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Das Henotikon Zenons (482) – zum Scheitern eines kaiserlichen Einheitsbekenntnisses
Im Jahre 482 vermittelte Kaiser Zenon die kirchliche Gemeinschaft zwischen
den Bischöfen Akakios von Konstantinopel und Petros Mongos von Alexandria.
Hierzu promulgierte er ein Edikt, welches unter Verschweigen der zwischen den
beiden Kirchenmännern umstrittenen Synode von Chalkedon 451 die
dogmatischen Hauptströmungen seiner Zeit dazu aufforderte, sich ihrer
gemeinsamen theologischen Grundlagen zu besinnen. Zwar war es ein
beachtlicher Erfolg, mit diesem Edikt – dem sogenannten Henotikon – Akakios
und Mongos zusammengeführt zu haben; dieser Effekt wurde aber schon bald
durch die desintegrativen Folgen des Henotikon mehr als ausgeglichen: Zum
einen erwies sich das Edikt langfristig keineswegs als geeignetes Instrument, um
eine grundlegende Kircheneinheit in dem dogmatisch zersplitterten östlichen
Reichsteil zu garantieren; zum anderen kam es ob des Dokuments zu einer
Entzweiung der Kirchen von Konstantinopel und Rom, die 484 im sogenannten
Akakianischen Schisma mündete – der ersten grundlegenden Kirchenspaltung
zwischen westlicher und östlicher Kirche, die bis 519, bis zur Zurücknahme des
Edikts durch Kaiser Justin, andauern sollte.
Mit dem Henotikon Zenons greifen wir also eines der folgenreichsten
kirchenpolitischen Dokumente der Spätantike, welches 37 Jahre lang, nämlich
bis 519, die Grundlage kaiserlicher Bekenntnispolitik darstellte – dabei aber
nach und nach immer deutlicher an seine Grenzen stieß. Die Zurücknahme des
Henotikon durch Justin besiegelte daher lediglich das endgültige Scheitern des
Edikts als Instrument eines Versuches kaiserlich getragener
Einheitsbekenntnisherstellung. Die vom Henotikon angestoßenen
Desintegrationsprozesse, die letztlich zu diesem finalen Scheitern führen sollten,
waren hingegen schon lange vor 519 zu beobachten gewesen und strukturell
bereits im Edikt selbst angelegt. Was waren aber die Gründe dafür, dass sich das
Henotikon nicht durchsetzen konnte? Dieser Frage will sich mein Vortrag im
Folgenden widmen. Hierzu ist es zunächst notwendig, einige Worte zur
historischen Kontextualisierung des Dokuments zu verlieren, um zu
verdeutlichen, wieso Zenon überhaupt zu dem Mittel griff, kaiserlicherseits ein
kirchliches Bekenntnis zu dekretieren.
Das Konzil von Chalkedon hatte versucht, die auf mehreren Ebenen bedrohte
Einheit der christlichen Kirchen des Römischen Reiches zu wahren und war
damit gescheitert. Wie so viele Bischofsversammlungen in der Spätantike
führten auch 451 die Verhandlungen des Reichsepiskopats nicht zu einem
allgemeinen Ausgleich, sondern allenfalls zur Sistierung der dringlichsten
kirchlichen Streitfragen und durch die Formulierung dogmatischer
Bekenntnistexte und hierarchisch-kanonischer Regelungen zugleich zu neuen
Konflikten zwischen den großen Kirchen des Reiches.
Neben Unstimmigkeiten hinsichtlich der hierarchischen Regelungen des
Konzils und neben der ohnehin niemals letztgültig geklärten Frage, welche
Rolle dem Kaiser bei der Durchsetzung kirchlich-synodaler Entscheidungen
zukommen sollte, war der vorrangige Konflikt, den das Konzil von Chalkedon
nach sich zog, ein dogmatischer: Die in Chalkedon gefundene und von einem
tomus Leonis genannten Lehrbrief Papst Leos geprägte Formel der „zwei
Naturen in Christus“ stieß insbesondere im Osten des Reiches auf starke
Vorbehalte, wo man in ihr eine Neuauflage des längst verdammten
Nestorianismus erkennen wollte. Rom hingegen sah diese kritischen,
antichalkedonischen Stimmen im Osten als Fortexistenz der miaphysitischen
Lehren des Eutyches, gegen den sich die Zwei-Naturen-Formel von Chalkedon
ja gerichtet hatte und der in Chalkedon verurteilt worden war. Dass beide Seiten
in der Folge in ihren synodalen Stellungnahmen immer wieder sowohl Nestorios
als auch Eutyches verdammten, war in der zunehmend vorurteilsgeprägten
theologischen Debatte der Zeit für solche wechselseitigen Häresie-
Zuschreibungen unerheblich.
Einigermaßen konsequent wurden die Bestimmungen der Synode dann
auch, wenn auch aus unterschiedlichen Interessen gespeist, nur in Rom und in
Konstantinopel vertreten. In anderen Regionen des Reiches traf Chalkedon
dagegen auf starke Vorbehalte. Insbesondere die Kirche Alexandrias erwies sich
als Hort des Widerstandes gegen die Bestimmungen von 451. Aber auch in
Syrien und Palästina riefen die Synodalentscheidungen, in engem Anschluss an
die Entwicklung in Ägypten, ein zumindest geteiltes Echo hervor. Gerade der
kirchliche Osten war durch die Bischofsversammlung also in Unruhe versetzt
worden.
Bei alldem standen und fielen Annahme oder Ablehnung der Synode
maßgeblich mit der Position der Kaiser zu ihr. In einer Phase fortwährender
kirchlicher Segmentarität, in der es den einzelnen Großkirchen des Reiches
außerhalb ihrer jeweiligen Jurisdiktionsbereiche an konkreten
Durchsetzungsmitteln ermangelte, waren es in letzter Instanz die kaiserlichen
Machtoptionen, die entweder den chalkedonischen Bestimmungen oder ihren
Gegnern zum Durchbruch verhelfen konnten. Während der Kaiser des Konzils,
Markian, noch entschlossen für die Bestimmungen von 451 eintrat, zeigte sich
sein Nachfolger Leon bereits deutlich zögerlicher, welcher Seite er seine
Sanktionspotentiale leihen sollte. Stellte er sich aber letztlich wiederum doch auf
die Seite Chalkedons, so kam es 475/6 zu einem ersten kaiserlichen Abrücken
vom Konzil.
Kaum hatte Zenon 475 die Nachfolge Leons angetreten, wurde er durch die
Usurpation des Basiliskos aus Konstantinopel vertrieben. Dieser suchte nun zur
Sicherung seiner Stellung die Unterstützung der im Reich gut vernetzten
antichalkedonischen Partei, rief deren Führer, den alexandrinischen
Gegenbischof Timotheos Ailuros, aus dem Exil zurück und kassierte mittels
einer kaiserlichen Verfügung die Synodalbestimmungen von Chalkedon. Damit
destabilisierte er aber zugleich seine Stellung in Konstantinopel, da er mit diesen
allzu deutlich antichalkedonischen Maßnahmen seinen Residenzbischof Akakios
gegen sich aufbrachte, der nun einen Aufstand entfachte, der maßgeblich zum
Sturz des Basiliskos und zur Rückkehr Zenons an die Macht beitrug.
Zenon nahm nun zwar die religionspolitischen Maßnahmen des Usurpators
zurück, zog aber aus den Entwicklungen der letzten Jahre und Monate seine
ganz eigenen Lehren: Deutlich war, dass die Frage nach der Rezeption von
Chalkedon eine gewichtige Rolle für die Stabilität seiner Herrschaft spielte –
Basiliskos hatte immerhin eine weit verbreitete Unzufriedenheit bezüglich der
bisherigen kaiserlichen Bekenntnispolitik dazu genutzt, die Position Zenons zu
destabilisieren. Zugleich hatten die Konflikte seit 451 gezeigt, dass die Kirche
aus sich selbst heraus kaum dazu in der Lage sein würde, ihre tiefen Gräben zu
überbrücken. Allzu deutliche kaiserliche Positionierungen in der Streitfrage
hatten eine Lösung des Konflikts jedoch ebenso wenig herbeiführen können.
Markian und Leon hatten mit großem Aufwand chalkedonische
Hierarchien in Ägypten und anderen Regionen gegen die Widerstände
antichalkedonischer Mehrheiten dort gestützt – ohne eine langfristig akzeptierte
Annahme Chalkedons in den umkämpften Regionen erreichen zu können. Im
Gegenteil: Gerade die chalkedonischen Patriarchen von Alexandria hingen
deutlich am Tropf des Kaisertums. Basiliskos dagegen, der in den eher
antichalkedonischen Regionen versuchte, in sich stabile Hierarchien zu fördern,
geriet mit seiner damit einhergehenden klaren Positionierung auf Seiten der
Chalkedon-Gegner in Konflikt mit dem chalkedonischen Bischof von
Konstantinopel. Eine allzu einseitige kaiserliche Parteinahme in den
dogmatischen Streitigkeiten konnte diese also nicht befrieden, und war entweder
mit erheblichen militärischen Anstrengungen und damit Destabilisierungen
einzelner Provinzen oder aber mit einem drohenden Verlust der Unterstützung
durch eine maßgebliche Akzeptanzgruppe innerhalb der Hauptstadt verknüpft.
Zenon beschritt daher einen dritten Weg: Statt sich zwischen Alexandria
und Konstantinopel zu entscheiden, versuchte er, beide Seiten einander
anzunähern. Als sich der chalkedonische Patriarch von Alexandria 481/2 des
Hochverrats verdächtig machte, nutzte Zenon daher diese Gelegenheit, ihm die
Unterstützung zu entziehen und stattdessen den Antichalkedonier Mongos als
Patriarch von Alexandria anzuerkennen. Dies freilich unter der Bedingung, dass
er ein Einheitsdokument billigte, das ihn in die Gemeinschaft mit der Kirche der
Hauptstadt führte: das Henotikon. Diesem Ausgleich, der sich seiner Form nach
zunächst nur an die Kirchen von Konstantinopel und Alexandria richtete,
schlossen sich in der Folge auch die Patriarchen von Antiochia und Jerusalem
an. Damit war es Zenon gelungen, zumindest kurzfristig (und letztmalig) eine
allgemeine kirchliche Einheit im von den Kämpfen um Chalkedon zerrütteten
Osten des Römischen Reiches herzustellen.
Dass die Bischöfe von Rom sich dem Kompromiss verweigerten, da sie in
ihm eine Relativierung eigener dogmatischer Positionen und damit eigener
kirchlicher Führungsansprüche zu erkennen meinten, war angesichts des
beachtlichen Erfolgs im Osten des Reiches kurzfristig zu vernachlässigen. Im
Laufe des Akakianischen Schismas erwies sich die Ablehnung Roms aber
zunehmend als Problem für die Bindungswirkung des Henotikon auch im Osten.
Spätestens unter Kaiser Anastasios, der das Henotikon noch konsequenter als
sein Vorgänger Zenon zur Grundlage seiner Bekenntnispolitik machte, zeigte
sich zunehmend auch, dass das zenonische Dokument konzeptionelle Mängel
aufwies, die dazu führten, dass das Edikt schon bald die Streitigkeiten eher
anheizte als sistierte.
Diese konzeptionellen Mängel erwiesen sich für die Akteure aber erst ex
post. Im Kontext von 482 waren sie Zenon und später auch Anastasios sicherlich
nicht bewusst. Immerhin blieb das Henotikon stolze 37 Jahre lang in Geltung –
und hatte ja zumindest zu Beginn zu den erhofften Erfolgen geführt. Ein Blick
auf den Inhalt des Edikts zeigt darüber hinaus deutlich, dass Zenon in durchaus
angemessener und kluger Weise auf die Herausforderungen seiner Zeit reagiert
und sich dabei sogar deutlich bemüht hatte, allzu offensichtliche Fehler in der
Konzeption seiner kaiserlichen Stellungnahme zur kirchlichen
Bekenntnisbildung zu vermeiden.
Schauen wir also auf den Inhalt des Henotikon, wie Euagrios es uns überliefert.
Gerichtet ist das Dokument an die Bischöfe, den Klerus, die Mönche und das
Kirchenvolk in Alexandria, Ägypten, Libyen und der Pentapolis – also eben
jener Regionen, in denen seit 451 am häufigsten kaiserliches Eingreifen zu
Gunsten der Synode erforderlich gewesen war. Auf chalkedonischer Grundlage
waren die ägyptischen Kirchenprovinzen von Konstantinopel aus ohne den
Einsatz militärischer Ressourcen kaum noch zu kontrollieren, was es ja schon
für Basiliskos hatte erstrebenswert erscheinen lassen, seine Unterstützung in
Ägypten der Mehrheitspartei zu leihen. Das gleiche tat nun Zenon, versuchte
aber dabei – aus dem Scheitern des Usurpators seine Lehren ziehend –, diese
ägyptische Mehrheit mit dem theologischen Mainstream der Hauptstadt
Konstantinopel zu versöhnen.
Wie genau der Kaiser den Sturz seines Rivalen analysiert hatte, zeigt sich
in den der Adresse folgenden Darlegungen über die Bedeutung der
Bekenntnispolitik für die Stabilität seiner eigenen Herrschaft, deren Ursprung
eben der rechte Glaube sei. Aus diesem Grunde, so fährt Zenon fort, sei er
bestrebt, die kirchliche Einheit zu fördern – wozu er aus Reihen der Kirche auch
explizit gebeten worden sei. Dass sich der Kaiser dieser Aufgabe nun in Form
eines Edikts widmet, rechtfertigt er auf dreierlei Weise. Zum ersten mit Gründen
der Reichswohlfahrt: Wenn Christus die Quelle inneren und äußeren Friedens
sei, sei es notwendig, ihn einig und in rechter Weise zu bekennen. Zum zweiten
weist der Kaiser in einem seelsorgerischen Argument darauf hin, dass die
Spaltung der Kirche seit langer Zeit – gemeint ist „seit Chalkedon“ – allzu viele
Menschen ohne Teilhabe am rechten Glauben habe sterben lassen. Auf eher
ordnungspolitischer Ebene schließlich beklagt Zenon das ständige
Blutvergießen, das aus dem Streit der Parteien heraus entstanden sei. Der Kaiser
hütet sich freilich, einer einzelnen der Parteien hierfür die Schuld zu geben.
Es folgt der eigentliche Bekenntnisteil des Edikts. Zenon stellt voran, dass
weder er noch die Kirchen einen anderen Glauben vertreten würden als den, den
die 318 heiligen Väter von Nizäa definiert und die nicht minder heiligen 150
Väter von Konstantinopel bestätigt hätten. Als weitere synodale Autorität wird
das Konzil von Ephesos I genannt, welches Nestorius verdammt hatte. Das
gleiche tut nun das Henotikon und nimmt dabei ein zentrales Dokument
östlicher theologischer Tradition an: die zwölf Kapitel, die Kyrill von
Alexandria gegen eben jenen Nestorios gerichtet hatte. Diese wurden von den
Antichalkedoniern als Basis ihrer Theologie reklamiert, hatten gleichzeitig aber
auch Eingang in das Bekenntnis von Chalkedon gefunden. Der Kaiser verweist
die Parteien also auf ihre unstrittig gemeinsam geteilte theologische Basis, auf
die sie sich besinnen sollten.
Der eigentliche Grund der Trennung, das Konzil von Chalkedon, wird in
diesem Zusammenhang mit keiner Silbe erwähnt. Im Gegensatz zu den
genannten drei Konzilien wird Chalkedon im Henotikon nicht invoziert – und
Christus in deutlicher Abwendung von der chalkedonischen Terminologie als
„einer, nicht als zwei“ definiert. Der Kompromiss lag darin, dass die Synode
gleichzeitig aber auch nicht explizit verdammt, sondern in weiten Teilen einfach
übergangen wird, oder einzelne Versatzstücke, wie die Verdammung des
Eutyches und derer, die die beiden Naturteile Christi wie dieser vermischen
würden, zwar übernommen werden, dies aber ohne expliziten Bezug auf den
historischen Ort dieses Anathems.
Das Bekenntnis des Henotikon war also eine Art Auslegung von
Chalkedon, die chalkedonischen Inhalte in einer Art und Weise bewahrte, die
für die antichalkedonische Seite noch tragbar sein konnte, zugleich aber
vermied, diesen Umstand allzu deutlich hervorzuheben. Zugleich blieb die
explizite Verdammung des Konzils von 451 aus. Im etwas obskuren Schlussteil
wurde es allenfalls relativiert: „Jeden, der eine andere Meinung vertrat oder
vertritt, sei es gegenwärtig oder zu einer anderen Zeit, gleich ob in Chalkedon
oder bei einer anderen Synode, anathematisieren wir.“ Es stand dem Rezipienten
des Edikts wohl weitgehend frei zu entscheiden, ob es nun das Konzil von
Chalkedon war, das eine andere Meinung als das Henotikon vertrat oder ob
hiermit eher die in Chalkedon verdammten Häretiker – Nestorios und Eutyches
– gemeint waren.
Das Henotikon erscheint also als durchaus ausgewogenes, vorsichtiges und der
Situation angemessenes Kompromissdokument – und es stellte ja auch zunächst
eine Einheit zwischen Alexandria und Konstantinopel, Antiochia und Jerusalem
her. Umsomehr stellt sich aber die Frage, wieso das Dokument letztlich daran
scheiterte, seine Ziele auch mittel- bis langfristig zu erreichen.
Die fast schon kanonische Antwort in der Forschung hierzu scheint wenig
überzeugend – zumindest aber als alleinige Erklärung nicht ausreichend: Mit
dem Henotikon hätte Zenon von kaiserlicher Seite aus in eigentlich der Kirche
vorbehaltene Bekenntnisbildungsprozesse eingegriffen, was zu Widerständen
einer angeblich um ihre Freiheit ringenden Kirche geführt hätte, die den
kaiserlichen Übergriff letztlich scheitern ließen. Die Betrachtung des Henotikon
selbst lässt aber eine solche, in erster Linie römische Polemiken gegen das
Dokument aufnehmende, Wertung kaum zu. Das Dokument war nicht ohne
Tuchfühlung mit kirchlichen Würdenträgern entstanden, lehnte es sich doch
einerseits an das Vorbild einer sogenannten Palästinischen Union an, dürfte
doch andererseits Akakios bei der Abfassung des Textes nicht unerheblich
mitgewirkt haben. Vor allem aber dekretierte Zenon das im Henotikon als
rechtgläubig beschriebene Bekenntnis keineswegs aus eigener kaiserlicher
Machtvollkommenheit heraus, sondern band es deutlich an vorangehende
Synoden – Nizäa, Konstantinopel und Ephesos. Rein technisch schärfte der
Kaiser damit nur das ein, was ohnehin bereits von Seiten der Kirche aus
festgestellt worden war; ein Umstand, den Zenon auch deutlich betont, wenn das
Henotikon versichert, keine neue Glaubensdefinition zu liefern.
Dass Rom im kaiserlichen Dokument trotzdem einen Übergriff auf die
Glaubensbildung zu sehen meinte, hatte seine Ursache nicht in dem bloßen
Umstand, dass der Kaiser einen bestimmten Glauben in Ediktform
rechtsverbindlich machte. Justin tat 519 mit Unterstützung und sogar auf
Drängen Roms nichts anderes. Das Problem war nicht, dass Zenon den Glauben
dekretierte, sondern was er dekretierte: Zwar band das Henotikon seine
Glaubensdefinition an maßgebliche Konzilien, aus der Sicht Roms aber eben
nicht an alle relevanten Konzilien. Die Invokation der Synode von Chalkedon
blieb ja bewusst aus. Dass das Konzil von Chalkedon vom Henotikon damit
zumindest relativiert, der tomus Leonis sogar gänzlich verschwiegen worden
war, konnten die Päpste kaum hinnehmen. Allein hierin erwies sich ein
Übergriff Zenons auf die Bekenntnisbildung. Dass der rechte Glaube mitunter
der Einschärfung durch kaiserliche Machtoptionen bedurfte, wurde faktisch von
allen kirchlichen Akteuren – auch den römischen – sehr wohl anerkannt.
Eine Analyse des Scheiterns des Henotikon muss also andere Punkte in den
Blick nehmen. Zu denken ist an folgende Aspekte – die freilich nicht gänzlich
sauber voneinander zu trennen sind und sich in einzelnen Faktoren
überschneiden mögen:
1) das Vertrauen auf falsche Vorbilder in der Anlehnung des Henotikon an die
Palästinische Union;
2) die Unmöglichkeit des bloßen Verschweigens theologischer Gegensätze;
3) die Konzentration auf den Osten und damit die fehlende Einbeziehung der
trotz aller politischer Desintegration des Reiches faktisch weiterhin wirksamen
Idee einer die gesamte Ökumene umspannenden Kirche;
4) das Aufdecken theologischer Ausdifferenzierungsprozesse seit Chalkedon
allein durch die Benennung konkreter Glaubensinhalte;
5) die weitere dogmatische Ausdifferenzierung der kirchlichen Landschaft durch
eine zusätzliche theologische Referenzgröße;
6) die Herleitung des Ideals einer einigen Kirche aus unterschiedlichen
Leitdifferenzen von Seiten des Kaisertums und der Kirche aus und die damit
einhergehende weitere Aufspaltung der theologischen Positionen.
Zur Erläuterung dieser sechs Punkte:
1) die falschen Vorbilder
Wie bereits erwähnt, hatte sich das Henotikon eng an ein Einheitsdokument aus
dem Jurisdiktionsbereich Jerusalems angelehnt, an die sogenannte Palästinische
Union, mit der Bischof Martyrios von Jerusalem 478 die dogmatischen
Streitigkeiten in seinen Kirchenprovinzen wirksam befriedet hatte. Genau wie
das Henotikon anerkannte diese Union nur Nizäa, Konstantinopel und Ephesos,
verzichtete aber gleichsam auf die explizite Verdammung Chalkedons.
Es sollte sich aber zeigen, dass dieses regional tragfähige Vorbild kaum auf
die Verhältnisse des Reiches übertragbar war – zu unterschiedlich waren die
kirchlichen Gegebenheiten Palästinas im Vergleich zum komplexen
segmentären Geflecht der Reichskirche. In Palästina waren die Konflikte um
Chalkedon nie mit der gleichen Härte ausgefochten worden wie insbesondere in
Ägypten, das sich in der Zeit nach 482 denn auch immer weniger
kompromissbereit zeigte und damit das Henotikon schon relativ früh
auszuhöhlen begann. Bestimmte Spezifika Palästinas – wie eine mangelnde
lokale Verankerung des eher „international“ geprägten Mönchtums oder das
Pilgerwesen zu den Heiligen Stätten – konnten die andernorts wesentlich
heftigeren dogmatischen Konflikte hier also von vornherein bis zu einem
gewissen Grade abfedern. In den Regionen, an die sich Zenon mit seinem
Henotikon vorrangig richtete, waren die Strukturbedingungen von vornherein
andere.
2) das Verschweigen theologischer Gegensätze
Zenon reihte sich mit dem Henotikon und dessen mehr oder weniger neutralen
Stellung zu Chalkedon, die durch das Verschweigen der Synode erreicht wurde,
in eine längere Reihe theologischer Kompromissdokumente ein, die unter
Bezugnahme auf einen Status quo ante versuchten, bereits geführte theologische
Diskussionen auszublenden. Ein prominentes Beispiel ist der erfolglose Versuch
Constantius’ II. im trinitarischen Streit des vierten Jahrhunderts den Konflikt um
das homoousios dadurch beizulegen, den Begriff der ousia aus der
Bekenntnistradition zu tilgen. Augenscheinlich ließen sich theologische Fragen
– einmal gestellt – aber nicht mehr aus der Debatte ausschließen, da sie allein
durch ihr Aufkommen auf wichtige Probleme verwiesen, die dementsprechend
auch zu klären waren. So führte auch das Henotikon nicht zu einer tiefer
gehenden Versöhnung der verschiedenen Positionen, sondern benannte lediglich
ihren kleinsten gemeinsamen Nenner.
Indem das Henotikon aber durch das Ausblenden Chalkedons auf den
Stand von vor 451 zurückging, konnte die Synode nicht ungeschehen gemacht
werden. Die Akteure waren sich der Streitfragen um Chalkedon sehr wohl noch
bewusst. Und auch das Henotikon selbst verweist darauf, dass die 451
verhandelten Fragen durchaus von Relevanz waren, wollte es ja trotz des
Verschweigens der Synode nicht auf ihr zentrales Ergebnis, die Verdammung
des Eutyches, verzichten. Dies konnte zwar vielleicht den Gruppen genügen,
die ihren Hauptfeind in Nestorios erkannten, der bereits auf der vom Henotikon
sehr wohl invozierten Synode von Ephesos verurteilt worden war. Für die
Akteure aber, in deren Fokus die Abwehr des Eutyches stand, war die nackte
Verurteilung dieses kaum ausreichend, weil sie eben nicht mit der theologischen
Kontextualisierung des Anathems aus der chalkedonischen ekthesis verbunden
war. Rom beispielsweise vermisste im Henotikon den gegen Eutyches
gerichteten tomus Leonis.
3) die Konzentration auf den Osten des Reiches
Es ist unklar, ob eine mögliche römische Reaktion auf das Henotikon eine Rolle
in den Erwägungen Zenons spielte. Allerdings war wohl kaum damit zu
rechnen, dass Rom ausgerechnet Mongos, den es nur wenige Jahre zuvor mit
dem Anathem belegt hatte, als Bischof von Alexandria anerkennen würde. Und
dass eine Verständigung zwischen Konstantinopel und Alexandria unter
Einbeziehung römischer Positionen schwierig werden würde, hatten die letzten
Jahre gezeigt, in denen die Päpste mit Argusaugen über die Anerkennung
Chalkedons gewacht hatten. Dementsprechend sah Rom seine grundlegenden
Positionen allein durch das Verschweigen Chalkedons im Henotikon verraten
und reagierte ausgesprochen scharf auf den östlichen Kompromiss, nämlich mit
dem Bruch der Gemeinschaft.
Für das vorrangige Ziel Zenons dürfte dies – wenn nicht kalkuliert, so doch
– zumindest zweitrangig gewesen sei: In der Situation von 482 richtete sich das
Henotikon in erster Linie ohnehin an keine andere Kirche als die von Alexandria
– höchstens perspektivisch noch an die anderen östlichen Patriarchate. Und mit
der Zustimmung dieser Kirchen hatte Zenon sein primäres Ziel erreicht: die
Herstellung der Kircheneinheit in den Teilen des Reichs, über die er auch die
Kontrolle hatte. Rom und Italien dagegen waren spätestens 476 aus dem
faktischen politischen Reichsverband ausgeschieden. Zenons Konzentration galt
daher sinnvollerweise – vielleicht aber doch zu sehr – den östlichen
Verhältnissen. Denn dass der römische Bischof trotz der politischen
Desintegration des Reiches durchaus noch einen gewissen Einfluss auf die
Entwicklung der kirchlichen Landschaft im Osten hatte, destabilisierte den
zenonischen Kompromiss von vornherein: So lange der weiterhin mit großer
Autorität ausgestattete Bischofssitz von Rom nicht in die östliche Einigung
eingebunden war, kam der Osten auch nicht zur Ruhe, da sich oppositionelle
kirchliche Gruppen – zumindest die chalkedonischen – im Konflikt mit der
kaiserlichen Kirchenpolitik immer an das Papsttum wenden und auf das
Papsttum berufen konnten; und genau das auch taten. Spätestens gegen Ende des
Akakianischen Schismas wurden solche Prozesse von römischer Seite aus sogar
gezielt befördert.
4) um zu den wichtigeren Punkten zu kommen: das Aufdecken theologischer
Ausdifferenzierungsprozesse
Ein Hauptgrund für die Dynamik der synodalen Entwicklung in der Spätantike
war, dass einzelne kirchliche Akteure mit der Aufstellung und Rezeption von
Bekenntnissen die konkrete Positionierung anderer Akteure erkannten und diese
in Beziehung zu eigenen Ansichten setzten – was in einer sich zunehmend
ausdifferenzierenden theologischen Entwicklung selten dazu beitrug, sich an
Gemeinsamkeiten mit der Gegenseite zu erfreuen. Die Aufstellung eines
Bekenntnisses bedeutete immer, Farbe zu bekennen – und generierte damit
oftmals neue dogmatische Konflikte.
In ähnlicher Weise trug auch das Henotikon dazu bei, dass sich einzelne
Akteure der Differenzen in ihren theologischen Anschauungen überhaupt erst
bewusst wurden. Bis 482 hatten Rom und Konstantinopel die Illusion aufrecht
erhalten, gemeinsam auf der Grundlage von Chalkedon zu stehen, indem sie sich
stets gegenseitig des Teilens gemeinsamer theologischer Inhalte versicherten.
Dabei beschränkte sich die Darlegung eigener Positionen für gewöhnlich aber
auf die bloße Invokation der Synode von 451, nicht jedoch auf die Darlegung
dessen, was diese Referenzgröße „Chalkedon“ für die einzelnen Akteure
inhaltlich eigentlich bedeutete. So differenzierten sich – bemäntelt eben durch
die bloße gemeinsame Invokation der Synode – die tatsächlichen kirchlichen
Positionen durch Faktoren wie die geographische Ungleichzeitigkeit
theologischer Tradition, verwendeter Sprache und politischer Entwicklung
immer weiter aus. Dies wiederum wurde von den Akteuren kaum erkannt, da die
Reduktion theologischer Komplexität im gegenseitigen Kontakt mögliche
Differenzen seltener zum Vorschein kommen ließ als sie faktisch auftauchten.
Um ein Beispiel für dieses Überdecken theologischer Ausdifferenzierungs-
prozesse zu geben: In Ägypten zeichneten sich nach Chalkedon sowohl der
chalkedonische Patriarch Timotheos Salophakiolos als auch der
Antichalkedonier Mongos durch relativ moderate Positionen aus: Während der
erste bereit war, seinen in Chalkedon verdammten Vorgänger Dioskoros in die
Diptychen aufzunehmen, verzichtete letzterer 482 auf die explizite
Verdammung der Synode von Chalkedon. Im Osten konnten also moderate
Anhänger Chalkedons durchaus hoffen, zu einem Ausgleich mit moderaten
Gegnern der Synode zu gelangen – das Henotikon baute ja genau darauf auf. In
Rom hingegen pflegte man ein sehr viel polarisierteres Bild von den
Konfliktlinien: Chalkedon, und damit der römische tomus Leonis, war entweder
anzunehmen oder abzulehnen – Grauzonen gab es für Rom nicht. Jede
Relativierung der Beschlüsse von 451 musste den Päpsten als Abrücken vom
rechten Glauben erscheinen.
Aus diesem Grund überraschte und überforderte der östliche Ausgleich
zwischen Chalkedoniern und Antichalkedoniern Rom. Solange sich der Bischof
von Konstantinopel im Kontakt mit Rom auf Chalkedon berufen hatte, hatten
die Päpste keine Notwendigkeit gesehen, sich mit der Frage
auseinanderzusetzen, ob die östlichen Chalkedonier die Bedeutung und die
Inhalte der Synode vielleicht nach anderen, weniger polaren Kriterien
bewerteten als sie selbst – wie es faktisch unbemerkt ja der Fall war. 482 wurde
sich Rom dann des theologischen Ausdifferenzierungsprozesses seit 451 in aller
Plötzlichkeit bewusst – weshalb die Päpste in den Vorgängen um das Henotikon
einen Bruch der kirchlichen Ordnung zu erkennen meinten – und aus ihrer Sicht
wohl auch erkennen mussten.
Wie ernst man diese Aufdeckung des Ausdifferenzierungsprozesses nahm,
zeigt sich daran, dass Akakios nun für die römischen Akteure als Gegner der
Synode von 451 galt – und seine Nachfolger, die seiner Verdammung durch
Rom nicht zustimmten, auch, unabhängig davon, ob sie sich zu Chalkedon
bekannten oder nicht. Im Osten andererseits konnte man diese Position kaum
nachvollziehen und wies immer wieder darauf hin, dass man der Synode doch
niemals eine Absage erteilt hätte.
5) die weitere dogmatische Ausdifferenzierung
Führte das Henotikon in Bezug auf den Westen also zu einem abrupten
Zerwürfnis zwischen Rom und Konstantinopel, so stellten sich auch im Osten
bald desintegrative Effekte ein: Bekenntnisäußerungen führten nicht nur dazu,
gegebenenfalls vorhandene Differenzen zwischen einzelnen Akteuren
aufzudecken. Sie zwangen die einzelnen kirchlichen Akteure auch zur
Stellungnahmen hinsichtlich der neuen Bekenntnisäußerungen und boten damit
neues Konfliktpotential. Das Henotikon jedenfalls verkomplizierte die
theologischen Probleme der Zeit noch, da es einen neuen möglichen Stein des
Anstoßes darstellte.
Die theologischen Differenzen waren zu Beginn der Herrschaft des Zenon
sogar noch relativ gering: Bis 482 waren die Kirchen des Reiches noch
einigermaßen übersichtlich in Chalkedonier und Antichalkedonier geteilt –
wobei sich die Grenzen zwischen beiden Gruppen keineswegs als
unüberwindbar darstellten. Nur deshalb konnte Zenon ja überhaupt eine
weitgehende Kircheneinheit herstellen. Mit der Promulgation des Henotikon
hatten die Akteure nun aber plötzlich nicht mehr nur ihre Position zur Synode
von 451 zu bestimmen, sondern auch zum Henotikon, was die dogmatischen
Fronten zusätzlich brach. Zu den ohnehin schon bestehenden Spannungen wurde
nun auch die Interpretation des Henotikon in Bezug auf Chalkedon zur
Streitfrage. So konnten in der Folge beispielsweise einzelne antiochenische
Bischöfe die Synode von Chalkedon entweder verschweigen, oder in Teilen
anerkennen oder sogar verdammen – dabei aber weiterhin alle das Henotikon
billigen.
Das zenonische Edikt konnte schon bald keine Einheit mehr stiften, weil
zunehmend umstritten wurde, was es bezüglich des eigentlich umstrittenen
Punktes überhaupt aussagen wollte und sollte. Und auch innerhalb der Gruppen
der Chalkedonier und Antichalkedonier selbst kam es durch das Henotikon zu
Spannungen, da diese vorher relativ klar umrissenen Gruppen nun vor der Frage
standen, ob das Konzil von Chalkedon unter Vermittlung des Henotikon
anzunehmen, beziehungsweise abzulehnen sei oder nicht. An beiden Enden des
dogmatischen Spektrums bildeten sich eher rigoristische und eher moderate
Untergruppen, wodurch es gegen Ende des Akakianischen Schismas nicht mehr
bloß zwei, sondern mindestens vier grundlegende dogmatische Positionen gab.
Dass Justin nach dem Tod Kaisers Anastasios durch die Kassation des
Henotikon zur einfachen bipolaren Spaltung der vorzenonischen Zeit
zurückgehen sollte, mag auch eine Reaktion auf diesen Prozess gewesen sein.
6) die unterschiedlichen Leitdifferenzen von Kaisertum und Kirche
Das Hauptmissverständnis, von dem Zenon sich beim Henotikon hatte leiten
lassen, war, dass er nicht erkannte, dass – anders als für ihn als Kaiser – die
Einheit der Kirche für die Kirche selbst kein Wert an sich war.
Systemtheoretisch gesprochen lassen sich für Kaisertum und Kirche
unterschiedliche Leitdifferenzen in der Beobachtung kirchlicher Spaltungen
greifen, die ein letzter Faktor dafür waren, dass das Henotikon auf lange Sicht
keinen Erfolg hatte. Während die Kirche im theologischen Konflikt in erster
Linie zwischen orthodox und häretisch unterschied, primär an der Reinerhaltung
des Dogmas interessiert war, neigten die Kaiser dazu, zwischen Einheit und
Spaltung zu differenzieren.
Zwar strebten dabei beide Seiten nach einer umfassenden Einheit der
Kirche unter Berücksichtigung einer wie auch immer definierten Orthodoxie,
setzten dabei aber deutlich unterschiedliche Akzente. Während für die Kirche
die Orthodoxie eine zwar subjektive, nichtsdestotrotz aber universale Kategorie
war, an der sich die Einheit zu orientieren hatte, nahmen die Kaiser der
Orthodoxie gegenüber eine relative Position ein und neigten dazu, die Einheit
der Orthodoxie – über die sie die kirchlichen Akteure ohnehin nicht
widerspruchsfrei aufklären konnten – überzuordnen. Die Einheit in kaiserlicher
Perspektive stellte damit niedrigere inhaltliche Anforderungen an den
vertretenen Glauben als die leitende Kategorie der Kirche, die Orthodoxie.
Nur zwei Meinungsäußeren, die verdeutlichen, wie dieses Missverständnis
dazu beitrug, den Kompromiss des Henotikon auszuhöhlen: Als sich schon bald
nach 482 ägyptische, antichalkedonische Mönche bei Zenon darüber
beschwerten, dass Mongos – ganz auf Grundlage des Henotikon –
chalkedonisch orientierte Christen in die Gemeinschaft aufnahm, empörte sich
der Kaiser gegenüber Mongos, dass er ihn zum Bischof gemacht habe, um das
Volk zusammenzuführen, nicht, um es wiederum in Gruppierungen zerfallen zu
lassen. In der Konzentration auf die Orthodoxie war es für die Kirche also weder
in letzter Instanz möglich noch zentral wichtig, das kaiserliche, vom
unbedingten Willen auf Einheit getragene Henotikon anzuerkennen. Unter
Kaiser Anastasios machte dessen maßgeblicher theologischer Berater, Severos
von Antiochia, diesen Umstand mehr als deutlich, als er in aller Deutlichkeit
aussprach, was er vom ständigen kaiserlichen Ausgleichsdrängen wirklich hielt:
Was die Kirchen bis in die Gegenwart in Verwirrung gestürzt habe, sei doch
gerade das, dass die Herrscher zwischen beiden Seiten lavieren würden und es
sich zum Ziel gemacht hätten, beide Seiten in ihren theologischen Ansprüchen
zu befriedigen.
Wenn es also hart auf hart kam, waren die kirchlichen Akteure, selbst
diejenigen, die eng mit dem Kaiser verbunden waren, kaum bereit, die
Universalität dogmatischer Ansprüche einer theologischen Relativität des
zenonischen Einheitsdokumentes unterzuordnen, ging es ihnen doch um ein
höheres Ziel als die bloße ordnungspolitische Ruhe in Kirche und Reich: um
eine christliche Heilsgewissheit, die nun einmal den rechten Glauben erforderte,
der keine Kompromisse kannte. Ein stabiler Ausgleichskurs hätte verlangt, dass
die kirchlichen Akteure darauf verzichteten, eigene Positionen unbedingt auch
gegen Widerstände anderer Akteure durchzusetzen. Dazu waren die einzelnen
Gruppen aber in zunehmender Weise nicht mehr bereit – und entwerteten damit
den Kompromisscharakter des Henotikon.
Es waren also unterschiedlichste Faktoren, die Zenons Versuch der
Überbrückung dogmatischer Gegensätze durch sein Edikt von 482 langfristig
scheitern ließen und die in Teilen bereits im Dokument selbst angelegt waren.
Trotzdem sollte man das Henotikon daher nicht per se negativ bewerten: Viele
der zum Scheitern führenden Faktoren waren 482 wohl noch kaum absehbar
gewesen. Darüber hinaus hatte Zenon kaum eine andere Wahl als sich in den
theologischen Konflikten zu äußern. Ob die Kaiser wollten oder nicht: Sie
mussten Partei ergreifen, forderten die verschiedenen kirchlichen Gruppen sie
doch immer wieder genau dazu auf. Vor allem wählte Zenon für diese
dogmatische Äußerung mit dem Henotikon einen durchaus kreativen und auch
bedachten Weg.
Zuletzt sollte man bedenken, dass auch Justin, der das Henotikon
schließlich kassierte und gegen dessen Ausgleichskurs wieder eine konkrete
Partei unterstützte, der kirchlichen Einheit damit keinesfalls näher kam als
Zenon oder Anastasios. Justins chalkedonischer Umschwung stellte zwar die
Gemeinschaft der Kirchen von Rom und Konstantinopel her, ließ aber das
mittlerweile allzu deutlich antichalkedonische Alexandria außen vor. Der Kaiser
scheint nicht einmal versucht zu haben, die Anerkennung Chalkedons dort
durchzusetzen. Auch die syrische Kirche sollte sich mittelfristig von der nun
chalkedonischen Reichskirche abspalten. Abermals zeigte sich also das, was
sich schon vor Zenon gezeigt hatte und diesen dazu gebracht hatte, einen
dogmatischen Mittelweg einzuschlagen: Eine klare Parteinahme der Kaiser für
eine Seite im theologischen Disput war nicht mehr dazu in der Lage, dieser
Partei auch faktisch die Durchsetzung zu garantieren. Dass also die
chalkedonischen Kaiser an der kirchlichen Einheit ebenso scheiterten wie der
vermittelnde Zenon, lässt bezüglich des Henotikon letztlich nur eine faire
Wertung zu: Einen Versuch war es wohl wert.