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Kunst; Funktionalismus; 20. Jahrhundert; Modernismus
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Bernhard E. Bürdek Vom Mythos des Funktionalismus In: Vom Mythos des Funktionalismus. 1997. Franz Schneider Brakel (Hg.). Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. S. 7-16. Veröffentlichung auf der Homepage des Studienbereichs Industrial Design der hgkz mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Alle © bei Franz Schneider Brakel.
Kaum ein Begriff hat die Debatte des Designs im 20. Jahrhundert derart dominiert wie der des
Funktionalismus. Seit den 20er Jahren – also seit der Zeit des Bauhauses in Weimar und
Dessau – wurde mit dem Begriff "funktional" eine Produktkultur beschrieben, die zwar in
Deutschland schon überwunden ist oder gar bereits vergessen zu sein scheint, die aber im
Ausland immer noch das Bild des deutschen Designs prägt. Es ist dort weitgehend unbemerkt
geblieben, daß im Lande Goethes und Beethovens in den 80er Jahren ein Designbegriff
korrumpiert wurde, der bis dahin die Identität der Produktgestaltung ausmachte.
Dem vermeintlich "neuen deutschen Design" (1), das sich insbesondere durch seine radikalen
Attacken gegen den Funktionalismus profiliert hat, ist es allerdings nicht gelungen, etwas
dauerhaft Neues zu entwickeln. Gegen etwas zu sein, ist eben nur die eine Seite der Medaille.
Die große Chance, das neue deutsche Design mit den sich rasant entwickelnden neuen
Technologien (gemeint sind die sogenannten C-Technologien wie zum Beispiel Computer
Aided Design oder Computer Aided Manufacturing) zu verbinden, wurde noch nicht einmal
ansatzweise erkannt, geschweige denn auch nur experimentell versucht. "Die deutsche Schule
der Schweißer und Black & Decker-Werkler", wie sich Layla Dawson (2) einmal sarkastisch
ausdrückte, war eben weitgehendst technologiefeindlich eingestellt. Die Krönung ihres
gestalterischen Handelns sahen ihre Protagonisten dann erreicht, wenn ihre noch lackfeuchten
Produkte den Weg in ein Kunstgewerbemuseum gefunden hatten.
Nun geht es mir hier nicht darum, erneut das Hohelied des Funktionalismus anzustimmen.
Diese Melodie und alle Refrains kennen wir zu gut. Auch möchte ich keinesfalls die schon oft
erzählte Geschichte des Funktionalismus repetieren. Hierzu gibt es genügend Publikationen,
auf die ich verweisen kann (3). Vielmehr scheint es mir reizvoll zu sein, einfach einmal ganz
weit zurückzuschauen – also der Frage nachzugehen, was Funktionalismus einmal war.
2
Allenthalben wird ja das Ende der Welt der Gegenstände proklamiert. Man erzählt uns, daß
wir im Zeitalter des Digitalen, der Entmaterialisierung oder gar bereits der virtuellen Realität
leben. Aber diese Behauptungen sind genauso widersprüchlich wie die benutzten Begriffe.
Entweder ist nämlich das Jetzt real oder virtuell. Beides zusammen kann es nicht sein.
Verschwinden wir also bereits im Cyberspace, wie uns die Apologeten der "Beschleunigten
Neuen Medien", wie Florian Rötzer und Norbert Bolz, permanent glaubhaft machen wollen,
oder bleiben doch noch ein paar Gegenstände übrig? Ich will versuchen, diese und andere
Fragen zu beantworten und dabei relativ geschwind durch die Zeiten zu eilen. Der
Funktionalismus galt, zumindest im deutschsprachigen Raum, über Jahrzehnte hinweg als das
erkenntnistheoretische Credo des Designs. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg
begründete sich darauf das "Prinzip der Guten Form". Daß dabei die Form immer nur
funktional verstanden wurde, rührte wohl vom schlechten Gewissen mancher Designer her.
Sie fürchteten, als "Frisöre" zu gelten, wie sie Max Bill später einmal bezeichnete. Die
Formgebung allein reichte eben nicht aus, lag sie doch zu nahe an der kunstgewerblichen
Tradition, die man abschütteln wollte. Daß aber Formgebung auch Sinngebung bedeuten
könnte, für diese Erkenntnis war die Zeit noch nicht reif genug.
Wie sehr die Funktion die Form bestimmen kann, zeigte sich in eindrucksvoller Weise an den
Entwurfsbeispielen der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Die akribisch durchgeführten
Funktionsanalysen führten zu weitestgehend ähnlichen formalen Lösungen. Die Ausnahme
bildeten die Projekte Walter Zeischeggs, der seine bildhauerische Tradition nie verleugnete.
Der Begriff "Funktion" ist mehrdeutig. Die allgemeine Bedeutung des Wortes meint laut
Brockhaus-Enzyklopädie (19. Auflage) "Aufgabe, Tätigkeit, Stellung (innerhalb eines
größeren Ganzen)", womit eigentlich schon deutlich wird, daß es sich um eine Beziehung
handelt.
Zum Begriff des "Funktionalismus" heißt es im Brockhaus: "Gestaltungsprinzip der modernen
Architektur und des modernen Designs: Die Erscheinungsform eines Bauwerkes oder eines
Gebrauchsgegenstandes wird aus seiner Funktion abgeleitet, das heißt, alle Teile eines Baues
oder eines Produktes werden ihrem Zweck entsprechend gestaltet. Form und Funktion sollen
eine Einheit bilden."
3
Diese enge Begriffsbestimmung des Funktionalismus führte zu einer gravierenden
Fehleinschätzung. Die Debatte hierzu kann aber als abgeschlossen gelten. Das Schlagwort
"form follows..." ist in der postmodernen Beliebigkeit seiner vielfachen Abwandlungen zur
Platitüde verkommen:
Ron Arad: Form follows motion Elizabeth Garouste/Mattia Bonetti: Form follows impression
GINBANDE: Form follows concept Konstantin Grcic: Form follows addition Massimo losa
Ghini: Form follows speed Danny Lane: Form follows crash Xavier Mariscal: Form follows
comic Jasper Morrison: Form follows utilism Marc Newson: Form follows streaming Denis
Santachiara: Form follows animation Borek Sipek: Form follows poetry Philippe Starck:
Form follows STARCK ZEUS: Form follows strength (4)
Das 20. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. Der Funktionalismus starb bereits zu Beginn der
80er Jahre. Die Moderne wurde gleich mitbegraben. Die Postmoderne übernahm die Regie
und proklamierte die Endzeit: das Ende der Geschichte, das Ende der Philosophie, das Ende
der Kunst, das Ende der Musik, das Ende der Literatur... Überall geht es wohl zu Ende – ein
guter Grund mehr, noch einmal zurückzublicken.
Zum Thema des Funktionalismus reicht es jedoch nicht, auf den Beginn dieses Jahrhunderts
zurückzuschauen. Der Blick muß weiter zurückreichen. Und da es das Design ja noch gar
nicht so lange gibt, möchte ich den Versuch unternehmen, das Thema des Funktionalismus
mit Hilfe "der Mutter aller Künste" – der Baukunst – neu auszuleuchten. Schließlich wurde –
und wird – ein Großteil der Designgeschichte von Architekten geschrieben. Ob früher Louis
H. Sullivan, Peter Behrens, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Frank Llyod Wright,
Charles Eames oder heute Mario Botta, Hans Hollein, Alessandro Mendini, Ettore Sottsass jr.,
Stefan Wewerka und viele andere mehr: Meistens waren und sind es Architekten, die
entscheidende Beiträge zum Design geleistet haben.
Konsequenterweise habe ich mir als Führer durch die Jahrhunderte einen Architekten
ausgewählt. Genauer gesagt, einen der berühmtesten Baumeister der Antike, der zugleich
einer der besten Architekturhistoriker aller Zeiten war: Marcus Vitruvius Pollio, kurz Vitruv
genannt. Mit seiner Hilfe will ich versuchen, das Thema "Funktionalismus" durch die vier
Antiken zu verfolgen, um den drei Modernen zu münden.
4
Die Ursprünge des funktionalen Bauens bei Vitruv
Authentische Nachrichten über Vitruvs Leben liegen nicht vor. Man nimmt heute an, daß er in
der Zeit von 80 bis 10 vor Christus in Rom gelebt hat. Er diente dem Kaiser Augustus als
Künstler, Ingenieur und Kriegsbaumeister und muß viel in der damals bekannten Welt
herumgereist sein, kannte er doch die Geschichte und Bedeutung der unterschiedlichsten
Bauwerke.
Vitruv war ein universeller Geist. Seine Persönlichkeit wird heute mit der Leonardo da Vincis
verglichen, der gern als "Urahn des Designs" (5) apostrophiert wird. Wie viele Bauwerke er
geplant hat, ist nicht bekannt. Nachgewiesen ist lediglich eine Basilika in Fanum am
Adriatischen Meer. Die eigentliche Bedeutung Vitruvs beruht denn auch auf seinen
Aufzeichnungen, die zu den ältesten überlieferten Schriften der Architektur gehören.
Seine "Zehn Bücher über die Baukunst" sind als ein umfassendes Regelwerk zu verstehen.
Zwei Zahlen unterstreichen die zentrale Bedeutung dieses Mannes und seines Werkes für die
Geschichte der Architektur: Heute noch existieren 55 Handschriften der "Zehn Bücher", deren
älteste bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen, und bis heute sind ungefähr 80 vollständige
Neuausgaben in allen europäischen Sprachen erschienen.
Im ersten Kapitel des ersten Buches beschreibt Vitruv das "Wesen der Baukunst und die
Ausbildung der Baumeister" – und er stellt hohe Ansprüche. Das Können der Architekten
müsse zwei Gebiete umfassen, nämlich Praxis und Theorie. Nur wer beide im gleichen Maße
beherrsche, erreiche sein Ziel, und zwar schneller und mit größerem Erfolg. Ein Architekt
müsse – so Vitruv künstlerisch wie auch wissenschaftlich interessiert sein. Denn weder Talent
ohne Wissen noch Wissenschaft ohne Talent könne einen gereiften Künstler hervorbringen.
Auch solle der Architekt sprachlich gewandt sein, zeichnen können, die Geometrie
beherrschen sowie die Gesetze des Sehens und der Mathematik. Er solle geschichtliche und
philosophische Kenntnisse besitzen, einiges von der Musik (Akustik) verstehen und die
Heilkunde (Hygiene) kennen. Schließlich müßten ihm gesetzliche Vorschriften geläufig sein,
und er solle etwas von Sternkunde und den Gesetzen der Astronomie verstehen.
"Dies aus folgenden Gründen: Der Baumeister muß in der Lage sein, durch Wort und Schrift
seine Arbeit zu begründen. Dann muß er geplante Bauten zeichnerisch einwandfrei darstellen
5
können, wozu die Geometrie vor allem bei der Darstellung der verschiedenen Gebäuderisse
die notwendigen Hilfsmittel bietet. Die Lehre vom Licht (Optik) wird die richtige Anbringung
der Fenster erleichtern, während die Mathematik (Rechenkunst) die Grundlage für
Kostenberechnung, Maßeinteilung und Fragen der guten baulichen Verhältnisse bietet." (6)
Schon hier wird die große aktuelle Bedeutung dieses antiken Lehrmeisters deutlich. Die
Architektur hat sich immer recht umfassend verstanden, ganzheitlich würde man heute sagen.
Als "Mutter der Künste" war sie schon immer mehr als die Summe ihrer Teile. Ein anderes
kommt hinzu. Vitruv verpflichtet die Architekten zu einer philosophischen Grundhaltung. Die
Philosophie gebe dem Baumeister den Adel der Gesinnung und bewirke, daß er nicht
überheblich sei, sondern gewissenhaft und vor allem ohne Habsucht. Denn auf Dauer könne
keine Arbeit ohne Gewissenhaftigkeit und lautere Gesinnung Erfolg haben. Der Architekt
solle nicht begehrlich sein und dauernd hinter Aufträgen herjagen.
Dies sind Worte, die an die aktuelle Debatte um die "Ethik im Design" (7) erinnern. Horst
Oehlke (8) benutzt in diesem Zusammenhang fast die gleichen Worte: "Das Ethische ist in der
Gestaltung und vom industriellen Design von Beginn seiner Entwicklung an als dem
gegenständlichen Sachverhalt inhärent betrachtet worden und hat lange Zeit und zum Teil bis
heute zur Legitimation der professionellen Tätigkeit gedient."
Seit Anfang der 70er Jahre wissen wir um die "Grenzen des Wachstums" (9). Die
Umweltproblematik wird Tag für Tag bedrohlicher. Immer deutlicher müssen wir erkennen,
wohin uns der gedankenlose Umgang mit den natürlichen Ressourcen führen kann.
Obwohl die ökologischen Probleme inzwischen auch im Design wahrgenommen werden, sind
wir noch weit davon entfernt, umzudenken. Nach wie vor scheint die Hauptfrage zu lauten,
mit welchem Konsummüll man das applaudierende Publikum in die Galerien und Museen
locken kann. Der Designer als immerwährender Warenproduzent – Wolfgang Haug läßt
grüßen (10). Und wenn dann ein privilegierter Endverbraucher, wie zum Beispiel die Fürstin
Gloria zu Thurn und Taxis, ein neues Boudoir benötigt, bittet sie eben die Designer zu Hofe,
die ihr gefällig zu sein haben: Tanderadei – gar lustig ist die Designerei.
Bereits vor 20 Jahren – die Lähmung deutschen Designs durch die warenästhetische Kritik
war gerade überwunden – äusserte Lucius Burckhardt zum gleichen Thema einige
6
bemerkenswerte Gedanken: "Und jetzt fragt ihr nach Kriterien für ein neues Design! Da
könnte ich schon einige nennen. Stellt euch vor, eine neue Kommission des Werkbundes zöge
durch die Hallen der Mustermesse, ergriffe ein ausgestelltes Produkt und fragte:
- Besteht es aus Rohstoffen, die ohne Unterdrückung gewonnen werden?
- Ist es in sinnvollen, unzerstückelten Arbeitsgängen hergestellt?
- Ist es vielfach verwendbar?
- Ist es langlebig?
- In welchem Zustand wirft man es fort, und was wird dann daraus?
- Läßt es den Benutzer von zentralen Versorgungen oder Services abhängig werden,
oder kann es dezentralisiert gebraucht werden?
- Privilegiert es den Benutzer, oder regt es zur Gemeinsamkeit an?
- Ist es frei wählbar, oder zwingt es zu weiteren Käufen? (11)
Doch zurück zu Vitruv. Im zweiten Kapitel des ersten Buches beschreibt Vitruv die sechs
"Allgemeinen Grundlagen der Baukunst". Dazu gehören für ihn:
1. Die Anordnung. Darunter versteht Vitruv die angemessene und zweckmässige Gestaltung
der einzelnen Gebäudeteile sich und eine gut abgewogene Gliederung der Verhältnisse.
2. Die Verteilung oder Aufteilung. Das bedeutet die sinnvolle räumliche Zusammenfügung
der Bauteile mit dem Ziel einer aus ihrer Bestimmung sich ergebenden Raumfolge.
3. Die Eurhythmie. Gemeint ist das ansprechende Aussehen eines Bauwerkes und das
angenehme Bild des Zusammenklangs der Bauteile, erzielt durch ein richtiges Verhältnis von
Höhe, Breite, Länge und gut abgewogene Gliederungen.
4. Die Symmetrie. Das ist die ebenmäßige Übereinstimmung der Bauglieder: die
entsprechende Beziehung einzelner Teile zum Gesamtbild.
5. Die Harmonie. Darunter versteht Vitruv die Wirkung eines baulichen Gesamtbildes, das
aus erprobten Bauteilen dem Herkommen gemäß entstanden ist. Sie beruht entweder auf
Gesetzmässigkeit, Üblichkeit oder auf der Natur Sache.
6. Die Nutzung. Sie erstreckt sich auf die zweckmäßige und gebräuchliche Verteilung von
Material und Raum bei sparsamer Berechnung und Mäßigkeit des baulichen Aufwandes. Dies
wird erzielt, wenn der Baumeister auf solche Baustoffe verzichtet, die nicht bodenständig sind
und deshalb nur zu hohem Preis beschafft werden könnten.
7
Interessant an diesem Katalog ist vor allem die Betonung der Ästhetik. Allein fünf oder sechs
Kriterien sind im weitesten Sinne "ästhetisch". Die "Gestaltung", um das Wort Design vorerst
noch zu vermeiden, ist für Vitruv die Grundlage der Baukunst. Der Mensch, dem die
Gestaltung zu dienen habe, steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Man könnte sagen,
Vitruv begründete einen Funktionalismus mit menschlichem Antlitz.
So galt zum Beispiel seine Aufmerksamkeit der Beachtung der Windrichtung bei der
Anlegung von Städten. Da kalte Winde unangenehm, warme indes gesundheitsschädlich und
feuchte überhaupt unzuträglich seien, müsse man zweckmäßig (das heißt funktional) solche
Nachteile zu vermeiden suchen.
Am Beispiel der griechischen Stadt Mithylene (auf der Insel Lesbos) weist er nach, wie
unzweckmäßig eine Stadt angelegt werden könne: Bei Südwind würden die Bewohner krank,
bei Nordwestwind husteten sie, würden sich dann bei Nordwind wieder erholen, doch könnten
sie wegen der Kälte nicht ins Freie. Wer die Problematik der Winde kennt, die um die
Hochhausbauten in den modernen Metropolen oder deren Trabantenstädten auftreten können,
sollte sich an diese Darlegung des antiken Baumeisters erinnern.
Aber auch den menschlichen Winden gilt das Interesse Vitruvs. So sei beim Bau von
Theatern zu beachten, daß der Zuschauerraum nicht der unmittelbaren Bestrahlung durch die
Sonne ausgesetzt werden dürfe, denn die Hitze würde sich in den Rundungen fangen und in
der unbewegten Luft noch zunehmen, so daß Körperausdünstungen unerträglich und die
Widerstandskraft des Körpers gar geschwächt würden.
Verweilen wir noch einen Augenblick bei den wenigen, aber einprägsamen Regeln der
Baukunst. Übersichtlich und verständlich sind die Worte Vitruvs. Hier drängt sich ein
Vergleich mit einer Kriterienliste aus den 70er Jahren unseres Jahrhunderts auf, als man
versuchte, das "Design meßbar zu machen" (12). 60 technisch-funktionale Fragen und sechs
Designkriterien wurden damals aufgelistet, 38’400 Daten erhoben und den Computern
eingegeben. Nach langen Berechnungen lagen die jeweiligen "Designbeurteilungen" vor.
Das "meßbare Design" hatte sich als Irrweg erwiesen, die Design-Debatte war aufgrund ihrer
erschreckend dogmatischen Positionen in eine Sackgasse geraten. Die wilden Attacken der
Kritiker zu Beginn der 80er Jahre waren die – voraussehbare – Folge.
8
Im dritten Kapitel des ersten Buches führt Vitruv dann aus, alle Bauwerke müßten drei
Kategorien genügen: der Festigkeit (firmitas), der Zweckmäßigkeit (utilitas) und der
Schönheit (venustas).
Der Festigkeit wird nach Vitruv dadurch Rechnung getragen, daß die Gründung bis zum
tragfähigen Boden hinabgetrieben wird und alle Baustoffe sorgfältig ausgesucht werden.
Zweckmäßig wird ein Bau, wenn die Anlage der Räume richtig ist, die Räume selbst
uneingeschränkt gebrauchsfähig sind und ihre Verwendungsart der jeweiligen
Himmelsrichtung entspricht.
Schönheit wird der Bau besitzen, wenn der Anblick des Werkes angenehm und die Bauglieder
die richtige (symmetrische) Proportion haben.
Mit diesen drei globalen Kategorien legt Vitruv die Grundlage für den heutigen
Funktionalismusbegriff und zeigt uns zugleich, wie einseitig sich die Funktionalismusdebatte
der 60er und 70er Jahre auf das Zweckmäßige festgelegt hat. Die Schönheit wurde negiert.
Adorno hat diese Einseitigkeit des Funktionalen am Funktionalismus anläßlich eines
Vortrages beim Deutschen Werkbund im Jahre 1965 sehr klar herausgearbeitet:
"Die Zukunft von Sachlichkeit ist nur dann eine der Freiheit, wenn sie des barbarischen
Zugriffs sich entledigt: nicht länger den Menschen, deren Bedürfnis sie zu ihrem Maßstab
erklärt, durch spitze Kanten, karg kalkulierte Zimmer, Treppen und ähnliches sadistische
Stöße versetzt. Fast jeder Verbraucher wird das Unpraktische des erbarmungslos Praktischen
an seinem Leib schmerzhaft gespürt haben; daher der Argwohn, was dem Stil abgesagt, sei
bewußtlos selber einer." (13)
Immer wieder überrascht, wie aktuell Vitruvs Aufzeichnung aus der Zeitenwende heute noch
sind. Auch stecken seine Bücher bereits voller ökologischer Gedanken. So führt er im neunten
Kapitel des fünften Buches bei der Beschreibung der Wandelgänge von Theatern aus, daß die
offenen Mittelräume mit Grünanlagen zu bepflanzen seien. Denn es sei erfrischend, sich unter
freiem Himmel zu ergehen. Die Luft würde durch die Atmung der Pflanzen gereinigt, die
9
Farbe sei für die Augen wohltuend. Die Körper würden durch das Ergehen erwärmt. Die
frische Luft würde den Körper erfrischen.
Weitere Ausführungen gelten der Wahl und Anordnung öffentlicher Plätze. Vitruv beschreibt
die unterschiedlichen Anforderungen an Plätze in Küstenstädten oder an Orten des
Landesinneren. Er verweist darauf, daß es entscheidend darauf ankomme, ob ein Platz vor
einem Tempel, einer Opferstätte, einem Amphitheater oder einer Rennbahn liege. Er macht
auf den Unterschied zwischen den griechischen und den römischen Plätzen aufmerksam. Die
griechischen Marktplätze seien quadratisch gewesen, umgeben von geräumigen doppelten
Säulenhallen von enger Säulenstellung. Auf den rechteckigen Plätzen der römischen Städte
seien Gladiatorenspiele veranstaltet worden. Die Plätze seien so angelegt worden, daß die
Breite zwei Drittel der Länge ausmachte, die Säulen in weiteren Abständen standen, damit in
den Säulenhallen Wechslerbuden untergebracht werden konnten, während in den oberen
Stockwerken Plätze für die Zuschauer vorgesehen waren.
Vitruvs Beschreibung der Bauhölzer im neunten Kapitel des zweiten Buches ist eine
Pflichtlektüre für Baubiologen. Selbst der richtige Zeitpunkt für das Holzschlagen, nämlich
vom Anfang des Herbstes bis zum Einsetzen der Westwinde, wird minutiös beschrieben.
Ein großes Kapitel widmet Vitruv den ästhetischen Fragen des Bauens. Seine Beschreibung
der Maßverhältnisse der Proportionen und Harmonien ist immer noch lesenswert, Der Grund
liegt in seinem humanen Funktionalismus. Die Maße und die Wahrnehmungsfähigkeit des
Menschen sollen die Gestaltung bestimmen.
Diese Haltung ist als modern zu bezeichnen, sie scheint aber gerade im Zeitalter der
Elektronik immer mehr verlorenzugehen. Die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit ist
überfordert, wenn man heute von uns verlangt, mit vier Fernbedienungen auf dem Schoß den
Fernseher, den Satellitenreceiver, den Videorecorder und den Hi-Fi-Turm zu steuern.
Ein weiteres Beispiel für die richtige Gestaltung gibt Vitruv im zweiten Kapitel des dritten
Buches. Hier beschreibt er die unterschiedliche Gestaltung von Tempeln. Wichtig ist ihm
dabei das durchschimmernde Prinzip. Durch die Bauweise der jeweiligen Tempelart soll für
jedermann eine ldentifizierung möglich sein.
10
Der aktuelle Bezug zur modernen Architektur drängt sich auf. Auch den Banken,
Versicherungen und Gemeinden geht es um Identität. Der wolkenkratzende Wettlauf zum
Beispiel, den die Frankfurter Banken seit Jahren veranstalten, ist eigentlich nur noch
symbolisch zu verstehen. Von der Funktion her gibt es im Zeitalter der globalen Vernetzung
keine Notwendigkeit mehr, unzählige Büroetagen übereinander zu stapeln.
Doch es gibt auch positive Beispiele wie das bayrische Altmühlstädtchen Eichstätt. Der
dortige Stadtplaner, Karljosef Schattner, hat Vitruv richtig verstanden. Für ihn sind die
wichtigsten Elemente einer Stadt die Zeichen der Erinnerung. Schattner weiß: "Das Formale
des Details entwickelt sich aus der großen Form, das hat es immer getan. Über das Detail wird
die große Form begriffen, haptisch begriffen, sinnlich wahrgenommen."
Die Qualität in der Architektur ist für Schattner daran zu messen, wie ein Gebäude am
Eingang begriffen wird. Wenn man in ein Gebäude hineinkomme und begreife, was es sei,
dann spreche das für Qualität, wenn man es nicht begreife, dann sei es eine schlechte
Architektur.
Im Design gibt es dazu eine einsichtige Analogie. Auch unseren Gebrauchsgegenständen muß
man ansehen, was sie sind und was sie tun sollen. Dies ist auch – oder gerade – im Zeitalter
der Immaterialisierung der Black-Boxes eine zentrale Aufgabe. Wenn wir schon nicht
verstehen, wie die Dinge im Innern funktionieren, dann sollte wenigstens der Umgang mit
ihnen so visualisiert werden, daß wir sie problemlos benutzen können.
Bei Vitruv ergibt sich das Funktionale oftmals aus ganz einfachen Beobachtungen. So sollen
zum Beispiel an den städtischen Plätzen die oberen Säulen etwa um ein Viertel kleiner sein
als die unteren, zum einen wegen der größeren Belastung, zum anderen wegen der
anzustrebenden Analogie zu den Wachstumsgesetzen der Natur. So folgte bei Vitruv die
Form der Funktion.
Aus einer weiteren Naturbeobachtung, der Analyse der Schallwellen, leitet Vitruv Regeln für
die Anordnung der Stufenfolge beim Bau von Theatern ab. Mit dem Ziel, unter
Berücksichtigung der Tonmessungen der Mathematiker und der Gesetze der Akustik die
Stimme des Schauspielers klar und wohlklingend bis ans Ohr des Zuschauers zu führen.
Ähnlich wie man Instrumente aus dünnen Metallblechen oder mit Resonanzböden aus Horn
11
herstelle, um einen klaren Klang der Saiten zu erzielen, seien auch die Theater nach den
Gesetzen der Harmonie zur Verstärkung des Schalls zu bauen.
Im zweiten Kapitel des fünften Buches geht Vitruv kurz auf die funktionale Bedeutung des
Ornaments ein. Beim Bau von Rathäusern sollten die Wände auf halber Höhe mit Holz und
Stuck geschmückt werden. Sonst würden sich die Stimmen der Redner im hohen Raum
verlieren und für die Zuhörer undeutlich werden. Richtig angeordnete Gesimse würden
dagegen den Schall festhalten, die Reden seien deutlich vernehmbar. Der Schmuck wird allein
dadurch gerechtfertigt, daß er die Akustik verbessert.
Im fünften Kapitel des sechsten Buches beschäftigt sich Vitruv mit dem Zusammenhang von
Funktion und Repräsentation. Daß er dabei von der damaligen streng hierarchisch
gegliederten Gesellschaftsstruktur ausgeht, versteht sich von selbst.
Menschen von mäßiger Wohlhabenheit, so Vitruv, bräuchten keine prächtigen Vorhallen,
Empfangssäle und Höfe. Für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dagegen sollten die
Häuser von besonders schmuckvoller Ausstattung sein und geräumig genug, um
Zusammenkünfte zu ermöglichen. Das gelte erst recht für Standespersonen, die
Bürgerabordnungen empfangen müßten, Für sie seien prächtige Vorhallen, hohe Atrien,
weiträumige Säulenhöfe, Gärten mit Grünanlagen und ausgedehnte Spazierwege in einer der
Würde des Hausherrn angemessener Weise zu errichten.
Nach diesen Repräsentationsprinzipien wurde jahrtausendelang gebaut. Erst dem vorigen
Jahrhundert blieb es vorbehalten, massiv dagegen zu verstoßen. Nun fühlten sich auch
Menschen von mäßiger Wohlhabenheit im Zuge der Emanzipation des aufstrebenden
Bürgertums zur Repräsentation berufen. Das Ergebnis war der Schwulst wilhelminischer
lnterieurs, dessen radikale Kritiker, nicht minder überzogen, die absolute Ornamentlosigkeit
postulierten, eine Forderung, die zwar massenkulturell gedacht war, in ihrer konsequenten
Umsetzung aber einer kleinen intellektuellen Schicht vorbehalten blieb.
Hans Eckstein, einer der Verfechter des funktionalen Designs in Deutschland, verteidigt die
ornamentlose Gestaltung sogar unter Berufung auf Goethe: "Form ohne Ornament ist – selbst
bei Gegenständen, die nicht oder nicht ausschließlich für den praktischen Gebrauch bestimmt
sind – seit je als ästhetischer Wert estimiert: im antiken Ägypten, in der kretisch-mykenischen
12
Kultur, in China und Japan, in allen europäischen Epochen. Das sonst so dekorationsfreudige
18., das historische 19. Jahrhundert, das Kunstgewerbe um die Jahrhundertwende haben des
öfteren auf jede Ornamentierung verzichtet – gewiß nicht aus Sparsamkeit. Die Form ohne
Ornament war Luxus. 'Das einfach Schöne soll der Kenner schätzen, Verziertes aber spricht
der Menge zu', sagt Goethe." (14)
Im zweiten Kapitel des sechsten Buches beschäftigt sich Vitruv mit der Berücksichtigung der
örtlichen Verhältnisse beim Bauen. Dabei bezieht er das gesamte bekannte
naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit in seine Überlegungen ein. Mit beiden Füßen steht
er fest auf dem Boden der jeweiligen Baustelle.
Zunächst müßten die klimatischen Verhältnisse des Landes berücksichtigt werden. Die
natürlichen Gegebenheiten der Baustelle sollten mit dem gewünschten Gebrauchszweck in
Einklang stehen. Diese Begründung des funktionalen Gestaltens ist der zentrale Punkt des
Vitruvschen Denkens. Ihm kommt es darauf an, den Gebrauch und die Bedeutung von
Gebäuden zu präzisieren.
In seiner Vorrede zum ersten Buch, in der er seinem Imperator für die Gnade des
Lebensunterhalts dankt, erklärt er stolz und selbstbewußt die Motive seines Schreibens: "Ich
schreibe deshalb diese Regeln nieder, damit Du ohne den Rat anderer zu eigenen Urteilen
über die bestehenden und geplanten Bauwerke gelangst, denn ich habe in diesen Büchern alle
Grundsätze des Bauens niedergelegt." (15)
Vitruv und die vier Antiken
Vitruv war ein Mensch der ersten Antike. Die Bedeutung seines Werkes wurde erst in der
zweiten Antike – der Renaissance – erkannt. Die Humanisten der Frührenaissance stürzten
sich auf das einzig verfügbare Werk, das ihnen die erste Antike erschloß. Und alle
bedeutenden Architekten der Renaissance folgten ihrem Beispiel.
So war es Leon Battista Alberti, der geniale Baumeister des 15. Jahrhunderts, der als erster
die Bedeutung Vitruvs erkannte. Er beließ es aber nicht dabei, dessen kategoriale
Grundbegriffe "firmitas", "utilitas" und "venustas" nur zu übernehmen, vielmehr versuchte er,
die diesen Begriffen zugrunde liegenden Prinzipien herauszuarbeiten.
13
Dabei ging er von einem sehr modernen sozialen Bild seines Berufsstandes aus: Er verstand
die Aufgabe von Architekt und Architektur als Dienst an der Menschheit. Wir finden hier also
bereits eine der wesentlichsten Begründungen des Funktionalismus im 20. Jahrhundert: Nicht
die individuelle Verwirklichung des Architekten (oder Designers) macht dessen Wesen aus,
sondern die Sozialbindung seines Entwurfs.
Beispielhaft sei gezeigt, wie Alberti Vitruvs Nützlichkeitsbegriff (utilitas) in diesem Sinne
variierte und differenzierte. So beschreibt er verschiedene Gebäudetypen, für die jeweils
angemessene Gestaltungen zu finden seien, zum Beispiel solche für die Bedürfnisse des
Lebens (necessitas), für die Zweckmäßigkeit (oportunitas) und für das Vergnügen (voluptas).
Die Architektur habe sich an den Anforderungen der menschlichen Individualität
auszurichten, sie müsse über den bloßen Zweck hinausweisen. (16) Eine monofunktionale
Zweckbestimmung lehnt Alberti ab.
Auch zum Thema Ornament nimmt Alberti gegenüber Vitruv eine differenzierte, freilich
reichlich rigide Position ein. Für ihn ist das Ornament etwas Aufgesetztes, kein integraler
Bestandteil der Architektur, sondern nur "erdichteter Schein".
Es gibt wohl kein besseres Architekturensemble als die Stadt Florenz, um die Lehren Vitruvs
vor Ort zu studieren. Als Beispiel möchte ich die Pazzi-Kapelle im Museo dell'Opera di Santa
Croce von Filippo Brunelleschi anführen. Dieses berühmte Bauwerk aus der Frührenaissance
zeigt, wie eng Architektur, Wissenschaft und Kunst zusammengearbeitet haben, um ein
ganzheitliches Kunstwerk zu erreichen. Alle Erkenntnisse der Technologie, der Geometrie,
der Archäologie, der Theologie und der (platonischen) Philosophie wurden dafür aufgeboten.
Die Schönheit einfacher Formen, ein Postulat des Funktionalismus, das im 20. Jahrhundert
zum Diktum wurde, kann man hier noch in seinem ursprünglichen Sinn erfahren.
Ein weiteres Beispiel für den in Florenz zu besichtigenden "vorweggenommenen
Funktionalismus" sind die Uffizien. Als man Mitte des 16. Jahrhunderts nach den Plänen
Giorgio Vasaris mit deren Bau begann, mußte man wegen der schwierigen
Bodenbedingungen (Sandböden der Arno-Flußebene) erstmals in der Baugeschichte den
eingesetzten Zement mit Ketten und Zugankern durchsetzen. Die bis dahin gebräuchliche,
scheinbar zwangsläufige innige Verbindung von Form und Material wurde unterbrochen.
14
Der im 16. Jahrhundert lebende Andrea Palladio (dessen Name übrigens eine Anspielung auf
die Göttin der Weisheit bedeutet) widmete sich ganz besonders der Vitruvschen
Architekturtheorie. Der Dichter, Philosoph, Mathematiker und Architekt Giangiorgio Trissino
nahm sich Palladios an, und dieser war es auch, der ihn ermutigte, 1545 von Vicenza nach
Rom zu reisen und dort zwei Jahre lang die Bauwerke und Ruinen der Antike zu studieren.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr gewann Palladio den Wettbewerb für den Umbau des in
der Frührenaissance errichteten Palazzo della Ragione, der sogenannten Basilica. Daran
wurde deutlich, welch beeindruckende Spuren das Studium des Vitruvschen Werkes bei ihm
hinterlassen hatten, denn durch die von Palladio entworfenen Arkadenreihen erhielt das
wuchtige alte Gebäude eine leichte Eleganz, ganz im Sinne der antiken römischen Bauweise.
Dieses Werk bedeutete gleichzeitig den "Durchbruch" Palladios zu einem der bedeutendsten
Baumeister der Renaissance.
Im Jahr 1570 veröffentlichte Palladio seine "Quattro libri dell'architettura", die eine
systematische Abhandlung der Architektur insgesamt darstellen und weit über die zehn
Vitruvschen Bücher hinaus verweisen. Architekturtheorie, die Beschreibung seiner eigenen
Bauwerke sowie Rekonstruktionen berühmter Beispiele antiker Bauwerke – mit diesem Werk
dokumentierte Palladio seine Bedeutung in der Geschichte der Architektur.
Aber auch Giangiorgio Trissino selbst knüpfte bei Vitruv an. Er beschäftigte sich vor allem
mit den Problemen des menschlichen Wohnens. Primäre Aufgabe des Architekten sei es,
Nutzen (utilità) und Vergnügen (dilettazione) für die Bewohner zu schaffen. Daran sei der
Gebrauchswert eines Hauses zu messen.
Daniele Barbaro, ein etwas jüngerer Zeitgenosse Palladios, entwickelte ein eigenes
Proportionensystem. Für ihn nimmt der architektonische Entwurf im "disegno" Gestaltung an.
Das Material müsse der Form unterworfen werden. Einen Begriff wie Materialgerechtigkeit
kennt er nicht.
Hier finden wir den ideengeschichtlichen Ursprung eines Phänomens, das später als
"Naturbeherrschung" zum Programm werden sollte: Alles wurde ge- und mißbraucht, um den
Willen der Herrschenden durchzusetzen, Rücksichten waren überflüssig.
15
Die dritte Antike war die Epoche des Klassizismus im ausgehenden 18. und beginnenden 19.
Jahrhundert. In dieser Zeit fand eine Rückbesinnung auf die Antike statt. Johann Joachim
Winckelmann zum Beispiel wollte dem angeblichen "Zerfall der Kunst", den er insbesondere
im Barock sah, durch den Normenkanon der griechischen Idealität entgegenwirken. In seinen
"Anmerkungen über die Baukunst der Alten" machte er sich grundsätzliche Gedanken über
die Architektur. Mit den Begriffen "das Wesentliche" und "die Zierlichkeit" prägte er die
noch heute gültigen Bereiche der "Funktion und des Ornaments" (17).
Doch Winckelmann war nur ein Vorläufer. Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe
war es, der die Sehnsucht nach Arkadien bei uns so richtig schürte und – heute würde man
sagen medial verbreitete. Während seiner italienischen Reise (1786 bis 1788) setzte er sich
mit Vitruv und Palladio auseinander und beschäftigte sich eingehend mit der griechischen und
römischen Architektur. Der in seiner Jugend von gotischen Formen faszinierte Dichter kehrte
als "Klassiker" nach Deutschland zurück. Sein 1795 verfaßter Aufsatz über die "Baukunst", in
dem er Fragen des Materials, der Zwecke sowie der ästhetischen Wirkungen (18) behandelt,
ist noch heute lesenswert.
Typisch für das 19. Jahrhundert ist sodann die enge Verknüpfung von Philosophie, Ästhetik
und Architektur (zu der es im Design leider nicht gekommen ist). Der in Berlin lehrende Carl
Boetticher formulierte den Grundsatz, die Form solle die Funktion eines Bauwerkes sichtbar
machen, ohne mit ihr identisch zu sein. Der Unterschied liege zwischen der "Werkform", dem
konstruktiven Gerüst, und der "Kunstform", im Sinne der künstlerischen Form der einzelnen
Bauelemente (9).
Karl Friedrich Schinkel – wie Goethe durch Italienreisen geprägt sowie durch die Lektüre der
Schriften Durands – entwickelte eine "Theorie des Funktionalismus", die sich ausschließlich
an den Gesichtspunkten Material, Raumverteilung und Konstruktion orientierte. Sein
komplexes Architekturverständnis berücksichtigte nicht nur funktionale und formale, sondern
auch soziale und historische Faktoren und näherte sich damit bereits dem modernen
Funktionalismusbegriff des 20. Jahrhunderts.
Die vierte Antike beginnt für mich mit der Postmoderne. Man könnte sie auch mit der
kurzfristigen Rückbesinnung auf die Antike im nationalsozialistischen "Dritten Reiche"
beginnen lassen. Doch das hieße, die ausschließlich der Machtdemonstration dienende
16
Fassadengestaltung einiger öffentlicher Bauwerke in ungebührlicher Weise
architekturhistorisch aufzuwerten.
Es ist das Verdienst des Engländers Charles Jencks (20), mit seiner 1978 erschienenen
Veröffentlichung zur "Sprache der postmodernen Architektur" quasi über Nacht eine neue
Dimension der Architektur deutlich gemacht zu haben, die in ihrem Kern allerdings bereits in
den 60er Jahren von Robert Venturi (21) formuliert worden war. Jencks beschrieb die
Architektur als eine Art von Sprache, deren Grundelemente also Syntax, Semantik und
Pragmatik sich in vielfältiger Weise in Bauwerken wiederfänden.
Eine weitere "Errungenschaft" der Postmoderne war die Wiederentdeckung der Säule als
Stilmittel, mit dem man gar lustige Scherze treiben konnte. Charles Moores Piazza d'Italia in
New Orleans (1975–1980) ist das typische Exempel der neuen Zitate-Architektur. Etwas
subtiler ging James Stirling beim Neubau der Stuttgarter Staatsgalerie vor. Er mischte
historisierende Stilelemente mit High-Tech-Architektur (22).
Den vielleicht wichtigsten und ernsthaftesten Entwurfsansatz im Sinne einer vierten Antike
verfolgt Mario Botta, der sich selbst als "post-antik" bezeichnet. Seine Arbeitsweise gleicht
jener der frühen Baumeister. Auch für Botta sind Erfahrungswerte wichtiger als exakte
Berechnungen. Die antike Materialverschwendung der überdicken Wände und Gebälke
interpretiert er vor allem symbolisch: als gebauten Überschuß, der bis heute Dauer und Würde
ausstrahlt. (23) Auch versucht er immer wieder, "kosmische" Werte wie Witterung, Sonne,
Mond, Sterne und Landschaft in seine Häuser hereinzuholen und in den Dienst der Bewohner
zu stellen.
So hat die vierte Antike ganz offensichtlich zu einer Re-Semantisierung der Architektur
geführt, Gleichwohl ist der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen, daß postmoderne
Architektur über weite Strecken eine Fassadenarchitektur geblieben ist. Selbst bei ihren
hochgelobten Renoniemmierbauten, den Museen, klagen inzwischen die dort beschäftigten
Mitarbeiter über mangelnde funktionale Qualität (zu hoher Lichteinfall, zu statische
Strukturen für Wechselausstellungen usw.). Ganz zu schweigen von den vulgären
Postmodernitäten in den Vorstädten der Metropolen, wo die Säule zum Zeichen des
Wohlstands degeneriert ist und die Gipsstatuen in den Vorgärten den Normenkanon der
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griechischen Idealität in einer Weise deklinieren, die sich ein Johann Joachim Winckelmann
wohl nie hätte träumen lassen.
Die drei Modernen
Die Diskussion um den "Funktionalismus“ ist eng mit der Debatte um die Moderne verknüpft.
Der Diskurs, um wen es dabei geht, ist im Grunde nichts anderes als die Dialektik der
Aufklärung Sinne Hegels.
Wir verdanken es Jürgen Habermas, uns diese Zusammenhänge immer wieder vor Augen
geführt zu haben. Nach seiner Rückkehr an die Universität Frankfurt nahm er das wichtige
Thema, das er bereits in seiner Rede "Die Moderne – ein unvollendetes Projekt" (24)
anläßlich der Verleihung des Adorno-Preises durch die Stadt Frankfurt im Jahre 1980
formuliert hatte, in einer Vorlesungsreihe wieder auf und kam in der Folgezeit mehrfach
darauf zurück. So in seinem 1981 München gehaltenen Vortrag "Moderne und postmoderne
Architektur" (25), in dem er sehr deutlich die Trennung von Form und Funktion in der
Postmoderne beschrieb:
"Die Sprache dieser kulissenhaften Architektur verschreibt sich einer Rhetorik die den
architektonisch nicht mehr gestaltbaren Systemzusammenhängen immerhin in Chiffren
Ausdruck zu verleihen sucht."
Aus zwei Gründen möchte ich auf die Debatte um die Moderne hier etwas ausführlicher
eingehen: zum einen deshalb, weil sie bisher weitgehend formal geführt wurde, zum anderen
deshalb, weil in letzter Zeit verschiedentlich von einer "Zweiten" (Heinrich Klotz, 26) oder
"Dritten Moderne" (Otl Aicher, 27) gesprochen wird. Diese neuen "Modernen" kann man
aber ohne genaue Kenntnis der "ersten Moderne" nur schwer verstehen.
Modern sein, darunter verstand man zunächst einmal, die neuen subjektiven Freiheiten zu
nutzen. Der politischen Revolution von 1789, die diese Freiheiten erkämpft hatte, folgte – mit
dem Übergang vom Handwerk zum Industriebetrieb – eine technologische. Der dogmatische
Kirchenglaube von einst wurde abgelöst von einem neuen, nicht weniger dogmatischen
Wunderglauben an das technisch Machbare. Paxtons Kristallpalast auf der Londoner
Weltausstellung von 1851 wurde zur gußeisernen Kathedrale des neuen Glaubens. Die
18
Anbetung des Konsums ersetzte den Kirchenglauben der Vergangenheit. Der Weg des
Designs – das eng mit dem Primat des Waren-Glaubens verbunden ist – war damit
vorgezeichnet.
Dieser große Sprung der Moderne führte zur ersten Gegenbewegung. Dem aufklärenden
Denken wurde der Mythos entgegengestellt. Dazu Habermas:
"Nietzsche benützt die Leiter der historischen Vernunft, um sie am Ende wegzuwerfen und im
Mythos, als dem Anderen der Vernunft, Fuß zu fassen. (28) Damit ist er, Nietzsche, für
Habermas der eigentliche Begründer der Postmoderne.
Habermas setzte sich in seiner Vorlesungsreihe auch mit dem französischen Strukturalisten
Michel Foucault (29) auseinander, für den das entscheidende Paradigma der Moderne das
"System geordneter Zeichen" ist. Dieses ergebe sich nicht aus einer vorgängigen Ordnung der
Dinge selbst, sondern stelle durch die Repräsentation der Dinge eine taxonomische Ordnung
erst her. Die kombinierten Zeichen (oder die Sprache) bilden Foucault zufolge ein
vollkommen durchsichtiges Medium, durch das die Vorstellung mit dem Vorgestellten
verknüpft werden kann. Der Signifikant trete hinter das bezeichnete Signifikat zurück, er
funktioniere wie ein gläsernes Werkzeug der Repräsentation ohne Eigenleben (30).
Die Entwicklungsgeschichte der Semiotik zeigt, daß dies nicht immer so gewesen ist.
Aufgabe der Gestaltung (also auch des Designs) war es eigentlich immer, die verschiedenen
Funktionen des zu gestaltenden Gegenstandes so in Zeichen zu übersetzen, daß diese von den
potentiellen Benutzern verstanden werden konnten, Forderungen, die bereits die Nachfolger
Vitruvs erhoben hatten. Es galt, die unterschiedlichen Zeichenrepertoires der Benutzer zu
studieren und dann die als richtig erkannten Zeichen gekonnt einzusetzen.
Auch Umberto Eco (31) hat diese Zusammenhänge untersucht. Semiotik ist für ihn eine
Geisteswissenschaft, die alle Kulturphänomene so betrachtet, als ob sie Zeichensysteme
wären, weil Kultur im wesentlichen nichts anderes sei als Kommunikation. Also fragte sich
Eco, was wohl Dinge mitzuteilen hätten, deren Daseinszweck nur darin bestehe, zu
funktionieren.
19
Am Beispiel des Löffels, dessen einziger Zweck es ist, die Speise zum Mund zu führen,
erklärte Eco seine These. Selbst dieses einfache Werkzeug besitze eine kommunikative
Funktion, indem es die zu erfüllende Aufgabe "mitteile". Genauso wie in der Architektur die
Form der Fenster, deren Anzahl und Anordnung in der Fassade usw. nicht nur eine Funktion
denotiert, sondern auch an bestimmte Vorstellungen von Wohnen und Nutzen erinnert: Sie
konnotieren eine globale Ideologie.
Wir müßten immer erst erlernen, so Umberto Eco, daß bestimmte Formen bestimmte
Funktionen bedeuteten. Es gebe keinen "natürlichen" Zusammenhang zwischen Form und
Funktion. Dieser Zusammenhang beruhe stets auf einer Vereinbarung. Die "Form, die der
Funktion folgt", bleibe ein mystisches Gebilde, wenn sie nicht auf einer Vereinbarung beruhe:
In kommunikationstheoretischer Terminologie bedeutet der Grundsatz: die Form folgt der
Funktion, daß die Form des Objektes nicht nur die Funktion möglich machen muß, sondern
sie so eindeutig denotieren muß, daß sie nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert wird
und zu den Bewegungen führt, die am besten geeignet sind, die Funktion zu erfüllen. (32)
Doch nicht erst seit Eco beherrscht das Thema "Kommunikation" den Diskurs der
gegenwärtigen Philosophie und Soziologie. So entwickelte zum Beispiel Habermas die These
einer "kommunikativen versus einer subjekt zentrierten Vernunft" (33). Das "Paradigma der
Kenntnis von Gegenständen" müsse durch das "Paradigma der Verständigung zwischen
sprach- und handlungsfähigen Subjekten" abgelöst werden. Habermas hoffte, die zwanglos
einigende Kraft des Diskurses könne konsensstiftend die subjektiv befangenen Auffassungen
der Teilnehmer zugunsten eines rational motivierten Einverständnisses überwinden. Am Ende
dieses Prozesses stünde dann die "kommunikative Vernunft" (34).
Habermas' Hinweis auf das Ende des "Paradigmas der Gegenstände" erscheint mir wichtig.
Mit Stichworten wie "Immaterialisierung", "Entmaterialisierung" oder gar "virtuelle Realität"
befinden wir uns nämlich inmitten einer Debatte, die gegenwärtig die Spitze
designtheoretischer Aussprachen ausmacht. Das neue Paradigma des Designs, so meine
These, wird der "Visual Turn" sein. Die "Dritte Moderne" ist die Elektronik, und in ihrem
design- und erkenntnistheoretischen Mittelpunkt steht die Kommunikation.
20
Der Klotzschen (35) Kategorisierung in eine "Erste" und eine "Zweite" Moderne kann ich
nicht folgen. Seine These, die Postmoderne sei als Revision der Moderne nur ein Teil oder
eben eine andere Moderne, scheint mir zu stark an der Materialisierung, also den Formen der
Dinge, festgemacht zu sein. Der von Klotz bevorzugte Begriff der "Fiktion" – als Gegenteil
der Funktion – bedeutet eine Re-Semantisierung der Gegenstandswelt.
Genau an dieser Stelle treffen seine Begriffe auch nicht mehr die aktuelle Debatte, zum
Beispiel die des InterfaceDesigns oder der virtuellen Realität. Zwar stellt Klotz zaghaft die
Frage, "ob nicht überhaupt das Bild der Zukunft bewegte Bilder sein wird" (36). Er übersieht
auch nicht die wachsende Bedeutung der "Interaktion", die die kontemplative Haltung des
Betrachters gegenüber einem Gegenstand verändern und zu neuen Kunstwerken führen könne
(37). Die elektronischen Technologien sind für ihn aber nur fiktionale Kunstwerke einer
Zweiten Moderne.
Ganz anders Otl Aicher, der als reflektierender und gestaltender Praktiker nicht mit
kunsthistorischen Kategorien arbeitete. Er sah die "Krise der Moderne" (38), so der Titel
seines kritischen Essays, gerade darin begründet, daß Design und Architektur von den
Kunsthistorikern verwaltet würden:
"design ist alles andere als kunst. design und kunst verhalte sich wie wissen und glauben. es
mag wissenschaftler geben, die religiös sind, aber wissenschaft ist prinzipiell etwas anderes
als religion … aber was ist der maßstab von design, die neuen sachverhalte oder die kunst?
heute ist design abgesackt und degeneriert zur angewandten kunst." (39)
Aicher wandte sich vehement gegen die Behauptung von Klotz, die Ulmer Hochschule für
Gestaltung (HfG) habe in der Fortsetzung des Bauhauses "Kunst- und Industrieprodukte
verbunden". Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Die Arbeiten der HfG resultierten nicht aus
einer Verbindung, sondern aus der Trennung von Kunst und lndustrie (40). Otl Aicher
verwies darauf, daß der in Ulm fortentwickelte Begriff der Gestaltung nur auf rational
überprüfbare Kriterien zurückgriff. Zu diesen gehörten zum Beispiel Wahrnehmungs- und
Gestaltungsphänomene, Farbtheorien, syntaktische Formlehren, topologische Verfahren,
typographische Regelungen und Rastersysteme. Der Hang zur Wissenschaft war stärker als
der zur Kunst.
21
Vielleicht fand die Auseinandersetzung über den Unterschied zwischen Kunst und Design in
Ulm deshalb so intensiv statt, weil es eben an der HfG viele "Künstler-Ateliers" gab. Obwohl
oder gerade weil einige Dozenten (neben Aicher z. B. Bill, Bonsiepe, Maldonado und
Zeischegg) aus "der Kunst" kamen, suchte man jetzt vielleicht eher die Reflektion.
Aichers kritische Auseinandersetzung mit der Moderne deckt sich weitgehend mit der
gängigen Geschichtsschreibung. Ausgehend vom Kristallpalast der Weltausstellung von 1851
über die FagusWerke von Gropius aus dem Jahr 1911 oder Peter Behrends Maschinenhalle
für die AEG aus dem Jahr 1909, skizzierte er den Weg der Moderne von London über
Weimar und Dessau bis nach Ulm. Diese Zweite Moderne ist auch bei ihm die der
industriellen Massenproduktion. Mit dem Wohnhaus von Charles Eames beginnt für ihn dann
die Dritte Moderne. (41) Seine Begründung:
Dies sei "...ein bewohnbares haus, zum gebrauchen gemacht... es wurde 1949 erbaut, ein
stahlskelettbau mit standardelementen aus der industrie. das haus hat den charakter eines
ateliers. die ganze lebensform ist die eines ateliers, es gibt kein vornehmes wohnzimmer
mehr, keinen salon, keine zweite etage des lebens. es zerfällt nicht in kult und alltag. der
alltag ist der kult. der gebrauch macht das haus aus."
Gegen Ende seines Essays zeichnet Aicher das Bild eines "neuen designers". Das ist für ihn
jemand, der die Tugend der Wissenschaft – nämlich die Neugierde – auf die Disziplin des
Designs übertragen kann, Der Wissenschaftler wolle finden, er wende nicht Wissen an, er
lerne das Fragen und trainiere das Finden. Als Designer würde man entwerfen, weil man
suche, nicht weil man wisse. Wer alles wisse, sei eher ein Karosserie-Designer. Er verpacke
die Dinge in seine Vorstellung und schließe sie darin ein. Nur wer suche. komme zu offenen,
strukturellen Lösungen.
Aichers Wertschätzung von Charles Eames, Hans Gugelot und Norman Forster zeigt, daß er –
genauso wie diese – seiner Zeit voraus war. In seiner Dritten Moderne schimmert bereits
etwas von dem durch, was mit der Habermas'schen "kommunikativen Vernunft" gemeint sein
könnte. Ich möchte deshalb versuchen, noch einmal den ideengeschichtlichen Faden
aufzunehmen, an dem sich der Funktionalismus entlang entwickelt hat. Vereinfacht gesagt,
geht es dabei um die Frage: "Für wen wird eigentlich etwas gestaltet?"
22
Eingangs hatten wir den Begriff der Funktion, der Brockhaus-Enzyklopädie folgend, mit
"Aufgabe, Tätigkeit, Stellung" definiert. Es geht also um Beziehungen zwischen Objekten
und auch Subjekten. Genau dieses Beziehungsgeflecht muß von den Designern – schon
Vitruv und seine Nachfolger haben dies für die Architektur dargelegt – erkannt und aufgebaut
werden. So einfach stellen sich die Dinge jetzt dar.
Alle im vorliegenden Buch gesammelten Essays und Zeichnungen zeigen, daß, um mit
Umberto Eco zu sprechen, die "erste Funktion" – also die Denotation – im Verlauf der
Geschichte immer mehr in den Hintergrund gerückt ist, während die "zweite Funktion" – die
Konnotation – immer wichtiger wurde. Inzwischen gibt es sogar schon Produkte, bei denen
die "erste Funktion" zugunsten der "zweiten Funktion" völlig aufgegeben wurde. Man
versuche zum Beispiel einmal, mit der Zitronenpresse von Philippe Starck eine echte Zitrone
auszupressen. Ein sinnloses Unterfangen. Dieses Produkt gehört nicht in die Küche, sondern
in die Nippes-Vitrine oder, noch besser, auf das designte Sideboard.
Jetzt sehen wir das historische Mißverständnis des Funktionalismus: Er meinte über weite
Strecken immer nur die erste (die praktische) Funktion. Dabei war, auch historisch gesehen,
die zweite (die kommunikative) Funktion schon immer genauso wichtig, wenn nicht sogar
wichtiger. Denn das Funktionale selbst beruht immer auf "Setzung".
Die zwei Kulturen
Vor diesem historischen Hintergrund lassen sich spätestens seit Mitte der 80er Jahre zwei
deutlich verschiedene Designkulturen erkennen und benennen.
Bei ihrer Definition soll uns Charles Percy Snow (42) helfen, ein englischer Schriftsteller und
Literaturwissenschafter, der bereits Ende der 50er Jahre in seiner berühmten Rede über "Die
Zwei Kulturen" zwei diametral gegenüberstehende Gruppen von Wissenschaftlern
unterschieden hat: die Literaten (Geisteswissenschaftler) und die Naturwissenschaftler. Beide
hätten nichts miteinander zu tun, sie verstünden einander in keinster Weise.
Der Begriff "Kultur" hatte für Snow zwei Bedeutungen, eine lexikalische, im Sinne von
geistiger Entfaltung des Verstandes, und eine technische. In diesem technischen Sinne würde
er von Anthropologen verwendet, um eine Gruppe von Personen zu bezeichnen, die im selben
23
Milieu lebten und durch gemeinsame Gewohnheiten, gemeinsame Voraussetzungen und einen
gemeinsamen Lebensstil miteinander verbunden seien.
Überträgt man diese Snow'schen Kategorien auf das heutige Design, so kann man zwei
Design-Kulturen unterscheiden:
Die eine spielt in der Welt der Medien, Galerien und Museen. Hier wird unter Korruption des
Avantgarde-Begriffs (43) ein Design betrieben, das, wenn überhaupt, nur für eine marginale
Gruppe der Bevölkerung eine Rolle spielt. Der Begriff "funktional" ist zum beliebigen
Versatzstück für kreative Wortspiele verkommen (siehe oben). Mit der Lebenswirklichkeit
hat er nichts mehr zu tun.
Dagegen bemüht sich die zweite Design-Kultur seit einigen Jahren darum – und das
erfreulicherweise mit wachsendem Erfolg – zeitgemäße Aspekte des Designs zu
kommunizieren, zum Beispiel in der Produktsprache, im Corporate Design, in der Design-
Strategie, im Interface-Design, aber auch in ökologischen Fragen. Das hohe Niveau, das diese
zweite Design-Kultur inzwischen erreicht hat, demonstrieren eindrucksvoll die alljährlichen
Wettbewerbe des Rats für Formgebung, des Design Zentrums NRW in Essen oder der if in
Hannover. Wer sich diese Ausstellungen anschaut, wird feststellen, daß der rigide
Funktionalismus der 60er und 70er Jahre passé ist und die "kommunikative Vernunft" immer
mehr an Boden gewinnt.
Die Stimmen, die erneut einen Paradigmenwechsel im Design ankündigen, mehren sich. Ob
Donald A. Norman (44), der die neue soziale Aufgabe des Designs darin sieht, die Dinge in
ihrem Gebrauch verständlich zu machen, oder Jean Nouve1 (45), der die strukturelle
Lesbarkeit seiner Gebäude betont, oder Volker R. Grassmuck (46), der im Sinne
Wittgensteins die Bedeutung eines Mediums in seinem Gebrauch sieht: Zaghaft zeichnet sich
gegen Ende unseres Jahrhunderts eine Neuorientierung ab. Jenseits der Frage nach einer
Ersten, Zweiten oder Dritten Moderne heißt es wieder ganz einfach: "ll faut être absolutment
moderne. "
Der Münchener Soziologe Wolfgang Welsch hat Mitte der 80er Jahre in seinem Buch
"Unsere postmoderne Moderne" eine gewagte Prognose geäußert: "Es gilt – postmodern wie
ideologisch – die Rahmenbedingungen unserer Lebensverhältnisse zu verändern. Im Sinne
24
dieses erweiterten Designbegriffs könnte – während das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der
Kunst war – das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Designs werden. "
Wer weiß. Wenn die kommunikative Vernunft weiter so wächst, könnte die Welsch'sche
Vision vielleicht sogar noch wahr werden.
Fußnoten 1 ) siehe dazu z. B.: Albus, Volker, und Borngräber, Christian: "Design Bilanz", Köln 1992 Hauffe, Thomas: "Fantasie und Härte", Gießen 1994 2) Dawson, Layla: "Die Deutsche Schule der Schweißer und Black & Decker-Werkler", in: Kursbuch, Heft 106, Berlin 1991 3) siehe dazu z. B: Braun-Feldweg, W.: "Industrial Design heute. Umwelt aus der Fabrik", Reinbek bei Hamburg 1966 4) Fischer, Volker/Albus, Volker: "13 nach Memphis", München 1995 5) Bürdek, B. E.: "Design", a.a.O., S. 15 6) Marcus Vitruvius Pollio: "Über die Baukunst", neu bearbeitet und herausgegeben von Erich Stürzenacker, Essen 1938 7) Marzona, Stefano: "Designer sind keine Alchimisten", in: form 144-IV-1993 sowie: Diskussion zu diesem Beitrag, in: form 144-IV-1993, S. 20–21 8) Oehlke, Horst: "Zum Anliegen und zu den Erwartungen an das Kolloquium", in: Ethik & Design, 15. Designtheoretisches Kolloquium, Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design, Halle/Saale 1994 9) Meadows, Dennis: "Die Grenzen des Wachstums", Stuttgart 1972 10) Haug, Wolfgang: "Kritik der Warenästhetik", Frankfurt a. M. 1971 11) Burckhardt, Lucius: "Kriterien für neues Design", in: Werkarchithese, Nr. 4/1977 12) Ohl, Herbert: "Design ist meßbar geworden", in: form 78-11-1977 13) Adorno, Theodor W.: "Funktionalismus heute", in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica Frankfurt a. M. 1967 14) Eckstein, Hans a.a.O., S. 112 15) Kruft, Hanno-Walter: "Geschichte der Architektur-Theorie", München 1991, Seite 52 16) Marcus Vitruvius Pollio a. a. 0.
25
17) ebenda, S. 210 18) ebenda, S. 216 19) ebenda, S.335 20) a. a. O. 21) Venturi, Robert: "Complexity and Contradiction in Architecture", New York 1966 (dt. Braunschweig 1978 22) Klotz, Heinrich: "Kunst im 20. Jahrhundert – Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne", München 1994 23) Mönninger, Michael: "Der gebaute Urschrei" in: Der Spiegel, Nr. 11/95 24) Habermas, Jürgen: "Kleine politische Schriften 1–IV", Frankfurt a. M. 1981 25) Habermas, Jürgen: "Moderne und postmoderne Tradition in: Die andere Tradition München 1981, nachgedruckt in: Habermas, Jürgen "Die Neue Unübersichtlichkeit" Frankfurt a. M. 1985 26) Klotz, Heinrich: "Kunst im 20. Jahrhundert", a.a.0. 27) Aicher, Otl: "Die dritte Moderne", in: Die Welt als Entwurf München 1991, S. 40 ff. 28) Habermas, Jürgen: "Der philosophische Diskurs der Moderne", a.a.O., S. 107 29) Habermas, Jürgen a.a.O., S. 279 f. 30) ebenda, S.304 31) Eco, Umberto: "Einführung in die Semiotik", München 1972 32) Eco, Umberto a.a.O. 33) Habermas, Jürgen "Der philosophische Diskurs der Moderne", a.a.O., S. 344 f 34) ebenda, a.a.O. 35) Klotz, Heinrich, a.a.O. 36) ebenda, S.175 37) ebenda, S.182 38) Aicher, Otl: "Krise der Moderne", in: Die Welt als Entwurf, a.a.O., S. 15 ff. 39) ebenda, S.19 40) ebenda, S.22
26
41) Aicher, Otl "Die dritte Moderne", a.a.O., S. 53 42) Snow, C.P.: "Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz", Stuttgart 1967 43) Bürdek, B. E. : "Verkommt der Begriff Avantgarde?", in: Design Report, Nr. 10/1994 44) Norman, Donald A.: "Dinge des Alltags", Frankfurt/New York 1989 45) Nouvel, Jean: "Projekte, Wettbewerbe, Bauten 1980-1990" in: Noever, Peter (Hrsg.): Architektur im Umbruch. Neun Positionen zum Dekonstruktivismus München 1991 46) Grassmuck, Volker R.: "Die Turing-Galaxis. Das Universal-Medium auf dem Weg zur Weltsimulation" in: Lettre International, Nr. 48 Frühjahr 1995
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