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Thomas Rigotti | Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Entgrenzung der Arbeit Copingstrategien im Spannungsfeld
zwischen komplexen Anforderungen
und neuer Flexibilität
Prof. Dr. Thomas Rigotti
• Flexibilisierung – eine kleine Bestandsaufnahme
• Arbeit, Stress und Gesundheit
• Umgang mit Herausforderungen und Belastungen
• Fazit
Agenda
2
3
Verschiedene Formen organisationaler Flexibilität
Numerische Flexibilität
Zahl der Beschäftigten und/oder deren Arbeitszeit kann erhöht oder reduziert werden in Abhängigkeit von der Auftragslage: Teilzeitarbeit, Vertragsbefristungen
Funktionale Flexibilität
Beschäftigte werden geschult, vielfältige, unterschiedliche Aufgaben/Positionen zu erfüllen (Polyvalenzprinzip): Personalentwicklung
Finanzielle Flexibilität
Die Vergütung ist abhängig von der konkreten Tätigkeit, den real gearbeiteten Arbeitsstunden oder der Vergütungshöhe, die eine Organisation glaubt bezahlen zu können.
Örtliche und zeitliche Flexibilität
Die Technologische Entwicklung (Miniaturisierung / Digitalisierung) erlaubt es, dass viele Arbeitsaufgaben an jedem Ort und zu jeder Zeit erfüllt werden können.
Atkinson (1984)
3
• 67% arbeiten zumindest gelegentlich Samstags, 41% Sonn- und Feiertags
(BAuA-Arbeitszeitreport)
Von 2003 bis 2011 (Seitz & Rigotti, i.V.)
• Festgesetzte Arbeitszeiten: 64% 58%
• Gleitzeit: 23% 26%
• Vertrauensarbeitszeit 12% 14%
Trend zu mehr Arbeitszeitautonomie
Flexibilisierung der Arbeitszeit
Arbeitszeit-autonomie
Arbeits-zufriedenheit
Freizeit-zufriedenheit
+
-
4
Länge der Arbeitszeit und Gesundheit
5
Intensivierung der Arbeit
BiBB/BAuA-Befragung 6
• Jede neue Technik verspricht uns Zeitgewinne:
• Mit E-Mails lässt sich um vielfaches schneller kommunizieren,
als mit Briefen
• Informationsbeschaffung: Millisekunden zu Stunden/Tage
• Wo ist die gesparte Zeit? Wachstums-, Leistungs- und
Beschleunigungsimperative brauchen diese auf
Zeitersparnisse Heute <--> Gestern
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Die Beschleunigungsfalle
Technische Beschleunigung (Kommunikation, Produktion, Transport)
Beschleunigung des Lebenstempos
(Gegenwartsschrumpfung)
Beschleunigung des sozialen Wandels
(Mehr tun und erleben in weniger Zeit)
Rosa (2012) 8
Informationsflut
Informationsmerkmale • Mangelnde Qualität • Widersprüchliche
Information (Sparrow, 1999) Tätigkeitsmerkmale
• Zeitdruck (Schick, Gordon & Haka, 1990)
• Arbeitskomplexität (Nadler & Tushman, 1975)
• Unterbrechungen (Speier et al., 1999)
Personencharakteristika • „digital natives“ vs.
„digital immigrants“ (Alter, Informationsverar-beitungskapazität)
Organisationsstruktur • interdisziplinäre,
heterogene Teams (Bawden, 2001; Grisé & Gallupe, 1999)
Technologien • Verwendung von Push-
Systemen (Bawden, 2001)
• neue Technologien (Edmunds & Morris, 2000)
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Ergebnisse Beschäftigtenbefragung DAK-Gesundheit aus dem Jahre
2012 (ca. 3000 Befragte):
• Etwa ein Viertel liest mindestens einmal die Woche außerhalb der
Arbeitszeit dienstliche E-Mails
• Interessant: Ein Viertel gibt an, gar keine dienstliche Mailadresse /
keine dienstlichen Mails zu haben
• 15 Prozent (fast jeder Sechste) der Befragten werden mindestens
einmal pro Woche von Vorgesetzten / Kollegen außerhalb der
Arbeitszeit angerufen
Daten aus dem Arbeitszeitreport der BAuA aus dem Jahre 2015 (ca.
18000 Befragte):
• Etwa ein Drittel wird zumindest manchmal tatsächlich in seinem
Privatleben zu Arbeitsbelangen kontaktiert
Erreichbarkeit
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Flexibilisierung von Erwerbsverläufen
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Aufstieg auf der Karriereleiter / Senioritätsprinzip
Vertikale Verbesserungen in Status, Gehalt, Macht
Arbeitsplatzsicherheit, Loyalitiät, Arbeitgeber trägt Verantwortung für die Qualifikation
Viele horizontale Wechsel
Eigenverantwortung für Beschäftigungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt
Patchwork-Biographie
Organisationsstrukturen ändern sich alle 1-2 Jahre: Veränderung als Konstante
Gestern
Heute
Aus einer Stellenanzeige
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Für viele bedeutet Karriere auch heute noch Aufstieg, nämlich Beförderung auf eine Funktion der nächsthöheren Verantwortungsstufe. Zunehmend wichtiger wird jedoch eine neue Sichtweise von Karriere: Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, Verbreiterung der Wissensbasis und Erwerb von Ansehen aufgrund von Können, Wissen und Persönlichkeit - bei Kunden, Kollegen, Mitarbeitern und Vorgesetzten. Entscheidend ist, dass jeder die Möglichkeit hat, in allen Phasen seiner beruflichen Entwicklung herausfordernde Aufgaben zu übernehmen, an denen er persönlich wachsen kann, die seine Kompetenz verbreitern und sein Ansehen verbessern - auf jeder Verantwortungsstufe. Mitarbeiter, die schnell in verantwortungsvolle Funktionen hineinwachsen, legen weniger Wert auf Titel und Statussymbole. Sie definieren ihren Platz in der Bank viel besser aus ihrem beruflichen Können und aus der Erfahrung...
Psychische Erkrankungen
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Kosten durch arbeitsbedingten Stress
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• Anteil an arbeitsbedingter Risikofaktoren für die Entwicklung
von (psychischen) Erkrankungen: 10-30%
• Gesamtgesellschaftliche Kosten schwer zu bestimmen –
(7.500.000.000 EUR – 45.000.000.000 EUR /Jahr für
Deutschland; vgl. Hassard et al., 2018).
• Kosten für Präsentismus werden 1.5-10 mal höher geschätzt,
als für Absentismus!
Immer mehr, immer schneller…. [immer]
Zwischenfazit
Paradoxon 1: Mehr Autonomie und dennoch weniger Freiheit?
Paradoxon 2: Technik, die Zeitersparnis verspricht, aber Zeit raubt
Paradoxon 3: Weniger Status-Anreize und dennoch mehr
Verausgabung
Paradoxon 4: Zugang zu Informationen vs. Tiefe der Verarbeitung
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• Grenzziehung zwischen Lebensbereichen
• Erhöhter Aufwand (Intensivieren, Expansion,
Multitasking)
• Priorisierung (SOK)
• Erholung / aber auch Erholungsverzicht
• Soziale Unterstützung
• Kollektive Ansätze
Wie gehen Beschäftigte damit um?
Taktiken | Copingmechanismen
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Grenzziehung
Hoff (2006)
Segmentation von beruflichen und privaten
Zielen und Handlungssträngen
• Dominanz beruflicher / privater Ziele
• Dauerhafte Sicherung einer Zielbalance
Integration von beruflichen und privaten Zielen
• Abstriche bei der Realisation beruflicher Ziele / privater Ziele o. in beiden Lebensbereichen
• Ohne dauerhafte Abstriche
Entgrenzung von beruflichen und privaten Zielen
• Völlig arbeitszentriert, kaum private Ziele
• Verschmelzung von Zielen (raumzeitlich/inhaltlich)
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Grenzen zwischen Lebensbereichen
Präferenzen
Anforderungen
(In-Kongruenz) • Familie
• Vorgesetzte
• Team
• Kunden
• Berufsfeld
Taktiken • Verhalten
• Zeitbezogen
• Örtlich
• Kommunikativ
Grenzverletzung • Intrusion
• Distanz
Work-
Home
Konflikt
18
19
Verhalten Zeitbezogen Örtlich Kommunikation
Erwartungen
setzen
Konfrontation
Taktiken „Boundary-Management“
Aufschub / Auszeit
Arbeitszeit
kontrollieren
Unterstützung
Anderer
Verschiedene
Durchlässigkeit
Priorisierung
Technische
Unterstützung
Einrichtung
physischer
Grenzen
Räumliche Distanz
Artefakte
(Kreiner et al., 2009)
20
Verhalten
Unterstützung
Anderer
Verschiedene
Durchlässigkeit
Priorisierung
Technische
Unterstützung
Taktiken
Entscheidungen, welche spezifischen Aspekte mit in andere Bereiche
genommen werden und welche nicht
Die Hilfe anderer Personen in Anspruch nehmen zur Abgrenzung von
Arbeit und Privatleben (z.B. bestimmte Telefonanrufe abschirmen)
Einsatz von Email, Anrufbeantworter, um die Abgrenzung zu
erleichtern
Priorisierung von wichtigen und dringenden Anforderungen aus Arbeit
und Privatleben (z.B. „Notfälle“ in Arbeit und Privatleben)
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Zeitbezogen
Aufschub / Auszeit
Arbeitszeit
kontrollieren
Taktiken
Manipulation der eigenen regelmäßigen oder
sporadischen Pläne (z.B. Zeiten blocken;
entscheiden, wann man etwas macht)
Sich selbst eine bestimmte Zeit den
Anforderungen von Arbeit und Zuhause
entziehen (z.B. Ferien, Auszeiten)
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Örtlich
Einrichtung
physischer
Grenzen
Räumliche Distanz
Artefakte
Taktiken
Räumliche Grenzen zwischen Arbeit(splatz) und
Zuhause errichten (z.B. Hecke zwischen Kirche
und Wohnhaus)
Räumliche Distanz zwischen Arbeit und Privat-
leben regulieren (z.B. Wahl eines Wohnorts in der
Nähe/entfernter vom Arbeitsplatz)
Gegenstände wie Kalender, Fotos, Schlüssel
werden benutzt um (bestimme Aspekte) von
Arbeit und Privatleben zu trennen
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Kommunikation
Erwartungen
setzen
Konfrontation
Taktiken
Andere im Vorhinein über die eigenen Grenzen von Arbeit und
Privatleben informieren
Andere im Nachhinein während/nach auf eine Grenzverletzung
ansprechen
Ständige Erreichbarkeit
n.s.
.22**
.31**
.26**
.25**
.61**
n.s.
n.s.
n.s.
Anforderung an
Selbstorganisation
IuK-Technologie-
Nutzung
passiv
Arbeit-
Privatleben-
Konflikt
IuK-Technologie-
Nutzung
aktiv
Arbeit-
Privatleben-
Bereicherung
Höge, Palm & Strecker (2016)
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Immer schneller – immer mehr – immer sinnvoll?
Tagebuchstudie über 5 Tage (nach der Arbeit und vor dem Schlafen),
N = 122 Beschäftigte (v.a. öffentlicher Dienst)
Irrita
tion
Work
Engag
em
ent
Zeitdruck Zeitdruck
25
Schneller Arbeiten Länger Arbeiten
• Menschen, die
lieber mehre Dinge
gleichzeitig tun, tun
dies auch eher
• Die Fähigkeit ist
kein Prädiktor für
das Verhalten
• Der Zusammenhang
zwischen Präferenz
und Verhalten ist
größer als zwischen
Anforderungen und
Verhalten
Multitaskingverhalten
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Zusammenhang zu Leistung
Akkumulierte Arbeitsunterbrechungen / Multitasking
Lei
stung
Baethge, Rigotti & Roe (2015)
27
Selektion, Optimierung, Kompensation
Weniger Stücke (Selektion).
Häufiger geübt (Optimierung).
Vor schnellen Passagen extra langsam (Kompensation)
Baethge, Müller & Rigotti (2016)
• Tagebuchstudie über 5
Arbeitstage (3x während
der Frühschicht / vor dem
Schlafengehen)
• N = 136 Gesundheits- und
Krankenpfleger/innen
Qu
alit
ät d
er L
eist
un
g
Arbeitsbelastung
häufig
selten SOK
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Erholungserfahrungen
Abschalten von der Arbeit
Entspannung +
+
Mastery-Erlebnisse +
Kontrolle + (Sonnentag & Fritz, 2007; Sonnentag, Binnewies, & Mojza, 2008)
Was macht eine erfolgreiche Erholung aus?
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Konsequenzen für Wohlbefinden & Gesundheit
• Unvollständige Erholung als Risikofaktor für kardiovaskuläre
Mortalität (Kivimäki et al., 2006)
• Mehr Urlaub hängt mit geringerer Mortalität zusammen (Gump & Matthews, 2000)
• Erholungserfahrungen hängen mit verschiedenen Indikatoren von Wohlbefinden und Gesundheit zusammen (Sonnentag & Fritz, 2007)
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Konsequenzen für Engagement & Leistung
• Tägliche Erholtheit am Morgen
sagt Arbeitsengagement, Aufgabenleistung und kontextuelle Leistung (OCB, Eigeninitiative) vorher (Binnewies et al., 2009; Sonnentag et al., 2012; Kühnel et al. 2012)
• Erholtheit nach dem Wochenende sagt Aufgaben- und kontextuelle Arbeitsleistung während der Woche vorher (Binnewies et al., 2010)
• Erholung in Pausen sagt Leistung nach der Pause vorher (Trougakos et al., 2008)
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Der „Fading-Out“-Effekt
Erholung im Urlaub
De Bloom et al. (2013)
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• Bei jedem vierten Angestellten kommt es häufig vor, dass er bei
der Arbeit auf Pausen verzichtet (BiBB/BAuA)
• Im Vergleich klagen Beschäftigte, die häufiger auf Pausen
verzichten über mehr Kopfschmerzen und Beschwerden
• Jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland nimmt seinen
Urlaubsanspruch nicht vollständig wahr / Insbesondere
Beschäftigte, die auch häufig Überstunden machen (DGB, 2016)
Präsentismus:
Erholungsverzicht
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FK Präsentismus
MA Präsentismus
T1 T2
MA Präsentismus
Kontrollvariablen Workload: Allg. Gesundheit: Krankheitstage:
Führungskräfte als Vorbilder
Rigotti & Wirtz (2017)
+
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Soziale Unterstützung als Protektivfaktor
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Arbeits- und Führungskultur
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Quelle: Wieland (2006)
• Flexibilisierung / Digitalisierung der Arbeitswelt ist ein
klarer Trend – betrifft aber nicht alle Berufe/Branchen
im gleichen Ausmaß
• Wie wir arbeiten und leben wird diverser /
individueller / verändert sich häufiger im Laufe des
Berufslebens
• Unterscheidung zwischen Flexibilitätsanforderungen
und Flexibilitätsmöglichkeiten / Passung ist
bedeutsam
• Partizipative Ansätze im BGM
• Die Arbeit an den Menschen – nicht den Menschen
an die Arbeit anpassen
Fazit
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Herzlichen Dank!
rigotti@uni-mainz.de
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