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Suhrkamp VerlagLeseprobe
Bauer, Susanne / Heinemann, Torsten / Lemke, ThomasScience and Technology Studies
Klassische Positionen und aktuelle PerspektivenHerausgegeben von Susanne Bauer, Torsten Heinemann und Thomas Lemke Mit zahlreichen
Abbildungen
© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch wissenschaft 2193
978-3-518-29793-3
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2193
In den vergangenen Jahrzehnten ist mit den Science and Technology Studies (STS) ein Forschungsfeld entstanden, das eine grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft vornimmt. Der vorliegende Band versammelt erstmals zentrale Texte der STS in deutscher Sprache, u. a. von Bruno Latour, David Bloor, Michel Callon, Donna Haraway und Karen Barad, und bietet zudem Überblicksdarstellungen aller wichtigen Forschungsgebiete und Theoriepositionen. Entstanden ist so eine grundlegende Einführung in diese innovative Forschungsrichtung, die darüber hinaus auch eine Zwischenbilanz der Entwicklung der STS zieht und aktuelle Herausforderungen und Debatten auslotet.
Susanne Bauer ist Associate Professor für Science and Technology Studies (STS) am TIK Centre for Technology, Innovation and Culture der Universität Oslo.
Torsten Heinemann ist Juniorprofessor für Soziologie, insbesondere soziale Probleme und soziale Kontrolle an der Universität Hamburg sowie Marie Curie Fellow am Institute for the Study of Societal Issues der University of California, Berkeley.
Thomas Lemke ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft an der GoetheUniversität Frank furt/M. Zuletzt erschienen: Biopolitik. Ein Reader (stw 2080, Hg. zus. mit Andreas Folkers), Gilbert K. Chesterton, Eugenik und andere Übel (eu 41, Hg.) und Glossar der Gegenwart (es 2381, Hg. zus. mit Ulrich Bröckling und Susanne Krasmann).
Science and Technology Studies
Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven
Herausgegeben von Susanne Bauer, Torsten Heinemann
und Thomas Lemke
Mit zahlreichen Abbildungen
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.dnb.de abrufbar.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2193Erste Auflage 2017
© Suhrkamp Verlag Berlin 2017Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf StaudtDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in GermanyISBN 9783518297933
Inhalt
Susanne Bauer, Torsten Heinemann, Thomas LemkeEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Die Soziologie wissenschaftlichen Wissens
Peter Wehling: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43David Bloor: Das starke Programm in der Wissenssoziologie 66
2. Sozialkonstruktivistische Technikforschung
Jörg Potthast: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99Trevor J. Pinch, Wiebe E. Bijker: Die soziale Konstruktion von Fakten und Artefakten, oder: Wie Wissenschafts und Techniksoziologie voneinander profitieren können . . . . . . . 123
3. Laborstudien
Ruzana Liburkina, Jörg Niewöhner: Einführung . . . . . . . . . . 173Bruno Latour, Steve Woolgar: Ein Anthropologe besucht das Labor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
4. AkteurNetzwerkTheorie
Ingo Schulz-Schaeffer: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271Michel Callon: Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. BrieucBucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
5. Feministische STS
Jutta Weber: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive 369
6. Praxeographie
Estrid Sørensen und Jan Schank: Einführung . . . . . . . . . . . . . 407Annemarie Mol: Krankheit tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
7. Postkoloniale STS
Katharina Schramm: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471Helen Verran: Ein postkoloniales Moment in der Wissenschaftsforschung: Zwei alternative Feuerregimes von Umweltwissenschaftler_innen und aboriginalen Landbesitzer_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
8. Neue Materialismen
Thomas Lemke: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551Karen Barad: Agentieller Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
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Susanne Bauer, Torsten Heinemann, Thomas LemkeEinleitung
In den Sozial und Kulturwissenschaften hat die Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Technik in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Ihr komplexes Verhältnis zu gesellschaftlichen Strukturen, kulturellen Praktiken und normativen Ordnungen rückt zunehmend ins Zentrum medialer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Aktuelle Herausforderungen wie die des Klimawandels, der Nahrungsmittelsicherheit und der Energiepolitik, biomedizinische und technologische Innovationen und die Verbreitung neuer Informations und Kommunikationsformate – um nur einige Themenfelder zu nennen – stellen nicht nur etablierte soziale Denk und Handlungsmuster, sondern auch disziplinäre Grenzziehungen und Kompetenzen in Frage.
Wesentlichen Anteil an dem steigenden sozial und kulturwissenschaftlichen Interesse an wissenschaftlichen und technologischen Fragen hat ein Forschungsfeld, das sich in den 1970er Jahren herausbildete: die Science and Technology Studies (STS).1 Mit ihnen trat neben die Wissenschaftstheorie und philosophie, die auf die normativen und institutionellen Bedingungen sowie die epistemologischen Grundlagen der Wissenschaft fokussierte, eine empirisch orientierte und dezidiert methodisch reflexive Analyse der Produktion und Aneignung wissenschaftlichen Wissens. Das Forschungsinteresse verlagerte sich damit von der Rekonstruktion einer universalistischen Rationalität oder einer allgemeinen Analyse der Funktion von Wissenschaft hin zu den konkreten historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen der Wissensproduktion. Hinzu kam nach kurzer Zeit schon eine Erweiterung des analytischen Fokus. Die STS untersuchten nicht nur die »Fabrikation«2 naturwissenschaftlichen Wissens, sondern nahmen auch technologische Artefakte und medizinische Praktiken in den Blick.
1 Das Akronym STS steht meist für Science and Technology Studies; auch der Sammelbegriff Science, Technology and Society ist üblich. Zuweilen wird das Forschungsfeld auch als Science Studies oder Social Studies of Science and Technology bezeichnet.
2 Karin KnorrCetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Natur-wissenschaft, Frank furt am Main 1983.
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In den vergangenen vierzig Jahren haben die STS ein eigenständiges Forschungsprofil ausgebildet, sich international etabliert, in Fachgesellschaften organisiert und spezifische Zeitschriften und Curricula entwickelt.3 Auch außerhalb der Wissenschafts und Technikforschung haben Forscher_innen deren Potential für neue konzeptionelle Ansätze, empirische Zugänge und innovative Theoriebildung aufgegriffen und es für disziplinenübergreifende Frage stellungen sowie zeitgenössische gesellschaftliche Debatten genutzt. Die STS emanzipierten sich dabei zunehmend von ihrem ursprünglichen Gegenstandsbereich – Naturwissenschaft und Technik – und wirkten mit ihren Ansätzen und Fragestellungen in konzeptionelle und methodologische Debatten verschiedener Disziplinen hinein. Sie umfassen inzwischen eine Vielzahl von Forschungsrichtungen nicht nur innerhalb der klassischen Disziplinen der Wissenschaftsforschung – vor allem der Soziologie, der Wissenschaftstheorie und geschichte –, sondern auch in anderen Fächern wie beispielsweise der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie, der Humangeographie, der Architektur und der Medien und Kunstwissenschaft. Trotz ihrer internationalen Vernetzung und der länderübergreifenden Reputation sind die STS traditionell in den USA sowie in Großbritannien am stärksten institutionell verankert und bilden dort an vielen Universitäten ein eigenständiges Lehr und Forschungsgebiet. Ihre Bedeutung ist jedoch keineswegs auf den angloamerikanischen Raum beschränkt; vielmehr kamen wichtige grundlegende Studien und Weiterentwicklungen der STS auch aus Frankreich, Italien, den Niederlanden und den skandinavischen Staaten.4
3 Die wichtigsten Fachgesellschaften sind die Society for Social Studies of Science (4S) und die European Association for the Study of Science and Technol ogy (EASST). Relevante Fachzeitschriften sind Social Studies of Science, Science, Technol-ogy and Human Values, Public Understanding of Science und Science as Culture.
4 Gute Einführungen in die STS geben David J. Hess, Science Studies. An Advanced Introduction, New York 1997; Steven Yearley, Making Sense of Science. Understand-ing the Social Studies of Science, London u. a. 2005; Sergio Sismondo, An Introduc-tion to Science and Technology Studies, Malden, Mass. 22010. Einen umfassenden Überblick über das breite theoretische und empirische Spektrum liefern die seit 1977 in unregelmäßigen Abständen im Auftrag der Society for Social Studies of Science herausgegebenen STSHandbücher: Ina Spiegel Rosing, Derek de Solla Price (Hg.), Handbook of Science, Technology and Society. A Cross-Disciplinary Per-spective, Thousand Oaks, London 1977; Sheila Jasanoff u. a. (Hg.), Handbook of
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In Deutschland ist diese innovative Forschungsrichtung bislang kaum institutionalisiert. Dies mag vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sich die Wissenschafts und Technikforschung hierzulande sehr stark an der Wissenschaftsphilosophie, der Wissenschafts und Technikgeschichte, an systemtheoretischen und institutionalistischen soziologischen Ansätzen, der Szientometrie sowie der Technikfolgenabschätzung orientiert hat.5 Doch inzwischen nimmt auch in den deutschsprachigen Sozial und Kulturwissenschaften die Resonanz internationaler STSDebatten deutlich zu. Zahlreiche aktuelle Forschungsprojekte und Dissertationen nutzen das Potential der STS für neue konzeptionelle Ansätze und empirische Zugänge, um disziplinenübergreifende Fragestellungen und drängende gesellschaftliche Probleme zu adressieren. Bislang existiert jedoch ein doppeltes Hindernis für eine umfassende Rezeption der STS in Deutschland. Zum einen liegen die meisten der inzwischen klassischen Texte, die diese Forschungsperspektive nachhaltig geprägt haben, noch immer nicht in deutscher Sprache vor. Zum anderen fehlt bisher ein einführender Überblick, der die verschiedenen Forschungsrichtungen und Akzentverlagerungen der vergangenen vierzig Jahre systematisch vorstellt und vergleichend diskutiert.6
Science and Technology Studies, Thousand Oaks, London 1995; Ed Hackett u. a. (Hg.), Handbook of Science and Technology Studies, Cambridge, Mass. 2008; Ulrike Felt u. a. (Hg.), Handbook of Science and Technology Studies, Cambridge, Mass. 2017.
5 Über viele Jahre wurde die deutsche Wissenschafts und Technikforschung von der Technikfolgenabschätzung sowie einer an der Systemtheorie Niklas Luhmanns orientierten Wissenschaftssoziologie dominiert. Dies lag unter anderem daran, dass die Wissenschafts und Technikforschung ihren Platz lange Zeit vor allem an Technischen Universitäten hatte. Eine nennenswerte Ausnahme war das Institut für Wissenschafts und Technikforschung (IWT) der Universität Bielefeld mit seinem Direktor Peter Weingart, welches besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie die Politikberatung legte. Zur Technikfolgenabschlätzung vgl. Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung – eine Ein-führung, Berlin 22010; zur Forschung am IWT vgl. u. a. Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001: ders., Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Weilerswist 2005.
6 Im Moment liegen in deutscher Sprache folgende Einführungen in das Gebiet der Wissenschafts und Technikforschung vor, von denen die meisten jedoch nur auf Teilaspekte der STS fokussieren: Ulrike Felt u. a., Wissenschaftsforschung.
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Der vorliegende Band antwortet auf dieses doppelte Rezeptionshindernis.7 Er versammelt zentrale Debattenbeiträge der STS von den 1970er bis in die 2000er Jahre, wobei die meisten Auswahltexte hier erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen. Die Primärtexte geben Einblick in die je eigene Programmatik und Ausgestaltung der theoretischen Position beziehungsweise Analyseperspektive. Sie stehen exemplarisch für die wichtigsten und einflussreichsten Forschungslinien der STS: die Soziologie wissenschaftlichen Wissens, die sozialkonstruktivistische Technikforschung, Laborethnographien, die AkteurNetzwerkTheorie, die feministische Naturwissenschafts und Technikforschung, praxeographische Ansätze, die postkolonialen STS sowie die Neuen Materialismen, denen je ein Kapitel gewidmet ist. Den Auswahltexten vorangestellt sind kurze Einführungen, die die Entstehung dieser Forschungsrichtungen innerhalb der STS skizzieren und zentrale Forschungsfragen, Akzentverlagerungen und Diskussionsstränge vorstellen. Die Ordnung des Bandes ist zugleich chronologisch und systematisch, da er nacheinander die wichtigsten Positionen der STS seit den 1970er Jahren versammelt und deren grundlegende Prämissen und Forschungsperspektiven darstellt.
Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen zunächst die historischen Entstehungskontexte und bedingungen dieses
Eine Einführung, Frank furt am Main, New York 1995; Sabine Maasen u. a. (Hg.), Handbuch Wissenschaftssoziologie, Wiesbaden 2012; Nina Degele, Einführung in die Techniksoziologie, Stuttgart 2002; Peter Weingart, Einführung in die Wissen-schaftssoziologie, Bielefeld 2003. Allein der Überblick von Arno Bammé, Science and Technology Studies. Ein Überblick, Marburg 2009 und der Sammelband von Stefan Beck u. a. (Hg.), Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012, setzen sich explizit mit den STS auseinander. Darüber hinaus liegt seit kurzem der Band Schlüsselwerke der STS (Diana Lengersdorf, Matthias Wieser (Hg.), Wiesbaden 2014) vor, der zentrale Werke dieser Forschungstradition vorstellt. Zu erwähnen ist schließlich auch der Band ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie (Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.), Bielefeld 2006), der allerdings nur Beiträge zur AkteurNetzwerkTheorie enthält.
7 Wir danken Andreas Folkers, Katharina Hoppe, Jonas Rüppel für ihre hilfreichen Anmerkungen zu den Übersetzungen der Auswahltexte und ihre Kommentierung einer ersten Fassung der Einleitung. Darüber hinaus danken wir Matthias Rudolph, Franziska von Verschuer und Timo Roßmann für ihre Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts.
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Forschungsfeldes in den 1970er Jahren (I). Im nächsten Schritt stellen wir zentrale theoretische Entwicklungslinien und empirische Felder der STS vor, die in den einzelnen Kapiteln des Bandes genauer behandelt werden. Wir zeigen, wie die Soziologie wissenschaftlichen Wissens und die sozialkonstruktivistische Technikforschung sowie die Laborstudien einen völlig neuen Blick auf die Natur und Technikwissenschaften ermöglichten (II). Der dritte Abschnitt präsentiert Grundzüge und Entwicklungstendenzen der AkteurNetzwerkTheorie und der feministischen Naturwissenschafts und Technikforschung (III). Im vierten Teil der Einleitung werden die Neuakzentuierungen der STS im Rahmen der postkolonialen STS, praxeographischer Ansätze sowie im Zuge der Neuen Materialismen dargestellt (IV). Abschließend ziehen wir eine Zwischenbilanz der zurückliegenden Entwicklung der STS und geben einen Ausblick auf aktuelle Tendenzen und zukünftige Herausforderungen (V).
I.
Das transdisziplinäre Forschungsfeld der Science and Technology Studies (STS) entstand in den 1970er Jahren am Schnittpunkt unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Debatten und theoretischer Diskurse. Die Etablierung dieser Forschungsperspektive verdankt sich zunächst der wachsenden Bedeutung sozialer Bewegungen und radikaler Wissenschafts und Technologiekritik in den 1960er und 1970er Jahren. In diesen Zusammenhängen wurden insbesondere die Voraussetzungen und Folgen kontroverser Technologien wie der Atomtechnologie, der Informations und Kommunikationstechnologien oder der Gen und Reproduktionstechnologien thematisiert. Im Fokus der Kritik standen die Vorstellung, dass wissenschaftliche und technologische Innovationen gleichbedeutend mit gesellschaftlichem Fortschritt seien, sowie die Annahme einer von gesellschaftlichen Interessen prinzipiell unabhängigen Forschung. Die in den 1970er Jahren in Westeuropa sowie in Nordamerika an Bedeutung gewinnende marxistische und feministische Wissenschaftsforschung sowie wissenschaftskritische Bewegungen innerhalb der Natur und Ingenieurwissenschaften selbst problematisierten die Verflechtung universitärer Forschung mit ökono
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mischen und militärischen Interessen. Ein Beispiel dafür ist etwa die RadicalScienceBewegung in Großbritannien, deren kritisches Augenmerk sich auf militärtechnologische Großprojekte während des Kalten Krieges, technologisch bedingte Umweltschäden und die Hegemonie westlicher Naturwissenschaften richtete. Weite Teile der entstehenden STS griffen diese Debatten in ihren Forschungsarbeiten auf.8
Im gleichen Zeitraum entstand eine Reihe neuer theoretischer Debatten in den Geistes und Sozialwissenschaften, die für die Untersuchung von Wissenschaft und Technik genutzt wurden. Zwei wissenschaftliche Entwicklungen waren dabei für die Konstitution des Forschungsfeldes der STS besonders wichtig. Zum einen erlaubte die Konjunktur sozialkonstruktivistischer und poststrukturalistischer Theorien in den 1970er Jahren eine kritische Distanz gegenüber positivistischen und realistischen Traditionen in der Wissenschaftstheorie und philosophie. Zum anderen wurden Praktiken und Orte der Produktion von Wissen in wissenschaftssoziologische Fragestellungen zu den strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen von Wissenschaft einbezogen.
Kennzeichnend für die STS war also eine doppelte Erweiterungs beziehungsweise Abgrenzungsbewegung. Die erste bezog sich auf die Auseinandersetzung mit der Wissenschaftstheorie, die von der Tradition des Logischen Positivismus und des Kritischen Rationalismus gekennzeichnet war. Diese begriff die Erkenntnisproduktion im Anschluss an die Arbeiten des Wiener Kreises sowie Karl Poppers vor allem als einen rationalistischen Prozess und untersuchte die Wissensgenese als weitgehend unabhängig von materiellen und sozialen Bedingungen. Mit diesem Fokus auf die »Logik der Forschung«9 richtete sich das Augenmerk auf die internen Geltungs
8 Bob Young, »Science is Social Relations«, in: Radical Science Journal 5 (1977), S. 65129; Hilary Rose, Steven Rose (Hg.), The Political Economy of Science. Ideol ogy of / in the Natural Sciences, London, Basingstoke 1976; Brian Easlea, Fathering the Un-thinkable. Masculinity, Scientists and the Nuclear Arms Race, London 1983; Donald MacKenzie, Inventing Accuracy. A Historical Sociology of Nuclear Missile Guidance, Cambridge, Mass. 1990; Brian Wynne, »Misunderstood Misunderstand ing: Social Identities and Public Uptake of Science«, in: Public Understanding of Science 1 (1992), S. 281304. Vgl. auch Kristin Asdal u. a. (Hg.), Technoscience. The Politics of Interventions, Oslo 2007.
9 Karl R. Popper, Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Natur-wissenschaft, Wien 1935.
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bedingungen des Wissens, während seine komplexen Entstehungs und Akzeptanzbedingungen tendenziell unberücksichtigt blieben. Dieses rationalistische Konzept der Erkenntnisproduktion führte zu einer strikten Unterscheidung und prinzipiellen Hierarchisierung von Wissenstypen, die das wissenschaftliche Wissen dem Alltagswissen sowie richtiges dem falschen Wissen gegenüberstellte.10
Thomas Kuhn sorgte mit seinem 1962 erschienenen Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen für einen grundlegenden Perspektivwechsel und ein Umdenken in der Wissenschaftstheorie.11 Die Studie stellte den Begriff des Paradigmas ins Zentrum, das disziplinäre Forschungsinhalte über längere Zeiträume hinweg in spezifischer Weise organisiert, bis es im Zuge wissenschaftlicher Revolutionen zu einem »Paradigmenwechsel« kommt. Kuhn bezog sich dabei unter anderem auf einen bis dahin weitgehend vergessenen Klassiker der Wissenschaftsforschung: Ludwik Fleck.12 Fleck prägte bereits in den 1920er und 1930er Jahren Begriffe wie »Denkstil« oder »Denkkollektiv« und interpretierte als Erster die Produktion wissenschaftlicher Fakten nicht als einen logischrationalen Prozess und eine objektive Repräsentation von Natur, sondern als eine soziale Praxis.13 Die Studien Flecks zur medizinischen Forschungspraxis wurden von der entstehenden sozialkonstruktivistischen Wissenschafts und Technikforschung rezipiert und weiterentwickelt. Statt davon auszugehen, dass Wissenschaft Naturgesetze einfach repräsentiert, registriert oder entdeckt, war es das Ziel der sich formierenden STS, die Entstehungskontexte und Akzeptanzbedingungen des Wissens genauer zu untersuchen. Wissenschaft und Technologie entwickeln sich demnach nicht quasiautomatisch, linear oder aus einer ihnen selbst innewohnenden Logik heraus, sondern werden in ihrer Entstehung, Anwendung und Verbreitung durch soziokulturelle Faktoren bestimmt. Damit verschob sich der Akzent wissenschaftstheoretischer Fragestellun
10 Jörg Niewöhner, »Von der Wissenschaftstheorie zur Soziologie der Wissenschaft«, in: Beck u. a. (Hg.), Science and Technology Studies, S. 4976; Hess, Sci-ence Studies, S. 651.
11 Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frank furt am Main 1976; siehe auch Sismondo, An Introduction, S. 12 ff.
12 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 8.13 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Ein-
führung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frank furt am Main 1980.
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gen von abstrakten Erkenntnisprozessen zu empirisch zu beantwortenden Fragen nach den konkreten wissenschaftlichen Praktiken sowie den spezifischen Orten der Wissensproduktion.
Hinzu kam eine zweite Erweiterungsbewegung, die weniger die Wissenschaftsphilosophie als die Wissenschaftssoziologie betraf. Diese etablierte sich in den 1930er Jahren als eigenständiges Feld innerhalb der Soziologie. Die Aufmerksamkeit dieser soziologischen Teildisziplin lag in den folgenden Jahrzehnten auf der Untersuchung der Wissenschaft als einer gesellschaftlichen Institution. Im Anschluss an die prägenden Arbeiten von Robert K. Merton analysierte die Wissenschaftssoziologie die normativen Grundlagen des wissenschaftlichen »Ethos« und die organisatorischen Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung.14 Der Schwerpunkt lag dabei auf den Kontexten wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion mit dem Ziel, die strukturellen und funktionalen Bedingungen einer als universell verstandenen Wissenschaft zu untersuchen. Weitgehend ausgeblendet blieben hingegen die Entstehungsbedingungen und Inhalte des Wissens. Die Wissenschaftssoziologie beschränkte sich also auf die Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Wissens, ohne dessen epistemische Inhalte und materielle Voraussetzungen selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen. Hier setzten die STS ein, die den Akzent von der Wissenschaftssoziologie zur »Soziologie wissenschaftlichen Wissens« verschoben.15
II.
Das sozialkonstruktivistische Programm und der Impuls, neue Räume für empirische Forschungsarbeiten zu öffnen, prägten entscheidend das erste Jahrzehnt der STS.16 Den Auftakt machte eine Forschungsperspektive, die zunächst vor allem in Großbritanni14 Robert K. Merton, Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze
zur Wissenschafts-Soziologie, Frank furt am Main 1985; zu Mertons Konzept des »wissenschaftlichen Ethos« s. Weingart, Einführung in die Wissenschaftssoziologie, S. 1522.
15 Niewöhner, »Von der Wissenschaftssoziologie zur Soziologie wissenschaftlichen Wissens«; Hess, Science Studies, S. 5280.
16 Allgemein zur Bedeutung des Sozialkonstruktivismus s. Ian Hacking, Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frank furt am Main 1999; vgl. auch Sismondo, An Introduction, S. 5771.
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en entwickelt und unter dem Namen Social Studies of Knowledge (SSK) bekannt wurde. Ihre wichtigsten Vertreter_innen arbeiteten an den Universitäten von Edinburgh und Bath. Die wissenschaftliche Wertschätzung der SSK ist eng mit den Arbeiten von David Bloor, Barry Barnes, Michael Mulkay, Andrew Pickering, Donald Mackenzie und Harry Collins verbunden.
Das Gründungsdokument dieses Forschungsprogramms ist der in diesem Band zum ersten Mal in deutscher Übersetzung publizierte Text »Das starke Programm in der Wissenssoziologie«, der das Eröffnungskapitel des Mitte der 1970er Jahre erschienenen Buches Knowledge and Social Imagery von David Bloor bildet.17 Dieser einflussreiche Text formuliert das sogenannte starke Pro-gramm (strong programme) und fordert in vier Grundprinzipien eine radikale Neuausrichtung und substantielle Erweiterung der Wissenschaftssoziologie. Waren bis dahin soziologische Untersuchungen wissenschaftlichen Wissens auf Forschungshypothesen und Theorien beschränkt, die sich im weiteren historischen Verlauf als »fehlerhaft« oder »ideologisch« herausstellten, fordert Bloor eine »neutrale« und »symmetrische« Analyseperspektive. Nicht nur das falsche oder ideologische Wissen, sondern auch und vor allem das als wahr anerkannte wissenschaftliche Wissen solle zum Gegenstand soziologischer Analyse gemacht werden. Dabei sei gerade das scheinbar objektive, als besonders valide und »hart« begriffene naturwissenschaftliche und mathematische Wissen nicht auszusparen. Bloors grundlegende These ist, dass – unabhängig von ihrer Geltung und internen Konsistenz – ausnahmslos jede Form wissenschaftlichen Wissens gesellschaftlichen Einflussfaktoren unterliegt. Demnach lassen sich Wissensbestände und Erkenntnisformen aus der Untersuchung der ihnen zugrundeliegenden sozialen Kontexte und materiellen Bedingungen erklären. Die epistemischen Inhalte des wissenschaftlichen Wissens – und nicht nur dessen organisationale Voraussetzungen oder sozialen Rahmenbedingungen – werden damit prinzipiell als gesellschaftliches Phänomen begriffen.18
17 David Bloor, Knowledge and Social Imagery, Chicago 1976; Bloor in diesem Band; vgl. auch Wehling in diesem Band.
18 Christoph Kehl, Tom Mathar, »Eine neue Wissenschaftssoziologie. Die Sociology of Scientific Knowledge und das Strong Programme«, in: Beck u. a. (Hg.), Sci-ence and Technology Studies, S. 103122; Wehling in diesem Band; Bammé, Science and Technology Studies, S. 3148; Sismondo, An Introduction, S. 4756.
16
Das ›starke Programm‹ war zunächst vor allem mit der Edinburgher Schule der Wissenschaftssoziologie verbunden, traf aber auch bei vielen anderen STSForscher_innen auf große Resonanz. Besonders einflussreich waren etwa die Arbeiten von Harry Collins an der Universität Bath zur Bedeutung von Gravitationswellen sowie die wissenschaftshistorische Studie von Simon Schaffer und Steven Shapin zur Kontroverse um den Status der LuftpumpenExperimente im England des 17. Jahrhunderts.19 Die folgenreichste Weiterentwicklung der programmatischen Forderung nach Symmetrie bestand jedoch darin, die Einsichten der Soziologie wissenschaftlichen Wissens auf die Untersuchung technologischer Artefakte zu übertragen.
STSForscher_innen kritisierten die in der zeitgenössischen Techniksoziologie oft gängige Vorstellung, dass Techniken zwar soziale und kulturelle Effekte haben, aber selbst keine sozialen Phänomene seien. Sie nahmen demgegenüber die sozialkonstruktivistische Agenda auf und eröffneten der Technikforschung neue Analyseperspektiven jenseits der vorherrschenden deterministischen und linearen Erklärungsansätze. So konnte sowohl die Frage gestellt werden, auf welche Weise sich welche Technologien in spezifischen historischen Kontexten durchsetzen konnten, als auch, wie die konkreten Technologien mit gesellschaftlichen Prozessen verflochten sind: Welche unterschiedlichen Varianten einer bestimmten Technik lagen vor, welche gelangten überhaupt zu einer Stabilisierung, und warum konnten sie sich weiter verbreiten? In welcher Relation stehen sie zu gesellschaftlichem Wandel?
Der in diesem Band enthaltene Auswahltext »Die soziale Konstruktion von Fakten und Artefakten, oder: Wie Wissenschafts und Techniksoziologie voneinander profitieren können« von Trevor Pinch und Wiebe Bijker entwickelt das Forschungsprogramm der sozialkonstruktivistischen Technikforschung (Social Construc-tion of Technology: SCOT) anhand einer historische Fallstudie.20 Im Mittelpunkt des Artikels stehen die soziale Formierung des Fahrrads und die historische Etablierung eines spezifischen Fahr
19 Harry M. Collins, »The Seven Sexes: A Study in the Sociology of a Phenomenon, or the Replication of Experiments in Physics«, in: Sociology 9 (2) (1975), S. 205224; Steven Shapin, Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985.
20 S. auch Potthast in diesem Band.
17
radtyps in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Autoren zeigen, dass dessen Anwendungs und Entwicklungsperspektiven von verschiedenen Gruppen in unterschiedlicher Weise wahrgenommen und eingeschätzt wurden. Sie dokumentieren, dass die Bedeutung des Fahrrads zunächst keineswegs stabil ist, sondern stark von den jeweiligen Interessen und Nutzungsperspektiven der relevanten Gruppen abhängt. Die sozialen Aushandlungsprozesse führten gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich zur Durchsetzung eines bestimmten Modells und Entwicklungspfads: Das populäre Hochrad wird zugunsten der Entwicklung des heute bekannten Fahrrad typs aufgegeben. Das Herausarbeiten der Prozesse der Stabilisierung und die Analyse der von den Handelnden bei der Konstruktion des Artefakts eingesetzten materiellen Ressourcen und des diskursiven Repertoires werden zum zentralen Anliegen der Untersuchung.21
Neben SSK und SCOT etablierten sich Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die sogenannten Laborstudien als ein neues Genre sozialwissenschaftlicher Wissenschafts und Technikforschung.22 Sie teilten die sozialkonstruktivistische Perspektive mit SSK und SCOT, beobachteten aber genauer die konkreten lokalen Praktiken der Produktion naturwissenschaftlicher Erkenntnis an einem privilegierten, der Öffentlichkeit im Allgemeinen nicht
21 Estrid Sørensen, »Die soziale Konstruktion von Technologie (SCOT)«, in: Beck u. a. (Hg.), Science and Technology Studies, S. 123144; Jens Lachmund, »Wiebe Bijker und Trevor Pinch. Der sozialkonstruktivistische Ansatz in der Technikforschung«, in: Lengersdorf/Wieser (Hg.), Schlüsselwerke der Science & Technol-ogy Studies, S. 145154. Die unter dem Akronym SCOT international bekannt gewordene Forschungsperspektive hat eine Vielzahl von Fallstudien angeregt, die sich den sozialen Aushandlungen bestimmter Techniken oder Technologien widmete. Zu nennen sind hier insbesondere Bijkers Arbeiten, die neben dem Fallbeispiel des Fahrrads auch Studien zur Entwicklung des Kunststoffs Bakelit und zur Leuchtstoffröhre enthalten: Wiebe E. Bijker, Of Bicycles, Bakelits, and Bulbs. Toward a Theory of Sociotechnical Change, Cambridge, Mass. 1995; vgl. auch Nelly Oudshoorn, Trevor Pinch, How Users Matter. The Co-Construction of Users and Technology, Boston 2003; Anique Hommels, Unbuilding Cities. Ob-duracy in Urban Sociotechnical Change, Boston 2005; Potthast in diesem Band.
22 S. Liburkina/Niewöhner in diesem Band. Zu einem Überblick über das Forschungsfeld der Laborstudien s. Katrin Amelang, »Laborstudien«, in: Beck u. a. (Hg.), Science and Technology Studies, S. 145172; Weingart, Einführung in die Wissenschaftssoziologie, S. 6771; Bammé, Science and Technology Studies, S. 5168; Sabine Maasen, Wissenssoziologie, Bielefeld 22009, S. 6063.
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zugänglichen Ort: dem Labor. Die Laborstudien verwendeten ethnographische Methoden und waren stark geprägt von sozialanthropologischen Beobachtungsstrategien. Laborethnographien untersuchten naturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen als »fremde Kultur«, um zu begreifen, wie im Labor wissenschaftliches Wissen hergestellt wird. Kennzeichnend für ihre Arbeit waren die präzise Beobachtung dessen, was Naturwissenschaftler_innen im Labor tun, und die detaillierte Beschreibung der Herstellungs und Erzeugungsprozesse naturwissenschaftlichen Wissens. Der Grundgedanke war dabei ähnlich wie bei der klassischen ethnographischen Beobachtung: Es ging darum, die fremden Riten, Praktiken und Kommunikationsformen der Laborwissenschaftler_innen und ihren Umgang mit Dingen, vor allem Apparaten und materiellen Objekten, zu untersuchen. Die ersten Studien fokussierten auf Labore in der Biochemie und der Hochenergiephysik in den USA; spätere Laborethnographien nahmen auch das CERN in der Schweiz sowie zahlreiche biowissenschaftliche Labore in den Blick.
Im Unterschied zu den SSK verwendeten die Vertreter_innen der Laborstudien eine mikroanalytische Perspektive, um möglichst präzise die situativen Aushandlungsprozesse und lokalen Entstehungskontexte der »Fabrikation« naturwissenschaftlichen Wissens zu rekonstruieren. Anders als SCOTAnsätze, die sich vor allem auf die historische Genese und die Weiterentwicklung von Techniken konzentrierten, befassten sich die Laborstudien mit der Bedeutung und der Materialität von Apparaten in zeitgenössischen Forschungsprozessen. Dabei interessierten sie sich weniger dafür, ob die im Forschungsprozess produzierten »Fakten« wahr oder falsch sind; vielmehr ging es darum zu zeigen, wie wissenschaftliche Objektivität als Ergebnis materieller Arrangements und ständiger Aushandlungs und Selektionsprozesse der Forschenden sowie der Etablierung von Alltagsroutinen und Standardisierungen im Forschungsprozess entsteht.
Das in diesem Band enthaltene Kapitel »Ein Anthropologe besucht das Labor« stammt aus der von Bruno Latour und Steve Woolgar verfassten Laborethnographie am SalkInstitut in Kalifornien. Das Buch stellt eine wegweisende Studie dar, die zentrale Begriffe der STS geprägt hat.23 Die Autoren arbeiten die Schreib 23 Bruno Latour, Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts,
Princeton 1986 [1979].
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und Visualisierungsarbeiten im wissenschaftlichen Labor vom Fixieren der Messergebnisse bis hin zur fertigen Publikation heraus, wobei sie insbesondere die zentrale Rolle von »Inskriptionsgeräte« und »Inskriptionsketten« für die Wissensgenerierung im Labor verdeutlichen.24 Den Begriff der Inskription übernehmen Latour und Woolgar von Derrida und erweitern ihn auf die im Labor hervorgebrachten »Spuren, Stellen, Punkte, Histogramme, aufgezeichneten Werte, Spektren, Spitzenwerte und so weiter«.25 Auch wenn die Laborstudie von Latour und Woolgar deutlich vom Sozialkonstruktivismus geprägt ist, finden sich darin bereits wegweisende theoretische Konzepte und methodische Überlegungen, die für nachfolgende Entwicklungen in den STS von zentraler Bedeutung sind. Hervorzuheben sind hier der in dieser Form neuartige Fokus auf Materialität und das prozessuale Verständnis der Genese wissenschaftlichen Wissens, die in späteren Ansätzen systematisch ausgearbeitet werden. Materialität ist bereits in den frühen Laborstudien insofern relevant, als wissenschaftliche Erkenntnisse in einem komplexen Zusammenspiel von sozialen und materiellen, das heißt im Fall von Latour und Woolgar: in konkreten technischapparativen Praktiken hervorgebracht werden.26 Es sind nicht allein die Subjekte, die technische Geräte bedienen und anwenden, sondern die Geräte selbst verlangen nach bestimmten Nutzungsweisen oder erlauben nur spezifische, begrenzte Einsichten. Damit einher geht eine Verschiebung des empirischen Fokus weg von menschlichen Subjekten hin zu technischen Geräten oder allgemeiner hin zur Bedeutung der Interaktion zwischen materiellen Artefakten und handelnden Menschen in der Genese wissenschaftlichen Wissens. Zudem rückt das konkrete Tun stärker ins Zentrum der Analyse, denn es sind die situierten Praktiken der handelnden Menschen im Zusammenwirken mit institutionellen Bedingungen, rechtlichen Vorgaben und konkreten experimentellen Konfigurationen, die wissenschaftliches Wissen überhaupt erst entstehen lassen.
24 Latour/Woolgar in diesem Band.25 Ebd., S. 200.26 S. Liburkina/Niewöhner in diesem Band, S. 184 f.
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III.
Das in den 1970er und frühen 1980er Jahren dominierende sozialkonstruktivistische Programm, das die theoretische Distanzierung von den klassischen Positionen und Prämissen der Wissenschaftstheorie und soziologie erlaubt hat, wird in den 1980er und 1990er Jahren innerhalb der STS zunehmend kritisch reflektiert, revidiert und weiterentwickelt. Zwei Forschungsperspektiven sind dabei besonders bedeutsam und haben die STSDebatte seitdem entscheidend geprägt: die AkteurNetzwerkTheorie und die feministische Wissenschafts und Technikforschung.
Bruno Latour hat nicht nur zusammen mit Steve Woolgar eine der wichtigsten, frühen Laborstudien vorgelegt, er ist auch einer der Mitinitiator_innen des Projekts der AkteurNetzwerkTheorie (ANT).27 Mit diesem breit rezipierten Forschungsansatz, der zunächst an der Pariser École des Mines entstand, sind neben Bruno Latour vor allem Michel Callon, Madeleine Akrich und John Law verbunden. Theoriegeschichtlich knüpft die ANT sowohl an die sozialkonstruktivistische Wissenschaftsforschung als auch an Einsichten der Semiologie an.28 Sie geht davon aus, dass Handelnde keine Essenz oder spezifische Kompetenz besitzen, sondern über Beziehungen erst gebildet und definiert werden. Damit zielt die ANT auf eine Kritik des Sozialkonstruktivismus, der Handlungsfähigkeit allein menschlichen Subjekten zuweist. Die ANT fordert hingegen, menschliche und nichtmenschliche Entitäten mit den gleichen Methoden und dem gleichen Vokabular zu beschreiben.
Die ANT stellte eine Reihe von etablierten konzeptionellen Rahmungen und theoretischen Vorannahmen in Frage, um eine möglichst genaue empirische Beschreibung von Akteurskonstellationen und Interaktionsformen zu erhalten. Erstens betrachtet die ANT Natur und Gesellschaft nicht als zwei voneinander getrennte und gegeneinander abgeschlossene Bereiche oder Sphären, sondern
27 S. SchulzSchaeffer in diesem Band.28 S. Tom Mathar, »AkteurNetzwerk Theorie«, in: Beck u. a. (Hg.), Science and
Technology Studies, S. 173190; Weingart, Wissenschaftssoziologie, S. 7177; Timothy Simms, »Soziologie der Hybridisierung: Bruno Latour«, in: Stephan Moebius, Peter Lothar (Hg.), Französische Soziologie der Gegenwart, Konstanz 2004, S. 379393; Belliger/Krieger (Hg.), ANThologie; Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hg.), Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld 2013.
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