufgabe zu entwickeln und die dahinter liegenden fachlichen Konzepte zu erklären.20 Allerdings stoßen solche Vorgehensweisen an ihre Grenzen, wenn es darum geht, situationsspezifisches Handeln von Lehrpersonen sowie die dahin-terliegende Kompetenz vorherzusagen. In solchen Situationen kann nicht zwin-gend von einer direkten Anwendung propositionalen Regelwissens ausgegangen werden, adaptive Anpassungen sind zumeist erforderlich. Zudem stellen sich im Unterricht immer wieder widersprüchliche Anforderungen, die gegeneinander ab-gewogen werden müssen. Um solche Anforderungen zu simulieren und eine hö-here Testvalidität zu erreichen, werden in jüngerer Zeit alternative Erhebungsver-fahren vorgeschlagen. Verwendet werden beispielsweise Vignettentests, in deren Rahmen Lehrpersonen kurze videografierte Unterrichtsausschnitte mit gezielten Aufgabenstellungen zur Bearbeitung vorgelegt werden. Den theoretischen Rah-men dafür stellt die Expertiseforschung bereit. Berufserfahrene »Expertenlehrper-sonen«, deren Kompetenz aufgrund verschiedener Indikatoren als herausragend definiert wird, unterscheiden sich von Novizen im ersten Berufsjahr offensicht-lich in der Organisation ihres Professionswissens hinsichtlich ihrer verfügbaren mentalen Repräsentationen, der hierarchischen Organisation und der flexibleren Zugänglichkeit.21 Expertinnen und Experten verfügen über eine schnellere Wahr-nehmung von Information, eine fehlerfreiere Erinnerung sowie eine bessere Or-ganisationsleistung bei der Speicherung und beim Abrufen von Informationen. Sie verwenden deutlich mehr Schemata, die als fallbasierte Skripts eingespeichert

19 Vgl. Sigrid Blömeke: Moving to a higher state of confusion. Der Beitrag der Videoforschung zur Kompetenzforschung. Münster 2013, S. 31.

20 Vgl. Stefan Krauss u. a.: Konzeptualisierung und Testkonstruktion zum fachbezogenen Pro-fessionswissen von Mathematiklehrkräften. In: Kunter u. a. (Anm. 2), S. 135–161, hier S. 139.

21 Vgl. Franz E. Weinert/Friedrich-Wilhelm Schrader/Andreas Helmke: Unterrichtsexper-tise – Ein Konzept zur Verringerung der Kluft zwischen zwei theoretischen Paradigmen. In: Lutz-Michael Alisch/Jürgen Baumert/Klaus Beck (Hrsg.): Professionswissen und Professio-nalisierung. Braunschweig 1990 (Braunschweiger Studien zur Erziehungs- und Sozialarbeits-wissenschaft, Bd. 28), S. 173–206, hier S. 176. Für die Geschichtsdidaktik vgl. Manfred Seiden-fuß: Was denken erfolgreiche Geschichtslehrer bei der Unterrichtsplanung? Expertiseansatz und empirische Forschung in der Didaktik der Geschichte. In: Saskia Handro/Bernd Schö-nemann (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002, S. 61–71, hier S. 66–71.

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und bei Bedarf abgerufen werden können.22 Aufgrund dieser Befunde wird da-von ausgegangen, dass die professionelle Wahrnehmung zwischen erfahrenen und angehenden Lehrpersonen eine deutliche Varianz aufweist und dass sich diese im Unterrichtshandeln widerspiegelt. Empirische Befunde in anderen Fächern bestä-tigen diese Hypothese.23

4. Erfassung professioneller Wahrnehmung mittels Vignettentests

Aktuelle empirische Arbeiten, die die professionelle Unterrichtswahrnehmung von Lehrpersonen in den Blick nehmen, beschreiben zwei wesentliche informations-verarbeitende Prozesse: In einem ersten Schritt werden wichtige von unwichti-gen Informationen getrennt (selective attention, auch noticing).24 In einem zwei-ten Schritt müssen aus einer wahrgenommenen Situation auf der Grundlage des professionellen Wissens Schlussfolgerungen gezogen werden können (knowled-ge-based reasoning).25 Im Bereich des »knowledge-based reasoning« werden drei verschiedene Vorgehensarten unterschieden: die Beschreibung einer Unterrichts-situation, deren Interpretation und deren anschließende Bewertung. Befunde der Expertiseforschung zeigen, dass Novizinnen und Novizen Unterrichtssituationen vorwiegend beschreiben und dass diese Beschreibungen aufgrund fehlenden theo-retischen Wissens häufig undifferenziert und teilweise vorschnell bewertend ausfal-len. Expertinnen und Experten wählen hingegen häufiger einen erklärenden oder vorhersagenden Umgang mit Unterrichtssequenzen und beziehen theoretisches Wissen über Lehr-Lern-Prozesse in die Analyse ein.26 Verschiedene Forschungs-projekte folgen der Unterscheidung der beiden Informationsverarbeitungspro-zesse. Methodisch wird dabei häufig so vorgegangen, dass einerseits offene Aufga-benformate zur Erfassung des »noticing« und geschlossene Aufgabenformate zur

22 Vgl. Hans Gruber: Expertise. In: Detlev H. Rost (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psy-chologie. Weinheim 1998, S. 25–52; Rainer Bromme: Der Lehrer als Experte. Zur Psycholo-gie des professionellen Wissens. Bern 1992, S. 139 f.

23 Vgl. Nicole Kersting u. a.: Measuring usable knowledge: Teachers’ analyses of mathematics classroom videos predict teaching quality and student learning. In: American Educational Research Journal 49 (2012), S. 568–589.

24 Vgl. Erin Van Es/Miriam G. Sherin: Mathematics teachers »learning to notice« in the con-text of a video club. In: Teaching and Teacher Education 24 (2008), S. 244–276, hier S. 245.

25 Kathleen Stürmer/Tina Seidel/Stefanie Schäfer: Changes in professional vision in the context of practice. In: Gruppendynamik und Organisationsberatung 44 (2013), S. 339–355, S. 342. Tina Seidel/Kathleen Stürmer: Modeling and Measuring the Structure of Professional Vision in Preservice Teachers. American Educational Research Journal, first published on April 2014 as DOI: 10.3102/0002831214531321, S. 1–32, hier S. 4.

26 Vgl. Tina Seidel/Geraldine Blomberg/Kathleen Stürmer: »Observer« – Validierung eines videobasierten Instruments zur Erfassung der professionellen Wahrnehmung von Unter-richt. Projekt OBSERVE. In: Eckhard Klieme/Detlev Leutner/Michael Kenk (Hrsg.): Kom-petenzmodellierung. Zwischenbilanz des DFG-Schwerpunktprogramms und Perspektiven des Forschungsansatzes. Weinheim 2010 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 56), S. 296–306, hier S. 297 f.

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Messung des »knowledge-based reasoning« eingesetzt werden. Allerdings unter-scheiden sich die vorliegenden Erhebungen in verschiedenen Fächern bezüglich ihres Grades der Standardisierung bei der Auswahl und Vorgabe von Vignetten und der Gestaltung der Beobachtungsaufgaben. Bei der Auswahl von Vignetten wird entweder eine feste Auswahl von Clips verwendet, im weniger standardisier-ten Fall werden Vignetten nach festgelegten Kriterien jeweils neu gewählt. Bei der Aufgabenauswahl kommen zum Teil Ratingskalen mit geschlossenen Aufgaben-formaten zum Einsatz, die mit Hilfe von Experteneinschätzungen normiert sind.27 Weniger standardisierte Verfahren greifen auf offene Aufgabenformate zurück mit Aufgabenstellungen wie »Erklären Sie dem Lernenden den Sachverhalt in zwei Sätzen«,28 oder »discuss how the teacher and the student(s) in the clip interacted around the mathematical content«.29 Die vorliegenden Essays werden sodann mit Hilfe ausgewählter Kategorien von Forschenden beurteilt. Dabei wird die Quali-tät der Unterrichtswahrnehmung anhand der Thematisierung zentraler fachlicher, fachdidaktischer und allgemeindidaktischer Elemente auf Skalen geratet oder es wird ein standardisiertes Kodierraster zur Feststellung der vorgekommenen Ele-mente verwendet.30

5. Fragestellung

Im vorliegenden Beitrag wird die Entwicklung eines Vignettentests zur Erfassung fachdidaktischen Wissens von Geschichtslehrerstudierenden vorgestellt.31 Ziel ist es, die empirischen Erfahrungen zu geschlossenen und offenen Aufgabenformaten zu ordnen und zu reflektieren. Die folgenden Fragestellungen werden bearbeitet:1. Welche Aspekte nennen angehende Geschichtslehrpersonen, wenn sie mittels

offenem Aufgabenprompt aufgefordert werden, fachtypische Videoclips zu be-obachten, zu beschreiben und auf der Basis ihres fachlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Wissens zu beurteilen?

27 Vgl. Ebd., S. 299; Fritz Oser/Sarah Heinzer/Pia Salzmann: Die Messung der Qualität von pro-fessionellen Kompetenzprofilen von Lehrpersonen mit Hilfe der Einschätzung von Filmvi-gnetten. Chancen und Grenzen des advokatorischen Ansatzes. In: Unterrichtswissenschaft 38 (2010), S. 5–28, hier S. 13.

28 Vgl. Anke Lindmeier: Video-vignettenbasierte standardisierte Erhebung von Lehrerkogni-tionen. In: Ulrich Riegel/Klaas Macha (Hrsg.): Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken. Münster 2013, S. 45–61, hier S. 53.

29 Vgl. Kersting u. a. (Anm. 23), S. 574.30 Vgl. Miriam G. Sherin/Erin A. van Es: Effects of Video Club Participation on Teachers’ Pro-

fessional Vision. Journal of Teacher Education 60 (2009), S. 20–37, hier S. 24; Stürmer/Sei-del/Schäfer (Anm. 25), S. 339–355, hier S. 346.

31 Der Vignettentest soll in zukünftigen Erhebungen im Rahmen des vom Schweizerischen Na-tionalfonds geförderten Projekts »VisuHist – Ausprägung und Genese professionellen Wis-sens von Geschichtslehrpersonen« (Antragstellerinnen: Waldis/Wyss/Ziegler) zur Erfassung des fachdidaktischen Wissens eingesetzt werden.

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2. In welchem Maße stimmen die Einschätzungen der Studierenden mit den Ex-pertenurteilen zu vorgegebenen Beobachtungspunkten überein?

3. Welche Herausforderungen stellen sich für die zukünftige Arbeit mit videoba-sierten Erhebungsverfahren zur Erfassung des professionellen Wissens bei Ge-schichtslehrpersonen?

6. Methode

6.1 Instrument

Im Folgenden wird die Entwicklung eines Videosurveys zur Erfassung des fach-didaktischen Wissens von Geschichtslehrpersonen vorgestellt und das Vorgehen bei der Auswahl der Videoclips sowie die Entwicklung der offenen und geschlos-senen Aufgabenformate beschrieben.

Auswahl der Clips: Der erste Schritt beinhaltete die Sichtung videografierter Unterrichtslektionen, die auf der Videoplattform der Universität Zürich für Zwe-cke der Lehrerbildung und der Forschung zur Verfügung gestellt werden.32 Ziel war es, Videoclips auszuwählen, die »typische« Lernsituationen im Geschichtsunter-richt abbilden, u. a. die Quellenarbeit, die Erarbeitung eines Darstellungstextes, den Umgang mit einem Zeitzeugenbericht und die Diskussion einer Lehrerfrage, die auf Orientierung und Identitätsreflexion abzielt. Ausgewählte Clips wurden in drei Pilottests bei Geschichtslehrerstudierenden erprobt. Im Wissen darum, dass gewisse Lehrerverhaltensweisen bei Videobetrachtern eine zuweilen außerordent-liche Reaktanz und Ablehnung hervorrufen können, die von der Wahrnehmung tiefer liegender Unterrichtsqualitätsmerkmale ablenken, wurde die Eignung der eingesetzten Clips mittels vier Items auf einer 4-stufigen Likert-Skala (1 = stimmt nicht, bis 4 = stimmt genau) erhoben. Die Kennwerte zu den Aspekten Sichtbar-keit (Item: »Die eben thematisierten Aspekte waren im Videoclip deutlich erkenn-bar.«), Repräsentativität des gewählten Videoausschnitts (Item: »Der Videoclip zeigt einen Unterrichtsausschnitt, wie er typischerweise im Geschichtsunterricht vor-kommt.«) und fachlicher Anregungsgehalt (Item: »Der Videoclip hat mich dazu angeregt, über ›guten‹ Geschichtsunterricht nachzudenken.«) fielen bei fünf der insgesamt sieben getesteten Videoclips über dem Skalenmittelpunkt von 2.5 aus. Gleichzeitig wurde die emotionale Beanspruchung (Item: »Das Schauen dieses Vi-deoclips empfand ich als mühsam.«) bei denselben fünf Clips als gering beurteilt. Im Nachgang der Pilotierungen wurden die verwendeten Clips einer Gruppe von Geschichtsdidaktikerinnen und -didaktikern, die in die Ausbildung der befragten Studierenden involviert waren, vorgelegt mit der Bitte, diese hinsichtlich ihrer Be-deutung und ihrer Exemplarität einzuschätzen. Die Selektion reduzierte sich dabei von fünf auf vier Clips.

32 Vgl. www.unterrichtsvideos.ch.

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Offene Aufgabenformate: Der offene Itemprompt zur Erfassung des Aspektes des noticing lautete: »Was fällt Ihnen auf? Beschreiben Sie im Folgenden zentrale Merkmale des beobachteten Unterrichts anhand von fachlichen, fachdidaktischen und allgemeindidaktischen Kriterien, die Sie für das Lernen der Schülerinnen und Schüler für bedeutsam halten. Versuchen Sie zuerst die zentralen Elemente dieses Unterrichts zu beschreiben, bevor Sie eine Bewertung vornehmen.« Auf der Basis der vorliegenden Studierendenantworten wurde von den Autorinnen und Autoren dieses Textes ein Kodiersystem entwickelt, welches die in den Daten vorliegenden Beobachtungen der Studierenden mittels verschiedener Kategorien ermittelte,33 wobei sich eine Gliederung in die drei Oberkategorien Unterrichtsangebot, Prozess und Nutzung des Lernangebots als sinnvoll erwies. Die Kodiereinheit bildete eine einzelne Aussageeinheit, verstanden als Sinneinheit. Diese konnte eine kohärente Aussage zu einem Unterrichtsaspekt in der Form eines Teilsatzes, eines Satzes oder auch mehrerer Sätze umfassen. Die vorliegenden Studierendenantworten wurden von zwei Kodierern vollständig kategorisiert.34 Am Ende des Kodierprozesses er-folgte die Überprüfung der Interrater-Reliabilität, wobei eine prozentuale Über-einstimmung von über 90 Prozent erreicht wurde. Bei Nicht-Übereinstimmung diskutierten die beiden Kodierer den Entscheid nochmals und legten die endgül-tige Kodesetzung im Konsensverfahren fest.

Geschlossene Aufgabenformate: Nebst den offenen Aufgabenformaten kamen zu jedem Videoclip geschlossene Aufgabenformate zur Anwendung. Theoretischer Re-ferenzpunkt für die Itementwicklung war die Diskussion um Kompetenzen histo-rischen Denkens35 sowie fachspezifische Gütekriterien des Geschichtsunterrichts wie sie Gautschi und andere vorschlagen.36 Zu ausgewählten fachdidaktischen Aspekten wurden sowohl Items zur Unterrichtsbeschreibung als auch Items zur Bewertung bzw. Vorhersage der Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler for-muliert, die auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 = stimmt nicht, bis 4 = stimmt genau) beantwortet werden mussten. So lautete z. B. ein Item zur Beschreibung der Quellenarbeit: »In der Lektionssequenz, die Sie beobachtet haben, wird die Quelle im historischen Kontext (Zeit/Raum/Begleitumstände/Akteure/Motive) verortet.« Ein Item zur Bewertung lautete: »In der Lektionssequenz lernen die Schülerinnen und Schüler, Quellen in ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen.« Die vorliegenden

33 Es wurde ein inhaltsanalytisches Verfahren angewandt. Vgl. z. B. Philipp Mayring: Qualita-tive Inhaltsanalyse. In: FQS, V.1, No.2 (Juni 2000), Art. 20.

34 Die Kodierung wurde von Martin Nitsche und Philipp Marti erarbeitet.35 Vgl. besonders Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hin-

weise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 48–66; Andreas Körber: Die Dimensionen des Kompetenz-modells »Historisches Denken«. In: Andreas Körber/Waltraut Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen Historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenz-orientierung in der Geschichtsdidaktik. Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förde-rung. Neuried 2007, S. 89–154.

36 Vgl. Gautschi/Bernhardt/Mayer (Anm. 18), S. 345 f.; Peter Gautschi/Karin Barth/Hans Utz: »Überlegt mal, was da los ist«. Kriteriengeleitete Beurteilung von Geschichtsunterricht. In: Meyer-Hamme/Thünemann/Zülsdorf-Kersting (Anm. 14), S. 73–94, hier S. 77; Körber (Anm. 14), S. 103 f.

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Antworten der Lehrerstudierenden wurden mit der Norm der Expertinnen und Experten abgeglichen, die zuvor im Forschungsteam mit den zuständigen Fachdi-daktikerinnen und Fachdidaktikern im ersten Schritt individuell und im zweiten Schritt vergleichend und bei Nicht-Übereinstimmung im Konsensverfahren fest-gelegt worden war. Bei der Auswertung der Studierendenantworten kam ein »hit/non-hit«-Verfahren zur Anwendung. Im Anschluss daran wurde der prozentuale Anteil der Übereinstimmung anhand der Norm ermittelt.

6.2 Stichprobe

Die im Folgenden präsentierten Daten wurden im Rahmen des dritten Pilottests erhoben. Dieser fand im März 2013 an zwei schweizerischen Hochschulen in drei Fachdidaktikseminaren statt. Insgesamt waren 54 Studierende angeschrieben, von 48 Studierenden liegt ein vollständiger Datensatz vor. Der Frauenanteil belief sich auf 52.1 Prozent. Die Studierenden waren zwischen 21 und 53 Jahre alt. Im Mittel betrug ihr Alter 31.11 Jahre (SD = 10.48). Der hohe Altersdurchschnitt war durch die Teilnahme einer Gruppe von Personen bedingt, die einen Quereinstieg in den Lehrberuf anstrebten. Der Anteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einem Alter von 30 Jahren oder höher betrug 40.9 Prozent. Vier Personen (9.1 Prozent) gaben an, sich im ersten Semester der Fach- und Fachdidaktikausbildung zu be-finden. Alle weiteren Personen hatten zuvor in mindestens einem Semester ein Fachseminar oder ein Fachdidaktikseminar belegt. Die mittlere Semesterzahl lag für die Fachausbildung bei 4.61 (SD = 2.78); für die Fachdidaktikausbildung bei 3.23 (SD = 1.48). Es handelte sich demzufolge um angehende Geschichtslehrper-sonen, die mitten in der Ausbildung standen.

7. Ergebnisse

7.1 Offene Aufgabenformate

Die Studierenden waren aufgefordert, insgesamt drei offene Aufgaben zur Unter-richtswahrnehmung (noticing) zu bearbeiten. Nachfolgend wird exemplarisch die Auswertung einer ausgewählten Aufgabe präsentiert. Die Basis für die Beantwor-tung dieser offenen Frage bildeten zwei zusammengehörige Videoclips aus einer 45-minütigen Einzellektion einer 9. Klasse zum Thema »Jugend in der NS-Dikta-tur«. Zu Beginn dieser Lektion thematisierte die Lehrperson die Machtübernahme und Durchdringung des Staatsapparates durch die Nationalsozialisten sowie die euphorische Stimmung im deutschen Volk und kam danach – ausgehend von einer Fotografie der Hitlerjugend am »Tag der deutschen Jugend« 1936 – auf die Lebens-welt der Jugendlichen zu sprechen. Hier setzte nun der erste Clip ein: Die Mäd-chen werden darin aufgefordert, im Schulgeschichtsbuch einen Tagesablauf eines Ferienlagers des »Bund Deutscher Mädel« zu lesen, die Jungen eine autobiografi-

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42 Themenschwerpunkt

sche Erinnerung zur Hitlerjugend. Nach der Besprechung werden vier Gruppen gebildet, in denen sich die Schülerinnen und Schüler in das Jahr 1938 zurückver-setzen und diskutieren sollen, wie sie sich dem Systemdruck gegenüber verhalten hätten. Die Fragestellung wird vorgängig in einem Brainstorming andiskutiert. Es folgt eine Gruppenarbeitsphase. Der zweite Clip zeigt die darauffolgende Ergeb-nisauswertung. Hier werden die Ergebnisse im Plenum zusammengetragen, wobei die Besprechung in die Richtung zielt, dass Gruppendruck sowie Angst vor Aus-grenzung und Sanktionen den Jugendlichen im Dritten Reich im Zug der Konsoli-dierung der NS-Herrschaft keinen Handlungsspielraum mehr gelassen haben. Zur Einordnung der beiden Videoclips standen den Studierenden eine Kurzbeschrei-bung der Lektion sowie die im Unterricht genutzten Materialien aus dem Schul-geschichtsbuch zur Verfügung.

Versucht man sich den Daten zunächst quantitativ zu nähern, so fällt auf, dass nahezu alle Studierenden Aussagen gemacht haben, die von den Kodierern der An-gebotsseite (97.9 %) und dem Unterrichtsprozess (93.8 %) zugeordnet wurden. Zur Nutzung (70.8 %), d. h. zu den Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler äu-ßerte sich ein knappes Drittel der Befragten überhaupt nicht. Tabelle 1 beinhaltet einen Ausschnitt aus dem verwendeten Kategoriensystem sowie die prozentualen Angaben, wie viele Personen die jeweilige Kategorie in ihren Texten ansprachen. Es sind jene Oberkategorien abgebildet, die sich geschichtsdidaktisch verorten las-sen; darüber hinaus wird im Folgenden auch auf die gefundenen Subkategorien eingegangen. In Ergänzung dazu sind in der Tabelle auch die Auszählungen zu den fachunspezifischen Oberkategorien dargestellt, die am häufigsten vorkamen.

Tab. 1: Ausschnitt aus dem verwendeten Kategoriensystem: Kodebeschreibung, Häufigkeiten und Ankerbeispiele

Kategorie:1. Ebene,2. Ebene,3. Ebene

Beschreibung Ankerbeispiel Prozen-tuale Über-einstim-mung (Anzahl Studie-rende)

Angebot Gesamtheit aller Aussagen, die sich auf die Planungs-, jedoch nicht auf die Hand-lungsebene beziehen

97.9 % (47)

Fachlich-inhalt-liche Äußerun-gen

Aussagen zum historisch-in-haltlichen Angebot/Ziel der Lektion

»Die Lehrperson weiss, wo-hin er die SuS führen will, nämlich eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Hit-lers Politik damals einen sol-chen Erfolg hatte und wie die Jugend von heute darauf re-agieren würde.« (a0ii7)

50.0 % (24)

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Waldis et al.: »Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« 43

Geschichtsdi-daktische Äuße-rungen

Aussagen zu dahinterliegen-den geschichtsdidaktischen Konzepten und Begrifflich-keiten

50.0 % (24)

Geschichts-didaktische Unterrichtsprin-zipien

Nennung geschichtsdidakti-scher Unterrichtsprinzipien (Gegenwartsbezug, Fremd-verstehen, Multiperspektivi-tät usw.)

»Fremdverstehen wird durch die pers. Auseinandersetzung der SuS gefördert.« (pRyRo)

47.9 % (23)

Aussagen zu Angeboten hist. Lernens

Nennung von Kompetenzmo-dellen historischen Denkens oder von Teilaspekten

»Mit dem Ablauf der Lektion ist m. E. auch Gautschis Kom-petenzmodell berücksichtigt« (JXiJf)»Interessante Diskussion be-züglich Werturteil.« (2Hb5R)

14.6 % (7)

Allgemeine Äu-ßerungen zum Lehr-Lern-An-gebot

Aussagen, die das Lehr-Lern-Angebot des Unterrichts be-treffen unter Verwendung allgemeiner unterrichtsme-thodischer Begrifflichkeiten

»SuS in Stillarbeit (wobei Mädchen und Jungen unter-schiedliche Quellen erhalten); Diskussion im Plenum/Klas-sengespräch, anschliessend Gruppenarbeit, dann wieder Klassengespräch.« (HpupS)

91.7 % (44)

Medien gesamt Aussagen zu den im Unter-richt verwendeten Medien

68.8 % (33)

allgemein Fachunspezifische Nennung von Medien (z. B. Text, Bild, Statistik)

»Die unterstützende Grafik dient der advance organisa-tion.« (1vxPP)

56.2 % (27)

fachspezifisch Fachspezifische Nennung von Medien (z. B. Quelle, Dar-stellung)

»zwei Quellen« (TmU4J); »Danach werden im Ge-schichtslehrmittel zwei Dar-stellungen angeschaut.« (TmU4J)

18.8 % (9)

Nutzung Aussagen, die den Umgang der Schüler/-innen mit dem Lernangebot beschreiben und/oder reflektieren

70.8 % (34)

Allgemeine Aus-sagen

Allgemeine fachunspezifische Aussagen zum Lernen der Schüler/-innen

»Ich denke, dass dies das selbstständige Denken för-dert.« (ElCiD)»In einer ersten Phase lesen die SuS ihnen zugewiesene Texte.« (8MTcn)

52.1 % (25)

Fachlich-fach-did. Aussagen

Aussagen, die historisches Lernen bzw. Denkoperatio-nen (Fremdverstehen) und Methoden (Quellenanalyse) betreffen

»Sie [SuS] bemerkten die Fas-zination der Hitlerjugend, ge-nauso wie auch der soziale Druck.« (y02cp)

33.3 % (16)

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44 Themenschwerpunkt

Prozess Aussagen, die sich auf Beob-achtungen der Unterrichts-prozesse bzw. -handlungen beziehen

93.7 % (45)

Handeln Lehr-person

Aussagen zum Handeln der Lehrperson (z. B. Gesprächs-führung, Zeitmanagement)

»Leider ist die Zeiteinteilung nicht so, dass sie am Ende der Lektion den Hefteintrag ma-chen können.« (Cum33)

91.7 % (44)

Handeln Schü-ler/-innen

Aussagen, die die Beteili-gung der Schüler/-innen am Unterricht thematisieren (z. B. Unterrichtsgespräch)

»Die Wortmeldungen waren etwas einsilbig und oft diesel-ben Schülerinnen und Schüler (→ wie waren die Gruppenge-spräche?)« (rZUU2)

41.7 % (20)

Die Auszählung der Aussagen zur Angebotsseite verweist darauf, dass sich die Stu-dierenden (91.7 %) bei ihren Beobachtungen mehrheitlich auf allgemein-metho-dische Aspekte beziehen. Diese konnten durch weitere Subkategorien differenziert erfasst werden, wobei hier nur die auffälligsten genannt werden. Häufig war hierbei die Nennung der Sozialform (83.3 %), gefolgt von einer allgemeinen Bewertung der Methoden (39.6 %), der Kritik an einer fehlenden Ergebnissicherung (31.3 %) und der Beschreibung des Stundenaufbaus (31.3 %). Die an zweiter Stelle folgen-den fachunspezifischen Aussagen zu Medien (56.3 %) ergeben sich aus der Kodie-rung von Begriffen wie »Text«, »Bild« oder »Grafik«, bei deren Verwendung nicht mit fachspezifischen Termini (Quelle, Darstellung usw.) operiert wurde. Lediglich 18.8 % der Studierenden verwendeten den jeweils einschlägigen Fachbegriff. Auf die übergreifenden fachlichen Unterrichtsaspekte fokussierte immerhin die Hälfte der Studierenden (50.0 %). Dabei sprachen 39.6 % inhaltliche Aspekte an, z. B.: »Die Bedeutung der Hitlerjugend und des BDM wird angeschnitten« (N9sPa)37, wäh-rend 16.7 % die Leitfrage oder -idee der Stunde erfassten, z. B.: »Die Lehrperson weiß, wohin er die SuS führen will, nämlich eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Hitlers Politik damals einen solchen Erfolg hatte und wie die Jugend von heute darauf reagieren würde.« (a0ii7). 16.7 % der Studierenden bewertete die Leh-rerkompetenz, überwiegend ohne Begründung, z. B.: »Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« (AMLWb). Geschichtsdidaktische Unterrichtsprinzipien konnten bei etwas weniger als der Hälfte der Studierenden identifiziert werden. Sie traten in Form von Fachbegriffen oder in Form von Umschreibungen zur Charakterisierung des Lehr-Lern-Angebots auf. Dazu wurden beispielsweise geschichtsdidaktische Prinzipien wie Fremdverstehen (47.9 %) oder Gegenwartsbezug (20.8 %) herange-zogen, um die fachliche Planung der Lektion genauer zu beschreiben, z. B. »Indem die LP die SuS auffordert, sich in die Zeit von 1938 zurück zu versetzen, erkennen die Lernenden, dass die damaligen Verhältnisse und Lebensumstände anders wa-ren als heute.« (JxiJf). Im selben Beispiel lässt sich auf der Angebotsseite der im Datencorpus einzige Bezug zur Kompetenzdebatte feststellen: »Mit dem Ablauf der

37 Hierbei handelt es sich um die persönliche Identifikationsnummer der Befragten.

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Waldis et al.: »Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« 45

Lektion ist m. E. auch Gautschis Kompetenzmodell berücksichtigt (wahrnehmen, erschließen, interpretieren, orientieren)« (JxiJf).

Das Bild eines tendenziellen Übergewichts allgemeiner Denkschemata zeigt sich auch auf der Nutzungsseite. Allgemeine Aussagen zum Lernen (14.6 %) wie z. B.: »Ich denke, dass dies das selbstständige Denken fördert« (ElCiD) und zum Umgang der Lernenden mit Medien und Inhalten ohne expliziten Einbezug von Aspekten der historischen Methode (45.8 %) kommen häufiger vor als das Hervor-heben fachlicher Lernprozesse (33.3 %). Immerhin nutzen einige die geschichts-didaktischen Prinzipien Fremdverstehen (10.4 %) oder Gegenwartsbezug (6.3 %) auch in der Umschreibung des Lernens: »Dabei kam zutage, dass sich die SuS, die sich meldeten, doch relativ adäquat in die Lage versetzten konnten. Sie bemerk-ten die Faszination der Hitlerjugend, genauso wie auch der [sic!] soziale Druck« (Y02cp). Gerade 12.5 % der Studierenden setzen sich mit der Quellenbearbeitung der Schülerinnen und Schüler auseinander, um die Nutzung der Lernangebote fachspezifisch zu beschreiben: »Die Besprechung der Quellen ist sehr allgemein und geht nicht in die Tiefe. Die Schüler erfahren nicht, was konkret in der von ih-nen nicht gelesenen Quelle steht« (N9sPa).

Auf der Prozessebene lässt sich schließlich eine eindeutige Neigung der Studie-renden erkennen, dem Lehrerhandeln die größte Aufmerksamkeit zu schenken (91.7 %): »Der Unterricht findet im starken Masse lehrerzentriert statt, wobei die LP einen Mix aus Fragen macht, die er den SuS stellt, und Erläuterungen, die er zum Inhalt macht« (Cum33). Demgegenüber äußerten sich lediglich 47.1 % zur Gesprächsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler, beispielsweise: »Die Wort-meldungen waren etwas einsilbig und oft dieselben Schülerinnen und Schüler« (rZUU2), während sich noch 25 % zum gemeinsamen Handeln wie der Erzeu-gung eines angemessenen Lernklimas Gedanken machten: »Die Klasse scheint mit dem System des Unterrichts vertraut, sie arbeitet still und es kommt keine Unruhe auf« (NxRSe).

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die vorliegenden Beschreibungen in-struktionale Aktivitäten fokussieren und dabei vorwiegend das Unterrichtsange-bot bzw. die beobachtbaren Unterrichtsprozesse erfassen. Der Aspekt der Nutzung wird nicht von allen Studierenden beachtet. Fachspezifika werden meist umschrie-ben, selten auf den Begriff gebracht. Die Rückführung der Lernprozesse auf ge-schichtsdidaktische Modelle wird kaum vorgenommen, hin und wieder wird ein Einzelaspekt wie »Fremdverstehen« oder »Gegenwartsbezug« erwähnt. Mit Blick auf die Aussagendichte der einzelnen Kommentare lässt sich feststellen, dass diese in beträchtlichem Maße variiert. Im Minimum wurde ein einziger Aspekt ange-sprochen, im Maximum deren 19, mit einer durchschnittlichen Anzahl von 9.65 (SD = 4.12). Diese Daten deuten auf eine beträchtliche Varianz bezüglich der se-lektiven Informationsverarbeitung (selective attention, noticing) hin.

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46 Themenschwerpunkt

7.2 Geschlossene Aufgabenformate

Die angehenden Lehrpersonen waren weiterhin aufgefordert, die betrachteten Vi-deoclips hinsichtlich einer Reihe fachlich abgestützter Merkmale der Unterrichts-gestaltung einzuschätzen (knowledge based reasoning). In Tabelle 2 sind die Dar-stellung der abgefragten Aspekte, die jeweils verwendete Anzahl Items sowie die Ergebnisse des Vergleichs mit der gesetzten Norm in Form der mittleren Prozent-zahl richtiger Antworten abgebildet. Die mittlere erreichte Übereinstimmung im Bereich der Beschreibung beträgt 36.4 Prozent; im Bereich der Bewertung waren es 34.6 Prozent. Werden die Einzelergebnisse zu den einzelnen Aspekten betrach-tet, so ergeben sich bei der Beschreibung im Aspekt »Quellenarbeit« die höchsten Übereinstimmungswerte, die tiefsten hingegen im Aspekt »Selbstverstehen/Iden-titätsreflexion«. Die Übereinstimmungswerte bei der Bewertung fallen in den As-pekten »Lebenskontexte von Menschen in vergangener Zeit« und »Analyse/Deu-tung einer Schulbuchdarstellung« am höchsten und im Aspekt »Selbstverstehen/Identitätsreflexion« am tiefsten aus. Die Daten zur Beschreibung verhalten sich zu denjenigen der Bewertung weitgehend parallel. Einzig beim Aspekt »Quellenarbeit« besteht ein deutlicher Unterschied, was darauf hindeutet, dass die Beschreibung der Quellenarbeit wesentlich einfacher war als die Beurteilung der erfolgten Lern-prozesse bei den Schülerinnen und Schülern.

Tab. 2: Geschlossene Items zur Unterrichtswahrnehmung: Prozent richtige Studierendenant-worten im Abgleich mit der Expertennorm

Clip Fachdidaktischer Aspekt

Zuordnung Kompetenz-bereich

Beschrei-bung/Be-wertung

Beschrei-bung: Mittlere % richtige Antworten

Bewer-tung: Mittlere % richtige Antworten

Anzahl Items

M (SD) M (SD)

Hitlerju-gend:

Lebenskontexte von Menschen in vergangener Zeit/Fremdverstehen

Orientierungs-kompetenz

6/6 46.7 (18.9) 42.0 (20.6)

Selbstverstehen/ Identitätsreflexion

Orientierungs-kompetenz

3/5 27.7 (27.2) 28.9 (23.5)

Kriegs-ausbruch 1939:

Quellenarbeit/Kontextualisie-rung einer Quelle

Methodenkom-petenz/De-/Re-Konstruktion

5/5 50.0 (26.2) 33.5 (28.6)

Schweiz im Zwei-ten WK:

Thematisierung der Perspektivität von Zeitzeugenbe-richten

Methodenkom-petenz/De-Kons-truktion

5/5 36.0 (37.8) 27.6 (30.2)

Selbstverstehen – Identitätsreflexion

Orientierungs-kompetenz

4/4 26.7 (20.5) 28.4 (22.0)

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Waldis et al.: »Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« 47

Einsatz von Fra-gen für den histo-rischen Erkennt-nisprozess

Fragekompetenz 4/3 31.8 (16.5) 30.3 (42.4)

Kolonia-lismus:

Analyse und Deu-tung einer Schul-buchdarstellung/Eigene historische Darstellung ver-fassen

Methodenkom-petenz/(Teil-)Re-Konstruktion

5/5 31.8 (19.4) 47.7 (19.4)

Gesamtmittelwert aller Aspekte

36.4 (12.4) 34.6 (15.9)

8. Diskussion

Obwohl in der Geschichtsdidaktik eine Zunahme von Arbeiten zu Geschichts-lehrpersonen zu vermerken ist, sind Forschungsarbeiten zum Ansatz der profes-sionellen Kompetenz noch nicht sehr zahlreich. Hinzu kommt, dass noch kein fachspezifisch ausgearbeitetes Modell zur professionellen Kompetenz vorliegt. Der vorliegende Beitrag enthält eine erste Skizzierung eines solchen Modells und be-schreibt einen möglichen empirischen Zugang zur Erfassung der Komponente des fachdidaktischen Wissens. Vorgestellt wurden theoretische und methodische Über-legungen zur Ausgestaltung eines Vignettentests. Das mittlerweile in einer beachtli-chen Anzahl von internationalen Studien verwendete Erhebungsformat kombiniert Ausschnitte videografierter Unterrichtssequenzen mit offenen und geschlossenen Aufgabenformaten mit der Absicht, handlungsnahe Kognitionen von Lehrpersonen erfassen zu können. Der hier vorgestellte Vignettentest für (angehende) Geschichts-lehrpersonen umfasste vier Unterrichtsclips, die mittels offenen und geschlossenen Aufgabenformaten bearbeitet werden mussten. Bei den geschlossenen Aufgaben erreichten die Studierenden eine mittlere prozentuale Übereinstimmung von 36.4 Prozent im Bereich der Beschreibung und von 34.6 Prozent im Bereich der Bewer-tung mit der Expertennorm. Vergleichbare Werte sind in anderen Studien zu fin-den.38 Die Ergebnisse zu den einzelnen Beobachtungsaspekten deuten darüber hi-naus darauf hin, dass gewisse Aspekte wie z. B. derjenige der Quellenarbeit leichter einzuschätzen waren als etwa der Aspekt Selbstverstehen/Identitätsreflexion. Hier-für gibt es mehrere Begründungen: Es ist denkbar, dass das didaktische Wissen bei angehenden Geschichtslehrpersonen zur Quellenarbeit deutlicher ausgeprägt ist

38 Kathleen Stürmer/Karen Könings/Tina Seidel: Declarative knowledge and professional vi-sion in teacher education: Effect of courses in teaching and learning. In: British Journal of Educational Psychology 83 (2013), S. 467–483.

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48 Themenschwerpunkt

als dasjenige zur Identitätsbildung.39 Möglich ist auch, dass die Sichtbarkeit letzte-ren Aspekts in den gezeigten Videoclips – und allenfalls auch in der Unterrichts-praxis – weniger deutlich ausfällt. Schließlich könnte auch die Schwierigkeit der Itemformulierungen eine Rolle spielen. Weiterführende Analysen anhand eines größeren Datensatzes, die mittels der Methode von Rasch (Item-Response-Theo-rie) die Bestimmung von Aufgabenschwierigkeit und Personenfähigkeit ermögli-chen, stellen den nächsten Schritt dar. Mittelfristiges Ziel sollte es zudem sein, die Ergebnisse der geschlossenen und der offenen Aufgabenformate miteinander zu kombinieren. Bis dahin sind allerdings noch einige Schritte zu gehen. Die Ana-lysen der erhobenen Kommentare zu einem ausgewählten Videoclip zum Thema »Jugend in der NS-Diktatur« vermitteln einen ersten Eindruck über die Ausprä-gung der selektiven Informationsverarbeitung. Dabei wird deutlich, dass sich fast alle Befragten mit dem Unterrichtsangebot beschäftigten. Die Frage, welche Effekte das gezeigte Unterrichtssetting auf der Seite der Lernenden erzielte, wurde dagegen deutlich weniger häufig in den Blick genommen. Es handelt sich hierbei um ein ty-pisches Verhalten, das bei Novizinnen und Novizen häufig beobachtet wird.40 Die Unterrichtskommentare betreffen oftmals allgemeine Aspekte des Unterrichtens, eindeutige Aussagen zu fachlichen oder fachdidaktischen Aspekten sind deutlich in der Minderheit und wo sie vorliegen, entsteht häufig der Eindruck einer ober-flächlichen Begriffsnennung. Sinnvoll ist sicherlich ein weiterführender Abgleich der Studierendenantworten mit den Kommentaren der Expertinnen und Exper-ten. Die bisher erhobenen Beobachtungen dieser Gruppe zielten sehr viel stärker auf die inhaltliche Gesamtaussage in den gezeigten Clips ab. Im vorliegenden Clip zur Hitlerjugend wurde u. a. sowohl die starre, schablonenhafte Darstellung des Zwangscharakters des nationalsozialistischen Staates durch die Lehrperson als auch die fehlende Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen von Anpassung und Resistenz festgestellt. Die Herausarbeitung solch qualitativer Differenzen in den Antworten der Studierenden im Abgleich mit den Kommentaren der Exper-tinnen und Experten dürfte zu weiterführenden Einsichten über den Stand des fachdidaktischen Wissens führen.

Für die zukünftige Arbeit an den vorliegenden Daten ergeben sich darüber hi-naus weitere Anknüpfungspunkte. Erstens führt die vorerst an einem Clip ge-wonnene Beobachtung, dass in den Reflexionen der Studierenden mehrheitlich organisatorische und methodische Aspekte im Vordergrund stehen, Aussagen zur fachlichen und psychologischen Tiefenstruktur des Unterrichts jedoch fehlen, zur Frage, was von (angehenden) Lehrpersonen überhaupt erwartet werden darf bzw. kann. Zweitens muss nach der inhaltlichen Reichweite der beschriebenen Befunde gefragt werden. Zeigt sich darin ein Versäumnis der Lehrerbildung, Studierende auf herausfordernde Themen wie Anpassung, Resistenz und Umgang mit einem

39 Ein Grund hierfür könnte der häufige Einsatz von Textquellen im schulischen Geschichts-unterricht sein, wie dies z. B. Michael Sauer jüngst für Deutschland herausgearbeitet hat. Vgl. Michael Sauer: Quellenarbeit im Geschichtsunterricht. Empirische Befunde. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 176–197, hier S. 194 f.

40 Vgl. Blömeke (Anm. 19), S. 38.

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Waldis et al.: »Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« 49

totalitären System vorzubereiten? Bei der weiterführenden Interpretation müssen Aussagekraft und Grenzen solcher Befunde sorgfältig bedacht werden. Ein dritter Punkt betrifft die Ausgestaltung des Testinstruments für die Hauptstudie, kann doch eine gewisse Diskrepanz zwischen den Studierendenkommentaren zu den offenen Aufgaben und der Ausgestaltung der geschlossenen Items hinsichtlich ihrer Differenziertheit festgestellt werden. Für die Entwicklung weiterer Testauf-gaben stellt sich deshalb die Frage, wie differenziert die standardisierten Aufga-benformate ausgearbeitet sein sollen, um das Wissens- und Fähigkeitsniveau der Getesteten adäquat zu erfassen. Neben der Bestimmung des Aufgabenniveaus und der Testschwierigkeit geht es dabei auch um die übergeordnete Frage der Norm-setzung bzw. die Klärung der Frage, was Abgängerinnen und Abgänger der Leh-rerinnen- und Lehrerbildung im Fach Geschichte wissen und können sollen. Die Antwort darauf ist letztlich nicht allein auf empirischem Weg zu suchen, handelt es sich hierbei doch um eine hochschuldidaktische, bildungstheoretische und bil-dungspolitische Grundsatzfrage.

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