Ethnologie, eine besonders gefährliche Sportart? Oder: Feldforschung und die Komplexität ethischer...

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Ethnologie, eine besonders gefährliche Sportart?

Oder: Feldforschung und die Komplexität ethischer Probleme

(Dr. Susanne Rodemeier: Juni 2013)1

Nigel Barley bekam von seiner Reisekrankenversicherung bestätigt, dass der geplante

Forschungsaufenthalt in Indonesien keinen besonderen Versicherungsschutz benötige, weil

die Durchführung einer Feldforschung nicht zu gefährlichen Sportarten zähle (1989: 15).

Wenn ich allerdings die letzten 20 Jahre überdenke, in denen ich in Indonesien forschte,

bezweifle ich, dass die Versicherung ihre Entscheidung gut überlegt hat. Zwar war ich

vermutlich nie in unmittelbarer Gefahr selbst ein Opfer von Gewalttaten zu werden, aber ich

konnte es auch nicht mit Sicherheit ausschließen. Möglicherweise basierten anfangs die

Freundlichkeit und der Schutz meiner Gastgeber darauf, dass sie sich vor Vorwürfen durch

Nachbarn fürchteten, falls mir in ihrer Obhut etwas zustoßen würde. Aber sehr schnell

entstand ein enges Vertrauensverhältnis, in dem sie sich ebenso um mein Wohl und meine

Gesundheit sorgten, wie ich mich um ihre. Während eines einjährigen Forschungsaufenthalts

in den Jahren 1999/2000 und wiederholter kürzerer Besuche in den darauffolgenden Jahren

im Alor-Pantar-Archipel von Ostindonesien erhielt ich Einblick in Bereiche des Lebens, die

zwar vor Fremden nur schwer verborgen werden können, deren Komplexität sich für mich

aber nur über die Länge der Zeit erschloss.

Die im Folgenden vorgestellten Beispiele und Überlegungen stammen aus dem

Umfeld von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder, und aus dem Umfeld von Hexerei.

Erstere war für mich keine unmittelbare Gefahr, wohingegen meine Informanten Angst

hatten, dass ich entweder von Hexerei getroffen werden oder selbst eine Hexe sein könnte.

Hexerei äußert sich in mindestens zwei Formen von Gewalt: indirekte Gewalt durch Tötung

von Menschen mit Hilfe spiritueller Mittel, die, so glaubt man, von als Hexen geltenden

Männern wie auch Frauen ausgeführt werden, sowie die direkt, weil sichtbare Gewalt, in

Form von Ermordung von Hexern und Hexen durch Bewohner der Inselgruppe aber auch

durch Staatsbedienstete.

Die Gemengelage an lokalen, nationalen und transnationalen Interessensgruppen

macht es für jede Ethnologin, die längere Zeit in der Region lebt, notwendig, ganz im Sinne

der Frankfurter Ethikerklärung der DGV darüber nachzudenken, ob es möglich ist, Gewalt

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dauerhaft ein Ende zu setzen. Idealerweise setzt man dabei an Stellen an, die die lokale

Bevölkerung oder zumindest Einzelpersonen aufgrund ihrer persönlichen Biographie

ebenfalls als Unrecht ansieht. Deshalb werde ich im Folgenden Erlebnisse und

Beobachtungen konkreter Situationen, in denen währende meiner Forschungsaufenthalte

Gewalt und die Angst der lokalen Bevölkerung vor Gewalt – auch Angst um mich – von

Bedeutung waren, vorstellen. Auf dieser Basis werde ich abschließend Überlegungen darüber

anstellen, wie erfolgreich und manchmal doch kontraproduktiv konkrete Maßnahmen des

Staates, protestantischer Pfarrer und muslimischer Vorbeter Gewalt zu verhindern, sind. Am

Beispiel der Brautpreiszahlungen werde ich zeigen, wie problematisch, weil in der

Komplexität der Folgen kaum überschaubar, auf Veränderung zielende Einmischungen sein

können. Denn, so wie es momentan aussieht, führt das Verbot eine Braut zu kaufen bzw. zu

verkaufen, tendenziell dazu, dass die bisher durch Heirat scheinbar unauflösbar ineinander

verwobenen christlichen und muslimischen Familien eher mono-religiös heiraten, wodurch

religiös einheitliche Wohnorte entstehen. Darüber hinaus unterstützt die Bevorzugung

religiöser vor staatlicher Schulausbildung die auseinanderentwickeln der Gesellschaft weiter.

Einleitung  

Einige meiner Informanten hatten, vielleicht zu Recht, Angst, dass ich Opfer eines

Fluchs oder von Hexerei werden könnte. Was mich vermutlich geschützt hat, war, dass ich

mir, zugegebener Maßen ziemlich naiv, einredete, dass jeder Mensch eigentlich gut ist.

Tatsächlich wurde mein bemüht freundliches und höfliches Auftreten, wenn ich mich recht

erinnere, immer in der erhofft entgegenkommenden Form erwidert. Der Aufbau eines

Vertrauensverhältnisses wird in Indonesien dadurch erleichtert, dass es in kaum einem Dorf

ein Gasthaus gibt. Wohnt man nämlich privat, meistens beim Bürgermeister, dann steht man

als Gast unter dem Schutz des Gastgebers. Die anderen Mitglieder des Haushaltes fühlen sich

ebenfalls dafür verantwortlich, dass ein Gast weder Hunger noch Durst leidet, und ihm vor

allem nichts zustößt. Um auf Nummer Sicher zu gehen, wurde mir deshalb strengstens

verboten, alleine das Dorfgebiet zu verlassen. Man machte mir manches Mal ziemlich

energisch klar, dass ich nur geschützt werden kann, wenn ich mich an bestimmte

Verhaltensvorgaben halte. Meine Versuche, mir meine Bewegungsfreiheit dennoch zu holen,

erleichterten die Bemühungen meiner Gastgeber nicht. Im Rückblick weiß ich, dass

kulturimmanente Gründe ihr Bestreben, mich zu schützen, wesentlich erschwerten, was sich

aus den in diesem Artikel angesprochenen Themenkomplexen erahnen lässt.

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Um sich als Forscherin vor Schwierigkeiten zu schützen, wäre es sicherlich ideal,

gleich bei Forschungsantritt besonders darauf zu achten, wie sich die Menschen in den als

kritisch vermuteten Situationen verhalten. Ob sie Formen des Selbstschutzes entwickelt

haben, die man ebenfalls anwenden kann oder denen man lieber aus dem Weg gehen möchte.

Dennoch ist es sicherlich so, dass man emische Möglichkeiten und Grenzen mit

Krisensituationen umzugehen, meist erst während der Forschung kennenlernen kann und dann

recht spontan und auf Basis des eigenen Recht- bzw. Unrechtsbewusstseins reagieren wird.

Auf Situationen von Gewaltanwendung im Forschungsfeld kann man sich aber

durchaus vorbereiten. Dazu hilft es, Beschreibungen konkreter Konfliktsituationen

durchzudenken und sich über die eigene Reaktion in einem vergleichbaren Fall Gedanken zu

machen. Ich wurde von manchen Situationen völlig unerwartet getroffen und reagierte

keineswegs souverän und überlegt. Ich glaube, das hätte nicht sein müssen, hätte ich die

Möglichkeit zwischenmenschlicher Krisensituationen in meine Forschungsvorbereitung

einbezogen. Im Rahmen der Forschung vorbereitenden Lektüre kann es hilfreich sein, darauf

zu achten, was über lokale Umgangsformen geschrieben wird, selbst wenn es oft nur

zwischen den Zeilen versteckt steht. Man könnte sich beispielsweise Gedanken darüber

machen, welche Emotionen und Verhaltensnormen mit der in der Forschungsregion einmal

verbreiteten Kopfjagd einhergegangen sein könnten. Selbst wenn sie vor nunmehr über

hundert Jahren erfolgreich verboten wurde, wäre es doch denkbar, dass Muster der damaligen

normativen Ordnung von neuen Normen nur überlagert wurden und deshalb in

Krisensituationen wieder ausbrechen können. Allerdings daraus das abzuleiten, was ich bei

meinem ersten Besuch auf Alor befürchtete, scheint mir heute übertrieben.

Damals war ich aufgrund der Verkettung unglücklicher Zufälle am späten Nachmittag,

so gegen Sonnenuntergang noch nicht in dem Dorf angekommen, das ich zum ersten Mal

besuchen wollte. Ich war alleine unterwegs und es näherte sich die Stunde, in der jeder auf

Alor lieber zuhause ist als auf der Straße, weil in der Dämmerung die Geister unterwegs sein

sollen und man sich vor ihrer Willkür fürchtet. Dazu kam, dass mein Verhalten, alleine zu

gehen, extrem untypisch für eine in der Region fremde Person war. Ich hätte von jemandem,

den man im Dorf kennt, begleitet werden müssen. So wie ich unterwegs war, bestand für mich

die Gefahr, dass man mich als Geist (hantu oder suanggi) ansehen und sich vor mir fürchten

würde. Die Möglichkeit, als umherirrender Geist angesehen zu werden, war besonders groß,

weil meine helle Hautfarbe und die hellen Augen als typisch für Geister gelten. Als ich mich

dem Dorf näherte, sah ich immer wieder abseits des Weges Jäger mit Pfeil und Bogen über

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der Schulter und einem kleinen Hund neben sich, mich anstarren. Sobald ich sie entdeckte,

begrüßte ich sie auf Indonesisch und sagte, dass ich zum Bürgermeister ins Dorf gehen wolle.

Sofort entspannten sie sich und bestätigten mir, auf dem richtigen Weg zu sein und ermutigten

mich, weiter zu gehen. Offenbar hatte ich mich durch die Verwendung des Indonesischen als

jemand gezeigt, die in die neue von Geistern weitgehend freie Welt gehört, in der man

Indonesisch und keine Lokalsprache spricht.

In späteren Situationen der Kontaktaufnahme, war ich vorsichtiger. Als hilfreiche

unmittelbare Vorbereitung der Forschung stellte sich meine Kontaktaufnahme zu Studenten

aus Alor, die in der Diaspora, in der Provinzhauptstadt Kupang lebten, heraus. Ich hatte sie

gebeten, mir von ihrer Heimat zu erzählen, weil ich mir, damals selbst Studentin, gar nicht

recht vorstellen konnte, was mich dort erwarten würde. Sie schilderten die Insel in den

schönsten Farben und gaben mir die Adressen ihrer Eltern als Anlaufstellen aber natürlich

auch, um einen Gruß auszurichten. Zwar wurde ich dadurch keineswegs auf

Gewaltsituationen vorbereitet, aber die Adressen waren doch eine große und über die Jahre

stabile Unterstützung. Über sie fand ich viele meiner besten Informanten. Eine dieser

Familien besuchte ich bei meinem letzten Aufenthalt auf Alor, nach vielen Jahren wieder. Da

erfuhr ich, dass der Vater vor einigen Jahren verstorben war. Durch meine Fragen angeregt,

hatte er jahrelang an der Verfassung der Ursprungsgeschichte seiner Heimatregion

geschrieben und hatte seiner Frau aufgetragen, mir den Text zu übergeben, wenn ich das

nächste Mal kommen würde. Dass ich irgendwann kommen würde, stand für ihn außer Frage.

Eine Vorentlastung der Forschungssituation kann auch sein, dass man vor

Forschungsantritt Kontakt zu lokalen, nationalen und transnationalen Initiativen, die in der

Forschungsregion aktiv sind und Erfahrungen mit lokalen Umgangsformen haben, aufnimmt.

Zu diesen lokalen Initiativen zählen staatliche, wie auch religiöse Organisationen, oder

Tourismusunternehmen. Oft haben sie stark divergierende Vorstellungen davon, was in der

betreffenden Gesellschaft geändert werden muss, damit die Menschen friedlich und zufrieden

leben können. Noch widersprüchlicher sind die Wege, die diese Organisationen verfolgen, um

ihre Ziele zu erreichen. Erstaunlich ähnlich sind sie einander allerdings bezüglich ihrer

Einschätzungen, warum ihre hehren Ziele bisher nicht erreicht werden konnten. Fast immer

wird die Schuld bei der lokalen Kultur gesehen, weil deren Handlungen und

Wertvorstellungen einem besserem Leben im Weg stehen würden. Ob die Organisationen mit

dieser Einschätzung recht haben, muss natürlich hinterfragt werden, wofür eine ethnologische

Langzeitforschung ideale Voraussetzungen bietet.

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Wie schwierig eine differenzierte Einschätzung der Verhältnisse allerdings sein kann,

möchte ich im Folgenden ausführen. Meine Informanten fühlten sich permanent von

spirituellen Kräften bedroht, und fürchteten, dass diese Kräfte auch für mich als fremde

Teilnehmerin am Gemeinschaftsleben eine Gefahr darstellen könnten. Zwar hatte einer

meiner späteren Hauptinformanten bereits in den ersten Tagen meines Aufenthalts die Ahnen

über meine Anwesenheit und mein Vorhaben informiert und sie um wohlwollende Begleitung

gebeten. Das änderte aber nichts daran, dass beispielsweise über die Ursache meines Malaria-

Anfalls lange diskutiert wurde. Als sich jedoch herausstellte, dass ich ihn selbst verschuldet

hatte, weil ich im Meer gebadet und zudem Kokosnusswasser getrunken hatte, waren alle

erleichtert. Mein Fehlverhalten belegte, dass ich nicht Opfer eines Fluches durch den alten

Mann, in dessen Haus ich die vergangenen Tage im Landesinneren gewohnt hatte, geworden

war. Wäre nämlich ein Fluch die Krankheitsursache gewesen, dann hätte es in ihrer

Verantwortung gelegen, mich zu heilen. So aber konnte man mich als Europäerin der

westlichen Medizin überlassen, um deren Beschaffung ich mich selbst kümmern konnte.

Häusliche  Gewalt  gegen  Frauen  und  Kinder  

Insbesondere Beobachtungen von und Erzählungen über direkte und indirekte Gewalt

erschütterten meine ethischen und moralischen Vorstellungen seit meines ersten kurzen

Aufenthalts auf Alor im Jahr 1989. Damals kam ich als Studentin, um zu testen, ob ich

überhaupt mit einer Forschungssituation und mit dem Leben in dieser Region zurechtkommen

würde. Schnell wurde mir klar, dass für mich die von Ethnologen erwartete Prämisse der

Nicht-Einmischung ins Feld Grenzen hat. Spätestens in Situationen, in denen ich Zeugin von

Gewalt gegen Frauen und Kinder werde, versuche ich aktiv einzuschreiten und den

Gewaltausbruch zu beenden. In einem Fall, als eine Mutter ihre Tochter fast bewusstlos

schlug, griff sogar meine Hauptinformantin ein und holte das Mädchen in unseren Haushalt.

Dort berieten wir, wie wir weiter verfahren könnten. Wir sahen zwei Möglichkeiten: das

Kind mit in die Stadt zu nehmen oder bei ihren Eltern zu lassen. Mitfahren wollte das Kind

nicht, einfach zurückgeben wollten wir es jedoch auch nicht. Meine Informantin wollte das

Kind bis zum nächsten Morgen bei sich lassen und dann entscheiden, was gemacht werden

soll. Ich dagegen verlangte etwas, was in dieser Kultur völlig absurd ist, nämlich dass die

Eltern sich in meiner Gegenwart bei dem Kind entschuldigen sollten. Alle beobachten

neugierig aber auch distanziert, was nun passieren würde. Tatsächlich kamen die Eltern,

erklärten mir, wie es zu dem Vorfall kam und entschuldigten sich bei mir. Über längere Zeit

lehnte ich ab, die Entschuldigung anzunehmen, und verwies immer wieder darauf, dass ich

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der falsche Adressat sei. Schließlich wollten meine Freundin und ich das Kind nicht länger

quälen und ließen es zurück zu ihren Eltern – ohne deren Entschuldigung. Die Situation und

die Diskurse, die die Situation begleiteten, waren spannend und gaben mir Einblick in die

Überforderung und Verzweiflung der Eltern mit der Versorgung ihrer vielen Kinder.

Nachdem die Eltern ihre Verzweiflung auf die Schwierigkeit der Versorgung einer stetig

wachsenden Zahl von Kindern schoben, versuchten mir einige der Beobachter dieser Szene

klar zu machen, dass das Problem der Familie in der Verantwortungslosigkeit des Ehepaares

liegt. Es sei kein Wunder, dass sie viele Kinder haben, da sie sich nicht um

Empfängnisverhütung kümmerten. Zudem sei der Vater faul und die Mutter eine Cholerikerin

und hartherzig. Beide Seiten hielten es für notwendig, etwas dagegen zu tun, dass ich einen

schlechten Eindruck von ihnen und ihrem Dorf haben könnte. Sie hatten bemerkt, dass eine

Erklärung, warum jemand so aggressiv wird, dazu helfen kann, meine Ablehnung in Mitleid

umzuwandeln und mich dadurch eher wieder positiv für sie einzunehmen.

Interessant war dieser Vorfall aus mehreren Gründen. Es wurde als notwendig

angesehen, das Aufkommen von Gewalt zu analysieren und sich bzw. mir Erklärungen

zurechtlegen. Zudem hat meine Informantin, die Situation ohne dass ich sie überhaupt schon

bemerkt hatte, als Problem angesehen und das Kind „sichergestellt“. Ihre Problembewusstsein

ging nicht sonderlich weit, brachten sie doch schon ihrem kleinen Kinder, das kaum stehen

konnten, bei, ein anderes Kleinkind zu schlagen und rief ihm deshalb zu: pukul dia! pukul dia!

– „schlag ihn/sie! schlag ihn/sie!“, wenn sich die Kleinen beispielsweise um ein Spielzeug

stritten. Erst als ich sie darauf hinwies, dass sie wie andere Frauen auch damit ihren Kindern

Konfliktlösungsstrategien antrainierten, die sie bei den Erwachsenen oft beklagen, war sie

irritiert. Ich hatte gedacht, dass sie, die selbst Opfer eines gewalttätigen Ehemanns ist,

besonders sensibel gegenüber jeglicher Form des Schlagens wär. Das war jedoch nicht der

Fall. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, dass Kleinkinder etwas erlernen, was sie im

Erwachsenenalter anwenden. 2 Darüber war wiederum ich verwundert, zumal sie

Grundschullehrerin ist.

Manchen Frauen ziehen inzwischen aber doch Schlüsse aus ihrem Wissen, dass viele

Männer ihre Ehefrau schlagen und entwickeln ihre eigenen Strategien, sich dauerhaft zu

schützen. Mein Besuch in einem Dorf im äußersten Osten der Insel Alor begann mit einem

kleinen Plausch in der Küche, wo eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter das Abendessen

zubereitete. Sie kochten für mich und meinen männlichen Begleiter, der in diesem Dorf

bereits einige linguistische Forschungen durchgeführt hatte, sowie den Ehemann bzw. Vater,

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dem einzigen Mann, der aktuell dauerhaft in diesem Haushalt wohnte. Mein Verhalten war

insofern ungewöhnlich, als Fremde und Männer fast nie die als weibliche Domäne

angesehene Küche betreten. Ich nahm mir das Privileg des Küchenzutritts als Frau heraus,

obwohl ich dadurch bei den beiden Frauen Irritation auslöste. Da ich Indonesisch spreche, und

klar war, dass wir uns problemlos ohne männliche Übersetzer unterhalten konnten, überwog

schnell die Neugier. Im Rahmen der gegenseitigen Befragung kamen wir wie in Indonesien

üblich bald zum Thema Ehe. Ich fragte, ob die Tochter schon verheiratet sei oder bald

heiraten würde. Sie antwortete prompt, ohne der Mutter eine Chance zu geben, ihr zuvor zu

kommen. Sie meinte, sie hätte nicht vor, überhaupt zu heiraten. Da all ihre Geschwister auf

den Nachbarinseln Arbeit und Heiratspartner gefunden hätten, würden sie nicht mehr

nachhause zurückkehren. Deshalb fühle sich die Tochter verpflichtet, für ihre Eltern bis zu

deren Tod zu sorgen. Aufgrund der viri-patrilokalen Heiratsregeln sei dies nach der Ehe nur

noch beschränkt oder gar nicht mehr möglich. Abgesehen davon, hätte sie keine Lust darauf,

sich der Gefahr, einen gewalttätigen Mann zu erwischen, auszuliefern; und zudem die volle

Verantwortung für die Ernährung des Mannes, dessen Eltern, dessen unverheirateter

Geschwister und ihrer eigenen Kinder zu tragen. Denn die Feldarbeit und Vorratshaltung ist

in den trockenen Tropen, in denen die Trockenzeit mindestens acht Monate dauert, und im

karstigen Boden Regenwasser schnell versickert, hart. Männliche Hilfe auf dem Feld und

beim Wasserschleppen kann eine Frau nur erhoffen, aber nicht erwarten.

Brautpreis wie auch genderspezifische Arbeitsteilung sind wesentliche Faktoren, die

dazu beitragen, dass Gewalt in der Ehe gesellschaftlich geduldet wird. Lokale Formen der

Altersvorsorge verschärfen das Problem noch. Versucht man, die Kindersterblichkeit sowie

den Mangel an Arbeitskräften aufgrund von Abwanderung, durch hohe Geburtenraten

auszugleichen, dann sehen sich insbesondere die Frauen in der Verantwortung, ihre Kinder zu

ernähren. Angesichts von Trockenheit und Ernteausfällen, sowie geringer Unterstützung bei

der Feldarbeit seitens der Männer, sind insbesondere Frauen leicht reizbar und entsprechend

feindselig gegenüber den männlichen Familienmitgliedern. Nur wenn eine Frau Töchter hat,

können diese auf Dauer eine Entlastung bringen. Sie sind die einzigen, auf die sich eine

Mutter verlassen und auf die sie auch Druck ausüben kann. Wie oben geschildert, passiert es

nicht selten, dass ein Mädchen von seiner Mutter geschlagen wird, wenn es bei der

Durchführung ihrer Arbeitsaufträge nachlässig ist.

Am Morgen nach dem abendlichen Gespräch in der Küche begegnete ich auf der

Dorfstraße einem Mann, von dem ich annahm, dass er verheiratet sei. Er kämpfte sichtlich

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und hörbar mit den Folgen seines vorabendlichen Alkoholgenusses und zögerte nicht, mich

aufdringlich und für diese Gegend unüblich laut und unhöflich anzusprechen. Dagegen setzte

ich mich mit der Bemerkung zur Wehr, dass er sicherlich auch einer von denen sei, die ihre

Frau verprügeln. Seine nun folgende Reaktion hatte ich durch diese Bemerkung provoziert.

Interessant ist sie aber dennoch, denn sie spricht mindestens eine Ursache des Problems der

häuslichen Gewalt an, nämlich die Brautpreiszahlungen. Dazu muss man wissen, dass ein

Bräutigam den von den Brauteltern geforderten Preis in Form von einer oder mehreren

bronzenen Kesseltrommeln (moko) bezahlen sollte. Sobald die Zahlung erfolgt ist, ist er den

Brauteltern zu nichts mehr verpflichtet. Die Braut, sowie ihre Arbeitsleistung einschließlich

der von ihr zur Welt gebrachten Kinder, gehören von da an dem Bräutigam und zählen zum

Besitz seiner Patrilinie. Dieser Tatbestand sowie mein provokantes Auftreten brachten ihn zu

der Antwort, dass Frauen natürlich geschlagen werden müssen, schließlich seien sie ja eine

Trommel (moko), und sind folglich „Schlaginstrumente“ („moko harus dipukul“).

Da Männer ihre Aufgaben in erster Linie im wirtschaftlichen Bereich sehen,

investieren sie einen Großteil ihrer Energie in Brautpreisüberlegungen und in entsprechende

Zahlungsverhandlungen (DuBois 1940). Durch geschickte Verhandlungen können sie

wesentlich zur Entlastung der Ehefrau beitragen. Die für Brauteltern sehr erfolgversprechende

Möglichkeit ergibt sich daraus, dass ein Bräutigam anstatt einer moko als Brautpreis auch ihr

Äquivalent, eine Frau, an die Brauteltern bezahlen kann. Da bis zu dem Zeitpunkt, bis moko

oder Frau im Tausch gegen die Braut gegeben wurden, der Wohnsitz uxori-patrilokal ist und

sämtliche Früchte der Arbeit bei den Brauteltern bleiben, besteht für ein junges Paar großer

Druck ein Mädchen zur Welt zu bringen. Dieses Mädchen kann von seinen Eltern als

Säugling oder auch erst im heiratsfähigen Alter in den Haushalt der Brauteltern gegeben

werden. Erst wenn sie dazu bereit sind, sind sie frei, an den viri-patrilokalen Wohnsitz, den

der Eltern des Bräutigams, umzuziehen. Solange sie diesen Schritt nicht machen wollen oder

in Ermangelung einer Tochter nicht machen können, muss das Brautpaar bei den Brauteltern

leben und sind diesen arbeitsverpflichtet. Ein Mann fühlt sich dadurch schutzlos dem Vater

der Braut ausgeliefert. Für die Braut hat die Situation allerdings den Vorteil, dass sie, um im

Bilde zu bleiben, eben keine moko-Trommel ist und deshalb sich dem Mann verweigern kann,

falls er sie schlagen sollte. Sobald aber der Brautpreis gezahlt ist, muss die Braut in den

Haushalt des Bräutigams umziehen, wo sie sich dem Regiment der Mutter des Bräutigams

unterzuordnen hat. Oft darf sie nicht einmal am Herd des Hauses kochen und muss sehen,

woher sie ihr Essen bekommt. Das ändert sich grundlegend, mit der Geburt des ersten Kindes.

Erst dann gilt sie als eine Investition, die sich gelohnt hat und die geachtet wird. Das ist auch

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der Zeitpunkt, ab dem sie in der Regel nicht mehr befürchten muss, von ihrem Mann

geschlagen oder gar als Hexe, die Unheil in die Familie bringen will, angesehen zu werden.

Ein weiteres Beispiel aus meiner Feldforschung im Alor-Pantar-Archipel

veranschaulicht, wie die Unmöglichkeit einen Brautpreis zu zahlen, für alte Menschen eine

Altersversorgung garantiert, für das betroffene Brautpaar aber einer Leibeigenschaft

gleichkommt, was ebenfalls zur Erhöhung der Gewaltbereitschaft beiträgt. Das alte Ehepaar,

das ich hier als Beispiel heranziehe, hatte fünf Kinder aufgezogen, und dafür gesorgt, dass die

meisten von ihnen eine Schulausbildung bekamen. Als die Kinder jedoch erwachsen waren,

zogen sie in die angrenzenden Städte. Da ihr Vater seinen Wohnsitz dauerhaft in der Nähe der

Gräber der Ahnen haben wollte, um im Todesfall die Chance zu haben, in deren

Gemeinschaft aufgenommen zu werden, war für ihn ein Umzug an den städtischen Wohnsitz

seiner Kinder undenkbar. Nun hatte eine Schwester des alten Mannes eine Tochter, die als

Äquivalent des bisher nicht bezahlten Brautpreises im Haushalt des alten Mannes, ihres

Mutterbruders aufwuchs. Als die Eltern des Mädchens verstarben, adoptierte der alte Mann

das Mädchen und befreite sich dadurch von der Verpflichtung, sie mit einem seiner Söhne

oder Enkel zu verheiraten. Durch die Adoption konnte er den Bräutigam entsprechend seiner

Bedürfnisse auswählen. Er wählte einen jungen Mann, der sehr fleißig aber ohne jeglichen

Besitz war. Zudem hing diesem Mann das Stigma an, dass er als Jugendlicher mit seiner

Mutter Geschlechtsverkehr gehabt haben sollte. Diese Vorgeschichte garantierte, dass der

fleißige Mann seine Verheiratung als einzige Chance interpretieren würde, überhaupt eine

Frau zu bekommen und deshalb von ihm keine Probleme aufgrund von Unzufriedenheit zu

erwarten waren. Für das junge Paar bedeutete es im Gegenzug, dass sie solange für den alten

Mann arbeiten müssen, bis sie bereit wären, eine Tochter entweder allein bei ihm wohnen zu

lassen oder gemeinsam so lange für ihn zu arbeiten, bis eine ihrer Töchter mit einem der

Enkel des alten Mannes verheiratet werden würde. Das Brautpaar hatte inzwischen mehrere

Töchter, wollte aber keines alleine in dem Haushalt zurücklassen, weil der alte Mann ganz

offensichtlich seiner Verpflichtung nicht nachkam, alle, die unter seinem Dach lebten, zu

schützen. Das schloss das Paar aus der Tatsache, dass sechs ihrer Kinder zum Zeitpunkt

meines Forschungsaufenthalts im Alter von weniger als zehn Jahren verstorben waren. Als

Todesursache konnten sich die Eltern nur erklären, dass der alte Mann entweder selbst Magie

gegen sie anwandte oder nicht bereit bzw. in der Lage war, Magie, die von anderen ausging

und auf das Paar gerichtet war, von ihnen fern zu halten.

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Diese Familiensituation zeigt deutlich, dass die Ablehnung einer Brautpreiszahlung

zwar mit etwas Glück Gewalt eines Ehemanns gegenüber seiner Frau verhindern kann, aber

die Alternativsituation kann ähnlich schwierig sein und Verzweiflung hervorrufen. Immer

mehr junge Paare nutzen deshalb die Möglichkeit des „Heiratens durch Weglaufen“ (kawin

lari). Sie ziehen ohne Einverständnis ihrer Eltern und ohne ihnen ihren Aufenthaltsort

mitzuteilen in eine Stadt, um dort zu leben und zu arbeiten.

Die Möglichkeit, wegzulaufen, nutzen auch immer mehr Frauen, die von ihrem Mann

geschlagen werden. Eine Möglichkeit, die erst seit Einführung der Schulbildung als Option

angesehen wird. Manche versuchen vor einer Flucht, sich Hilfe bei der Polizei zu holen, weil

der Staat Gewalt in der Ehe unter Strafe gestellt hat. Doch blickt man genauer auf die Folgen

einer derartigen Anzeige, dann fällt auf, dass dadurch zahlreiche Folgeprobleme in Gang

gesetzt werden. Für die betroffene Frau ist es bereits schwierig, den Weg zur Polizeistation in

der Inselhauptstadt zurückzulegen, ohne von Verfolgern eingeholt und zurück ins Dorf

gebracht zu werden. Falls sie die Polizeistation erreicht, wird man ihr Anliegen aufnehmen

und sie wieder nachhause schicken. Ihr Mann wird dann einbestellt und ob seines Verhaltens

gerügt. Er gelobt Besserung und die Sache ist aus Sicht der Polizei erledigt. Dass die Frau nun

in noch größeren Schwierigkeiten steckt als vor der polizeilichen Meldung, kann man sich

vorstellen. Für sie bleiben nur noch wenige Optionen, will sie nicht weiter geschlagen

werden. Falls ihr Brautpreis bereits bezahlt wurde, kann sie nicht zurück zu ihren Eltern. In

diesem Fall müsste nämlich ihr Brautpreis zurückerstattet werden, was in der Regel

unmöglich ist, da er bereits zur Begleichung alter Schulden oder zur Verheiratung ihres

Bruders ausgegeben wurde. Viele Frauen entscheiden sich deshalb dazu, ihre Heimatregion zu

verlassen und auf eine andere Insel auszuwandern. Vor der Reise haben sie wenig Angst, da

sie während ihrer meist dreijährigen Schulzeit3 wenigstens lernten, Zahlen zu lesen und

deshalb mit Geld umgehen können. Das Geld für die niedrigen Transportkosten haben sie

entweder auf dem Markt eingenommen, oder von Geld, das sie als Spenden in der Kirche

hätten in den Klingelbeutel legen sollen, es aber stattdessen gesammelt haben.

Meistens führt sie ihr Weg zu Verwandten der eigenen Eltern oder zu anderen Leuten

aus deren Heimatdorf, die in den Großstädten der Nachbarinseln leben. Die Familie des

Ehemanns wird man meiden. Am neuen Ort wird ihre Arbeitskraft abermals ausgebeutet.

Diese „Flüchtlinge“ haben das niedrigste Ansehen aller, die gemeinsam in einem Haushalt

leben. Sie müssen als Haushaltshilfe Tag und Nacht bereit stehen, müssen für alle

Haushaltsmitglieder putzen, waschen, bügeln und kochen, und dürfen das Haus in vielen Fälle

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nicht verlassen, um etwa zum Markt zu gehen. Manche Hausbesitzer oder -besitzerinnen

verbieten ihnen sogar den Kirchgang. In ihrer Verzweiflung lassen sich die Frauen mit

irgendeinem Mann ein, werden schwanger und werden nun in die Verantwortung des Vaters

ihres Kindes überlassen. Falls dieser der zweite Ehemann ist, weil die Frau vor dem ersten

floh, kann sie nur hoffen, dass er freundlich zu ihr ist. Sie hat keinerlei Handhabe, sich gegen

ihn aufzulehnen, weil er von Rechts wegen sogar verpflichtet wäre, den ersten Mann

auszubezahlen, sie aber dankbar ist, bei ihm wohnen zu können und den bisherigen

Verhältnissen entkommen zu sein. Solange das Paar auf einer anderen Insel lebt, ist sie

wenigstens vor Einmischung durch den ersten Mann sicher.

Während meines Forschungsaufenthaltes lernte ich neben einigen derartigen Fällen

noch einen kennen, der das Problem der Frauen potenzierte. Ein Mädchen war vor einer

Zwangsverheiratung auf die Nachbarinsel in den Haushalt ihres Bruders geflohen. Dieser

Bruder hatte einen Glücksbringer aus dem Heimatdorf bei sich, ein kleines Fläschchen in dem

einige Tränen einer Seekuh waren. Als er diesen Glücksbringer von jemandem aus dem Dorf

erhalten hatte, war er gewarnt worden, dass jede Frau, die die Dugongtränen in die Hände

bekäme, liebestoll nach ihm werden würde. Angeblich geschah genau dies, als seine

Schwester für ihn Wäsche wusch. Er konnte sich nicht gegen sie wehren und es kam zu einem

Fall von Inzest mit Schwangerschaftsfolgen. Die schwangere Schwester musste den Haushalt

nun verlassen. Nachdem sie einige Zeit am Dorfrand des Dorfes ihrer Eltern in einer Hütte

gehaust hatte, nahmen ihre Eltern sie und das Kind zu sich. Sie half nun ihrer Mutter im

Haushalt und auf den Feldern. Jeder ging davon aus, dass ihre regelmäßig wiederkehrenden

Schmerzen als Folgen des Inzests und daher als Strafe durch die Ahnen für den Tabubruch

anzusehen seien. Derartige Strafen müssen ertragen werden; niemand wollte ihr helfen.

Das Problem, dass Krankheit als Strafe durch spirituelle Kräfte, meist durch Ahnen

oder Hexer angesehen wird, ist in ganz Ostindonesien verbreitet. Damit bin ich bei einem

weiteren Komplex von Gewaltanwendung, auf den ich im nächsten Kapitel wieder mit

besonderem Fokus auf meine Forschungserfahrungen auf den Inseln Alor und Pantar, in

denen Hexerei eine Rolle spielt, eingehe.

Ermordung  von  Hexen  und  Hexern  

Wie in der Definition von Hexe oder Hexer durch Norman Cohn (1975:176–9) in

Anlehnung an E.E. Evans-Pritchard (1937:8-9) sind auch im Alor-Pantar-Archipel die

sogenannten suanggi Personen, die keine physischen Instrumente zur Ausübung eines Fluches

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benötigen, sondern innere Fähigkeiten nutzen, um anderen Schaden zuzufügen.4 Es gibt auf

Alor und Pantar unterschiedliche Kategorien von suanggi, die aufgrund ihrer Herkunft und

der Gefahr, die von ihnen ausgeht, unterschieden werden. Zwar gibt es für sie auch

lokalsprachliche Bezeichnungen, aber inzwischen setzt sich die auf allen Inseln

Ostindonesiens verbreitete Bezeichnung suanggi, manchmal in Anspielung auf den durch

christliche Missionare eingeführten Teufel auch die Bezeichnung setan durch. Dieser

Sammelbegriff bezeichnet in der Regel Menschen, die sich in suanggi verwandeln können,

um zu Treffen der Hexen zu gehen und dort gemeinsam Menschenfleisch verzehren. Diese

Treffen finden oft mitten in einem Dorf statt, allerdings ohne dass die Dorfbewohner die

Hexen sehen können. Das lokale „Wissen“ über Hexen ist relativ umfassend, da es Menschen

gibt, die zwar an den Treffen teilnehmen aber kein Menschenfleisch essen. Ich konnte nicht

erfahren, warum sie von den Hexen nicht als Spione erkannt werden. Diese Spione gelten als

ganz normale Menschen, mit denen jeder ein gutes Verhältnis haben möchte, weil sie

wichtige Informationen von und über die Hexen haben. Sie erfahren auf den Treffen, wer aus

der eigenen Gemeinschaft Hexer oder Hexe ist und werden Augenzeugen, wenn

Entscheidungen bezüglich der Ermordung weiterer Menschen getroffen werden. Sie sind die

ersten, die erfahren, wenn Hexen, falls sie mit ihren Mitmenschen unzufrieden oder auf sie

neidisch sind, diese zur Tötung vormerken. Der Spion kann nun die ausgeschaute Person

warnen und diese kann versuchen, sich mit dem „Hexen-Menschen“ vor dem nächsten

Hexentreffen zu versöhnen und dadurch noch im letzten Moment sein Leben zu retten.

Trotz der Angst vor Hexen, spricht man ihnen doch auch Besonderheiten zu, die jeder

gerne hätte. Denn Vieles, woran es den Menschen mangelt, steht den Hexen zur Verfügung.

Sie können fliegen, d.h. sich ohne jeglichen zeitlichen und finanziellen Aufwand von einem

Ort zum anderen bewegen. Sie besitzen zwar nichts im Überfluss, müssen aber weder Hunger

noch Durst leiden, was gerade gegen Ende der Trockenzeit in den Monaten September,

Oktober eine wünschenswerte Besonderheit ist. Selbst Zigaretten haben sie immer, was einem

freien Zugang zum Minimum an Luxusgütern entspricht. Ob auch die internationale

Vernetzung der Hexen als positive Besonderheit gilt oder nur als weiteres

Unterscheidungskriterium zu anderen Menschen, denen auch diese Vernetzung fehlt, vermag

ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall werden Hexen um ihre Vorteile beneidet, ohne dass man es

wagen würde, gegen sie einen Fluch auszusprechen, da sie durch ihre Organisation die

größere spirituelle Macht besitzen als irgendjemand anderer. (Maure 1995: 158-172)

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Meine diesbezüglichen Informationen stammen zu einem großen Teil von einem

jungen Mann aus Pantar, der auf Bali lebt und dort Geschäfte mit dem Verkauf von

Antiquitäten aus seiner Heimatregion macht. Dieser Mann berichtete mir von seiner Angst

davor, dass durch sein Verhalten irgendjemand in seinem Heimatdorf verärgert sein und er

deshalb Probleme mit den Hexen bekommen könnte. Diese Angst war für ihn sehr real, weil

einer seiner Geschäftspartner ein Hexen-Spion war und ihn zur Warnung die vereinbarten

Abmachungen einzuhalten, in eine Hexen-Sitzung eingeschleust hatte. Dabei wurde er

Augenzeuge einer Versammlung hässlicher Fratzen mit langen Zungen, die in einer ihm nicht

verständlichen Sprache miteinander redeten. Ob dieses Anblicks erschrak er derart, dass er

einen unterdrückten Schrei ausstieß. Dadurch erregte er die Aufmerksamkeit der Hexen, die

herumblickten, um nach dem Urheber des Schreis zu suchen. Hätten sie ihn entdeckt, dann,

davon war er überzeugt, hätten sie ihn auf der Stelle getötet und verzehrt. Sein Begleiter hatte

sich für den Fall, dass sie entdeckt werden würden, vorbereitet und eine Hand voll Salz

mitgenommen. Das warf er nun sich und meinem Informanten ins Gesicht, woraufhin die

beiden schlagartig die Sphäre wechselten. Sie konnten die Hexen nicht länger sehen, und von

ihnen auch nicht mehr gesehen werden. Der gewährte Einblick in die für Menschen

normalerweise nicht-sichtbare Welt der Hexen überzeugte den jungen Mann davon, dass er

zum Schutz seiner Verwandten, die auf Pantar lebten, besonders gut darauf achten müsste,

dort niemanden zu verärgern und wesentliche Teile seines Gewinns aus den

Antiquitätenverkäufen in das Dorf zu investieren. Nur solange kein Neid aufkommt, kann er

hoffen, vor Verfolgung durch Hexer und Hexen sicher zu sein. Dem Hexen-Spion jedenfalls

vertraut er. Der würde sicherlich erfahren, wenn sich unter den Hexen Unmut gegen ihn

entwickeln würde und würde ihn rechtzeitig warnen. Wahrscheinlich vertraute er ihm auch,

weil zwischen ihnen eine Heiratsvereinbarung geschlossen wurde. Im Tausch gegen eine

Antiquität hat der Händler dem Spion die Tochter seiner Schwester zur Frau versprochen

(Rodemeier 2011). Schon allein durch das Versprechen befindet sich der Händler in der höher

angesehenen Position des Frauengebers. Was der Händler nicht sieht, ist die Macht des

Spions, der jederzeit, wenn er das Gefühl hat, dass der Händler vertragsuntreu werden könnte,

diesen mit dem Hinweis gefügig machen kann, dass die Hexen über ihn verärgert seien und in

Erwägung zögen, ihn in naher Zukunft zu töten. Auffällig an diesem Bericht ist, dass die

Existenz von Hexen keineswegs in Zweifel gezogen wurde.

Staatliche und kirchliche Interventionen haben inzwischen dazu geführt, dass Formen

spiritueller Machtausübung in Verruf geraten sind. Seit der Christianisierung durch

protestantische Missionare wurde erfolgreich die Einstellung verbreitet, dass Hexen

14

grundsätzlich böse seien, weil sie Menschen töten und deren Fleisch verzehren. Deshalb

spricht man häufig nicht länger von Hexen (suanggi) sondern vom Teufel (setan). Diese

Propaganda trägt sicherlich wesentlich dazu bei, dass sich lokale Wertvorstellungen ändern.

Auf dieser grundsätzlichen Ablehnung von Hexen beruhen auch ihre Tötungen die in den

Jahren vor 1999 in mehreren Dörfern des Archipels auf Initiative lokaler Beamten,

stattfanden. Einige Bürgermeister hatten dazu aufgerufen, dass sich alle Hexen stellen sollen,

damit man durch ihre Tötung die Dörfer dauerhaft vom Bösen befreien könne. Tatsächlich

kamen in manchen Dörfern 20 bis 30 Menschen zusammen, die von sich behaupteten, Hexen

zu sein. Sie wollten dieses Stigma loswerden und ließen sich deshalb unter Aufsicht des

Bürgermeisters vom lokalen Militärposten erschießen. Zwar wurde die Anordnung der

Erschießungen anschließend von der Provinzregierung verurteilt und einige der

verantwortlichen Bürgermeister mussten vorübergehend ins Gefängnis. Aber das änderte

nichts daran, dass die überwiegende Mehrheit der Bewohner des Archipels davon überzeugt

war und bis heute ist, dass die Erschießungen eine gute Lösung des Problems seien. Das

zeigte sich zum Beispiel daran, dass nur ein Jahr später zwei Frauen, denen nachgesagt wurde,

dass sie Hexen seien, auf ihrem Weg von einem Dorf in ein anderes hinterrücks ermordet

wurden. Zu einer Strafverfolgung kam es in diesem Fall nicht. Die grundsätzliche

Verteufelung von Hexerei bedingt, dass die Bevölkerung akzeptiert, wenn Hexen ermordet

werden. Selbst Absolventen der Rechtswissenschaft an der staatlichen Universität in der

Provinzhauptstadt Kupang verteidigten mir gegenüber die Einstellung, dass man gegen Hexen

nur durch deren Tötung ankommen kann.

Manche Pfarrer verurteilen diese Einstellung und versuchen andere Wege zur Lösung

des Problems aufzuzeigen. Der inzwischen verstorbene Pfarrer Dominikus Adang aus der

Inselhauptstadt Kalabahi versuchte es mit vorbildlichem Verhalten. Er besuchte angebliche

Hexen in deren Hütte am Dorfrand, die ihn entgegen der lokalen Sitte nicht bewirteten. Er

nahm an, dass ihr unhöfliches Verhalten daran lag, dass sie ihn nicht in Schwierigkeiten

bringen wollten. Es gehört schließlich zum Allgemeinwissen, dass eine der Möglichkeiten

Hexer zu werden, darin besteht, dass man Nahrung von Hexen verzehrt. Der Pfarrer ignorierte

diese „Gefahr“ und aß von dem Brot, das in der Nähe seines Sitzplatzes lag. Damit überzeugte

er sich und die Hausbesitzer, dass die Übertragungsmagie einem gläubigen Menschen nichts

anhaben kann und sprach anschließend in seinen Predigten darüber, dass er Menschen

besucht, jedoch keine Hexen angetroffen habe. Mit der gleichen Logik warb er für die

Einhaltung der zehn christlichen Gebote, die jedem untersagen, Menschen zu töten. Nur wenn

jemand eine Hexe in dem Moment getötet hätte, in der sie tatsächlich sichtbar und aktiv eine

15

Hexe war, hätte er akzeptieren können. Diese Ausnahme bringt nun wieder alle Europäer in

Gefahr, weil die helle Haut und die hellen Augen darauf hinweisen könnten, dass es sich um

herumirrende Totenseelen oder Hexen handelt, denen – „wie jeder weiß“ – die Pigmentierung

fehlt. An derartiges dachte der Pfarrer nicht. Ihm war wichtig, Morde an Menschen zu

beenden, selbst wenn diese von sich behaupteten, Hexen zu sein. Beweise für den

Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen gibt es nicht.

Die Gemeinde des Pfarrers versuchte ihrerseits, ihn davon zu überzeugen, dass von

diesen Menschen reale Gefahren ausgehen. Anlässlich des Begräbnisses eines kleinen

Mädchens, zeigte man ihm etwas Ungewöhnliches am Körper der Toten. Es wurde als

Zeichen für ihre Tötung durch Hexen gedeutet. Während der Feierlichkeiten bemerkte er

einige Personen, die sich abseits der Trauergemeinde aufhielten. Er ging auf sie zu und löste

dadurch bei ihnen panische Blicke und Zittern aus. Er lud sie in das Kirchengebäude ein, eine

Einladung der diese widerstrebend nachkamen. In der Kirche sprach er mit ihnen über die

Ursache des Todes des Mädchens und sie gaben zu, in die Tötung verwickelt gewesen zu sein.

Innerhalb des sakralen Gebäudes Kirche und in Gegenwart des Pfarrers bedauerten sie die

Tötung, beteuerten, sie gerne rückgängig zu machen, dies aber leider nicht zu können. Sie

begründeten ihre Machtlosigkeit damit, dass das Mädchen anlässlich eines internationalen

Hexentreffens getötet worden war; sich ihre Körperteile deshalb inzwischen an verschiedenen

Orten der Welt, wie in Indien und Holland befänden und es ein Ding der Unmöglichkeit sei,

sie wieder alle zusammenzubringen. Ob der Versuch des Pfarrers, die angeblichen Hexen zu

Nächstenliebe und Mitgefühl zu bewegen und sie somit auf Dauer von Tötungen abzuhalten,

erfolgreich waren, entzieht sich meinem Wissen.

Trotz der weit verbreiteten Angst vor Hexen, die Menschen töten und verzehren

würden, gibt es auch Menschen, von denen man sagt, dass sie „gute“ Hexen („suanggi yang

baik“) seien. Ich lernte einen von ihnen kennen, und wurde bereits vor unserem ersten Treffen

auf seine Besonderheit hingewiesen. Wir trafen uns oft, ohne je über Hexen zu sprechen. Aber

eines Tages, als wir ein ungestörtes Gespräch führen konnten, griff er das Thema auf und

fragte mich, ob ich fliegen könne. Als ich verneinte, zeigte er sich beruhigt, hielt es aber für

notwendig, mich zu warnen. Ich sollte dieser Versuchung widerstehen, da mit dem Erwerb

dieser Fähigkeit große Nachteile verbunden seien. Er selbst hätte sich als junger Familienvater

den Hexen angeschlossen, weil er seine Familie in der Inselhauptstadt nicht verlassen wollte,

aber seinen Arbeitsplatz als Schullehrer im schwer erreichbaren Bergland Alors hatte. Seit er

als Lehrer pensioniert sei, hätte er sich auch von den Hexen zurückgezogen, was er mit den

16

Worten kommentierte, dass er ein pensionierter Hexer sei (yah saya suanggi tetapi sudah

pensiun). Daraus entstanden für ihn offenbar keine unmittelbaren Nachteile. Dagegen sah er

als Nachteil des aktiven Hexer-Seins an, dass für ihn immer dann, wenn er sich auf den Weg

zu einem Hexentreffen machte, sahen alle Familienmitglieder kaum überschritt er die

Hausschwelle wie Schweine aus. Er hatte mit Verlassen des Hauses die Sphäre der Hexen

betreten. Da die Hexentreffen immer anlässlich einer Menschentötung stattfänden, sei jeder

Besucher verpflichtet, wie bei jedem Begräbnis, ein Schwein zur rituellen Opferung und zum

gemeinsamen Verzehr mitzubringen. Wenn dann, wie in seinem Fall, ein Familienmitglied

plötzlich ohne Krankheit und viel zu jung stirbt, nimmt jeder an, dass er es zu einem Hexen-

Begräbnis mitgebracht und dort getötet hat. Der Tod seines ältesten Sohnes wurde ihm

deshalb zur Last gelegt. Mir gegenüber bestritt er sehr energisch, dass ihn in diesem Fall

irgendeine Schuld treffen würde, obwohl ich ihm gar keinen Vorwurf gemacht und auch erst

aus seinem Mund von diesem Tod erfahren hatte.

Für den indonesischen Nationalstaat ist Hexerei in vielerlei Formen ein großes

Problem. Er versucht sie landesweit dadurch in den Griff zu bekommen, dass er bereits die

Androhung von schwarzer Magie unter Strafe stellt (Saputra 2013; Pasandaran und Bastian

2013). Er öffnet damit Willkür Tür und Tor. Prinzipiell kann nun jeder jeden anzeigen und

dadurch Strafverfolgung auslösen. Ein derartiges Szenario ist gut denkbar, trat aber zumindest

im Alor-Pantar-Archipel meines Wissens bisher nicht ein, da man hier nicht auf den Schutz

durch die Staatsmacht vertraut, sondern lieber eigene Schutzmaßnahmen ergreift.

Die Hinwendung zur Kirche bzw. in den muslimischen Dörfern zur Moschee gilt als

ein wirksamer Schutz vor Hexerei. Starker Glaube hat den ganz besonderen Vorteil, dass man

zum Schutz vor übernatürlichen Kräften nicht länger auf die Hilfe des Ältesten einer Familie

oder Clans angewiesen ist, sondern sein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Der Glaube

vermittelt das Gefühl von Schutz. Es findet eine klare Entwicklung hin zu

eigenverantwortlichem Handeln statt. Zwar verschwindet Hexenglaube nicht durch aktive

Hinwendung zu Kirche oder Moschee, nur die Angst davor, von Hexen getötet zu werden,

wird gemindert. Ein alter Mann erklärte mir die Gründe seiner persönlichen Hinwendung zur

Moschee damit, dass er erkannt habe, dass Allah alles auf der Welt geschaffen hat und

deshalb auch alles dessen Einfluss untersteht. Für den Fall, dass nun bestimmte, für die

Menschen nicht sichtbare Wesen Probleme bereiten, ging dieser Mann früher zu dem Stein in

der Nähe des Zugangs zur Unterwelt und bat mit einer Opfergabe um Unterstützung.

Inzwischen geht er dort nicht mehr ein, sondern bittet Allah in der Moschee um

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Unterstützung. Das ist ebenso effektiv, meint er, und für ihn als alten Mann wesentlich

weniger aufwendig.

Auffällig ist, dass im Alor-Pantar-Archipel die Umgangsformen nicht mehr

grundsätzlich von Angst bestimmt sind. Bisher war man darum bemüht, keinesfalls Anlass zu

Neid zu geben und zu jedem mit dem man nicht in männlicher Linie konsanguin verwandt

war, ein gutes Verhältnis zu pflegen. Der religiöse Glaube spielte dabei nur insofern eine

Rolle, als man sich gerade Menschen gegenüber, die einer anderen Religionsgemeinschaft

angehörten als man selbst, besonders darum bemühte, keine konfrontative Situation entstehen

zu lassen. Diese etablierten Umgangsformen verlieren durch den Glauben an Schutz durch

Gott oder Allah vor spiritueller Macht an Bedeutung. Diese Veränderung hat den großen

Vorteil, dass man von unbestimmten Ängsten befreit wird. Sie hat den großen Nachteil, dass

Glaubensunterschiede wahrnehm- und beobachtbar an Bedeutung gewinnen.

Ambivalenz  der  Einflussnahme  auf  ausgewählte  Merkmale  lokaler  Tradition  

Gerade dieser letzte Gedanke bringt mich zurück zu der Überlegung, ob es dauerhaft

möglich ist, Gewalt zu verhindern. Gründe für Gewalttaten in Familien, wie auch für Morde

an angeblichen Hexen sind derart komplex, dass ein generelles Verbot von beidem kaum

umsetzbar und wenig zielführend erscheint. Der Versuch protestantischer Pfarrer, den

Menschen durch Stärkung ihres Glaubens mehr Selbstsicherheit zu geben und ihnen

gleichzeitig die Angst vor negativen spirituellen Kräften zu nehmen, erscheint aus ethischer

Perspektive grundsätzlich unterstützenswert. Die Verbreitung von Nächstenliebe und die

Anerkennung eines jeden Menschen als vor Gott gleich sind vielen Pfarrern explizite

Anliegen. Anderen geht es eher darum, möglichst viele Menschen eng an die Kirche zu

binden. Ich erinnere mich an eine Situation, in der sich ein Pfarrer ganz anders verhielt, als ich

es aufgrund meiner westlich-christlich geprägten Erziehung von einem Pfarrer erwartet hätte.

Hatte ich mich in anderen Fällen schon häufiger über menschenverachtendes Auftreten

gewundert, so störte es mich beim Pfarrer. Ich war über meine innere Erregung selbst

erstaunt, zeigte sie doch, dass mir die für eine klare Analyse notwendige Distanz fehlte. Von

jemandem in seinem Amt erwartete ich ein Verhalten, dass auch mit meinen Wertmaßstäben

vereinbar ist. Obwohl er sich gar nicht an mich wandte, lehnte ich sein Verhalten besonders

stark ab. Mir war der Gedanke unangenehm, dass sein Verhalten als christlich gelten würde

und folglich auch mit mir, die aus Europa kommend mit der Heimat des Christentums

assoziiert wird, in Verbindung gebracht werden könnte. Konkret betrat er den Haushalt, in

18

dem ich immer zum Essen eingeladen wurde, im Moment der größten Trauer, weil keine

Stunde zuvor ein Säugling gestorben war. Der Pfarrer machte nun den Eltern Vorwürfe, dass

nur ihre Distanz zur Kirche den Säuglingstod bedingte hätte. Rückblickend erkenne ich, dass

trotz des menschenverachtenden Verhaltens, auch Hilflosigkeit aus seinem Worten sprach. Er

sah die einzige Möglichkeit, den Menschen zu helfen, in der Festigung ihres Glaubens. Dass

er deren Glauben auch festigen könnte, wenn er ihnen helfen würde unter besseren

hygienischen Verhältnissen und mit besserer gesundheitlicher Versorgung zu leben, lag

offenbar außerhalb seiner Möglichkeiten.5

Ich stehe dem Absolutheitsanspruch protestantischer Pfarrer ebenso wie dem mancher

Muslime kritisch gegenüber (Rodemeier 2010a). Gerade die Reformer unter den

protestantischen Christen und auch unter den Muslimen sind darum bemüht, möglichst viele

Facetten eines Lokalglaubens zu verdrängen. Da dieser aber ein wesentlicher Bestandteil der

lokalen Tradition ist, geht Wertewandel immer auch mit Zerstörung

gesellschaftsstabilisierender Elemente einher.

Um den Kreis zu schließen, komme ich noch einmal zurück auf die umstrittenen

Brautpreis-Zahlungen. Beispielsweise werden sie von immer mehr Moscheen verboten. Das

Verbot bedingt, dass auf eine bisher wenig beliebte Alternativregelung, die in der lokalen

Tradition vorgesehen ist, ausgewichen wird. Im Falle einer Nicht-Bezahlung muss das

Brautpaar bis zur Begleichung des Preises uxori-patrilokal leben und arbeiten. Das kann

bedeuten, dass ein Bräutigam nach der Ehe in einer christlichen Gemeinschaft leben muss und

es deshalb vorzieht, zum Christentum überzutreten. Inzwischen vermeiden gerade unter den

muslimischen Männer immer mehr diesen Religionswechsel. Sie bevorzugen es, eine

Dienstehe bei den muslimischen Verwandten der Braut einzugehen, um die Erniedrigung

uxori-patrilokal wohnen zu müssen, dadurch zu lindern, dass sie wenigstens nicht auch noch

für die Ehe den Glauben wechseln müssen. Diese Entwicklung bedingt seit einigen Jahren

eine sichtbare religiöse Entmischung der Bevölkerung. Auch Veränderungen in der

Ritualpraxis sind bereits beobachtbar. Bündnisse und Friedensabkommen, die einmal

zwischen Dörfern, Clans und Familien geschlossen wurden, und regelmäßiger Erneuerung

durch Rituale bedürfen, verlieren an Beachtung. Gemeinschaftsstabilisierende Rituale, wie die

Dachrenovierung eines Clanhauses, das ein christliches und ein muslimisches Dorf vor

Jahrhunderten als Gemeinschaftshaus erbauten, finden nicht mehr statt, weil eine der

beteiligten Parteien, und zwar die muslimische, das Interesse an dieser Verbindung verloren

hat und sich nicht länger an den rituellen Arbeiten beteiligt. Der Verlust des Interesses an der

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anderen Gruppe basiert wesentlich darauf, dass sich die Gruppen stärker an religiösen

Gemeinsamkeiten als an traditionellen Abkommen, die immer auch mit Heiratsabkommen

einhergingen, orientieren. (Rodemeier 2010b)

In den muslimischen Gemeinden an den Küsten von Alor und Pantar bahnt sich noch

eine weitere Trennung von den christlichen Partnerdörfern im Landesinneren an. Sie wurde

durch einen Sohn aus einer Familie des Küstendorfes angestoßen, der sich um die

Schulausbildung von Kindern aus den muslimischen Dörfern der Inselgruppe kümmert. Er

wurde selbst in muslimischen Internaten (pondok pesantren) auf Timor und Java ausgebildet.

Als santri, einem Absolvent eines derartigen Internates, ist er verpflichtet, um sich herum

Schüler zu sammeln und sie ebenfalls zu Allah zu führen. Er nimmt seinen Auftrag sehr ernst

und holt regelmäßig junge Menschen, meist Jungen im schulpflichtigen Alter, zu sich nach

Java, um für ihre religiöse und säkulare Bildung zu sorgen. Das ist sicherlich lobenswert, da

sich auf Pantar niemand um deren Schuldausbildung kümmert. Problematisch ist allerdings,

dass die Kinder in einer von muslimischen Fundamentalisten dominierten Region Javas, in

Rancaekek bei Bandung, leben. Ihre Ausbildung zeigt in ihrer Heimat bereits Früchte.

Inzwischen haben sie ihren Müttern in Alor und Pantar beigebracht, dass sie ihr Haupthaar

bedecken sollen, und zwar nicht etwa aus Gründen der individuellen Gläubigkeit, sondern

weil die Kleidung „höflich“ (sopan) sei. Man kann daraus folgern, dass alle, die dieser

Höflichkeitsregelung nicht folgen, unhöflich sind. Bisher sind die Verbündeten Christen

diesem Vorwurf noch nicht ausgesetzt. Ob das dauerhaft so bleiben wird, kann man nur

hoffen.

Abschließende  und  zusammenfassende  Überlegungen  

Die eingangs angesprochene häusliche Gewalt deutet an, wie hoch die

Gewaltbereitschaft in der Region ist. Die Bewohner der Inseln meinen, dass die Gewalt

dadurch entsteht, weil die Menschen „heißes Blut“ (darah panas) haben, das dem Bild

entsprechend, bereits durch kleine Reizungen zum Überkochen kommen kann. Gewalt wird

zudem damit entschuldigt, dass die Menschen hier eben einen „Kopf aus Stein“ (kepala batu),

gemeint ist ein „Dickkopf“, haben, dem man nur mit Schlägen beikommen könne.

Dass man als Forscherin selbst einmal zwischen die Fronten geraten könnte, ist eher

unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass man Zeugin von Gewalttaten wird und sich

berufen fühlt, einzugreifen, um Schlimmeres zu verhindern. Wahrscheinlicher ist allerdings,

dass man als Hexer oder Hexe angesehen wird. Diese Zuordnung kann schon allein dadurch

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zustande kommen, weil jemand, den man noch nie gesehen hat und der aus einer Region

stammt, in der man noch nie war, behauptet, er hätte die Ethnologin an einem bestimmten Tag

in seiner Region gesehen. Da für die lokale Bevölkerung alle Europäer gleich aussehen, kann

diese Behauptung durchaus auf einer Verwechslung beruhen. Diejenigen, die von dieser

Behauptung hören, werden irritiert sein, und überlegen, ob die Forscherin fliegen kann, oder

gar gleichzeitig an zwei Orten sein kann, und ob vielleicht noch andere Dinge darauf

hinweisen, dass sie eine Hexe ist. Als Ethnologin ist man daher gut beraten, sobald derartige

Behauptungen im Raum stehen, dafür zu sorgen, dass sie unzweifelhaft widerlegt werden.

Man sollte sich als Forscherin aber auch bewusst sein, dass man für die Informanten

gefährlich werden kann, weil uns in deren Obhut etwas zustößt. Wenn sie dafür

verantwortlich gemacht werden, dann bin ich als Forscherin dafür verantwortlich, dass

Gastgeber in den Ruf geraten, Hexen zu sein.

Auch der Blick einer Ethnologin auf globale Zusammenhänge und der Versuch die

Informanten daran teilhaben zu lassen, kann diese wie auch die Ethnologin in Schwierigkeiten

bringen. Ich denke dabei an ein langes Gespräch mit einem muslimischen Bürgermeister. Er

erzählte mir stolz, dass sein Sohn in den nächsten Wochen mit einem Stipendium aus Pakistan

dorthin in ein Internat gehen wird, um Englisch und Arabisch zu studieren. Schon allein die

Aussicht auf ein Studium im Ausland machte ihn stolz und noch erfreulicher war natürlich,

dass es auch noch ein muslimisches Land sein würde. Das Gespräch fand ein knappes Jahr

vor der Intervention der Vereinten Nationen in Afghanistan statt und ich versuchte dem

Bürgermeister klar zu machen, dass ich seine Freude sehr gut verstehen kann, aber große

Angst um seinen Sohn habe, und falls er dort fanatisiert würde, auch um sein Heimatdorf. Als

wir uns am nächsten Tag trafen, erzählte er mir, dass er sich entschlossen hat, den Sohn nicht

gehen zu lassen. Als wir uns einige Jahre nach der Intervention abermals trafen, kam er auf

mich zu und bedankte sich ausdrücklich dafür, dass ich ihn so gut beraten hatte. Ich war

erleichtert, denn damals war ich mir nicht sicher gewesen, ob es nicht für mich riskant sein

könnte, den Mann zu warnen. Leicht hätte er die Warnung als grundsätzliche Feindschaft des

Westens gegen den Islam auslegen und seine Freunde und Familie gegen mich oder ganz

allgemein gegen den Westen oder gegen Christen aufhetzen können. Der Lauf der Ereignisse

bestätigte zum Glück, dass dies in keiner Weise mein Anliegen war.

Ganz allgemein ist es seit dem 9. September 2003 schwieriger geworden, als

Europäerin auf Probleme hinzuweisen, die zwischen Christen und Muslimen bestehen. Früher

war die Religionszugehörigkeit eine Formsache, der man folgte, weil die ranghöchste Person

21

im Dorf oder in der Region dies anordnete. Inzwischen wird Religiosität immer häufiger als

Mittel zur individuellen Befreiung von traditionellen Zwängen empfunden. Frauen und

Männer wagen es, sich aufgrund ihres starken Glaubens gegen die ihrer Meinung nach

weniger gläubigen Hüter der Tradition aufzulehnen. Religion stärkt, weil man sich in die

Obhut Gottes oder Allahs begeben hat und deshalb durch individuelle Aktivitäten im Glauben

Schutz vor lokalen spirituellen Kräften findet. Es ist nicht mehr unbedingt notwendig, auf die

Hilfe von Vater, Großvater oder den ältesten Mann eines Clans zu hoffen, um vor einem

Fluch oder vor Hexenverfolgung sicher zu sein. Früher entschieden die alten Männer wer wen

heiraten muss, um sich nicht entgegen der Vorgaben der Ahnen zu verhalten. Heute müssen

diese Männer sich mit Tatsachen abfinden, und nachträglich solange miteinander diskutieren,

bis sie eine Erklärung gefunden haben, warum das Verhalten der jungen Menschen doch

„ahnenkonform“ ist und zumindest von deren Seite keine Bestrafung zu befürchten ist.

Wie ich gezeigt habe, findet aktuell eine Entmischung der Gesellschaft nach religiöser

Zuordnung trotz Beachtung traditioneller Regeln statt. Ich habe diesen Punkt in meine

Überlegungen zur Ethik im Forschungsfeld deshalb aufgenommen, weil ich der Meinung bin,

dass gerade in einer Gesellschaft, in der hohe Gewaltbereitschaft zu beobachten ist, religiöse

Polarisierung besonders gefährlich ist. Auch in den Dörfern Alors und Pantars ist sich die

Bevölkerung sehr bewusst, dass in der interreligiösen Mischung hohe Sprengkraft steckt

(Gomang 2006). Deshalb zählt dieses Verhältnis auch zu den Themen, die mit besonderer

Umsicht begleitet, aber auch besonders sorgfältig beobachtet werden muss.

Eine Ethnologin kann aufgrund ihres langen Aufenthaltes, der Sprachkenntnisse, und

des relativ großen Überblicks über lokale und überregionale Zusammenhänge Überlegungen

unter ihren Informanten anstoßen, die einer Verschärfung der Fronten entgegenwirken

können. Dafür ist es hilfreich, lokale Formen der Gewaltvermeidung aufzugreifen. Da Frauen

bereits über Eheverweigerung nachdenken, um gewalttätigen Partnern auszuweichen, kann

dies ebenso Ausgangspunkt für gesellschaftliches Umdenken sein, wie das aktive Eingreifen

meiner Informantin, in der Absicht ein Mädchen vor der Prügelstrafe ihrer Mutter zu

schützen. Man kann auch versuchen auf der Ebene anzusetzen, auf der das Konzept der

Gewaltfreiheit bekannt ist, denn normalerweise schlagen Männer einander nicht, sondern

richten ihre Gewalt gegen ihre Ehefrauen und Kinder, wobei auch die Ehefrauen, sobald sie

Kinder haben, halbwegs vor Gewalt sicher sind. Im Erwachsenenalter werden die Gewalttaten

subtiler, durch Fluch und Magie. Nur Staatsbeamte dürfen niedriger stehenden Personen

gegenüber gewalttätig werden, unabhängig von deren Abstammung, Geschlecht oder Alter.

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Bibliografie

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http://news.detik.com/read/2013/03/07/095902/2188171/10/ dukun-santet-dihukum-rp-

300-juta-atau-penjara-maksimal-5-tahun. (aufgerufen am 11. Juni 2013].

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Sterly, Joachim (1987) Kumo. Hexer und Hexen in Neu-Guinea. München: Kindler.

1 Ich danke dem evangelischen Studienwerk Villigst e.V. für das Promotionsstipendium, das

mir eine einjährige Langzeitforschung im Alor-Pantar-Archipel in den Jahren 1999/2000

ermöglichte. Der überwiegende Teil, der in diesem Artikel berücksichtigten Daten stammt aus

diesem Forschungsaufenthalt, sowie von einer Datensammlung zum Thema

„Geschlechterbeziehungen in Brautpreisgesellschaften auf Pura,“ die dankenswerterweise

durch einen Exkursionszuschuss der DFG im Jahr 2007 finanziert wurde.

2 Zu lokaltypischen Formen der Kleinkinderziehung lohnt sich die Berücksichtigung von Cora

DuBois Studie zu lokaltypischen Formen der Sozialisation (1961).

3 In den Dörfern Alors und Pantars werden die Mädchen meist bereits nach drei Jahren wieder

von der Schule genommen, damit sie ihren Müttern im Haushalt helfen und das lernen, was

fürs Leben im Dorf notwendig ist: Kochen, Wäsche waschen, Pflanzen und Ernten, und

Wasser schleppen.

4 Sterly (1987) beschreibt den Hexenglauben für Papua Neuguinea. Seine Beschreibung

stimmt wesentlich mit meinen eigenen Daten zu Alor überein. Vgl. auch Herriman (2013 :22-

25), der über die Tötung von Hexen auf Java in den Jahren 1998/99 als ein Phänomen

schreibt, das von den lokalen Bevölkerung als Akt zur dauerhaften Einhaltung der

Menschenrechte angesehen wird.

5 Meines Erachtens wäre es in diesem Haushalt dringend geboten gewesen, die offene

Tuberkulose des Großvaters zu behandeln und alle auch kirchliche Energie darin zu

investieren, den alten Mann zu überreden, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Meine

wiederholten Versuche, ihn zu einem Arztbesuch zu bewege, bewegten ihn zwar zu einer

Untersuchung, die er als sehr erfolgreich ansah, weil der Heiler Kraft seiner spirituellen

Fähigkeiten ihm an unterschiedlichen Stellen des Körpers Kaffeebohnen und Knoblauchzehen

herausziehen konnte. Zu einem Arzt ging er allerdings nicht.

Dieser Artikel ist erschienen:

2013

Ethnologie, eine besonders gefährliche Sportart? Oder: Feldforschung und die Komplexität ethischer Probleme. Ethnoscripts 15,2: 86-109 (Special Issue: Hornbacher, Annette (ed.) Ethnologie und Ethik).

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