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Das Henotikon Zenons (482) – zum Scheitern eines kaiserlichen Einheitsbekenntnisses Im Jahre 482 vermittelte Kaiser Zenon die kirchliche Gemeinschaft zwischen den Bischöfen Akakios von Konstantinopel und Petros Mongos von Alexandria. Hierzu promulgierte er ein Edikt, welches unter Verschweigen der zwischen den beiden Kirchenmännern umstrittenen Synode von Chalkedon 451 die dogmatischen Hauptströmungen seiner Zeit dazu aufforderte, sich ihrer gemeinsamen theologischen Grundlagen zu besinnen. Zwar war es ein beachtlicher Erfolg, mit diesem Edikt – dem sogenannten Henotikon – Akakios und Mongos zusammengeführt zu haben; dieser Effekt wurde aber schon bald durch die desintegrativen Folgen des Henotikon mehr als ausgeglichen: Zum einen erwies sich das Edikt langfristig keineswegs als geeignetes Instrument, um eine grundlegende Kircheneinheit in dem dogmatisch zersplitterten östlichen Reichsteil zu garantieren; zum anderen kam es ob des Dokuments zu einer Entzweiung der Kirchen von Konstantinopel und Rom, die 484 im sogenannten Akakianischen Schisma mündete – der ersten grundlegenden Kirchenspaltung zwischen westlicher und östlicher Kirche, die bis 519, bis zur Zurücknahme des Edikts durch Kaiser Justin, andauern sollte. Mit dem Henotikon Zenons greifen wir also eines der folgenreichsten kirchenpolitischen Dokumente der Spätantike, welches 37 Jahre lang, nämlich bis 519, die Grundlage kaiserlicher Bekenntnispolitik darstellte – dabei aber nach und nach immer deutlicher an seine Grenzen stieß. Die Zurücknahme des

Das Henotikon Zenons (482). Zum Scheitern eines kaiserlichen Einheitsbekenntnisses

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Das Henotikon Zenons (482) – zum Scheitern eines kaiserlichen Einheitsbekenntnisses

Im Jahre 482 vermittelte Kaiser Zenon die kirchliche Gemeinschaft zwischen

den Bischöfen Akakios von Konstantinopel und Petros Mongos von Alexandria.

Hierzu promulgierte er ein Edikt, welches unter Verschweigen der zwischen den

beiden Kirchenmännern umstrittenen Synode von Chalkedon 451 die

dogmatischen Hauptströmungen seiner Zeit dazu aufforderte, sich ihrer

gemeinsamen theologischen Grundlagen zu besinnen. Zwar war es ein

beachtlicher Erfolg, mit diesem Edikt – dem sogenannten Henotikon – Akakios

und Mongos zusammengeführt zu haben; dieser Effekt wurde aber schon bald

durch die desintegrativen Folgen des Henotikon mehr als ausgeglichen: Zum

einen erwies sich das Edikt langfristig keineswegs als geeignetes Instrument, um

eine grundlegende Kircheneinheit in dem dogmatisch zersplitterten östlichen

Reichsteil zu garantieren; zum anderen kam es ob des Dokuments zu einer

Entzweiung der Kirchen von Konstantinopel und Rom, die 484 im sogenannten

Akakianischen Schisma mündete – der ersten grundlegenden Kirchenspaltung

zwischen westlicher und östlicher Kirche, die bis 519, bis zur Zurücknahme des

Edikts durch Kaiser Justin, andauern sollte.

Mit dem Henotikon Zenons greifen wir also eines der folgenreichsten

kirchenpolitischen Dokumente der Spätantike, welches 37 Jahre lang, nämlich

bis 519, die Grundlage kaiserlicher Bekenntnispolitik darstellte – dabei aber

nach und nach immer deutlicher an seine Grenzen stieß. Die Zurücknahme des

Henotikon durch Justin besiegelte daher lediglich das endgültige Scheitern des

Edikts als Instrument eines Versuches kaiserlich getragener

Einheitsbekenntnisherstellung. Die vom Henotikon angestoßenen

Desintegrationsprozesse, die letztlich zu diesem finalen Scheitern führen sollten,

waren hingegen schon lange vor 519 zu beobachten gewesen und strukturell

bereits im Edikt selbst angelegt. Was waren aber die Gründe dafür, dass sich das

Henotikon nicht durchsetzen konnte? Dieser Frage will sich mein Vortrag im

Folgenden widmen. Hierzu ist es zunächst notwendig, einige Worte zur

historischen Kontextualisierung des Dokuments zu verlieren, um zu

verdeutlichen, wieso Zenon überhaupt zu dem Mittel griff, kaiserlicherseits ein

kirchliches Bekenntnis zu dekretieren.

Das Konzil von Chalkedon hatte versucht, die auf mehreren Ebenen bedrohte

Einheit der christlichen Kirchen des Römischen Reiches zu wahren und war

damit gescheitert. Wie so viele Bischofsversammlungen in der Spätantike

führten auch 451 die Verhandlungen des Reichsepiskopats nicht zu einem

allgemeinen Ausgleich, sondern allenfalls zur Sistierung der dringlichsten

kirchlichen Streitfragen und durch die Formulierung dogmatischer

Bekenntnistexte und hierarchisch-kanonischer Regelungen zugleich zu neuen

Konflikten zwischen den großen Kirchen des Reiches.

Neben Unstimmigkeiten hinsichtlich der hierarchischen Regelungen des

Konzils und neben der ohnehin niemals letztgültig geklärten Frage, welche

Rolle dem Kaiser bei der Durchsetzung kirchlich-synodaler Entscheidungen

zukommen sollte, war der vorrangige Konflikt, den das Konzil von Chalkedon

nach sich zog, ein dogmatischer: Die in Chalkedon gefundene und von einem

tomus Leonis genannten Lehrbrief Papst Leos geprägte Formel der „zwei

Naturen in Christus“ stieß insbesondere im Osten des Reiches auf starke

Vorbehalte, wo man in ihr eine Neuauflage des längst verdammten

Nestorianismus erkennen wollte. Rom hingegen sah diese kritischen,

antichalkedonischen Stimmen im Osten als Fortexistenz der miaphysitischen

Lehren des Eutyches, gegen den sich die Zwei-Naturen-Formel von Chalkedon

ja gerichtet hatte und der in Chalkedon verurteilt worden war. Dass beide Seiten

in der Folge in ihren synodalen Stellungnahmen immer wieder sowohl Nestorios

als auch Eutyches verdammten, war in der zunehmend vorurteilsgeprägten

theologischen Debatte der Zeit für solche wechselseitigen Häresie-

Zuschreibungen unerheblich.

Einigermaßen konsequent wurden die Bestimmungen der Synode dann

auch, wenn auch aus unterschiedlichen Interessen gespeist, nur in Rom und in

Konstantinopel vertreten. In anderen Regionen des Reiches traf Chalkedon

dagegen auf starke Vorbehalte. Insbesondere die Kirche Alexandrias erwies sich

als Hort des Widerstandes gegen die Bestimmungen von 451. Aber auch in

Syrien und Palästina riefen die Synodalentscheidungen, in engem Anschluss an

die Entwicklung in Ägypten, ein zumindest geteiltes Echo hervor. Gerade der

kirchliche Osten war durch die Bischofsversammlung also in Unruhe versetzt

worden.

Bei alldem standen und fielen Annahme oder Ablehnung der Synode

maßgeblich mit der Position der Kaiser zu ihr. In einer Phase fortwährender

kirchlicher Segmentarität, in der es den einzelnen Großkirchen des Reiches

außerhalb ihrer jeweiligen Jurisdiktionsbereiche an konkreten

Durchsetzungsmitteln ermangelte, waren es in letzter Instanz die kaiserlichen

Machtoptionen, die entweder den chalkedonischen Bestimmungen oder ihren

Gegnern zum Durchbruch verhelfen konnten. Während der Kaiser des Konzils,

Markian, noch entschlossen für die Bestimmungen von 451 eintrat, zeigte sich

sein Nachfolger Leon bereits deutlich zögerlicher, welcher Seite er seine

Sanktionspotentiale leihen sollte. Stellte er sich aber letztlich wiederum doch auf

die Seite Chalkedons, so kam es 475/6 zu einem ersten kaiserlichen Abrücken

vom Konzil.

Kaum hatte Zenon 475 die Nachfolge Leons angetreten, wurde er durch die

Usurpation des Basiliskos aus Konstantinopel vertrieben. Dieser suchte nun zur

Sicherung seiner Stellung die Unterstützung der im Reich gut vernetzten

antichalkedonischen Partei, rief deren Führer, den alexandrinischen

Gegenbischof Timotheos Ailuros, aus dem Exil zurück und kassierte mittels

einer kaiserlichen Verfügung die Synodalbestimmungen von Chalkedon. Damit

destabilisierte er aber zugleich seine Stellung in Konstantinopel, da er mit diesen

allzu deutlich antichalkedonischen Maßnahmen seinen Residenzbischof Akakios

gegen sich aufbrachte, der nun einen Aufstand entfachte, der maßgeblich zum

Sturz des Basiliskos und zur Rückkehr Zenons an die Macht beitrug.

Zenon nahm nun zwar die religionspolitischen Maßnahmen des Usurpators

zurück, zog aber aus den Entwicklungen der letzten Jahre und Monate seine

ganz eigenen Lehren: Deutlich war, dass die Frage nach der Rezeption von

Chalkedon eine gewichtige Rolle für die Stabilität seiner Herrschaft spielte –

Basiliskos hatte immerhin eine weit verbreitete Unzufriedenheit bezüglich der

bisherigen kaiserlichen Bekenntnispolitik dazu genutzt, die Position Zenons zu

destabilisieren. Zugleich hatten die Konflikte seit 451 gezeigt, dass die Kirche

aus sich selbst heraus kaum dazu in der Lage sein würde, ihre tiefen Gräben zu

überbrücken. Allzu deutliche kaiserliche Positionierungen in der Streitfrage

hatten eine Lösung des Konflikts jedoch ebenso wenig herbeiführen können.

Markian und Leon hatten mit großem Aufwand chalkedonische

Hierarchien in Ägypten und anderen Regionen gegen die Widerstände

antichalkedonischer Mehrheiten dort gestützt – ohne eine langfristig akzeptierte

Annahme Chalkedons in den umkämpften Regionen erreichen zu können. Im

Gegenteil: Gerade die chalkedonischen Patriarchen von Alexandria hingen

deutlich am Tropf des Kaisertums. Basiliskos dagegen, der in den eher

antichalkedonischen Regionen versuchte, in sich stabile Hierarchien zu fördern,

geriet mit seiner damit einhergehenden klaren Positionierung auf Seiten der

Chalkedon-Gegner in Konflikt mit dem chalkedonischen Bischof von

Konstantinopel. Eine allzu einseitige kaiserliche Parteinahme in den

dogmatischen Streitigkeiten konnte diese also nicht befrieden, und war entweder

mit erheblichen militärischen Anstrengungen und damit Destabilisierungen

einzelner Provinzen oder aber mit einem drohenden Verlust der Unterstützung

durch eine maßgebliche Akzeptanzgruppe innerhalb der Hauptstadt verknüpft.

Zenon beschritt daher einen dritten Weg: Statt sich zwischen Alexandria

und Konstantinopel zu entscheiden, versuchte er, beide Seiten einander

anzunähern. Als sich der chalkedonische Patriarch von Alexandria 481/2 des

Hochverrats verdächtig machte, nutzte Zenon daher diese Gelegenheit, ihm die

Unterstützung zu entziehen und stattdessen den Antichalkedonier Mongos als

Patriarch von Alexandria anzuerkennen. Dies freilich unter der Bedingung, dass

er ein Einheitsdokument billigte, das ihn in die Gemeinschaft mit der Kirche der

Hauptstadt führte: das Henotikon. Diesem Ausgleich, der sich seiner Form nach

zunächst nur an die Kirchen von Konstantinopel und Alexandria richtete,

schlossen sich in der Folge auch die Patriarchen von Antiochia und Jerusalem

an. Damit war es Zenon gelungen, zumindest kurzfristig (und letztmalig) eine

allgemeine kirchliche Einheit im von den Kämpfen um Chalkedon zerrütteten

Osten des Römischen Reiches herzustellen.

Dass die Bischöfe von Rom sich dem Kompromiss verweigerten, da sie in

ihm eine Relativierung eigener dogmatischer Positionen und damit eigener

kirchlicher Führungsansprüche zu erkennen meinten, war angesichts des

beachtlichen Erfolgs im Osten des Reiches kurzfristig zu vernachlässigen. Im

Laufe des Akakianischen Schismas erwies sich die Ablehnung Roms aber

zunehmend als Problem für die Bindungswirkung des Henotikon auch im Osten.

Spätestens unter Kaiser Anastasios, der das Henotikon noch konsequenter als

sein Vorgänger Zenon zur Grundlage seiner Bekenntnispolitik machte, zeigte

sich zunehmend auch, dass das zenonische Dokument konzeptionelle Mängel

aufwies, die dazu führten, dass das Edikt schon bald die Streitigkeiten eher

anheizte als sistierte.

Diese konzeptionellen Mängel erwiesen sich für die Akteure aber erst ex

post. Im Kontext von 482 waren sie Zenon und später auch Anastasios sicherlich

nicht bewusst. Immerhin blieb das Henotikon stolze 37 Jahre lang in Geltung –

und hatte ja zumindest zu Beginn zu den erhofften Erfolgen geführt. Ein Blick

auf den Inhalt des Edikts zeigt darüber hinaus deutlich, dass Zenon in durchaus

angemessener und kluger Weise auf die Herausforderungen seiner Zeit reagiert

und sich dabei sogar deutlich bemüht hatte, allzu offensichtliche Fehler in der

Konzeption seiner kaiserlichen Stellungnahme zur kirchlichen

Bekenntnisbildung zu vermeiden.

Schauen wir also auf den Inhalt des Henotikon, wie Euagrios es uns überliefert.

Gerichtet ist das Dokument an die Bischöfe, den Klerus, die Mönche und das

Kirchenvolk in Alexandria, Ägypten, Libyen und der Pentapolis – also eben

jener Regionen, in denen seit 451 am häufigsten kaiserliches Eingreifen zu

Gunsten der Synode erforderlich gewesen war. Auf chalkedonischer Grundlage

waren die ägyptischen Kirchenprovinzen von Konstantinopel aus ohne den

Einsatz militärischer Ressourcen kaum noch zu kontrollieren, was es ja schon

für Basiliskos hatte erstrebenswert erscheinen lassen, seine Unterstützung in

Ägypten der Mehrheitspartei zu leihen. Das gleiche tat nun Zenon, versuchte

aber dabei – aus dem Scheitern des Usurpators seine Lehren ziehend –, diese

ägyptische Mehrheit mit dem theologischen Mainstream der Hauptstadt

Konstantinopel zu versöhnen.

Wie genau der Kaiser den Sturz seines Rivalen analysiert hatte, zeigt sich

in den der Adresse folgenden Darlegungen über die Bedeutung der

Bekenntnispolitik für die Stabilität seiner eigenen Herrschaft, deren Ursprung

eben der rechte Glaube sei. Aus diesem Grunde, so fährt Zenon fort, sei er

bestrebt, die kirchliche Einheit zu fördern – wozu er aus Reihen der Kirche auch

explizit gebeten worden sei. Dass sich der Kaiser dieser Aufgabe nun in Form

eines Edikts widmet, rechtfertigt er auf dreierlei Weise. Zum ersten mit Gründen

der Reichswohlfahrt: Wenn Christus die Quelle inneren und äußeren Friedens

sei, sei es notwendig, ihn einig und in rechter Weise zu bekennen. Zum zweiten

weist der Kaiser in einem seelsorgerischen Argument darauf hin, dass die

Spaltung der Kirche seit langer Zeit – gemeint ist „seit Chalkedon“ – allzu viele

Menschen ohne Teilhabe am rechten Glauben habe sterben lassen. Auf eher

ordnungspolitischer Ebene schließlich beklagt Zenon das ständige

Blutvergießen, das aus dem Streit der Parteien heraus entstanden sei. Der Kaiser

hütet sich freilich, einer einzelnen der Parteien hierfür die Schuld zu geben.

Es folgt der eigentliche Bekenntnisteil des Edikts. Zenon stellt voran, dass

weder er noch die Kirchen einen anderen Glauben vertreten würden als den, den

die 318 heiligen Väter von Nizäa definiert und die nicht minder heiligen 150

Väter von Konstantinopel bestätigt hätten. Als weitere synodale Autorität wird

das Konzil von Ephesos I genannt, welches Nestorius verdammt hatte. Das

gleiche tut nun das Henotikon und nimmt dabei ein zentrales Dokument

östlicher theologischer Tradition an: die zwölf Kapitel, die Kyrill von

Alexandria gegen eben jenen Nestorios gerichtet hatte. Diese wurden von den

Antichalkedoniern als Basis ihrer Theologie reklamiert, hatten gleichzeitig aber

auch Eingang in das Bekenntnis von Chalkedon gefunden. Der Kaiser verweist

die Parteien also auf ihre unstrittig gemeinsam geteilte theologische Basis, auf

die sie sich besinnen sollten.

Der eigentliche Grund der Trennung, das Konzil von Chalkedon, wird in

diesem Zusammenhang mit keiner Silbe erwähnt. Im Gegensatz zu den

genannten drei Konzilien wird Chalkedon im Henotikon nicht invoziert – und

Christus in deutlicher Abwendung von der chalkedonischen Terminologie als

„einer, nicht als zwei“ definiert. Der Kompromiss lag darin, dass die Synode

gleichzeitig aber auch nicht explizit verdammt, sondern in weiten Teilen einfach

übergangen wird, oder einzelne Versatzstücke, wie die Verdammung des

Eutyches und derer, die die beiden Naturteile Christi wie dieser vermischen

würden, zwar übernommen werden, dies aber ohne expliziten Bezug auf den

historischen Ort dieses Anathems.

Das Bekenntnis des Henotikon war also eine Art Auslegung von

Chalkedon, die chalkedonischen Inhalte in einer Art und Weise bewahrte, die

für die antichalkedonische Seite noch tragbar sein konnte, zugleich aber

vermied, diesen Umstand allzu deutlich hervorzuheben. Zugleich blieb die

explizite Verdammung des Konzils von 451 aus. Im etwas obskuren Schlussteil

wurde es allenfalls relativiert: „Jeden, der eine andere Meinung vertrat oder

vertritt, sei es gegenwärtig oder zu einer anderen Zeit, gleich ob in Chalkedon

oder bei einer anderen Synode, anathematisieren wir.“ Es stand dem Rezipienten

des Edikts wohl weitgehend frei zu entscheiden, ob es nun das Konzil von

Chalkedon war, das eine andere Meinung als das Henotikon vertrat oder ob

hiermit eher die in Chalkedon verdammten Häretiker – Nestorios und Eutyches

– gemeint waren.

Das Henotikon erscheint also als durchaus ausgewogenes, vorsichtiges und der

Situation angemessenes Kompromissdokument – und es stellte ja auch zunächst

eine Einheit zwischen Alexandria und Konstantinopel, Antiochia und Jerusalem

her. Umsomehr stellt sich aber die Frage, wieso das Dokument letztlich daran

scheiterte, seine Ziele auch mittel- bis langfristig zu erreichen.

Die fast schon kanonische Antwort in der Forschung hierzu scheint wenig

überzeugend – zumindest aber als alleinige Erklärung nicht ausreichend: Mit

dem Henotikon hätte Zenon von kaiserlicher Seite aus in eigentlich der Kirche

vorbehaltene Bekenntnisbildungsprozesse eingegriffen, was zu Widerständen

einer angeblich um ihre Freiheit ringenden Kirche geführt hätte, die den

kaiserlichen Übergriff letztlich scheitern ließen. Die Betrachtung des Henotikon

selbst lässt aber eine solche, in erster Linie römische Polemiken gegen das

Dokument aufnehmende, Wertung kaum zu. Das Dokument war nicht ohne

Tuchfühlung mit kirchlichen Würdenträgern entstanden, lehnte es sich doch

einerseits an das Vorbild einer sogenannten Palästinischen Union an, dürfte

doch andererseits Akakios bei der Abfassung des Textes nicht unerheblich

mitgewirkt haben. Vor allem aber dekretierte Zenon das im Henotikon als

rechtgläubig beschriebene Bekenntnis keineswegs aus eigener kaiserlicher

Machtvollkommenheit heraus, sondern band es deutlich an vorangehende

Synoden – Nizäa, Konstantinopel und Ephesos. Rein technisch schärfte der

Kaiser damit nur das ein, was ohnehin bereits von Seiten der Kirche aus

festgestellt worden war; ein Umstand, den Zenon auch deutlich betont, wenn das

Henotikon versichert, keine neue Glaubensdefinition zu liefern.

Dass Rom im kaiserlichen Dokument trotzdem einen Übergriff auf die

Glaubensbildung zu sehen meinte, hatte seine Ursache nicht in dem bloßen

Umstand, dass der Kaiser einen bestimmten Glauben in Ediktform

rechtsverbindlich machte. Justin tat 519 mit Unterstützung und sogar auf

Drängen Roms nichts anderes. Das Problem war nicht, dass Zenon den Glauben

dekretierte, sondern was er dekretierte: Zwar band das Henotikon seine

Glaubensdefinition an maßgebliche Konzilien, aus der Sicht Roms aber eben

nicht an alle relevanten Konzilien. Die Invokation der Synode von Chalkedon

blieb ja bewusst aus. Dass das Konzil von Chalkedon vom Henotikon damit

zumindest relativiert, der tomus Leonis sogar gänzlich verschwiegen worden

war, konnten die Päpste kaum hinnehmen. Allein hierin erwies sich ein

Übergriff Zenons auf die Bekenntnisbildung. Dass der rechte Glaube mitunter

der Einschärfung durch kaiserliche Machtoptionen bedurfte, wurde faktisch von

allen kirchlichen Akteuren – auch den römischen – sehr wohl anerkannt.

Eine Analyse des Scheiterns des Henotikon muss also andere Punkte in den

Blick nehmen. Zu denken ist an folgende Aspekte – die freilich nicht gänzlich

sauber voneinander zu trennen sind und sich in einzelnen Faktoren

überschneiden mögen:

1) das Vertrauen auf falsche Vorbilder in der Anlehnung des Henotikon an die

Palästinische Union;

2) die Unmöglichkeit des bloßen Verschweigens theologischer Gegensätze;

3) die Konzentration auf den Osten und damit die fehlende Einbeziehung der

trotz aller politischer Desintegration des Reiches faktisch weiterhin wirksamen

Idee einer die gesamte Ökumene umspannenden Kirche;

4) das Aufdecken theologischer Ausdifferenzierungsprozesse seit Chalkedon

allein durch die Benennung konkreter Glaubensinhalte;

5) die weitere dogmatische Ausdifferenzierung der kirchlichen Landschaft durch

eine zusätzliche theologische Referenzgröße;

6) die Herleitung des Ideals einer einigen Kirche aus unterschiedlichen

Leitdifferenzen von Seiten des Kaisertums und der Kirche aus und die damit

einhergehende weitere Aufspaltung der theologischen Positionen.

Zur Erläuterung dieser sechs Punkte:

1) die falschen Vorbilder

Wie bereits erwähnt, hatte sich das Henotikon eng an ein Einheitsdokument aus

dem Jurisdiktionsbereich Jerusalems angelehnt, an die sogenannte Palästinische

Union, mit der Bischof Martyrios von Jerusalem 478 die dogmatischen

Streitigkeiten in seinen Kirchenprovinzen wirksam befriedet hatte. Genau wie

das Henotikon anerkannte diese Union nur Nizäa, Konstantinopel und Ephesos,

verzichtete aber gleichsam auf die explizite Verdammung Chalkedons.

Es sollte sich aber zeigen, dass dieses regional tragfähige Vorbild kaum auf

die Verhältnisse des Reiches übertragbar war – zu unterschiedlich waren die

kirchlichen Gegebenheiten Palästinas im Vergleich zum komplexen

segmentären Geflecht der Reichskirche. In Palästina waren die Konflikte um

Chalkedon nie mit der gleichen Härte ausgefochten worden wie insbesondere in

Ägypten, das sich in der Zeit nach 482 denn auch immer weniger

kompromissbereit zeigte und damit das Henotikon schon relativ früh

auszuhöhlen begann. Bestimmte Spezifika Palästinas – wie eine mangelnde

lokale Verankerung des eher „international“ geprägten Mönchtums oder das

Pilgerwesen zu den Heiligen Stätten – konnten die andernorts wesentlich

heftigeren dogmatischen Konflikte hier also von vornherein bis zu einem

gewissen Grade abfedern. In den Regionen, an die sich Zenon mit seinem

Henotikon vorrangig richtete, waren die Strukturbedingungen von vornherein

andere.

2) das Verschweigen theologischer Gegensätze

Zenon reihte sich mit dem Henotikon und dessen mehr oder weniger neutralen

Stellung zu Chalkedon, die durch das Verschweigen der Synode erreicht wurde,

in eine längere Reihe theologischer Kompromissdokumente ein, die unter

Bezugnahme auf einen Status quo ante versuchten, bereits geführte theologische

Diskussionen auszublenden. Ein prominentes Beispiel ist der erfolglose Versuch

Constantius’ II. im trinitarischen Streit des vierten Jahrhunderts den Konflikt um

das homoousios dadurch beizulegen, den Begriff der ousia aus der

Bekenntnistradition zu tilgen. Augenscheinlich ließen sich theologische Fragen

– einmal gestellt – aber nicht mehr aus der Debatte ausschließen, da sie allein

durch ihr Aufkommen auf wichtige Probleme verwiesen, die dementsprechend

auch zu klären waren. So führte auch das Henotikon nicht zu einer tiefer

gehenden Versöhnung der verschiedenen Positionen, sondern benannte lediglich

ihren kleinsten gemeinsamen Nenner.

Indem das Henotikon aber durch das Ausblenden Chalkedons auf den

Stand von vor 451 zurückging, konnte die Synode nicht ungeschehen gemacht

werden. Die Akteure waren sich der Streitfragen um Chalkedon sehr wohl noch

bewusst. Und auch das Henotikon selbst verweist darauf, dass die 451

verhandelten Fragen durchaus von Relevanz waren, wollte es ja trotz des

Verschweigens der Synode nicht auf ihr zentrales Ergebnis, die Verdammung

des Eutyches, verzichten. Dies konnte zwar vielleicht den Gruppen genügen,

die ihren Hauptfeind in Nestorios erkannten, der bereits auf der vom Henotikon

sehr wohl invozierten Synode von Ephesos verurteilt worden war. Für die

Akteure aber, in deren Fokus die Abwehr des Eutyches stand, war die nackte

Verurteilung dieses kaum ausreichend, weil sie eben nicht mit der theologischen

Kontextualisierung des Anathems aus der chalkedonischen ekthesis verbunden

war. Rom beispielsweise vermisste im Henotikon den gegen Eutyches

gerichteten tomus Leonis.

3) die Konzentration auf den Osten des Reiches

Es ist unklar, ob eine mögliche römische Reaktion auf das Henotikon eine Rolle

in den Erwägungen Zenons spielte. Allerdings war wohl kaum damit zu

rechnen, dass Rom ausgerechnet Mongos, den es nur wenige Jahre zuvor mit

dem Anathem belegt hatte, als Bischof von Alexandria anerkennen würde. Und

dass eine Verständigung zwischen Konstantinopel und Alexandria unter

Einbeziehung römischer Positionen schwierig werden würde, hatten die letzten

Jahre gezeigt, in denen die Päpste mit Argusaugen über die Anerkennung

Chalkedons gewacht hatten. Dementsprechend sah Rom seine grundlegenden

Positionen allein durch das Verschweigen Chalkedons im Henotikon verraten

und reagierte ausgesprochen scharf auf den östlichen Kompromiss, nämlich mit

dem Bruch der Gemeinschaft.

Für das vorrangige Ziel Zenons dürfte dies – wenn nicht kalkuliert, so doch

– zumindest zweitrangig gewesen sei: In der Situation von 482 richtete sich das

Henotikon in erster Linie ohnehin an keine andere Kirche als die von Alexandria

– höchstens perspektivisch noch an die anderen östlichen Patriarchate. Und mit

der Zustimmung dieser Kirchen hatte Zenon sein primäres Ziel erreicht: die

Herstellung der Kircheneinheit in den Teilen des Reichs, über die er auch die

Kontrolle hatte. Rom und Italien dagegen waren spätestens 476 aus dem

faktischen politischen Reichsverband ausgeschieden. Zenons Konzentration galt

daher sinnvollerweise – vielleicht aber doch zu sehr – den östlichen

Verhältnissen. Denn dass der römische Bischof trotz der politischen

Desintegration des Reiches durchaus noch einen gewissen Einfluss auf die

Entwicklung der kirchlichen Landschaft im Osten hatte, destabilisierte den

zenonischen Kompromiss von vornherein: So lange der weiterhin mit großer

Autorität ausgestattete Bischofssitz von Rom nicht in die östliche Einigung

eingebunden war, kam der Osten auch nicht zur Ruhe, da sich oppositionelle

kirchliche Gruppen – zumindest die chalkedonischen – im Konflikt mit der

kaiserlichen Kirchenpolitik immer an das Papsttum wenden und auf das

Papsttum berufen konnten; und genau das auch taten. Spätestens gegen Ende des

Akakianischen Schismas wurden solche Prozesse von römischer Seite aus sogar

gezielt befördert.

4) um zu den wichtigeren Punkten zu kommen: das Aufdecken theologischer

Ausdifferenzierungsprozesse

Ein Hauptgrund für die Dynamik der synodalen Entwicklung in der Spätantike

war, dass einzelne kirchliche Akteure mit der Aufstellung und Rezeption von

Bekenntnissen die konkrete Positionierung anderer Akteure erkannten und diese

in Beziehung zu eigenen Ansichten setzten – was in einer sich zunehmend

ausdifferenzierenden theologischen Entwicklung selten dazu beitrug, sich an

Gemeinsamkeiten mit der Gegenseite zu erfreuen. Die Aufstellung eines

Bekenntnisses bedeutete immer, Farbe zu bekennen – und generierte damit

oftmals neue dogmatische Konflikte.

In ähnlicher Weise trug auch das Henotikon dazu bei, dass sich einzelne

Akteure der Differenzen in ihren theologischen Anschauungen überhaupt erst

bewusst wurden. Bis 482 hatten Rom und Konstantinopel die Illusion aufrecht

erhalten, gemeinsam auf der Grundlage von Chalkedon zu stehen, indem sie sich

stets gegenseitig des Teilens gemeinsamer theologischer Inhalte versicherten.

Dabei beschränkte sich die Darlegung eigener Positionen für gewöhnlich aber

auf die bloße Invokation der Synode von 451, nicht jedoch auf die Darlegung

dessen, was diese Referenzgröße „Chalkedon“ für die einzelnen Akteure

inhaltlich eigentlich bedeutete. So differenzierten sich – bemäntelt eben durch

die bloße gemeinsame Invokation der Synode – die tatsächlichen kirchlichen

Positionen durch Faktoren wie die geographische Ungleichzeitigkeit

theologischer Tradition, verwendeter Sprache und politischer Entwicklung

immer weiter aus. Dies wiederum wurde von den Akteuren kaum erkannt, da die

Reduktion theologischer Komplexität im gegenseitigen Kontakt mögliche

Differenzen seltener zum Vorschein kommen ließ als sie faktisch auftauchten.

Um ein Beispiel für dieses Überdecken theologischer Ausdifferenzierungs-

prozesse zu geben: In Ägypten zeichneten sich nach Chalkedon sowohl der

chalkedonische Patriarch Timotheos Salophakiolos als auch der

Antichalkedonier Mongos durch relativ moderate Positionen aus: Während der

erste bereit war, seinen in Chalkedon verdammten Vorgänger Dioskoros in die

Diptychen aufzunehmen, verzichtete letzterer 482 auf die explizite

Verdammung der Synode von Chalkedon. Im Osten konnten also moderate

Anhänger Chalkedons durchaus hoffen, zu einem Ausgleich mit moderaten

Gegnern der Synode zu gelangen – das Henotikon baute ja genau darauf auf. In

Rom hingegen pflegte man ein sehr viel polarisierteres Bild von den

Konfliktlinien: Chalkedon, und damit der römische tomus Leonis, war entweder

anzunehmen oder abzulehnen – Grauzonen gab es für Rom nicht. Jede

Relativierung der Beschlüsse von 451 musste den Päpsten als Abrücken vom

rechten Glauben erscheinen.

Aus diesem Grund überraschte und überforderte der östliche Ausgleich

zwischen Chalkedoniern und Antichalkedoniern Rom. Solange sich der Bischof

von Konstantinopel im Kontakt mit Rom auf Chalkedon berufen hatte, hatten

die Päpste keine Notwendigkeit gesehen, sich mit der Frage

auseinanderzusetzen, ob die östlichen Chalkedonier die Bedeutung und die

Inhalte der Synode vielleicht nach anderen, weniger polaren Kriterien

bewerteten als sie selbst – wie es faktisch unbemerkt ja der Fall war. 482 wurde

sich Rom dann des theologischen Ausdifferenzierungsprozesses seit 451 in aller

Plötzlichkeit bewusst – weshalb die Päpste in den Vorgängen um das Henotikon

einen Bruch der kirchlichen Ordnung zu erkennen meinten – und aus ihrer Sicht

wohl auch erkennen mussten.

Wie ernst man diese Aufdeckung des Ausdifferenzierungsprozesses nahm,

zeigt sich daran, dass Akakios nun für die römischen Akteure als Gegner der

Synode von 451 galt – und seine Nachfolger, die seiner Verdammung durch

Rom nicht zustimmten, auch, unabhängig davon, ob sie sich zu Chalkedon

bekannten oder nicht. Im Osten andererseits konnte man diese Position kaum

nachvollziehen und wies immer wieder darauf hin, dass man der Synode doch

niemals eine Absage erteilt hätte.

5) die weitere dogmatische Ausdifferenzierung

Führte das Henotikon in Bezug auf den Westen also zu einem abrupten

Zerwürfnis zwischen Rom und Konstantinopel, so stellten sich auch im Osten

bald desintegrative Effekte ein: Bekenntnisäußerungen führten nicht nur dazu,

gegebenenfalls vorhandene Differenzen zwischen einzelnen Akteuren

aufzudecken. Sie zwangen die einzelnen kirchlichen Akteure auch zur

Stellungnahmen hinsichtlich der neuen Bekenntnisäußerungen und boten damit

neues Konfliktpotential. Das Henotikon jedenfalls verkomplizierte die

theologischen Probleme der Zeit noch, da es einen neuen möglichen Stein des

Anstoßes darstellte.

Die theologischen Differenzen waren zu Beginn der Herrschaft des Zenon

sogar noch relativ gering: Bis 482 waren die Kirchen des Reiches noch

einigermaßen übersichtlich in Chalkedonier und Antichalkedonier geteilt –

wobei sich die Grenzen zwischen beiden Gruppen keineswegs als

unüberwindbar darstellten. Nur deshalb konnte Zenon ja überhaupt eine

weitgehende Kircheneinheit herstellen. Mit der Promulgation des Henotikon

hatten die Akteure nun aber plötzlich nicht mehr nur ihre Position zur Synode

von 451 zu bestimmen, sondern auch zum Henotikon, was die dogmatischen

Fronten zusätzlich brach. Zu den ohnehin schon bestehenden Spannungen wurde

nun auch die Interpretation des Henotikon in Bezug auf Chalkedon zur

Streitfrage. So konnten in der Folge beispielsweise einzelne antiochenische

Bischöfe die Synode von Chalkedon entweder verschweigen, oder in Teilen

anerkennen oder sogar verdammen – dabei aber weiterhin alle das Henotikon

billigen.

Das zenonische Edikt konnte schon bald keine Einheit mehr stiften, weil

zunehmend umstritten wurde, was es bezüglich des eigentlich umstrittenen

Punktes überhaupt aussagen wollte und sollte. Und auch innerhalb der Gruppen

der Chalkedonier und Antichalkedonier selbst kam es durch das Henotikon zu

Spannungen, da diese vorher relativ klar umrissenen Gruppen nun vor der Frage

standen, ob das Konzil von Chalkedon unter Vermittlung des Henotikon

anzunehmen, beziehungsweise abzulehnen sei oder nicht. An beiden Enden des

dogmatischen Spektrums bildeten sich eher rigoristische und eher moderate

Untergruppen, wodurch es gegen Ende des Akakianischen Schismas nicht mehr

bloß zwei, sondern mindestens vier grundlegende dogmatische Positionen gab.

Dass Justin nach dem Tod Kaisers Anastasios durch die Kassation des

Henotikon zur einfachen bipolaren Spaltung der vorzenonischen Zeit

zurückgehen sollte, mag auch eine Reaktion auf diesen Prozess gewesen sein.

6) die unterschiedlichen Leitdifferenzen von Kaisertum und Kirche

Das Hauptmissverständnis, von dem Zenon sich beim Henotikon hatte leiten

lassen, war, dass er nicht erkannte, dass – anders als für ihn als Kaiser – die

Einheit der Kirche für die Kirche selbst kein Wert an sich war.

Systemtheoretisch gesprochen lassen sich für Kaisertum und Kirche

unterschiedliche Leitdifferenzen in der Beobachtung kirchlicher Spaltungen

greifen, die ein letzter Faktor dafür waren, dass das Henotikon auf lange Sicht

keinen Erfolg hatte. Während die Kirche im theologischen Konflikt in erster

Linie zwischen orthodox und häretisch unterschied, primär an der Reinerhaltung

des Dogmas interessiert war, neigten die Kaiser dazu, zwischen Einheit und

Spaltung zu differenzieren.

Zwar strebten dabei beide Seiten nach einer umfassenden Einheit der

Kirche unter Berücksichtigung einer wie auch immer definierten Orthodoxie,

setzten dabei aber deutlich unterschiedliche Akzente. Während für die Kirche

die Orthodoxie eine zwar subjektive, nichtsdestotrotz aber universale Kategorie

war, an der sich die Einheit zu orientieren hatte, nahmen die Kaiser der

Orthodoxie gegenüber eine relative Position ein und neigten dazu, die Einheit

der Orthodoxie – über die sie die kirchlichen Akteure ohnehin nicht

widerspruchsfrei aufklären konnten – überzuordnen. Die Einheit in kaiserlicher

Perspektive stellte damit niedrigere inhaltliche Anforderungen an den

vertretenen Glauben als die leitende Kategorie der Kirche, die Orthodoxie.

Nur zwei Meinungsäußeren, die verdeutlichen, wie dieses Missverständnis

dazu beitrug, den Kompromiss des Henotikon auszuhöhlen: Als sich schon bald

nach 482 ägyptische, antichalkedonische Mönche bei Zenon darüber

beschwerten, dass Mongos – ganz auf Grundlage des Henotikon –

chalkedonisch orientierte Christen in die Gemeinschaft aufnahm, empörte sich

der Kaiser gegenüber Mongos, dass er ihn zum Bischof gemacht habe, um das

Volk zusammenzuführen, nicht, um es wiederum in Gruppierungen zerfallen zu

lassen. In der Konzentration auf die Orthodoxie war es für die Kirche also weder

in letzter Instanz möglich noch zentral wichtig, das kaiserliche, vom

unbedingten Willen auf Einheit getragene Henotikon anzuerkennen. Unter

Kaiser Anastasios machte dessen maßgeblicher theologischer Berater, Severos

von Antiochia, diesen Umstand mehr als deutlich, als er in aller Deutlichkeit

aussprach, was er vom ständigen kaiserlichen Ausgleichsdrängen wirklich hielt:

Was die Kirchen bis in die Gegenwart in Verwirrung gestürzt habe, sei doch

gerade das, dass die Herrscher zwischen beiden Seiten lavieren würden und es

sich zum Ziel gemacht hätten, beide Seiten in ihren theologischen Ansprüchen

zu befriedigen.

Wenn es also hart auf hart kam, waren die kirchlichen Akteure, selbst

diejenigen, die eng mit dem Kaiser verbunden waren, kaum bereit, die

Universalität dogmatischer Ansprüche einer theologischen Relativität des

zenonischen Einheitsdokumentes unterzuordnen, ging es ihnen doch um ein

höheres Ziel als die bloße ordnungspolitische Ruhe in Kirche und Reich: um

eine christliche Heilsgewissheit, die nun einmal den rechten Glauben erforderte,

der keine Kompromisse kannte. Ein stabiler Ausgleichskurs hätte verlangt, dass

die kirchlichen Akteure darauf verzichteten, eigene Positionen unbedingt auch

gegen Widerstände anderer Akteure durchzusetzen. Dazu waren die einzelnen

Gruppen aber in zunehmender Weise nicht mehr bereit – und entwerteten damit

den Kompromisscharakter des Henotikon.

Es waren also unterschiedlichste Faktoren, die Zenons Versuch der

Überbrückung dogmatischer Gegensätze durch sein Edikt von 482 langfristig

scheitern ließen und die in Teilen bereits im Dokument selbst angelegt waren.

Trotzdem sollte man das Henotikon daher nicht per se negativ bewerten: Viele

der zum Scheitern führenden Faktoren waren 482 wohl noch kaum absehbar

gewesen. Darüber hinaus hatte Zenon kaum eine andere Wahl als sich in den

theologischen Konflikten zu äußern. Ob die Kaiser wollten oder nicht: Sie

mussten Partei ergreifen, forderten die verschiedenen kirchlichen Gruppen sie

doch immer wieder genau dazu auf. Vor allem wählte Zenon für diese

dogmatische Äußerung mit dem Henotikon einen durchaus kreativen und auch

bedachten Weg.

Zuletzt sollte man bedenken, dass auch Justin, der das Henotikon

schließlich kassierte und gegen dessen Ausgleichskurs wieder eine konkrete

Partei unterstützte, der kirchlichen Einheit damit keinesfalls näher kam als

Zenon oder Anastasios. Justins chalkedonischer Umschwung stellte zwar die

Gemeinschaft der Kirchen von Rom und Konstantinopel her, ließ aber das

mittlerweile allzu deutlich antichalkedonische Alexandria außen vor. Der Kaiser

scheint nicht einmal versucht zu haben, die Anerkennung Chalkedons dort

durchzusetzen. Auch die syrische Kirche sollte sich mittelfristig von der nun

chalkedonischen Reichskirche abspalten. Abermals zeigte sich also das, was

sich schon vor Zenon gezeigt hatte und diesen dazu gebracht hatte, einen

dogmatischen Mittelweg einzuschlagen: Eine klare Parteinahme der Kaiser für

eine Seite im theologischen Disput war nicht mehr dazu in der Lage, dieser

Partei auch faktisch die Durchsetzung zu garantieren. Dass also die

chalkedonischen Kaiser an der kirchlichen Einheit ebenso scheiterten wie der

vermittelnde Zenon, lässt bezüglich des Henotikon letztlich nur eine faire

Wertung zu: Einen Versuch war es wohl wert.