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1
Giovanni Cogliandro
Die Dynamik der Fünffachheit in der Wissen-
schaftslehre nova methodo
1. Vorwegnahmen in der Grundlage
Seit ihren ersten Darstellungen zeigt sich die Wissenschaftslehre als
„eine Wissenschaft, die, ausgehend von einer Bedingungslosigkeit, zur
Grundlage des Inhalts und der Form aller möglichen Wissenschaften
fortzuschreiten strebt”;1 das Problem der Bestimmung des Gedankens
oder der Betrachtung eines Unbedingten begleitet die Fichtesche Me-
ditation in der Entfaltung aller Darstellungen der Wissenschaftslehre.
In der Grundlage ist die Unbedingtheit die Haupteigenschaft des ersten
Prinzips: erstes, weil absolut gesetzt, selbstgesetztes inwiefern bedin-
gungslos. Das Ich, das sich selbst setzt, ist schon selbstbestimmt, ist
frei von jeglichen formellen oder inhaltlichen Voraussetzungen, weil
es sich als selbstbestimmend setzt. Es geht in der Dynamik des dritten
Prinzips eine Beziehung der Wechselbestimmung mit der Teilbarkeit
ein und setzt diese außer sich selbst, insofern es als teilbar und völlig
bestimmt erkannt wird; es ist in sich bestimmt, um keine Bestimmung
von außen zu bekommen. Der Leser der Grundlage muß aber warten,
bis erst am Ende des rein theoretischen Teils der Grundlage die Ablei-
tung der Einbildungskraft geleistet wird, um die Genesis der Bestim-
mung des Ichs selbst, sowie die Notwendigkeit des Transformierens
von ursprünglich theoretischer in praktische Tätigkeit zu begreifen.
Diese Transformierung geschieht in einer Bewegung, die in den Prin-
zipien von der Selbstbestimmung zur transzendenten Bestimmung
übergeht und in kreisförmiger Bewegung zur Selbstbestimmung des
Ichs zurückkehrt. In den „theoremata” (Lehrsätzen, die zugleich Be-
1 P. Bucci, „Architettonica e dottrina della scienza: filosofia e costruzione sistematica
del sapere in Kant e in Fichte”, in: Giornale critico della filosofia italiana, LXIV
(1985), 414.
2
trachtungen und deduktive Vorschriften sind und die die Wissen-
schaftslehre des Praktischen bilden) beobachtet das Ich sich selbst, wie
es auf sich selbst handelt.
In dieser Dynamik wird eine Teilung in eine Reihe von theoreti-
schen Bestimmungen und in Lehrsätze der praktischen Selbstbestim-
mung vollzogen. Die theoretische Entwicklung kulminiert im Vorstel-
lungsvermögen; sie beginnt mit dem Streben, das die
Wahrnehmungsmöglichkeit in eine Kraft transformiert, welche die
äußeren Beschränkungen überschreitet.2 Die Formulierung der
Grundsätze der praktischen Reihe, die der Deduktion der Vorstellung
folgen, erlaubt uns, die Verwendung der Idee des Bestimmungstriebs
zu beobachten und den Versuch einer genetischen Begründung für die
Aktivität der Selbstbestimmung des Ichs zu entwickeln.
Das Sich-Finden des Ichs ist deshalb zuerst ein Sichselbstbe-
stimmen durch das Setzen einer Unbedingtheit, dem die bedingten
Prinzipien (bedingt nach Form und Inhalt) folgen: nur infolgedessen
veranlaßt das Auftreten des wahrnehmbaren Hindernisses die setzende
Tätigkeit, sich in dem die Hemmungen überwindenden Streben und in
den Trieben zur praktischen Handlung auszudrücken.
2. Die Dynamik der Bestimmung in den zwei Reihen der
WL nova methodo
Die neue Methode, die Fichte in der WL nova methodo anwendet,
zeigt das Ich als etwas außerhalb von sich selbst, in der absoluten
Fremdheit, Verwurzeltes, als etwas durch die Aufforderung gebildetes.
Die Aufforderung ist in der Tat eine Aufforderung zu einem bestimm-
ten Handeln, aber sie entsteht aus dem, was außerhalb jeglicher Be-
stimmung seitens des Ichs liegt: Das „Subjekt der Aufforderung” ist
2 Von Interesse kann hierzu die Anmerkung von Novalis sein: „Es gibt ein Darstel-
lungsvermögen und ein Vermögen des Gefühles, es gibt kein Vermögen der Ein-
bildungskraft. Vermögen ist Passivität.” Die Stelle stammt aus den Fichte-Studien
(Unbestimmte Prinzipien, n. 213), geschrieben nach der Auseinandersetzung des
Dichter-Philosophen mit der Grundlage.
3
immer der Ausdruck eines objektiven Genitivs: das Subjekt ist aufge-
fordert, es ist nie Urheber der Aufforderung, weil nur infolge der Auf-
forderung die Tätigkeit der Bestimmung zwischen vernünftigen We-
sen angefangen werden kann, einschließlich des Wesens, welches das
aufgefordete Subjekt ist.
So gewiß ich mich aufgefordert finde, finde ich mich auch wirklich. Wie
ist dies nun möglich? u. in welcher Gestalt finde ich mich dann? In dem
beschriebenen synthetischen Denken, wo Subjekt und Objekt zusammen
gefaßt wird, in dem Mittelpunkt alles Bewußtseyns, finde ich mich als
denkend und zwar als denkend ein durch das Denken des Zwecks bewirk-
tes Objekt. Als beydes denken finde ich mich in demselben Moment, weil
keines von beyden ohne das andere möglich ist.3
Auf den Vorwurf des Akosmismus antwortet Fichte mit dem Hin-
weis auf die irreduziblen Andersartigkeit der Aufforderung: Das Den-
ken der Realität, die sich dem Ich als schon bestimmte Mannigfaltig-
keit offenbart, wird nur deshalb möglich, weil eine Aufforderung
durch ein anderes vernünftiges Wesen erfolgt. Es handelt sich nicht
mehr um das Streben, ein Hindernis zu bewältigen, das die praktische
Tätigkeit des Ichs zustandebringt, oder besser: das ist nicht der ur-
sprüngliche Gesichtspunkt in einer Perspektive, die bewußt genetisch
sein will, (in transzendentalem, nie in zeitlichem Sinne); nur als Folge
einer Aufforderung wird ein bestimmtes Handeln möglich, deshalb die
Entdeckung eines Hindernisses, deshalb ein Streben zur Überwindung.
Das Subjekt und das Objekt sind im Denken, das ursprünglich nur syn-
thetisch ist, verbunden: Nur als Folge der Existenz eines Anderen ist
die Anerkennung der eigenen Identität möglich: es ist der metaphysi-
sche Sinn der Aufforderung, welche Kausalität, Substanzialität und
auch das Identitätsprinzip von den Beziehungskategorien abhängig
macht. Eine der Kantischen Beziehungskategorien, die Wechselwir-
kung, wird zur Hauptfigur der radikalen Änderung von Fichtes Per-
spektive.
3 WL nm, 190.
4
Wenn das Ich der Grundlage des Mangels an Wirklichkeit beschul-
digt werden konnte, insofern seine Handlungen als Ergebnis einer
Abstraktion von der realen Existenz des Ichs aufgefaßt werden konnte,
so tritt jetzt der Gesichtspunkt von der Entstehung der Wirklichkeit ins
Zentrum des neuen transzendentalen Schauspiels: Dieses Schauspiel
hat die ursprünglichen Umstände zum Gegenstand, die zum Auftreten
der Bestimmbarkeit und zur Wechselbestimmung führen. Die Wech-
selbestimmung ist das der Grundlage eigene dynamische Moment und
wird im dritten Grundsatz als Leistung des Ichs herausgestellt: es be-
stimmt das Objekt, indem es dasselbe ebenso wie sich selbst teilbar
macht, und gleichzeitig wird es davon bestimmt, inwieweit es sich
teilbar macht. Die ursprüngliche Bestimmung ist eine Wechselbestim-
mung. In der WL nova methodo wird die Unteilbarkeit des Paares Sub-
jekt-Objekt, das das Ich der Grundlage bestimmt, bewiesen. „Kein
Objekt ohne Subjekt”, das ist das relationale Motto der neuen Darstel-
lung der Wissenschaftslehre.
Das Ich muß aller Erfahrung voraus gehen, es muß sich selbst Objekt
seyn, es muß gefunden werden, und dieß wird aufgezeigt.
Ich finde mich. Was heißt dieß? Hierauf kömmts hier an. Hierbey halten
wir uns an den ersten Begrif des Ich. – Die ICHHEIT besteht in der absolu-
ten Identität des idealen und realen.4
Diese Identität, der Ursprung des Ganzen, wird zum Zentrum der
vom Denken/Bestimmen durchzuführenden Handlungen, zu denen
sich das Ich aufgefordert sieht. Diese Identität ist jedoch eine aktive
Identität, die aus der genetischen sich im Schweben befindenden Be-
stimmung hervorgeht:
Bestimmbarkeit ist ein Schweben zwischen mannigfaltigen entgegenge-
setzten ReflexionsMomenten, Bestimmtheit ist Concentration dieses
Schwebens auf einen Punkt.
Wird auf die Bestimmtheit gesehen, so ist das Ich in diesem Denken ge-
bunden, es ist ein objektives Denken, aus welchem ein Gefühl entsteht.
Gefühl entsteht aus dem denken, nicht denken aus dem Gefühl.5
4 WL nm, 181.
5
Diese letzte Feststellung ist ein Manifest der Jenaer Zeit: der Ver-
such, ein transzendentales Modell der Erfahrung zu finden, ohne sie in
der Spekulation zu vernichten und ohne sie dogmatisch, d. i. ohne ver-
bleibenden noumenalen Rest, zu verabsolutieren. Das Ansich wird aus
dem Ursprung der Transzendentalphilosophie ausgeschlossen; denn
diese findet im Schweben den angemessenen Ausdruck für einen An-
fang ohne vorausgesetzte Substanz. Die Wahrnehmung wird nicht von
einem Stoß ins Leben gerufen, der das Ich dazu zwingt, sich selbst als
begrenzt zu erkennen, sondern es ist das denkende Bestimmen, das
sich als wirkliches wahrnehmendes Bestimmen erkennt. Das Schwe-
ben vollzieht sich zwischen zwei Mannigfaltigkeiten: einer intellektu-
ellen und einer sinnlichen; sie werden unterschieden, weil das Sinnli-
che dem Denken als bestimmt und individualisiert erscheint, während
die intellektuell-vernünftige Mannigfaltigkeit den Beobachter zur In-
dividualisierung durch aktive Bestimmung auffordert. Der Beobachter
sieht sich selbst nicht als passiv und ist in der Wechselwirkung mit der
vernünftigen Mannigfaltigkeit nie passiv. Das Schweben konzentriert
sich in einem Punkt, der die höchste Bestimmung ist, der aber ent-
schwindet, wenn man ihn zu substanzialisieren versucht. Auch im Ext-
rempunkt der bestimmenden Individualisierung liegt im Jenenser Sys-
tem eine Beziehung, eine aktive, nicht statische Zweifachheit. Dieses
zentrale Schweben erzeugt die wesentliche Reihe der Handlungen, der
Momente der freien Bestimmung:
Als beydes denken finde ich mich in demselben Moment, weil keines von
beyden ohne das andere möglich ist (Besser ist es wenn man sagt es ge-
schieht in keinem Moment, außer aller Zeit). Wir haben sonach zwey äu-
ßere Glieder in deren Mitte das synthetische denken liegt, u. das innere
Glied zwischen diesen beyden äußern ausmacht, nun wird sich finden daß
an jedes dieser äußern Glieder sich noch ein äußeres anknüpft. Wir erhal-
ten sonach ein 5faches, welches alles im synthetischen Denken verknüpft
und unzertrennlich mit einander vereinigt ist.6
5 WL nm, 182–183.
6 WL nm, 190.
6
Die triadische Bewegung, die synthetisch eine dialektische Bewe-
gung umschließt und ein Einheit stiftendes Element in den vorher un-
vereinbar scheinenden Entgegengesetzen entdeckt, wird – einmalig in
der Geschichte der Philosophie – durch eine fünffache Bewegung er-
setzt. Es war gerade Fichte, der die Triade der Prinzipien einführte, in
der die Momente des Widerstandes in der vereinigenden Synthese
überwunden und zugleich zusammengefaßt, ausgeschlossen und be-
wahrt werden. Diese schließt in sich die unausgewiesene Vorausset-
zung des Subjektes, das diese Dynamik vollzieht. Es ist ja – ein Prob-
lem in jedem triadisch-dialektischen Prozeß – das handelnde Subjekt
zu berücksichtigen: in den spekulativen Systemen, die die Transzen-
dentalphilosophie geschichtlich abgelöst haben, wurde das Problem
durch eine (mystifizierende) Personifikation der Dialektik zu lösen
versucht. Nach der Beseitigung der Fichteschen Phänomenologie
glaubte man die triadische Logik in ihrer Unbedingtheit entfalten zu
können. Das ist allerdings nicht möglich in einem philosophischen
System wie dem Fichteschen, das die Endlichkeit des Ichs nicht ver-
schleiern will. In der Fünffachheit, der transzendentalen Wurzel der
Wissenschaftslehre, findet sich das Ich als zwischen zwei Bestim-
mungsakten, zwischen Anschauung und Begriff, schwebend. Das Ich
findet sich als sich machend und es erzeugt einen Begriff von sich
selbst, in welchem es sich als ausschließlich intuierbar setzt. Das be-
deutet: Es grenzt mit seiner nicht-substanziellen Existenz das Feld des
Anschaubaren vom Begrifflichen ab, indem es sich im Zentrum zweier
voneinander untrennbarer Reihen von Bestimmungen findet. Die
Selbstbestimmung des Ichs wird deshalb nur von seiner Anschaubar-
keit begrenzt, und umgekehrt ist die Anschauung, die das Ich von sich
hat, nur als eine handelnde zu begreifen. Die zwei entgegengesetzen
Akte des Anschauens und des Bestimmens treffen sich und werden
wechselseitig durch die Position des Ichs begrenzt. Fichte bildet die
Glieder der zwei Reihen so:
– – A – b – G
7
Die griechischen Buchstaben entsprechen der idealen Reihe, die
vom Zweckgedanken ausgehend definiert wird; die lateinischen Buch-
staben bilden die wirkliche Reihe, die vom Gedanken des Objektes,
das sich auf den Willen bezieht, ausgeht. Sie existieren nicht ohne ei-
nander, die Wirklichkeit ist mit der Idealität verbunden, und die erste
Abstraktion unter allen abstrakten Entwicklungen, die das Denken
konstituieren, ist die transzendentale Trennung dieser zwei Reihen, die
den Gang der WL nova methodo abschließt. In dieser Analyse des syn-
thetischen Prozesses besteht die Konstruktion/Rekonstruktion des Be-
wußtseins, dessen Elemente von Fichte in der vorangegangen Darstel-
lung angegeben worden sind.
Die Bewegung der doppelten Reihe ist Agilität, und „meine AGILITÄT ist
eine Übergehen von BESTIMMBARKEIT zur BESTIMMTHEIT. Diese Be-
stimmbarkeit ist für mich u. ich erscheine mir als darüber schwebend.“7
Der Gang der Fünffachheit ist der Gang des Gedankens; das Gesetz,
das den bestimmenden Gedanken überhaupt reguliert, ist: „kein Be-
stimmtes ist ohne ein Bestimmbares“.8 Trotzdem ist die Bestimmbar-
keit nicht absolut, wie die Teilbarkeit des dritten Prinzips der Grund-
lage, sondern sie ist Bestimmbarkeit nur für das Ich, weil auf dieser
Bestimmbarkeit das Schweben des Ichs gründet. Einerseits ist es die
Bestimmbarkeit für das Ich, die das Ich begründet: Das Ich schwebt,
weil eine bestimmbare Mannigfaltigkeit existiert; andererseits begrün-
det das Ich die Bestimmbarkeit, weil das Ich über ihr schwebt, und es
erscheint dadurch dem Ich diese Bestimmbarkeit, die die Existenz des
Ichs für sich selbst, und nur für sich selbst rechtfertigt. Fichte drückt
dies so aus:
„Das BESTIMMBARE u. mein schweben darüber erscheinen also nicht, als
ein bestimmtes denken, wollen oder auffassen. Beyspiele hiezu sind, der
Zustand der Gedankenlosigkeit u. des Traums. Dieser Zustand ist nach
7 WL nm, 183.
8 Cfr. Pareyson, Fichte. Il sistema della libertà, Turin 1976, 302.
8
LEIBNITZ der Zustand der dunkeln Vorstellungen. Aus diesem BESTIMM-
BAREN erscheine ich mir als heraußreißen[d] ein bestimmtes.”9
Wie schon in der Zweiten Einleitung (1797), wird Leibniz als Zeuge
von Fichtes Ideen benannt. Ein präreflexiver Zustand des Selbstbe-
wußtseins wird konstatiert, in dem die Vorstellung als die Tätigkeit
der produktiven Einbildungskraft erkannt wird; aber sie ist nicht als
Entfaltung der Fünffachheit bekannt, als Reihe der genetischen Ver-
bindungen, aus denen alle Fähigkeiten des Ichs (Denken, Wille) abge-
leitet werden. Die dunklen Vorstellungen oder die Träume kommen
aus dem Leben selbst: Es gibt kein Moment des Bewußtseins ohne
Vorstellung. Diese gestatten uns, das traditionelle Bild des Bewußt-
seins als eines Vorstellungsbehälters zu verwerfen. Die Vorstellungen
existieren nicht ohne das Bewußtsein, und ohne dunkle oder bestimm-
te Vorstellungen gibt es keine ontologische Festigkeit des Bewußt-
seins. Einige Vorstellungen sind ohne das Bewußtsein, vom eigenen
Ich produziert worden zu sein, aber diese Vorstellungen sind für ein
anderes Bewußtsein. Die naive Ansicht, als existierten die Vorstellun-
gen für sich selbst als gegeben, wird überwunden, und es wird gezeigt,
daß die Vorstellungen nur für das Ich existieren. Sie sind Produkte der
Fähigkeit der produktiven Einbildungskraft, näher am Ich als die Be-
stimmungskraft. In seinem Brief an Fichte spricht Jacobi von seiner
Übereinstimmung mit Fichtes Transzendentalphilosophie:
„Wir begreifen eine Sache nur in so fern wir sie construiren, in Gedanken
vor uns entstehen, werden lassen können […]. Wir eignen uns das Uni-
versum zu, indem wir es zerreißen, und eine unseren
Fähigkeiten angemeßene, der wirklichen ganz unähnliche Bilder-
Ideen- und Wort-Welt erschaffen. Was wir auf diese Weise erschaffen,
verstehen wir, in so weit es unsere Schöpfung ist, vollkommen; was sich
auf diese Weise nicht erschaffen läßt, verstehen wir nicht; unser philoso-
9 Vergl. Leibniz „Lehr-Sätze über die Monadologie” (Frankfurt-Leipzig 1720), Lehrs-
ätze 14 u. fg. und 60. Eine Parallele zwischen den beiden Denkern erscheint in dem
Streit zwischen dem Bestimmten und dem Unbestimmten: Leibniz streitet gegen
Spinozas Substanz für ein unendliches Subjekt, das bestimmter als das menschliche
Subjekt (die Monade) ist, also streitet Fichte gegen die Sinnentleerung der Selbstbe-
stimmung und gegen die theorische Beharrlichkeit auf der Sache an sich selbst.
9
phischer Verstand reicht über sein eigenes Hervorbringen nicht hinaus
[…]. Wir begreifen aber einen Gegenstand, wenn wir uns seine Bedin-
gungen der Reihe nach vorstellen, d.i. ihn aus seinen nächsten Ursachen
im vollständigen Zusammenhange herleiten können.“10
Jacobi beschreibt das Prinzip einer genetischen Metaphysik, die auf
der Notwendigkeit einer absoluten Kontinuität zwischen den Ursachen
(dieser Horror vacui wiederholt sich bekanntlich in der modernen Me-
taphysik) und dem Fundament dieser Entwicklung innerhalb der pro-
duktiven Subjektivität besteht: zwischen der klassischen und der gene-
tischen Metaphysik existiert die gleiche Beziehung, die Kant zwischen
der formellen Logik und der transzendentalen Logik feststellt: Die
erste sucht nach Klarheit der Verbindungen zwischen ihren Elemen-
ten, die zweite möchte den Ursprung ihrer Vorstellungen sicherstel-
len.11 Diese Entstehung ist die innewohnende Reihenfolge des Gedan-
kens, die aus dem Bewußtsein hervorgeht, gleichwertig mit der
Einbildungskraft.
Wir können wieder die Fünffachheit als eine Reihenfolge von Best-
immungen aufbauen, die in einer ersten Annäherung auf diese Weise
dargestellt werden kann:
Bestimmbares – Bestimmen – Schwebendes Ich – Selbstbestimmen – Bestimmbares
A b G
Aufforderung Produktive Einbildungskraft
Das Ich schwebt zwischen zwei bestimmbaren „Massen“: einerseits
der idealen Bestimmbarkeit, einer Mannigfaltigkeit, die zu einem be-
stimmten Handeln auffordert, das hier gleichbedeutend mit Bestimmen
überhaupt ist. Die zweite bestimmbare „Masse“ ist die vorgestellte
sinnliche Mannigfaltigkeit (die als Vorstellung der produktiven Ein-
10 Jacobi an Fichte, GA III, 3, 233; 255-6.
11 Cfr. Kant, Prolegomena, Ak.Ausgabe (de Gruyter Neudruck 1968), IV, 290.
10
bildungskraft hervorgebracht wird). In der idealen Reihe setzt das Ich
seine auf ein Objekt gerichtete Tätigkeit; diese ists durch einen
Zweckbegriff bestimmt, der eben die Bedingung des Willens ist. An-
dererseits erscheint in der wirklichen Reihe die gleiche ursprüngliche
Tätigkeit als Selbstbestimmendes durch den Kausalitätsbegriff, mittels
dessen sie auf das Objekt wirkt.
3. Die Reihe des idealen Gedankens: die Bestimmung des
Subjekts durch Entwerfen des Zwecks und die Aner-
kennung des Anderen durch die Aufforderung
Wir untersuchen zuerst die ideale Reihe, die psychologisch als die
Reihe der Beobachtungen des Philosophen der wirklichen Reihe be-
trachtet werden kann, die aber in Wirklichkeit die Konkretisierung der
ursprünglichen Selbstsetzung ist und deshalb genetisch gesehen vor
der wirklichen Reihe liegt, denn nur dadurch daß das Subjekt sich aus
der Masse der vernünftigen Bestimmbarkeit herausgreift, kann es zur
Selbstbestimmung als wirkender Leiblichkeit kommen. M. Vetö bestä-
tigt: „die Untersuchung führt dort zur Setzung der materialen Identität
gemäß dem Inhalt der zwei Reihen, und der Form nach zu ihrer Diffe-
renz. Die ideale Reihe stellt gemäß ihrer Verbindung das vor, was in
der wirklichen Reihe, der Verteilung nach, präsentiert wird.“12 Wir
fügen hinzu, daß die ideale Reihe die wirkliche Reihe setzt, und diese
bedingt den Inhalt der wirklichen Reihe: die Parallele mit dem zweiten
Prinzip der Grundlage scheint offensichtlich. Die ideale Reihe ist der
Gesichtspunkt des Ichs, das sich autonom bestimmend aus der Masse
aller vorstellbaren vernünftigen Wesen, der organischen Gesamtheit
der Individuen, heraushebt. Die ideale Reihe ist die praktische Reihe,
in welcher der ursprüngliche Wille des Ichs formiert wird. Und diese
Formung ist als abhängend von einem Zweckbegriff beschrieben: „Es
sind also hier zwey Vorstellungen, das Entwerfen eines Zweckbegrifs
12 M. Vetö, De Kant à Schelling. Les deux voies de l’idéalisme allemand. Millon,
Grenoble 1998, vol 1, 366.
11
und das Wollen. Diese beyden Vorstellungen stehen miteinander im
Verhältniß wie bedingendes und bedingtes.“13 Es ist das Denken
selbst, das den Zweckbegriff dem konkreten Willen, und nur diesem,
voraussetzt. Es wird eine neue Auffassung des synthetischen Denkens
eingeführt, weil der Zweckgedanke dem synthetischen Gedanken ent-
gegengesetzt wird, aber er ist ein Teil des gleichen synthetischen Ge-
dankens.
„Bey KANT heist, wie schon mehrmal gesagt worden, SYNTHESIS bloß die
Vereinigung der schon gegebenen Theile. Z[um] E[xempel] A und B sind
die gegebenen Theile, ihre Vereinigung oder SYNTHESIS ist C. bey FICHTE
aber heißt SYNTHESIS eine Entwickelung, ein Anknüpfen eines ganz neu-
en vorher nicht vorhanden gewesenen an das vorige. Z.E. das Vorhande-
ne ist A, das sich Anknüpfende B, und die Synthesis ist C.“14
A ist der Gedanke des Zweckbegriffs, der als ein synthetischer sein
Objekt, das trotzdem nicht gegeben ist, voraussetzt. Wenn dieses Ob-
jekt zuvor dem Zweckgedanken gegeben worden wäre, dann würde
der Wille nicht von dem Zweckbegriff bestimmt, die beiden Reihen
würden zu einer einzigen reduziert und die Freiheit des Willens würde
vernichtet werden. Diese dogmatische Annahme, dem Befürworter des
servo arbitrio eigen, hat sich indessen als naiv herausgestellt, insofern
sie die kausalen Verbindungen nur in der wirklichen Reihe betrachtet.
Sie verkennt die Bestimmung, welche zuvor vom Ich als Wille zum
Objekt ausgeübt wird, der auf ein nie objektivierbares Ziel hinstrebt;
dieses tritt ja in der idealen Reihe auf und greift sich aus einer rein
praktischen Bestimmbarkeit (der organischen Vollendung des kantia-
nisches Reiches der Zwecke) heraus. Der Zweckbegriff ist nicht wirk-
lich, wie die Empirie. Er ist etwas, das zum Willen hinzugefügt wer-
den muß, um den Willen selbst zu erklären. In dem Zweckgedanken
weiß sich das Ich als sichbestimmend und verursachend. „Man unter-
scheide unter ABSTRACTER u. CONCRETER Wahrnehmung. Die CON-
CRETE kommt bey dem Willen vor, und die ABSTRACTE in dem wol-
13 WL nm, 191–192.
14 WL nm, 192.
12
len.“15 Das Abstrakte ist der Begriff des Handelns
überhaupt, die Kraft an sich ist die Kausalität selbst.
„Das Ich wird also hier gedacht als Ich überhaupt, dieß ist ein abstractes
Denken, dessen Wesen darin besteht, daß nur die Form des bestimmten
Denkens nicht aber die Bestimmtheit da ist. Es ist ein Schweben zwi-
schen entgegen gesezten, jedoch mit dem vollkommenen Bewußtseyn
daß es entgegengesezte sind, daß also nur eins gewählt werden kann.“16
Die Idee der Kraft gibt die Beschreibung der ursprünglich doppel-
ten Natur des Ichs. Das Ich schwebt unbegrenzt zwischen der Einbil-
dungskraft (d.i. die Kraft, welche die Gegenstände dem Willen vor-
stellt) und dem Zweckgedanken. Das Vorstellen macht das teilbare und
bestimmbare Unendliche für die Kraft der Selbstbestimmung des Ichs
in der wirklichen Reihe verfügbar; sie ist unabhängig von den Gegen-
ständen, die das Ich ihr vorstellt. Die Wurzel dieser Unabhängigkeit,
in der sich die absolute Freiheit des Ichs erweist, wird in der idealen
Reihe als die andere Seite des Schwebens des Ichs beschrieben: die
Bestimmung seines eigenen Zwecksbegriffes; anscheinend setzt dies
ein Ich, das bestimmt wird, schon voraus, aber die Reihe der zeitlichen
Folgen beginnt tatsächlich erst mit der idealen Reihe; deshalb ist das
Denken nicht wie bei Kant in der Zeit gesetzt, die dort als Bedingung
a priori der inneren Sensibilität verstanden ist, sondern es ist die zeit-
liche Reihenfolge, die den Unterschied der diskreten Momente, die nur
der Wille artikuliert, voraussetzt. Fichte kann dann bestätigen, daß
„die Zeitordnung entsteht durch die DEPENDENS des bestimmten von
dem Bestimmbaren. Das was vorher gewesen seyn soll, ist nun jezt, es
wird blos als vorher gewesen gedacht.“17 Die zeitliche Bestimmung
setzt die Bestimmung überhaupt voraus, nämlich nach dem Denkge-
setz: „kein bestimmtes ist ohne ein bestimmbares.“18 Auf dem trans-
zendentalen Gesichtspunkt wird auch die Beziehung wirklich/abstrakt
in ihrer zeitlichen Folge durch die Beziehung der Bestimmung modifi-
15 WL nm, 194.
16 WL nm, 194.
17 WL nm, 195.
18 Ebenda.
13
ziert. Das Konkrete ist nicht vom Abstrakten abgeleitet, sondern das
Konkrete und das Abstrakte sind für das Denken zugleich real. Das
Konkrete im Denken (oder in der idealen Reihe) denkt sich nur als
einen Übergang zwischen Konkretem und Abstraktem. Nur der Über-
gang, die Gedankenbewegung, ist eigentlich wirklich. Mit diesen De-
finitionen können die Verbindungen zwischen dem Zweckbegriff und
dem Willen, sowie die Ursprünge der beiden Reihen untersucht wer-
den. Der Wille wird als bestimmend gedacht, als die Realisierung ei-
nes bestimmbaren konkreten Zwecks:
„Das wollen kann nur gedacht werden, als ein übergehen von einem Be-
stimmenden. Das bestimmte Denken wird solches nur durch bestimmen –
Ich bestimme mich, ich sehe diesem meinen Bestimmen zu, und nur so
wird es möglich.“19
Die Ontogenesis jedes Willensobjektes hängt ab von dem Bild, das
die ideale Reihe hervorbringt; die Verbindung zwischen beiden Rei-
hen ist damit als wesentlich bewiesen. Das Wollen erweist sich als
konkretes im Übergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Das
Übergehen kann nur als sich selbst helles existieren und setzt nicht
bloß die einfache Existenz des Willens, sondern auch die Fähigkeit der
Selbstbeobachtung voraus. Diese Fähigkeit gründet auf der intellektu-
ellen Anschauung, dem Angelpunkt der WL nova methodo, und liegt
im Zentrum der Fünffachheit, weil sie mit der Fähigkeit des Schwe-
bens identisch ist. Das Schweben, so wie die Fähigkeit, die Bestim-
mungstätigkeit anzuschauen (die Gegenteil des Schwebens ist), sind in
der Tat auf der intellektuellen Anschauung gegründet, die das Ich als
ursprünglich in sich selbst zurückkehrende Tätigkeit erfaßt.20 Das Ich
sieht seinem Bestimmen zu, weil es seine Tätigkeit überhaupt sehen
kann. Diese Tätigkeit zerfällt ursprünglich in die Fähigkeit, sein eige-
19 WL nm, 196.
20 Zur besonderen Bedeutung der Fichteschen Idee der intellektuellen Anschauung
erlaube ich mir außer auf den Band von J. Stolzenberg „Fichtes Begriff der intellek-
tuellen Anschauung” (Stuttgart 1986) auf meine Dissertation, „La nozione fichtiana
di intuizione intellettuale dalla WL nova methodo (1796/99) alla Darstellung der
Wissenschaftslehre 1801/2” ( Roma 1999) hinzuweisen.
14
nes Ziel zu bestimmen (Ursprung der idealen Reihe), und in der Fä-
higkeit, das Objekt des eigenen Willens zu bestimmen (Anfang der
wirklichen Reihe). Weil das wirkliche Bestimmen ein sichtbares ist,
werden die beiden Reihen des Denkens hervorgebracht, die erste Rei-
he begründet die Abstraktion, und die andere Reihe hängt von der
Abstraktion ab. In der Fünffachheit gibt es drei zeitliche Momente:
1. Der (konkrete) Moment, in dem der Zweckbegriff sich an ein ge-
gebenes Wissen wendet;
2. Der (konkrete) Moment in dem aus dem Zweckbegriff zu einem
Wollen weitergegangen wird;
3. Der (abstrakte) mittlere Moment zwischen beiden: das Entwerfen
des Zweckbegriffes.21
Aus dieser Reihenfolge wird verständlich, daß das sich-als-wollend-
Denken mit dem Sich-Finden identisch ist. Das Ich findet sich nur,
weil es sich selbst konstruiert. Es entwirft, vom besonderen Objekt
abstrahierend, seinen Zweckbegriff und wendet ihn an auf ein beson-
deres Objekt, zugleich dieses wie auch sich selbst konkret verwirkli-
chend. Das Denken denkt zugleich seine gesamte Erfahrung und sein
Bewußtsein: „mit der SelbstPRODUCTION PRODUCIRT es zugleich seine
Erfahrung. Also das INTELLIGIBLE Ich und das EMPIRISCHE der ge-
sammten Erfahrung, oder das A PRIORI nach dem Kantischen Sinn u.
das A POSTERIORI sind ganz daßelbe nur angesehen von verschiedenen
Seiten.“22
Fichte will vor allem in der Beschreibung der idealen Reihe deut-
lich machen, daß in dieser sich die Fähigkeit der Unterscheidung zwi-
schen Abstraktem und Konkretem, Vorhergehendem und Folgendem,
mit einem Wort die Bedingungen a priori der Erfahrung konstituieren.
All dies beginnt mit dem Gedanken, daß das Ich seinen Zweckbegriff
entwirft, deshalb seine Tätigkeit vom ursprünglichen Schweben aus
mit einer praktischen Wahl beginnt und dabei am Grenzpunkt der
21 cf. WL nm, 196.
22 WL nm, 197.
15
idealen Reihe mit dem Sichherausgreifen aus der vernünftigen Masse
zusammentrifft.
„In dem Begriff des Zwecks komme ich mir schon vor, als NOUM-
EN, als frey.“23 Wenn die selbstbestimmende Entscheidung geschieht,
weicht das Schweben der „Konzentration”: die Mannigfaltigkeit wird
zum Inhalt des des ursprünglich handelnden und deshalb bestimmen-
den Denkens. Ein scheinbar widersprüchlicher Effekt tritt ein: die ide-
ale Reihe wird praktisch, die wirkliche Reihe wird anschauend und
rezipierend; sie begründet das Bewußtsein. Das Selbstbewußtsein ist
eins mit dem Bewußtsein des Handelns, das sich mit dem Ende des
Schwebens des Ichs setzt. Wir können daraus folgern, daß das Schwe-
ben des Ichs ein Schweben zwischen der einfachen Anschauung und
dem abgeleiteten Begriff ist. Der Begriff ist das Gegenteil der An-
schauung, inwiefern er in seinem Gehalt bestimmt ist, gemäß dem
zweiten Prinzip der Grundlage. Diese Parallele breiter ausgeführt: die
Anschauung setzt sich selbst (erstes Prinzip der Grundlage), und das
Schweben des Ichs drückt sein unbedingtes Sein aus. Die Tätigkeit
wird in der intellektuellen Anschauung als eine in sich selbst zurück-
gehende gesehen. Im Übergehen zur Bestimmung wird diese Tätigkeit
begriffen, gemäß dem Gesetz des Denkens. Die Anschauung setzt das
Denken, ihr Gegenteil. Dieses Denken ist inhaltlich bedingt, weil es
keinen sinnlichen Inhalt hat. Der Inhalt des Zweckbegriffes wird von
den beiden Reflexionsgesetzen bestimmt:
1. Er setzt sich anderen Begriffen entgegen, inwiefern er als
Zweckbegriff ohne sinnliche Objekte ist, mit denen die praktische
Wissenschaftslehre beginnt.
2. Er ist auch das Gegenteil der Unbegreiflichkeit an der Grenze der
idealen Reihe, d. i. der bestimmbaren vernünftigen Masse.
So entspricht die wirkliche Reihe dem dritten Prinzip der Grundla-
ge. Die wirkliche Reihe ist nach der Form bedingt, weil sie die teilbare
Mannigfaltigkeit setzt. Dies geschieht, indem das ursprüngliche
Schweben des Ichs in der idealen Reihe entgegengesetzten Richtung
formiert wird: des Schweben produziert eine von der bewußten Tätig-
23 WL nm, 235.
16
keit des Ichs unabhängige Mannigfaltigkeit, eine unendliche Teilbar-
keit: das Produkt der Einbildungskraft. In der wirklichen Reihe ist das
Ich körperlich, d.h. vor allem teilbar; äußerster Ausdruck der wirkli-
chen Reihe ist ja die Unendlichkeit der Gegenstände, unter denen der
wirkliche Wille sein Objekt auswählt.
Der Zweckbegriff, als noumenon betrachtet, hat eine zweifache Be-
deutung: erstens ist er die Möglichkeitsbedingung der Zweckbegriffe
im allgemeinen (das typische Fichtesche Verfahren: innerhalb seiner
philosophischen Dramatisierung leistet ein Schauspieler stellvertretend
die transzendentale Rechtfertigung der Existenz der ganzen Klasse);
zweitens bestimmt das noumenon sich selbst in dem Zweckbegriff. Das
Zweck-Noumenon ist als gedachtes bestimmt, deshalb Objekt des
Denkens, Noumenon für das Ich, nicht unabhängig; es existiert, weil
es gedacht wird (gegen den Rückfall in die dogmatische Ansichheit
der Kantischen Kritik). Diese zweite Seite des Noumenon wird infol-
gedessen vertieft:
„Es liegt im Zweckbegrif ein = X. Ein sich selbst bestimmen = Y und ein
mannigfaltiges im bestimmen = Z. Das reine Denken geht auf das erste.
Durch die Einbildungskraft sehe ich das reine Denken hindurch, und
wieder die Einbildungskraft durch das reine Denken.“24
Diese Reihenfolge erinnert wieder an die Reihenfolge der drei Prin-
zipien: die Sichsetzung, die Gegensetzung/Bestimmung und die teilba-
re Mannigfaltigkeit, hergeleitet aus der Gegensetzung. Der Zweckbe-
griff enthät deshalb die Identität des tätigen Ichs und die
Mannigfaltigkeit der Willensgegenstände dieses Ichs: die Behauptung
der Gegenseitigkeit von Einbildungskraft und reinem Gedanken ist
Komplement dieses Sachverhalts.25 Auch diese Gegenseitigkeit ist
24 WL nm, 235.
25 Wie bereits bemerkt, treffen wir von der WL nova methodo an auf phänomenologi-
sche Sichtweisen, die das Sich-Manifestieren des Konkreten neu bewerten (cfr. D.
Breazeale, Nova-methodo-phenomenologica. On the methodological role of „intel-
lectual intuition” in the later Jena Wissenschaftslehre, in: Revue internationale de
philosophie, 4/1998). Dies wird immer deutlicher nach der Wende der WL 1801,
mit der Zweiteilung in Demonstration und Selbstkonstruktion der intellektuellen
Anschauung, mit der Ableitung der Sichtbarkeitsbedingungen vom Licht her in der
17
transzendental: Die Sichtbarkeitsbedingung (deshalb Seins- und Mög-
lichkeits-Bedingung) des Gedankens ist die Einbildungskraft, die
Kraft der Produktion der bestimmbaren Mannigfaltigkeit. Die Einbil-
dungskraft ist aber Produzieren und zugleich Sehen; das Sehen ist Un-
terscheiden und deshalb notwendigerweise fähig der gedanklichen
Bestimmung. Die Unterscheidung der Anschauung ist eine einfacher
Unterscheidung für das sehende Subjekt, nicht eine Bestimmung des
Objekts. Das begriffliche Denken strebt nach Universalisierung, nicht
aber das unterscheidende Anschauen der Einbildungskraft. Die ideale
Reihe geht deshalb voran, weil ihre Bestimmungen universal sind, da-
gegen könnte die wirkliche Reihe nur nach endlosen Bestimmungen
vervollständigt werden. Der Ursprung des transzendenten Bestimmens
ist die Selbstbestimmung, die Anerkennung der Bestimmungsaktivität:
„Also die Bestimmtheit ist nichts, als durch das Bestimmen meiner
selbst, als das bestimmt erblickte u. umgekehrt ist das Bestimmen nichts
und wird nicht angeschaut, außer um die Bestimmtheit anzuschauen. So
giebt es kein Handeln ohne eine Handlung die beabsichtigt wird, u. keine
Handlung ohne ein Handeln.26
Das bestimmte Sein hängt vom Bestimmensakt ab, es ist weder für
das Sehen noch für das Denken, es wird als Produkt der Fähigkeit,
sich selbst zu bestimmen, abgeleitet (deswegen ist Selbstbestimmung
das Prinzip der wirklichen Reihe, Gegenteil der Mannigfaltigkeit der
produktiven Einbildungskraft und ihres Produktes, in einer nur schein-
baren Paradoxie).
Was die ideale Reihe betrifft, die Reihe des Handelns, können wir
keine wirkliche Handlung setzen ohne die transzendentale Fähigkeit,
uns selbst als Handelnde zu entwerfen; in ihr verwirklichst sich nicht
nur die Autonomie des Willensobjekts und des Zwecks des eigenen
Handelns, sondern auch eine Autonomie, in Freiheit zu entscheiden.
WL 1804-II, und der Entwicklung von Schematismen der WL 1805 (um uns auf die
mittlere Phase der WL zu beschränken. Siehe auch die Auslegung von W. Janke in:
Vom Bild des Absoluten, Grundzüge der Phaenomenologie Fichtes, DeGruyter,
Berlin-New York 1994)
26 WL nm, 236
18
Die deutsche philosophische Tradition hat sich seit Luther hinsichtlich
der Wirklichkeit des freien Willens geteilt, und Kant hatte zuletzt die
Wahlfreiheit als Ergebnis des kategorischen Imperativs beansprucht.
Fichte zeigt hier die transzendentale Freiheit als die Fähigkeit des
Menschen, sich als freier Mensch oder als Sklave, seinen eigenen
Zweck wählend und planend, zu bilden. Für Fichte hängt die Philoso-
phie, die ein Mensch wählt, von der Natur dieses Menschen ab; aber
es ist notwendig, diese Feststellung mit der Einsicht zu verbinden, daß
das Ich seine Natur auch unabhängig von den Zufälligkeiten wählt.
Hieraus resultiert die höchste moralische Absicht der Wissenschafts-
lehre, indem sie den Kantischen Imperativ radikalisiert und die leere
Begrifflichkeit der praktischen Vernunft mit dem Inhalt des konkreten
Subjekts ausfüllt. Das Reich der Zwecke wird die Masse der vernünf-
tigen Bestimmbarkeit, und jedes Individuum bestimmt sich selbst
durch die Konstruktion seines eigenen Zwecks. Dieser Zweck ist nicht
von einem kategorischen Imperativ abhängig, aber hängt, mit einer
sinnvollen Gegenüberstellung, von einer Aufforderung ab. Der katego-
rische Imperativ muß dieForm einer Maxime annehmen, die möglichst
allgemein ist, weil sie für alle gelten muß: sie ist als ein staatliches
Gesetz dargestellt, das von einer äußeren Autorität herkommt, deren
Urteil die unter dem Gesetz stehenden unterworfen sind. Die kantische
juristische Terminologie wird durch die Terminologie der täglichen
Beziehungen ersetzt, da die Allgemeinheit der moralischen Entschei-
dung von der Allgemeinheit der Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen,
abhängt. Die Aufforderung, die von außerhalb des Ichs kommt, ist die
kräftigste Bestätigung dafür, daß die einzige Transzendenz, die das
philosophische Ich anerkennt, die Transzendenz des Anderen ist. Das
andere Subjekt ist in erster Linie nicht Objekt einer Maxime, sondern
zeigt sich als Urheber einer Aufforderung. Leider ist die Behandlung
dieses Themas in der Wissenschaftslehre auf diese Ausführungen be-
schränkt, aber sie bieten die Grundlage für den Umriß einer gesell-
schaftlichen „Ontologie”: vom menschlichen Zusammen-Sein hängt
die Praxis und Sein des Menschen ab: die Aufforderung macht ein
Handeln möglich, weil „keine Handlung existiert, die nicht bewußt ist,
19
und jedes Bewußtsein, d.h. Selbstbestimmung, existiert weil das Ich
von einer Aufforderung zu einem bestimmten Handeln erreicht
wird“.27 Dieses ist das erste Zitat, in dem der Begriff auftaucht:
„Der gantze bestimmte Act ist eine Auffoderung zur freyen Thätigkeit,
diese Auffoderung kömmt her, (so wird es DEDUCIRT werden) von einem
andern vernünftigen Wesen meines gleichen, damit hebt das Bewußtseyn
unserer Behauptung nach an; Das Selbstbewußtseyn fängt also an, von
einem Herausgreifen meiner selbst aus der Masse des Vernunftreichs.
Dieses ist der tiefste Punkt des Bewußtseyns“.28
Die Fähigkeit, sich in Beziehung zu setzen, geht jener voraus, sich
als autonomes Subjekt zu erkennen, wie die Beziehungskategorie der
Kausalität und der Substanzialität vorausgeht. Weil jedoch vor allem
in der idealen Reihe die Handlungskraft enthalten ist, zeigt sich eine
doppelte Möglichkeit: Entweder handelt man gemäß der Aufforde-
rung, oder man wählt, entgegen der Aufforderung zu handeln. Das
bestimmte Handeln wird auch in diesem Fall nur als Gegenteil statt als
Folge der gleichen Aufforderung bestimmt.29
„Der Zweck wird uns gegeben, und mit dem Begrif der Auffoderung ist
Handeln nothwendig verknüpft. Dieses heißt mit andern Worten: die in-
dividuelle Vernunft läßt sich aus sich selbst nicht erklären, kein einzelnes
Vernunftwesen kann für sich selbst bestehen, es besteht nur als Theil
durch und für das Ganze. Die Erkenntniß eines andern Vernunftwesens
wird bewirkt durch den Mangel der in dem individuellen Vernunftwesen
liegt, Wesen seines gleichen ausser sich wahrzunehmen.“30
Das Sein wird ursprünglich ausschließlich als tätiges wahrgenom-
men. Das erste wahrgenommene Handeln ist die Aufforderung, die das
Subjekt dazu bringt, bestimmt zu handeln, wie das Feuer zu nichts an-
derem fähig ist, als sich auszubreiten. Der Zweckbegriff, Mittelpunkt
27 Zu diesem Thema siehe M. Ivaldo, Libertà e Ragione. L’etica di Fichte; Mursia,
Milano 1992.
28 WL nm, 177.
29 Wenn es in der modernen Metaphysik, wie vorher erwähnt wurde, eine heilige
Angst der Leere gab, so erfüllt in Fichtes Denken das bestimmende Handeln die
Gesamtheit der möglichen Beziehungen.
30 WL nm, 177.
20
der idealen Reihe, wird durch die Aufforderung mit Inhalt gefüllt, d. h.
durch Auswahl.
Von der Aufforderung geht also die Wechselwirkung mit den ande-
ren Subjekten aus. Dies ist ein Streben, das vom Ich als Aufgabe
wahrgenommen wird: mit dieser Modulation geschieht der Übergang,
der im Ausdruck ”Das SOLLEN oder der CATHEGORISCHE IMPERATIV
ist ein theoretisches Prinzip“31 synthetisiert wird. Das Ich findet sich
als frei, schwebend zwischen Beschränktheit und Abwesenheit der
Begrenzung. Die Entstehung der Individualität, die auch die Entste-
hung des Ichs als Selbstbewußtsein ist, geschieht durch die Aufforde-
rung, die auch die ideale Position des Zweckbegriffs im allgemeinen
hervorbringt. Um das andere kennenzulernen, ist es notwendig, die
eigene Aktivität zu beschränken, und das ist die Aufgabe, die die Exis-
tenz der äußeren Aktivität (die das Individuum mit der Aufforderung
zum bestimmten Handeln hervorgebracht hat) möglich macht. In der
Wissenschaftslehre gibt es kein Wesen, das nicht aktiv ist. Wenn das
Ich seine Tätigkeit nicht begrenzt, d.h. nicht bestimmt ist, wird es dem
anderen nie begegnen, weil das Andere nicht in sich selbst existiert,
ebensowie das Ich nicht in sich selbst existiert: Beide sind das Produkt
der gegenseitigen Anerkennung, von der Wechselwirkung rührt die
Existenz und die Kausalität her. Vom anderen (oder von den anderen)
wurde das Ich schon anerkannt, inwiefern das Ich sich als existierend,
und zwar als handelnd, wahrnimmt. Jetzt ist die Aufgabe des Ichs, die
anderen Iche anzuerkennen, indem es sein Handeln beschränkt. Solche
Einschränkung wird zur Aufforderung für eine weitere Individualität.
Fichte schreibt nicht von einer hypothetischen Aufforderungskraft des
Ichs, die anderen Subjekte zu einem bestimmten Handeln einzuladen;
weil diese Fähigkeit dem Ich nicht bewußt zu sein scheint, existiert sie
also für das Ich nicht.
Die absolute Wahlfreiheit bildet das Gegenteil zu der physischen
Notwendigkeit der Kausalität, die in der wirklichen Reihe erscheint.
Es stehen sich also gegenüber: einerseits das Soll, seine eigene Frei-
heit zu beschränken, und auf der anderen Seite die Begrenzung der
31 WL nm, 241.
21
Wirklichkeit des Ichs. Die Empfindsamkeit nimmt die Begrenzung als
Müssen wahr: eine neue schematische Beschreibung der Fünffachheit
ist deshalb möglich:
1. Schweben
Freiheit, sich selbst zu bestimmen
Absolutes Ich
4. Sollen – 2. Bestimmung des – 3. Bestimmung des – 5. Müssen
Zweckbegriffs sinnlichen Aktes
↕ ↕ ↕ ↕
Einschränkung Aufforderung zu Denken des Produkts Organische
des Handelns einem freien Handeln der Einbildungskraft Körper
Synthese der Teilbarkeit
Dadurch daß die Fünffachheit, die vorher nur nach den formalen
Relationen der Bestimmung beschrieben war, mit Inhalt versehen ist,
hat die Dynamik der grundlegenden Reihe der ichlichen Tätigkeit ih-
ren eigenen konkreten Inhalt erhalten. Die Konkretion der doppelten
Reihe besteht aber dennoch in erster Linie in der Festlegung ihrer
transzendentalen Bezugspunkte, d. h. der Möglichkeitsbedingungen
der Wechselwirkung zwischen den Subjekten, bei der Entstehung des
Ichs, und zwischen dem Subjekt und der sinnlichen Welt im allgemei-
nen, und dem eigenen Körper als dem organischen Teil derselben im
besonderen.
Das Wahrnehmbare überhaupt ist das Produkt der produktiven Ein-
bildungskraft und gleichzeitig die Bestimmung dieses Produktes in der
wirklichen Reihe, die jetzt zu untersuchen ist.
4. Die wirkliche Reihe und die Einbildungskraft: die Ent-
stehung der Körper
„Die ilosophie hebt an mit einem undenkbaren, unbegreiflichen, mit der
ursprünglichen Synthesis der Einbildungskraft, eben so auch mit einem
22
unanschaubaren[,] mit dem ursprünglichen Denken. Also der erste Act
mit dem [i]losophie anhebt, ist nicht zu denken u. nicht anzuschauen,
denn nur in wie fern die Trennung dessen was den ersten Act ausmacht[,]
erfolgt[,] kömmt etwas ins Bewußtseyn. Kurz ich denke real wenn ich
mich gezwungen und bestimmt fühle, aber diese Gezwungenheit kömmt
daher daß ich selbst mich bestimmte.“32
Das Bewußtsein fängt mit dieser ursprünglichen Teilung an, die die
bedeutungsvollen Beobachtungen Hölderlins im bekannten Fragment
Urtheil und Seyn33 in Erinnerung ruft: die ursprüngliche Teilung zwi-
schen Subjekt und Objekt entsteht in dem Urteil, das genau diese Ur-
teilung ist. Nach Hölderlin entspricht die Verbindung zwischen Sub-
jekt und Objekt dem Sein: dennoch ist solches Sein keine Identität,
und insbesondere die Selbstsetzung des Subjekts (Ich bin Ich) verei-
nigt das Subjekt-Ich und das Ich-Objekt der Satzaussage nicht so eng,
daß die Urteilung unmöglich gemacht würde. Es ist wirklich genau
diese Urteilung, die das Selbstbewußtsein und den ursprünglichen Ge-
gensatz zuläßt, die die Anerkennung und das Herausgehen aus der
Unbedingtheit der intellektuellen Anschauung gestattet. Das Selbst-
bewußtsein gestattet das Bewußtsein, das aus der ursprünglichen Re-
flexion/Teilung entsteht. Fichte vertieft ferner die genetische Be-
schreibung, indem er darlegt, daß es nur mit der ursprünglichen
Aufteilung möglich ist, den zeitlichen Fluß zu beginnen und die in
sich selbst zurückkehrende Aktivität in einzelne Handlungen zu teilen:
vorher ist es unmöglich, eben die erste Handlung zu unterscheiden. In
Hölderlins Text ist in dem Aufteilungsbegriff der Begriff einer gegen-
seitigen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt geschildert, also ih-
rer wechselseitigen Abhängigkeit: demnach ist die wirkliche Reihe
32 WL nm, 236.
33 Hölderlin, Urtheil und Seyn, in Aufsätze, Sämmtliche Werke (GrStA), vol IV, p
216–7. Es wird angenommen, daß dieser Text auf April 1795 zurückgeht, inspiriert
durch das Hören von Fichtes Vorlesungen in Jena, und kontextuell in Reaktion auf
Schellings Vom Ich, einige Monate vorher. Nach Hölderlin enthielt die erste Dar-
stellung der Wissenschaftslehre eine zweideutige Idee der substantia, aus der Schel-
ling die Gleichheit zwischen Identität und Sein gefolgert hatte.
23
nicht von der idealen Reihe unabhängig, aber sie bestimmt sich selbst
mit dieser.
Fichte setzt, wie wir schon herausgestellt haben, die Wechselwir-
kung als erste Kategorie und fügt hinzu: „Die CATEGORIE der Wech-
selwirkung ist SYNTHESIREND und analysierend zugleich, sie ist nicht
ein gegebenes, sondern sie bringt sich selbst hervor.“34 Aus dieser
Selbstproduktion der wechselseitigen Kausalität folgen die schon be-
schriebene ideale Reihe, die aus der Bestimmung eines Zweckbegriffs
entsteht, und die Bestimmung des Willensobjektes, das von bestimm-
ten Zweck geleitet ist. Das Willensobjekt wird von Fichte mit dem
Buchstaben „b” bezeichnet, und entspricht des Bestimmung der sinnli-
chen Handlung. Jedes Objekt wird vom Subjekt her gedacht oder, mit
einem Ausdruck der Transzendentalphilosophie, „alles Bewußtsein ist
nur durch Selbstbewußtseyn möglich.”35 Das Subjekt geht als bestim-
mendes in der Existenz dem Objekt voraus, inwiefern das Objekt be-
stimmt ist; dies ist die Deduktion der Form des Objektes. Jetzt ist der
Inhalt des wirklichen Gedankens im Kontrast gegen den Zweckbegriff
zu bestimmen. „Das reale Denken, soll nicht wie das ideale, nur sich
selbst darstellen, sondern es soll die Darstellung eines Gefühls seyn.
Das reale Denken soll ein Objekt abbilden, und dieses Objekt ist das
Gefühl.“36
Das Ich geht aus sich selbst heraus, weil es dazu gebracht wird:
aber es kann nicht durch das Gefühl herausgehen, das in dem Ich
selbst ist. Die Art und Weise, auf die es aus sich selbst herausgeht,
antwortet auf das Gefühl, das immer innerlich ist, aber es zeigt sich als
eine sinnliche Kraft, die dem Gefühl entspricht. „Ein Zweckbegrif, um
auf sinnliche Objekte sich beziehen zu können, dieß ist sinnliche
Kraft.“37 Wie der Zweckbegriff, ausgehend von der vernünftigen Mas-
se, zur Selbstbestimmung des Ichs führte, so bringt der Zweckbegriff
das Ich dazu, sein eigenes Objekt in Gegensatz zur sinnlichen Masse
34 WL nm, 230.
35 WL nm, 195.
36 WL nm, 203.
37 WL nm, 204.
24
zu bestimmen. Das erste Objekt, auf das das Ich trifft, ist sein eigener
Körper. Das Ich identifiziert sich nicht mit seinem eigenen Körper,
sondern es identifiziert seinen eigenen Körper mit seiner physischen
Kraft, die dem bestimmten sinnlichen Handeln entspricht.38 Der Kör-
per ist die Anschauung der Kausalität des Ichs, wie sie sich in der
sinnlichen Welt offenbart. Auf dem Körper beruht die Wirklichkeit,
Ursache der Sensibilität und Objekt der sinnlichen Kraft: „Der hier
abgeleitete Begrif ist der des real Grundes. Realisirt wird ein Ding
dadurch daß diese Vereinigung vorgeht im sinnlichen Denken und das
hier aufgestellte Verhältniß ist das Verhältniß der CAUSALITÄT.“39
Noch einmal wird auf die architektonische Basis der Wissenschafts-
lehre hingewiesen, die zum ersten Mal am Ende der WL nova methodo
ausgeführt werden wird. Die Beziehungskategorie ist die Grundlage
der Kausalität, und nur auf ihr beruht die wirkliche Substanz, verstan-
den als allgemeinste Wahrnehmung. Die Wahrnehmung entsteht aus
einer „Vereinigung”. Der lange Abschnitt 17 wird in den Abschnitt der
Zerlegung des Bewußtseins und in den folgenden der synthetischen
Rekonstruktion desselben unterteilt. Die synthetische Rekonstruktion
beginnt mit der Darstellung der wirklichen Reihe der Fünffachheit, die
der Kern dieser Zweiteilung ist. Die analytische Zerlegung gründet auf
den Beobachtungen des Philosophen und gipfelt in der Anerkennung
der Aufforderung zu einem bestimmenden Handeln, die auch Grund-
lage der analytischen Unterscheidungen ist. Die Wirklichkeit beginnt,
sich zu kondensieren, ausgehend von der Abhängigkeitsbeziehung
jedes Gefühls von dem versinnlichten Zweckbegriff. Jetzt kann man
definieren, was in der Wissenschaftslehre im allgemeinen eine Kate-
gorie ist:
„Die CATHEGORIEN sind die, so eben beschriebenen Weisen und Arten
der Vermittelung des unmittelbaren Bewustseyns mit dem mittelbaren,
die Weisen wie das ICH aus dem bloßen Denken seiner selbst herausge-
hen kann zu dem denken eines andern. Sie sind nicht etwas bloß das
38 Der Gegensatz zu der Philosophie der Identität von Subjekt und Objekt scheint
offensichtlich.
39 WL nm, 204.
25
mannigfaltige verknüpfende, sondern, sie sind vielmehr die Weise das
einfache in ein mannigfaltiges zu verwandeln.“40
Wie der Autor selbst anmerkt, gibt Kant keine präzise Definition
der Kategorien, sondern beschränkt sich darauf, sie nur zu gebrauchen.
In der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant, daß „die Kategorien, als
die wahren Stammbegriffe des reinen Verstandes, auch ihre eben so
reine abgeleitete Begriffe haben, die in einem vollständigen System
der Transscendental-Philosophie keinesweges übergangen werden
können, mit deren bloßer Erwähnung aber ich in einem bloß kritischen
Versuch zufrieden sein kann.”41 Hauptziel der Wissenschaftslehre ist
es, ein fertiges System zu sein; sie liefert also eine Definition der Ka-
tegorien, die auch die Darstellung der Begriffe, die aus den oben er-
wähnten Kategorien abgeleitet werden. Die Kategorien sind drei
(Wechselwirkung, Kausalität und Substanz) und sie entsprechen den
Beziehungskategorien der Kritik der reinen Vernunft, die in einer um-
gekehrten Reihenfolge dargelegt werden. Wir können somit bestäti-
gen, daß die wesentliche Anschauung Fichtes die ist: Es gibt kein Sein
ohne Beziehung, d.h. kein Objekt ohne Subjekt. Dieser Gesichtspunkt
erlaubt die „Überwindung” der Kritik, und er fällt nicht in den Idea-
lismus des Absoluten zurück, sondern er ist eine Radikalisierung des
Gegenteils des Absoluten, d.h. der Beziehung, deren Ausdruck die
Fünffachheit ist. Die drei Kategorien liefern die Weisen, wodurch
Wirklichkeit erreicht werden kann, die von der sinnlichen Kraft des
Ichs abhängt, die wiederum in der idealen Reihe entstanden ist, die
von der Aufforderung eines anderen Subjektes ausgeht. Die drei Kate-
gorien sind außerdem die einzigen drei Weisen, in denen sich das Ein-
fache in Mannigfaltigkeit verwandelt. Durch die Beziehung zeigt sich
das Einfache immer mit einem anderen im allgemeinen verbunden (ob
Subjekt oder Objekt). Durch die Kausalität kann man erkennen, wie
die Wurzel der Existenz immer auf etwas anderes verweist. Durch die
Substanz erkennt man, wie sich diese nie allein in der Realität oder
allein in der Idealität erschöpfen kann. Was die Idealität angeht, hat
40 WL nm, 205.
41 Kant, Ak.Ausgabe, III,94
26
sich schon bestätigt, daß jedes Bewußtsein Selbstbewußtsein ist; was
die ideale Reihe angeht, ist es notwendig deutlich zu sagen, daß das
Ich sich selbst, als nach bestimmten Gesetzen, mannigfaltig sieht und
auf diese Weise die wahrnehmende Mannigfaltigkeit entstehen läßt.
Die wesentliche, auf verschiedene Weisen in der WL nova methodo
wiederholte These ist, daß nur durch die bestimmte Tätigkeit eine phy-
sische Wirklichkeit wahrgenommen werden kann. Es existiert z. B.
kein unmittelbares Bewußtsein einer Sache (sei es einer Statue oder
eines Buchstaben), aber es existiert ein Bewußtsein des Berührens o-
der des Schreibens, in dem das Objekt konstruiert wird, (nach der Her-
stellung einer Beziehung, Ableitung einer Kausalität und Annahme
eines äußeren Lebens). Das ist auch die Kritik an den dogmatischen
und den empirischen Philosophien und an der kantischen Kritik, die,
von ihrem berühmten incipit aus: „Daß alle unsere Erkenntniß mit der
Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel”42, die Erfahrung als
Passivität beschreibt, und diese als ursprüngliche Wahrnehmung einer
Realität, mit der eine Beziehung beginnen kann. Diese Beziehung
kann aber nie eine vollständige Offenbarung sein, weil die Unbegreif-
barkeit des noumenon der Schlüssel der Kritik ist. Die Wissenschafts-
lehre stürzt diese monistische Einstellung und setzt die Beziehung als
ursprüngliches Prinzip, das der Wissenschaftlehrer nachkonstruiert,
ohne sie aber zu erschöpfen, denn ihre möglichen Darstellungen sind
unzählige. Die Wissenschaftslehre sucht nicht nach einer vollständi-
gen Offenbarung der Wirklichkeit, wie es sich dagegen das idealisti-
sche System zum Ziel nimmt: sie sucht nach der vollständigen Offen-
barung der Tätigkeit des Ichs, nicht nach ihren mannigfaltigen und
zahllosen Formen.
Die bestimmbaren Vorstellungen der wirklichen Reihe, einge-
schlossen oder ausgeschlossen durch die Körperlichkeit, sind der pro-
duktiven Einbildungskraft entsprungen. Diese Vorstellungen treffen
auf das Denken, und die Reihenfolge des Zusammentreffens zwischen
Mannigfaltigkeit und Ich vervollständigt sich:
42 Kant, Ak.Ausgabe, III,27
27
”Ich weiß von einem realen Objekt, aber nur in wiefern ich es durch das
Bestimmen meiner sinnlichen Kraft hindurch sehe. Von der sinnlichen
Kraft weiß ich nur durch den Zweckbegrif, von dem Zweckbegrif weiß
ich wieder nur durch mein entwerfen deßelben, u. dieses Entwerfens bin
ich mir bewust nur durch meine Thätigkeit.“43
Das Ich erkennt sich als sinnliche Kraft in der wirklichen Reihe und
beschränkt sich, damit sich die Masse seiner bestimmenden Aktivität
zurückhält, und die Vorstellungen der produktiven Einbildungskraft
wahrgenommen werden können. Es gibt in der Tat eine Zweiteilung
der Tätigkeit in der wirklichen Reihe: eine bestimmende Tätigkeit, die
den eigenen Körper von der Körperlichkeit im allgemeinen unter-
scheidet, und eine repräsentative Tätigkeit der produktiven Einbil-
dungskraft.44 Zwischen diesen Tätigkeiten besteht eine gegenseitige
Abhängigkeit, die sich nach den drei Kategorien so darstellen läßt:
1. Das Denken wird durch die Einbildungskraft versinnlicht, und
die Einbildungskraft wird durch das Denken bestimmt (Wechselwir-
kung).
2. Aus dieser Bestimmung folgt die Bestimmung des Ichs als sinnli-
cher Kraft, d.h. als eine, die fähig ist, eine wahrnehmbare Mannigfal-
tigkeit zu produzieren und ihr eigenes Substrat zu sein (Substanziali-
tät).
3. Durch den Willen wird der sinnlichen Kraft ein Objekt gegeben,
und dieses Objekt wird durch das Denken, verbunden mit der sinnli-
chen Kraft, bestimmt: auf diese Weise erkennt das Ich seine Kausalität
zur Wirklichkeit. (Kausalität).
In beiden Schemata der Fünffachheit war das zentrale Moment mit
„Schweben” bezeichnet. In der idealen Reihe bildet dies den Gegen-
satz zwischen der auffordernden und unbestimmten Realität und dem
Ich, das sich aufgefordert findet, auf eine bestimmte Weise zu han-
deln. In der wirklichen Reihe ist das Schweben die Bewegung der
produktiven Einbildungskraft, die die Mannigfaltigkeit der Vorstel-
43 WL nm, 210
44 Siehe F. Inciarte, Transzendentale Einbildungskraft. Zu Fichtes Frühphilosophie im
Zusammenhang des transzendentalen Idealismus; Bouvier, Bonn 1970.
28
lungen geben kann, weil sie keinen festen Punkt hat und das ursprüng-
liche Schweben des Ichs nachahmt. Das Schweben des Ichs wird
durch die empfindsame Kraft versinnlicht. Indem sie mit einem Objekt
in Kontakt kommt und eine Einschränkung wahrnimmt, erfährt die
Einbildungskraft die Grenzen des zu umreißenden Bildes, und die
sinnliche Mannigfaltigkeit tritt in Bewegung: dieser Prozeß wiederholt
sich mit unbestimmter Vielfalt in jedem Augenblick des zeitlichen
Bewußtseins des Ichs. Aus dieser Idee von einer Fähigkeit, die Bilder
zu liefern, entsteht der Körper, der die erste Bestimmung der wirkli-
chen Reihe ist. Der Körper erscheint dem Ich unter zwei wesentlichen
Aspekten: als artikuliert und organisiert.
Der Körper erscheint als ein artikulierter, weil er sich aus der Mas-
se der unbestimmten Mannigfaltigkeit, somit nach der zweiten Form
des Reflexiongesetzes hervorhebt: der Körper erscheint demnach in
seinem Inneren als Objekt einer denkenden Tätigkeit bestimmt. Unter
dieser Form ist der Körper Objekt des Handelns des Denkens.
Der Körper erscheint dagegen als ein organisierter nach der ersten
Form des Reflexiongesetzes, also im Gegensatz zu einem anderen
Körper und in der Abgrenzung zu den Funktionen der einzelnen Orga-
ne. Nach dieser Form ist der Körper nicht mehr Objekt des Denkens,
sondern dessen Werkzeug. Er ist bestimmt, nicht mehr bestimmbar, da
die Vorstellung, die das Ich von ihm hat, bestimmt und in ihrer Gene-
sis vollendet ist. Der Körper kann somit sinnliche Handlungen ausfüh-
ren.
Das Ich findet sich in der wirklichen Welt durch die Körperlichkeit,
die durch die Abgrenzung des Produkts der produktiven Einbildungs-
kraft im Gegensatz zur Masse des wirklichen Bestimmbaren gegeben
und in ihrem Inneren als organisierte bestimmt ist: der Prozeß der
Konstruktion der Körperlichkeit, vom Ich vollzogen, ist die Form, in
der der Körper für das Ich existiert, abgesehen von seiner Erscheinung
in der Welt. So vervollständigt sich die synthetische Reihe durch die
Entstehung des Körpers nach natürlichen Gesetzen, in denen sich ein
Ich, das sich einige Pflichten gibt, identifiziert: „Die Beschränktheit
der Freyheit als solcher ist ein sollen und die Beschränktheit eines
29
Seyns ist ein müßen.”45 Der Körper, der als zum Ich gezwungen
scheint, erscheint auch als Körper, der vom Ich produziert werden
muß, so wie die Bestimmtheit der moralischen Pflicht als eine Be-
stimmtheit erscheint, die vom Ich produziert werden muß.
Im Schweben besteht schließlich das Zentrum der Fünffachheit:
„Ich finde mich als solches, weder beschränkt noch unbeschränkt, son-
dern nur frey, ins unendliche durch mich selbst bestimmbar, durch wel-
ches Prädikat des Ich, alles SEYN, alles bestehen, alles fixirt seyn, ausge-
schloßen wird.“46
45 WL nm, 239.
46 Ebenda.