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Musik-Semiotik 2017 1
Kapitel aus: Wolfgang Wildgen (2017) Musiksemiotik im Spannungsfeld von Sprache, Kognition und Kultur (Arbeitsfassung)
Liedermacher zwischen Poesie und Politik: Leonard Cohen, Bob
Dylan und Wolf Biermann
Poesie, Musik und Politik und in Leonard Cohens Liedern ................................................................. 2
Das politische Lied als Literatur bei Bob Dylan ................................................................................... 6
Der Wandel der Musikstile im Werk Bob Dylans .............................................................................. 10
Der literarische Kontext der Lieder von Wolf Biermann ................................................................... 10
Musikalischer Stil und die Tradition des Protestliedes in Europa ..................................................... 11
Semiotische Dimension des politischen Liedes ................................................................................. 12
Liedermacher, Songwriter schreiben ihre Texte und tragen diese in musikalischer Form
einem Publikum vor. Sie sind also Textdichter, Sänger/Instrumentalisten und Performer in
einer Person. Klassisch ist seit den 50er Jahren die Gitarre das bevorzugte
Begleitinstrument; es kommen aber andere Instrumente hinzu. So spielt Bob Dylan in der
Tradition amerikanischer Straßenmusiker die um den Hals getragene Mundharmonika, die
phasenweise den Gesang ersetzt und ebenfalls von der Gitarre begleitet wird, Biermann
begleitet sich manchmal auf einem Harmonium und Cohen bedient gelegentlich ein
Keyboard. Besonders in der fortgeschrittenen Karriere kommen (bei Dylan und Cohen)
Instrumentalgruppen und weitere Sänger hinzu. Für die drei hier näher betrachteten
Songwriter/Liedermacher gilt, dass sie über viele Jahrzehnte, manchmal unterbrochen durch
längere Pausen, produktiv waren und in dieser Zeit mehrere Entwicklungsstadien
durchlaufen haben.
Leonard Cohen wurde 1934 in Montreal (Kanada) geboren; mit 15 Jahren nahm er
Klavierunterricht und erhielt für kurze Zeit Gitarre-Stunden von einem Flamenco-Spieler.
Cohen sagte von sich, dass er fünf Griffe auf der Gitarre gut beherrsche; im amerikanischen
Kontext war man erstaunt, dass er eine Gitarre mit Nylon-Besaitung (statt Stahl) spielte und
eine Technik des Zupfens nützte, die eher europäisch (spanisch) anmutete. Wolf Biermann
wurde 1936 in Hamburg geboren und erlebte die Nazi-Herrschaft und den Krieg als Kind
bzw. Jugendlicher. Auf Anraten seiner Mutter und im Andenken an seinen Vater, der als
Kommunist Opfer des Naziregimes geworden war, ging er in die DDR und verließ sie erst als
er 1976 nach einem Auftritt in Westdeutschland von der DDR ausgebürgert wurde. Bob
Musik-Semiotik 2017 2
Dylan wurde 1941 im Mittleren Westen der USA geboren. Er machte sich zuerst einen
Namen als Interpret von Liedern, die der Sänger und Intellektuelle Woody Guthrie (1912-
1967) geschrieben hatte. Dieser hatte ab 1940 täglich Kolumnen für den Daily Worker, das
Organ der kommunistischen Partei verfasst. In New York (1960 nach einer Pilgerreise zum
kranken Guthrie) begann Bob Dylans Erfolgspur und er wurde zum Protestsong-Klassiker
der USA. Wolf Biermann, der 1953 in die DDR übergesiedelt war, lernte dort 1960 den
Musiker Hanns Eisler (1898-1962), einen Schüler von Arnold Schönberg kennen und begann
Theaterstücke, Lieder und Lyrik zu schreiben. Wegen anhaltender Repressionen und
Auftrittsverbote machte ihn erst seine Platte Chausseestr. 31 (1968), die in seiner
Privatwohnung aufgenommen wurde, für weite Kreise in der Bundesrepublik bekannt.1 Seine
Ausbürgerung während eines Konzerts im Westen 1976 und die Übernahme des Konzerts in
das Fernsehprogramm machten größere Teile der Öffentlichkeit in West und Ost auf ihn
aufmerksam. Zu diesem Zeitpunkt war Bob Dylan bereits zum Helden der amerikanischen
Protest- und Folk-Musik aufgestiegen und konnte diese Position mit diversen Auf- und Ab-
Bewegungen über Jahrzehnte halten.
Das literarische Engagement ist bei den drei Autoren unterschiedlich. Leonard Cohen war
Poet und Dichter und hat vor seiner Karriere als Sänger literarische Werke publiziert. Etwas
ironisch bemerkt er, dass er nur zum Sänger wurde, weil er mit gedruckten Texten seinen
Lebensunterhalt nicht bestreiten konnte. Bob Dylan orientierte sich zuerst an amerikanischen
Folk- und Bluessängern und entwickelte erst später durch seine intensive Textproduktion
und autodidaktische literarisch-philosophische Studien sein Profil als Dichter und Poet.
Dennoch war er überrascht, als ihm die Schwedische Akademie 2016 den
Literaturnobelpreis zuerkannte. Unter den Liedermachern stehen Cohen und Biermann dem
literarischen Establishment näher als Dylan. Wolf Biermanns Texte sind literarisch
ambitioniert, denn er stellt sich in eine Reihe mit dem französischen Dichter François Villon
und den Deutschen Heinrich Heine sowie Bert Brecht. Im Gegensatz zu Dylan steht er
musikalisch nicht in der Tradition von Blues, Folk und Rock; bei Cohen als Kanadier mag
seine Musik durch die französische Tradition des Chanson und über die spanische
Gitarrenmusik ebenfalls europäische Wurzeln haben.
Poesie, Musik und Politik in Leonard Cohens Liedern
Das politische Engagement ist nur bei Biermann die tragende Säule, bei Bob Dylan gab es
zumindest in den 60er Jahren ein Engagement in der Anti-Kriegs-Bewegung in den USA. Für
1 In seiner Autobiographie (Biermann, 2016) erwähnt er den Besuch von Joan Baez und Allen
Ginsberg in seiner rund um die Uhr bewachten Wohnung in Ostberlin.
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Leonard Cohen ist lediglich eine politisch relevante Stimmung (gegen Krieg und Intoleranz)
feststellbar. Sein romantischer Ausflug in die Tagespolitik, als er während der Kuba-Krise
nach Havanna reiste,2 endete mit einer Ernüchterung; siehe sein Gedicht: „The Only Tourist
In Havanna Turns his Thoughts Homeward“ im Gedichtband „Flowers for Hitler“ (1964). Bei
ihm ist zwar eine Atmosphäre des Ungehorsams, der Auflehnung zu spüren; das politische
Engagement bleibt aber eher ironisch-abstrakt. Das eben erwähnte Gedicht beginnt nur
scheinbar mit Aktions-Appellen:
Come, my brothers, let us govern Canada, let us find our serious heads, let us dump asbestos on the White House, let us make the French talk English, not only here but everywhere, let us torture the Senate individually until they confess, let us purge the New Party, let us encourage the dark races so they'll be lenient when they take over,
Als Leonard Cohen um 1967 mit dem Singen und ersten Aufnahmen begann, war gerade die
Protestbewegung gegen den Vietnam-Krieg am Rollen und Cohen trat im April 1967 beim
Sane-Konzert gegen den Vietnamkrieg auf. Als Sänger wurde er in die politisierte Szene der
60er und 70er Jahre hineingezogen und seine poetischen Text ließen viele Deutungen, auch
politische zu. In der amerikanischen Situation der 60er Jahre war schon der literarische Stil
Cohens, die Obskurität seiner Texte, die verzweifelte Innerlichkeit eine politische
Provokation, besonders auf dem Hintergrund einer sehr prosaischen, pragmatisch-
zweckbestimmten Mainsteam-Kultur. Immerhin hatte die Beat-Generation, beeinflusst von
Baudelaire und den Surrealisten in den USA eine schmale literarische Tradition geschaffen.
Durch die Verbreitung der Lieder Cohens erschloss sich diese Tradition neue
gesellschaftliche Felder, besonders im Bereich der Jugendkultur. Auch die einfache
Liedstruktur, der fast monotone Gesang enthielten eine Botschaft: Weg vom aufgeblasenen
2 Dieser Ausflug ist quasi ein Versuch, es den Teilnehmern am spanischen Bürgerkrieg, so etwa Ernst
Hemingway, gleichzutun. Cohen war wie Hemingway ein begeisterter Jäger. Vor ihm hatte bereits die
Beatnik-Generation an Vorkriegsliteraten wie Hemingway Maß genommen. Einer ihrer Hauptvertreter,
Jack Kerouac (1922-1969) stammte wie Cohen aus Kanada. Die politisch-ethische Intention dieser
Dichter war die Freiheit des Denkens, Fühlens und Handelns. In diesem sehr allgemeinen Sinn ist
auch Leonard Cohen ein politischer Dichter.
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Perfektionismus, der Effekthascherei, dem Bombastisch-Angeberischen des offiziellen
Kulturbetriebs.3
Eines der erfolgreichsten Songs Leonard Cohens war das 1984 aufgenommene Lied
„Halleluja “, in dem die biblische Geschichte von David und Bathseba erzählt wird (in einer
späteren Version die Beziehung des Sängers zu seiner Geliebten). Die Anfangszeile ist fast
rezitierend. Sie bewegt sich nur geringfügig um die Zentren G und A. Die melodische
Struktur des folgenden Teils (ab Takt 11) gliedert sich einerseits in den langsam
ansteigenden Verlauf von G bis D und andererseits in die Auf- und Ab-Bewegung des
Refrains: Halleluja (ab Takt 17; in vier Phasen, die jeweils das Halleluja wiederholen). Die
Bewegung geht von E bis A und zurück nach E; am Ende des Refrains steigt sie ab zum
Grundton der C-Dur Skala, dem C. Die Stimme Cohens bewegt sich in einer tiefen, für den
älteren Cohen charakteristischen und bequemen Region (eine Terz tiefer als seine frühen
Lieder). Eine besondere Eigenart dieses Lieds ist, dass sich Cohen im Liedtext neben David
stellt, der ebenfalls eine Melodie und die passenden Akkorde für das Lied sucht. Diese
werden im Liedtext sogar genannt: „Well it goes like this: the fourth, the fifth, the minor fall
and the major lift“. Cohen stellt sich damit selbst als den David des modernen Songs dar.
ABB. 1 NOTENBILD DES LIEDS HALLELUYA VON LEONARD COHEN
3 Bob Dylan hat sich dem Mainstream in seinen rockartigen Großkonzerten gebeugt, kehrte
aber später zu kleinformativen, spontaneren Auftritten zurück.
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Kramarz (2014: 213-239) untersucht die Melodik von Hits der Pop-Musik und bezieht dabei
auch das Lied Halleluja von Cohen mit ein (ibidem: 217). Die von uns analysierte
Strophenzeile wird als ansteigend bezeichnet, in seinem Sample der Pop-Hits sind dies nur
7%. Der Refrain nimmt dagegen einen bogenförmigen Verlauf. Diesem Muster entsprechen
immerhin 23% der untersuchten Lieder. Das Album „Various Positions“, zu dem das Lied
gehörte, wurde ursprünglich von Columbia abgelehnt, was eine Krise in Cohens Schaffen
auslöste (vgl. Reynolds, 2010: 213-222). Wie Kramarz anhand seines Samples von Pop-Hits
ausführt, ist die invariable Größe für den Erfolg immer die absolut hochwertige Produktion
(ibidem: 248-252). Dabei wirken oft über zwanzig, teilweise unabhängig voneinander
agierende Spezialisten mit, was einen entsprechenden finanziellen Aufwand notwendig
macht. Die eigentlich kreative Phase, das Schreiben des Textes und die Erfindung der
Melodie spielen dabei nur eine geringfügige Rolle. Leonard Cohen war da untypisch, da
seine untrainierte Stimme und die einfache Gesangsführung von seinen Mitarbeitern nur
hervorgehoben, aber nicht wesentlich beeinflusst wurden. Der Produktionsstandard war im
Vergleich zu anderen Interpreten sehr gering. Allerdings erfüllten Cohens Lieder das
Merkmal der stilistischen Geschlossenheit, was für Kramarz (ibidem 252 f.) ein absolutes
Muss für den Erfolg ist. Leonard Cohen und seinen Helfern gelang es, eine Marke Cohen zu
kreieren und aufrecht zu erhalten. Da Cohen Kanadier war, waren seine Erfolge
hauptsächlich in Kanada und in der westlichen Welt (ohne die USA) ausschlaggebend; erst
später wurde seine Musik auch in den USA verbreitet. Er wurde zur Kultfigur und konnte
seine Kunst bis zu seinem Tode (7. November 2016) weiterführen. Noch im Oktober 2016
erschien mit You Want It Darker sein 14. Studioalbum.
Alle drei Autoren haben ihr Publikum im Kontext von politisch motivierten Bewegungen
gefunden. Als Performer sind die drei Sänger über Jahrzehnte erfolgreich gewesen.
Besonders Dylan und Cohen haben ihre Lieder in immer wiederkehrenden Tourneen in der
ganzen Welt verbreitet und sind dabei auch berühmt und reich (besonders ersterer)
geworden. Die drei gewählten Sänger stehen für eine ganze Armada von Sängern und
Liedproduzenten; die Lieder von Dylan und Cohen wurden außerdem von vielen anderen
gecovert und waren Gegenstand von Video-Reportagen, Fernsehinterviews und Filmen.
In unserem semiotischen Kontext ist nicht nur die Verbindung von Text/Lyrik und Musik von
Interesse, wobei die drei behandelten Autoren als Textdichter, als Musiker und als
Interpreten tätig waren. Entscheidend ist, dass sie ihre Wirkung im Kontext eines politisch-
weltanschaulichen Programms entfaltet haben und dabei immer auch als Personen
(inklusive ihres Privatlebens) im Fokus der Öffentlichkeit standen. In Laufe der Karriere
entwickelte sich nicht nur ihre Dichtung und ihre Musik weiter, sie mussten auch auf die
Musik-Semiotik 2017 6
Wandlung des politischen Diskurses reagieren und dabei versuchen, trotz des Wandels ihre
Führungsposition zu sichern, ihr Publikum zufrieden zu stellen. Bei Bob Dylan ist diese
Anpassung bzw. die ständige Neuerfindung seiner öffentlichen Person besonders
ausgeprägt und eng mit den innenpolitischen und weltanschaulichen Konflikten in den USA
(sowie mit der kommerziellen und medialen Entwicklung der Musik-Branche) verquickt. Bei
Biermann kann man zwei Phasen unterscheiden, die vor der Ausbürgerung, als er sich
gegen das DDR-Regime und die intellektuelle Repression der Stasi-Genossen wendet und
dabei die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft verteidigt, und die nach der
Ausbürgerung, als er sich in den Diskurs in der Bundesrepublik zwischen Altlinken,
Gemäßigten und Grünen einbringen muss. Diese politische Thematik färbt sowohl auf die
Textgestaltung als auch auf die Musik ab. Sie hinterlässt Spuren, an denen man die
komplexe Interaktion von Zeichengebrauch in Sprache und Musik sowie politischer Intention
ablesen kann. Ich möchte in den nachfolgenden Analysen einzelne Aspekte dieser
Interaktion am Bespiel Bob Dylans und Wolf Biermanns herausstellen.
Das politische Lied als Literatur bei Bob Dylan
Dass die umfangreiche Liedproduktion Bob Dylans in fünf Jahrzehnten als Literatur (Lyrik,
Ballade) zu betrachten ist, hat ihm 2016 das Nobelpreis-Komitee mit der Verleihung des
Literatur-Nobelpreises bestätigt. Bereits in den Anfängen seiner Karriere hatte er sich nicht
nur auf die Vorgänger, besonders Woody Guthrie besonnen, sondern in einer Art Lesewut
klassische Lyriker und Liedautoren von Milton über Rimbaud bis Byron und Brecht in seine
Bildung und seine Texte aufgenommen, sich von ihnen inspirieren lassen (ohne allerdings
diese Schuld in seinen Liedern offen gelegt zu haben). Eine direktere Beziehung gibt es zur
Beat-Generation in den USA (besonders zu Jack Kerouac, 1922-1969). Diese hängt indirekt
mit dem europäischen Surrealismus zusammen, der vermittelt durch französische Exilanten
im Zweiten Weltkrieg auch in den USA Fuß gefasst hatte. Die Thematik „On the Road“ von
Kerouacs zweitem Roman, taucht in mehreren Liedern Dylans auf (z.B. 1965 in „On the
Road again“). Ein etwas obskurer literarischer Verweis ist der Name, den sich Bob Dylan,
der eigentlich Zimmermann hieß, selbst gab. „Dylan“ könnte auf den walisischen Dichter
Thomas Dylan (1914-1953) verweisen, der in New York wenige Tage nach einer Dichter-
Lesung verstarb. Thomas Dylan stand in den USA für das Romantische, emotional Bewegte
der europäischen Tradition, während Kerouac und seine Gefolgsleute für das Aufmüpfige,
die gegen die Mehrheit, das Establishment, die große Politik gerichtete Tradition standen.
Etwas prosaischer gibt Bob Dylan selbst seine Rolle wieder. Andere Sänger waren groß und
ansehnlich und konnten damit ihr Publikum begeistern. Er musste sich anderer Mittel und
Inhalte bedienen, um die gleiche Aufmerksamkeit (und den gleichen Erfolg) zu erreichen
(vgl. das Zitat nach Dylan, 1967 in Rosteck, 2006: 83). Quantitativ stehen in der riesigen
Musik-Semiotik 2017 7
Lied-Produktion Dylans die politischen Lieder nicht an erster Stelle. Als Beispiel für das
politische Lied bei Bob Dylan mag der Song „The Times are a-changing“ von 1963 (also zu
Beginn seiner Karriere) stehen. 1997 wurde dieses Lied von Bruce Springsteen bei einer
Bob Dylan Tribute Veranstaltung gesungen. Neben Bob Dylan saßen Bill Clinton und seine
Frau auf den Zuschauerrängen.
G Em C G
Come gather ‘round people wherever you roam
G Em C D
And admit that the waters around you have grown
G Em C G
And accept it that soon you’ll be drenched to the bone
G Am D
If your time to you is worth savin’
D D7 Gmaj 7 D
Then you better start swimming or you’ll sink like a stone
G C D G
For the times, they are a-chang - in’
G Em C G
Come writers and critics who prophecies with your pen
G Em C D
And keep your eyes wide the chance won’t come again
G Em C G
And don’t speak too soon for the wheel’s still in spin
G Am D
And there’s no tellin’ who that it’s namin’
D D7 Gmaj 7 D
For the loser now will be later to win
Musik-Semiotik 2017 8
G C D G
For the times they are a-chang-in’
Musikalisch wählt Dylan einen ¾ Takt und die tonale Grundfigur: G – C – D (d.h. Tonika,
Subdominate, Dominante) sowie die zu C (Am) und G (Em) passenden Molltonarten. Im
Jahre 2001 schreibt Dylan für den Film „Wonder Boys“ das Lied “Things have changed”, das
die Thematik des Wandels (38 Jahre und viele Schallplatten später) wieder aufgreift. Es hat
den Refrain:
People are crazy and times are strange
I’m locked in tight, I’m out of range
I used to care, but things have changed
Es ist nicht mehr die Zeit für Prophezeiungen, für Zukunftsprogramme. Resignation wird zum
Alltag.
Manche Lieder sind dem Sprechgesang sehr nahe: dies lässt sich an Zeilen mit
gleichbleibenden Notenwerten ablesen: Als Beispiel mag das Lied „A hard rain ’s falling“
(1963) gelten. Die in jeder Strophe wiederholten ersten beiden Zeilen:
Oh, where have you been my blue-eyed son?
And where have you been, my darling young one
wiederholen den Notenwert H fünf Mal, bevor die Melodie zum Grundton E absinkt. Die
jeweils fünf (in der letzten Strophe zwölf Zeilen, welche die Hauptaussage des Liedes tragen
(und die Antwort auf die Frage zu Beginn jeder Strophe), wiederholen sechs Mal die Note C
und fallen dann zum Grundton E ab. Die letzten beiden Zeilen, die jeweils wiederholt werden
(eine Art Refrain), starten vom Grundton E (And it’s a hard) steigern sich jeweils ansteigend
und finden einen Höhepunkt im E‘ eine Oktave höher. Dieser Höhepunkt (hard rain) wird
über mehr als drei Takte gestreckt. Mit dem letzten Halbsatz (s’gonna fall) fällt die Melodie in
kleinen Schritten (Sekunden und eine Terz) zum Grundton E ab. Die dem Sprechgesang
ähnelnde Melodieführung ist besonders für die in der Mitte stehenden und sich sukzessiv
verändernden Textzeilen und für die Verständlichkeit wichtig, während die Kulmination am
Schluss als eine Art Klage, laut und eindringlich artikuliert wird. Die einfache rhythmische
Gitarrenbegleitung unterstützt die Aussage, ohne aber vom Text abzulenken. Tatit und
Lopez (2015) kommentieren Dylans Song-Technik wie folgt:
“Dies zeigt auch der wohlbekannte Fall Bob Dylans, der auf der Basis einer kleinen
Anzahl wiederkehrender Akkorde komponiert und der je nach den Intentionen der
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gesprochenen Sätze seinen melodischen Profilen freien Lauf lässt, so als überlasse
er sich Hals über Kopf seinen rhetorischen Impulsen“ 4
In der späteren Anpassung des Gesangstils an den der Beatles und der Rolling Stones und
mit der Begleitung durch Orchester und Chor geht die Eindringlichkeit des sprachlichen
Appells wieder verloren.
ABB. 2 DIE ERSTE SEITE VON A HARD RAIN ’S FALLING (1963)
4 Übersetzung der Autor: „En témoigne le cas bien connu de Bob Dylan, qui compose sur un petit
nombre d’accords récurrents mais qui donne libre cours à ses profils mélodiques au gré des intentions
des phrases linguistiques, comme s’il se livrait à corps perdu à sa verve d’orateur. » (ibidem :117). Sie
vergleichen in ihrem Aufsatz verschiedene Liedtraditionen in Europa und Amerika. Häufig werden
einfache melodische und rhythmische Schemata benützt, in die sich der Liedtext leicht einfügen lässt.
Insbesondere kann damit die natürliche Betonung und Phrasierung des Textes aufrechterhalten
werden. Im Bossa Nova wurde dagegen die rhythmische und melodische Struktur komplizierter; im
Gegenzug kam es aber zu einer Infantilisierung der Texte, die sich leichter in die anspruchsvolle
Musik einfügen ließen (Tatit und Lopez, 2015: 116f.).
Musik-Semiotik 2017 10
Der Wandel der Musikstile im Werk Bob Dylans
Musikalisch steht zuerst der traditionelle Blues, später der Rock im Vordergrund und die
Technik beruht auf dem Gitarrenspiel (einem virtuosen Fingerpicking) und dem Gesang, der
durch die Mundharmonika, die Dylan am Hals trug, ergänzt wurde.5 Später wurde eine
Vielfalt in seiner Zeit erfolgreicher Musikrichtungen (vom Country bis zu Pop und Jazz)
integriert (mit wechselndem Erfolg) und weitere Instrumente (so das Klavier oder Keyboard)
wurden von Dylan bedient. Schließlich fand der übliche Aufwand an Orchestrierung,
Arrangements, Begleitchören und Lichteffekten Eingang in die Bühnenshows des Musikers.
Im Gegensatz zu dieser Anpassung an den Medienrummel und die Großkonzerte steht das
unermüdliche Engagement in seiner „Never Ending Tour“ (1998-2016), bei der Bob Dylan in
beständiger Regelmäßigkeit manchmal auch vor kleinerem Publikum seine Songs zum
Vortrag bringt und dabei immer neue Varianten und Darstellungsformen erprobt. Musik ist
hier in erster Linie „performance“, obwohl Dylan nach so vielen Ehrungen und
Auszeichnungen natürlich in einer eignen Liga spielt und sich um die Zustimmung seiner
Zuhörer keine Sorgen machen muss.6
Der literarische Kontext der Lieder von Wolf Biermann
Biermann stellt sich von Anfang an in die Tradition der politischen Lyrik und tritt als Literat
auf, obwohl spätestens seit 1968 seine Tätigkeit als Liedersänger und politischer Sänger im
Vordergrund steht. Seine literarische Ahnen sieht er bei dem französischen Dichter des
Mittelalters François Villon (1431-1483), bei Heinrich Heine, zu dessen Versepos
„Deutschland ein Wintermärchen“ (1844) er anlässlich einer Reise von der DDR in die BRD
(1965) ein Gedicht gleichen Titels schrieb und das er bei einem Auftritt in Köln vortrug. In
zwei Strophen nimmt er Bezug auf Villon und Heine:
5 In einem Interview mit Klaus Antes verweist Wolf Biermann darauf, dass das politische deutsche
Volkslied seit der Niederschlagung der Bauernaufstände an Kraft verloren habe, so dass er nicht auf
eine deutsche Tradition zurückgreifen konnte. Dagegen konnte sich Bob Dylan “in den Strom des
Blues reinwerfen und treiben lassen. Der braucht, was musikalisches Material betrifft, nur zu nehmen
was da ist“ (zitiert in Löppmann, 1990: 21). Vgl. dazu jedoch Fn. 7.
6 In einem Interview mit Spiegel-online (30.10.2016) sagte der Musiker und Sänger Marius Müller-
Westernhagen (*1948 in Düsseldorf): „Westernhagen: Popmusik war zu meiner Zeit Bob Dylan, das
war Led Zeppelin, Jimi Hendrix, James Brown. Die kriegten heute alle keinen Plattenvertrag mehr,
weil das Musik ist, die stört. Die würde heute kein Radiosender mehr spielen. Ich bin aber der
Meinung, dass Kunst auch dazu da ist, zu stören. Heute ist alles nur darauf ausgelegt, Erwartungen
zu erfüllen. Und das hat nichts mit einem künstlerischen Ansatz zu tun, und auch nicht mit
Gesellschaftskritik.“
Musik-Semiotik 2017 11
Nicht jeder ist so gut gebaut
Wie der Franzose Franz Villon
Der kam in dem bekannten Lied
Mit Rotweinflecken davon
Ich dachte auch kurz an meinen Cousin
Den frechen Heinrich Heine
Der kam von Frankreich über die Grenz
Beim alten Vater Rheine
Das Erstaunliche der Lieder Biermanns ist, dass man sie auch ohne die musikalische
Begleitung mit Gewinn lesen kann. Mit der Musik, der Gitarren- und Gesangsperformance
und der Bühnenpräsenz Biermanns (besonders als Life-Erlebnis in einer Vorstellung) erhält
der Text allerdings eine weitere Dimension und die politische Botschaft wird intensiviert,
sozusagen verkörperlicht. Die Kritik Biermann richtete sich auch gegen die Literaten, wie das
Lied: „Die hab‘ ich satt“ beweist:
Die Dichter mit der feuchten Hand
Dichten zugrunde das Vaterland
Das Ungereimte reimen sie
Die Wahrheitssucher leimen sie
Dies Pack ist käuflich und aalglatt
- die hab ich satt!
Man mag daraus folgern, dass die Dichter die Ungereimtheiten des Lebens nicht um der
schönen Ästhetik willen verschleiern sollten, sich nicht intellektuell bei Philosophie und
Wissenschaft bedienen und sich ihrer Verantwortung für das Land, in dem sie leben,
bewusst sein sollten. Damit formuliert Biermann in aller Kürze ein ethisches und politisches
Programm der Literatur.
Musikalischer Stil und die Tradition des Protestliedes in Europa
Musikalisch ist Biermann durch die Brecht-Lieder geprägt, die von Kurt Weill (1900-1950)
und Hanns Eisler (1898-1962) vertont wurden. Mit Hanns Eisler hatte Biermann in Ost-Berlin
Kontakt und dieser nahm seine Lieder positiv wahr. Biermann hat aber einen ganz anderen
Zugang zur Musik. Andere Vorbilder sind die kubanischen Revolutionslieder, das
Musik-Semiotik 2017 12
französische Chanson und natürlich ganz allgemein die europäische Folklore.7 Auch der
Vortrags- und Musikstil Biermanns lebt vom persönlichen Vortrag, den Life-Kommentaren,
den Antworten auf Zurufe aus dem Publikum und natürlich von der Persönlichkeit des Autors
und Sängers. Biermann experimentiert zwar auch mit verschiedenen musikalischen Rahmen
lässt sich aber nicht in ähnlichem Maße von Strömungen der Musikindustrie, von Pop, Rock.
Country usw. beeinflussen wie Dylan. Insgesamt ist seine Arbeit weit weniger in den
industriell-ökonomischen Kontext der Musikbranche eingebunden als Dylan (er bewegt sich
finanziell in einer viel bescheideneren Dimension). In der Tradition des französischen
Chansons, ist die Verständlichkeit der gesungenen Texte und die Eingängigkeit,
Expressivität der musikalischen Gestalten (u.a. auch deren Einfachheit) von großer
Wichtigkeit. Viele der kompliziert-poetischen Texte Dylans mögen dem englischsprachigen
Zuhörer schwer zugänglich sein, für sein internationales Publikum sind sie unverständlich
und damit unerheblich. Sowohl der politische als auch der ästhetische Gehalt verpufft also
und es bleibt bloß die Markenidentität Bob Dylan übrig. Beide Dichter und Sänger haben sich
besonders gegen Ende ihrer Karriere vieler Auszeichnungen erfreut. Bob Dylan sang vor
dem amerikanischen Präsidenten, Bill Clinton und dem Papst; Wolf Biermann sang vor dem
Bundestag am 7.11.2014 sein Lied „Ermutigung“, wobei er sich zum Entsetzen des
Bundestagspräsidenten, der ihn eingeladen hatte, auf eine Debatte mit der Fraktion der
Linken einließ.
Semiotische Dimension des politischen Liedes
Das politische Lied hat mindestens drei Zeichenebenen. Die erste ist die sprachliche; sie
kann in der Form eines Strophenliedes mit Refrain, als Ballade oder Moritat in Erscheinung
treten. Das Lied spricht dann aktuelle Themen an, greift an, urteil/verurteilt, gibt Lehren,
bezieht Stellung. All dies könnte auch ein Text ohne Musik. Die zweite Ebene ist die
musikalische. Man kann sich fragen: Wie verhält sich die Musik, der Gesang, die
instrumentelle Darbietung, das Arrangement, bei größeren Events die Begleitmannschaft, die
Chorsänger, die Licht-Show usw. zum politischen Inhalt? Lenken sie nicht von der Botschaft
ab? Wie die Beispiele aus dem Werdegang und der Weiterentwicklung bei Dylan zeigen,
liegt hier ein Konflikt vor. Dylan kehrte später wieder zur einfacheren Darbietung, bei der er
7 In der DDR gab es mindestens seit 1976, also dem Jahr der Ausbürgerung Biermanns eine rührige
Folk-Szene, so die Folkländer in Leipzig. Ein wichtiger Bezugspunkt war die Sammlung „Volkslieder
demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“ von Wolfgang Steinitz, die 1962 in der DDR
erschienen war. Die Folk-Bewegung versuchte, sich von der Tradition der FdJ (freie deutsche Jugend,
einzige offizielle Jugendorganisation der DDR) und des in der Nazi-Zeit missbrauchten Volksliedes zu
befreien und sich an internationalen (auch westlichen) Vorbildern zu orientieren. Auch diese
Bewegung wurde streng kontrolliert. Die Lieder von Biermann und dessen musikalischer Stil durften
nicht übernommen werden. Vgl. Leyn (2016)
Musik-Semiotik 2017 13
mit Gitarre (eventuell Mundharmonika) im Zentrum steht, zurück. Biermann hat die Form der
Ein-Mann-Darbietung nur selten verlassen. Die Musik kann virtuos sein; sie bleibt aber
insgesamt in einem übersichtlichen Rahmen des (verständlich) Singbaren, in der Nähe des
Volksliedes und der folkloristischen Darbietung. Dies gilt übrigens für die meisten
Liedermacher; sie leben von der kargen Ausstattung; der Sänger kommt quasi von der
Straße auf die Bühne; er muss seinen Aufwand minimieren; er ist ständig „on the road“, um
ein Motto von Jack Kerouac aufzunehmen. Das musikalische Zeichen verlässt also den
Rahmen einfacher Melodien und Begleitungen nur selten. Biermann ist hier vielleicht eine
Ausnahme, insofern er relativ komplexe und abwechslungsreiche Melodien und Soloeinlagen
entwickelt hat. In seiner Autobiographie (Biermann, 2016) reflektiert er das Verhältnis von
Text und Musik in seinen Liedern:
„Wenn ich die Musik für ein neues Lied komponiere, höre ich zuerst in den Text rein.
Ich lese ihn mir halblaut vor, nehme ihn in den Mund, schmecke ihn auf der Zunge,
bewege ihn zwischen den Lippen und lausche der innewohnenden Sprachmelodie.
Dann teste ich mit einer Fußspitze und dann mit den Sohlen den Duktus, denn nicht
nur der Ton macht die Musik, sondern auch der Rhythmus. Aber dann entferne ich
mich mehr und mehr vom ersten naiven Angebot der Wortmelodie, weil nun auch die
Musik, wie sie hervorschimmert, ihr Recht fordert. Sie will mehr als eine Dienerin des
Textes sein. Sie serviert nicht, sie kontrapunktiert den Text und komplettiert damit das
Gesamtkunstwerk. Die Musik setzt den Widerspruch, sie formuliert eine Haltung, die
der Text so nicht hat“ (Biermann, 2016: 518).
Er sieht einen Gegensatz zu seinem Vorbild Hanns Eisler, der die Musik zum Text eher „mit
dem Bleistift komponiert“ (ibidem); Biermann komponiert „mit Händen und Füßen und Zunge“
(ibidem). Dies mag ähnlich für Leonard Cohen und Bob Dylan gelten, obwohl sie stärker in
einer bestimmten Lied- und Musik-Tradition verwurzelt sind, bzw. auf allgemeine,
erfolgreiche Musik-Stile und deren Entwicklungen reagieren (so reagiert Bob Dylan auf die
Country- und Folkbewegung, auf die Rock-Musik, auf die gleichzeitig erfolgreichen Sänger
Elvis Presley (1935-1977), die Beatles (geboren um 1940) und die Rolling Stones (Mike
Jagger geboren 1943).
Die dritte Ebene ist die politisch-mediale. Der Sänger stellt sich seinem Publikum mit einer
Botschaft, die er nach Möglichkeit auch leben soll. Dies muss er, wenn möglich über einen
längeren Zeitraum, in dem sich die politische Landschaft wandelt, durchhalten oder sich
(auch zum Entsetzen seiner Fans) verändern. Bei Dylan war die erste „politische“
Orientierung die „on the road“ Bewegung der Aussteiger, die Anti-Vietnam-Protestbewegung,
später die Rückkehr zur Religion usw.; bei Biermann das Engagement in der DDR und
später in der BRD. Gerade der durch seine plötzliche Ausbürgerung erzwungene
Musik-Semiotik 2017 14
Kontextwechsel von Ost nach West, machte ihm im ersten Jahrzehnt zu schaffen. Er wurde
schließlich ein Renegat der kommunistischen Utopie, obwohl diese der Nährboden seiner
intellektuellen und künstlerischen Existenz bis zur Ausbürgerung (1976) gewesen war. Die
Wiedervereinigung von Ost und West wurde ein weiterer Prüfstein seiner politischen
Position; sie öffnete ihm aber auch sein lange verbotenes Publikum im Osten.
Ein nicht unwesentlicher Aspekt der Zeichengestaltung ist der Sänger selbst mit seinem
Körper, seinem Leben abseits der Bühne, der Wahl seiner Partner und Helfer, sein
Engagement bei Hilfsaktionen, Charity-Konzerten usw. Eine nicht unwichtige Nebenrolle
spielt dabei sein Privat- und besonders das Sexualleben. Ähnliche Maßstäbe der politischen
Botschaft gelten übrigens auch für die Politiker; diese werden durch Wählerstimmen
belohnt/bestätigt; der Sänger erhält Zustimmung in den Konzerten, durch den Verkauf seiner
Platten, über Auszeichnungen usw. Das politische Lied als symbolische Form ist am ehesten
mit der symbolischen Form ethischer Maximen und Forderungen vergleichbar. Dies
manifestiert sich neben der öffentlichen Performance im politisch-ethischen Verhalten und an
der Übereinstimmung mit den Erwartungen und Normen einer bestimmten Anhängerschaft
oder Öffentlichkeit. Die Zeichenformen sind Lebens- und Verhaltensformen; deren
Bedeutungen bestehen in der Kongruenz mit gegebenen oder sich entwickelnden Normen
und in ihrer inneren Kohärenz (über unterschiedliche Zeiten und Kontexte). Der Sänger/die
Sängerin und die Öffentlichkeitsarbeiter muss entscheiden, welche von mehreren
konkurrierenden Normen sie akzeptieren. In bescheidenem Umfang kann die politische
Person diese ethischen Normen kritisieren, verändern, neu gestalten. Dazu muss sie aber
auf bereits vorhandene Minderheiten und deren Werte Bezug nehmen und muss hoffen,
dass sich diese in Richtung auf eine relevante Mehrheit hin entwickeln. Da diese Problematik
das weitere Feld einer politischen Semiotik betrifft, will ich es bei diesen Andeutungen
belassen.8 Jedenfalls ist der politische Sänger ein Wanderer auf engem Grad: Er mag die
textuelle und die musikalische Zeichenkultur weitgehend übernehmen; die Gestaltung seiner
politischen Position, deren Ausbau und Verwandlung muss er aber selbst bewältigen. Text
und Musik können ihm dabei nur wenig Hilfestellung leisten und sie werden abgelehnt,
verworfen und vergessen, wenn die Zeichenkommunikation auf der politisch-öffentlichen
Ebene misslingt. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb dieser Balance-Akt nur wenigen
8 Ernst Cassirer hat in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ den einzelnen Untertypen wie:
Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Wissenschaft jeweils eine spezifische ethische (und damit auch
politische) Funktion zugewiesen. Die symbolische Form ist immer ein Ausdruck menschlicher Freiheit,
insofern sie nicht durch die Welt determiniert ist, und sie enthält den Auftrag, diese Freiheit zu
gestalten, bei Bedrohung zu verteidigen. Die Musik als Kunst trägt das Ihrige zu dieser Gestaltung bei.
Wenn sie die Freiheit des Menschen in seiner Selbstgestaltung verteidigt, hat sie automatisch eine
politische Funktion. Vgl. zur Ethik als symbolische Form bei Cassirer Jagersma (2003: 290ff).
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gelingt. Bob Dylan hat versucht sich dauernd zu wandeln, quasi in der Öffentlichkeit eine
nicht fixierbare Identität zu präsentieren. Metamorphose, Maske ironische Distanz zur
eigenen Rolle sind die Techniken, mit denen er sich dem öffentlichen Urteil zu entziehen
versuchte (vgl. dazu das Kapitel „Alias“ in Detering, 2016: 7-23). In seinem Spätwerk „ Love
and Theft“ (2001) bedient er sich arglos in vielfältigen literarischen und musikalischen
Quellen. Als Autor ist er nicht fixierbar, seine Texte sind Kollagen aus Lesefrüchten; er selbst
spielt eher die Rolle eines Moderators, wie er dies auch in seinen Rundfunksendungen
versucht hat.9 Bei Leonard Cohen und Wolf Biermann liegen zwei entgegengesetzte
„Lösungen“ des Konflikts von politischer Position und Musik/Poesie vor. Cohen bleibt
politisch unverbindlich, distanziert, wogegen Biermann sich ideologisch exponiert. Durch den
Wechsel nach Westdeutschland und besonders nach dem Fall der Mauer (1989) wurde dies
zum Problem. Immerhin ist Biermann daran nicht gescheitert, wie seine bleibende
Popularität zeigt. Seine Autobiographie (Biermann, 2016) ist deshalb auch ein Versuch der
Rechtfertigung.
Literatur
Biermann, Wolf, 2016. Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie,
Ullstein/Propyläen, Berlin.
Brandt, Per Aage und Roberto do Carmo Jr. (Hg.), 2015. Sémiotique de la Musique /
Music and Meaning, Presses Universitaires de Liège, Liège.
Detering, Heinrich, 2014. Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele,
Beck, München .
Detering, Heinrich, 2016. Bob Dylan, Reclam, Stuttgart.
Jagersma, Arend Klaas, 2003. Der Status der Ethik in der Philosophie der symbolischen
Formen, in: Sandkühler und Pätzold in Zusammenarbeit mit Freudenberger, van
Heusden, Jagersma, Plümacher und Wildgen, 2003. Kultur und Symbol. Ein
Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Kap. 13: 276-296.
Kramarz, Volkmar, 2014. Warum Hits Hits werden. Erfolgsfaktoren der Popmusik. Eine
Untersuchung erfolgreicher Songs und exemplarischer Eigenproduktionen,
transcipt, Bielefeld.
Leyn, Wolfgang (Hg.) Volkes Lied und Vater Staat. Die DDR-Folkszene 1976-1990, Ch.
Links Verlag, Berlin.
Löppmann, Horst, 1990. Das folkloristische Element bei Wolf Biermann. Zur Frage der
Verarbeitungs- und Verfremdungstechnik konventioneller Stilelemente in der
Gitarrenbegleitung, Diplomica Verlag, Hamburg.
Tatit, Luiz und Ivã Carlos Lopez, 2015. Ce que „chanter“ veut dire dans l‘énonciation
musicale, in : Brandt und do Carmo (2015 : 107-120).
9 Detering (2014: 21)spricht von „Zitatengestöber und Collagenkunst“.
Musik-Semiotik 2017 16
Wildgen, Wolfgang, 2015. Dynamique narrative du texte, du film et de la musique, in:
Cahiers de narratologie. Analyses et théories narratives, 28 (numéro: Le récit
comme acte cognitif). Link : http://narratologie.revues.org/7243
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