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Heike Delitz Gesellschaften der Städte und Gesellschaften der Zelte. Zur politischen Effektivität der Architektur Jede Gesellschaft ist in ihrer politischen Verfasstheit auf eine je spezifische Architektur angewiesen, auf bestimmte Bautypen und die von ihr gebildeten Räume. Mehr noch: das Politische einer Gesellschaft ist vielleicht - adäquat, erschöpfend - gar nicht ohne ihre Architektur zu verstehen. Denn die Verfasstheil des Sozialen wird durch die Archi- tektur nicht einfach nur »ausgedrückt«. Statt zu denken, dass es ein »eigentliches« So- ziales gebe - die Interaktionen, die sozialen Strukturen - , für welches die Architektur und insgesamt das Symbolische nur noch die Kopie, die »Hülle« wäre, die »nichts dazu tut und nichts wegnimmt« I, hat man die Architektur vielleicht erst adäquat erfasst, wenn man sie als sozial konstitutiv versteht: erst in ihrer je bestimmten Architektur erschafft sich eine Gesellschaft als diese besrilllmre Gesellschaft mit diesen sozialen Trennungen und Hierarchien, diesellI Begehren der Subjekte, dieser Vorstellung des Guten. So könnte man es zumindest mit Cornelius Castoriadis formulieren, mit seiner Theorie der »imaginären Institution der Gesellschaft«. Natürlich sind auch alle anderen kulturellen Medien, vor allem die Sprache, an die- ser symbolischen Konstitution der Gesellschaft beteiligt. Aber der Architektur kommt doch eine besondere Funktion zu. Sie separiert die sozialen Aktivitäten; sie weist ihnen einen Ort zu; sie schafft ihnen eine dauerhafte Sichtbarkeit. Und während dies zunächst die visuelle Dimension der Architektur sowie die von elen Baukörpern gebildeten Räu- me betrifft, sind auch die architektonischen Artefakte, wie Treppen, Mobiliar, Fenster, Türen, Haustechnik den Interaktionen nicht äußerlich, sie sind nicht deren bloße Objek- te, wi e die Architektur auch kein pa ss iver Container eier Interaktionen is t. Jede Archi- tektur gibt bestimmte Bewegungen, Körperhaltungen und Sichtbarkeiten vor. Sie formt damit die Interaktionen und die Subjekte mit. Die Architektur ist - nun in eier Denkwei- se einer Soziologie der Artefakte - statt des bloßen Objekts eher ein »socius« (Iat. Ge- fährte) .2 Kurz, die Architektur gibt den spezifischen sozialen Verhältnissen - elarunter auch dem Politischen - erstens eine dauerhafte Gestalt und sie ist zweitens über ihren Eintluss auf den Körper mit beteiligt an der Schaffung der Subjekte einer Gesellschaft. Hier wird eine ganz bestimmte Denkweise verfolgt, um elie politische Effektivität der Architektur zu verstehen, jene Denkweise, die die französische Lebensphilosophie in die soziologische Debatte einbringt. Es handelt sich um einen Ansatz, der bei Henri Bergson das stetige, unvorhersehbare Werden zum Ausgangspunkt nimmt und bei Gil- les Deleuze eine vitalistische »Philosophie der Differenz« entfaltet: eine grundlegende Kritik an der klassischen Identitätsphilosophie, insofern diese stets »dasselbe« (Identi- tät) denke. Mit dieser klassischen Denkweise bleibt auch die Soziologie in ihren stati-

Gesellschaften der Städte und Gesellschaften der Zelte. Zur politischen Effektivität der Architektur

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Heike Delitz

Gesellschaften der Städte und Gesellschaften der Zelte. Zur politischen Effektivität der Architektur

Jede Gesellschaft ist in ihrer politischen Verfasstheit auf eine je spezifische Architektur angewiesen, auf bestimmte Bautypen und die von ihr gebildeten Räume. Mehr noch: das Politische einer Gesellschaft ist vielleicht - adäquat, erschöpfend - gar nicht ohne ihre Architektur zu verstehen. Denn die Verfasstheil des Sozialen wird durch die Archi­tektur nicht einfach nur »ausgedrückt «. Statt zu denken, dass es ein »eigentliches« So­ziales gebe - die Interaktionen, die sozialen Strukturen - , für welches die Architektur und insgesamt das Symbolische nur noch die Kopie, die »Hülle« wäre, die »nichts dazu tut und nichts wegnimmt« I, hat man die Architektur vielleicht erst adäquat erfasst, wenn man sie als sozial konstitutiv versteht: erst in ihrer je bestimmten Architektur erschafft sich eine Gesellschaft als diese besrilllmre Gesellschaft mit diesen sozialen Trennungen und Hierarchien, diesellI Begehren der Subjekte, dieser Vorstellung des Guten. So könnte man es zumindest mit Cornelius Castoriadis formulieren, mit seiner Theorie der »imaginären Institution der Gesellschaft«.

Natürlich sind auch alle anderen kulturellen Medien, vor allem die Sprache, an die­ser symbolischen Konstitution der Gesellschaft beteiligt. Aber der Architektur kommt doch eine besondere Funktion zu. Sie separiert die sozialen Aktivitäten; sie weist ihnen einen Ort zu; sie schafft ihnen eine dauerhafte Sichtbarkeit. Und während dies zunächst die visuelle Dimension der Architektur sowie die von elen Baukörpern gebildeten Räu­me betrifft , sind auch die architektonischen Artefakte, wie Treppen , Mobiliar, Fenster, Türen, Haustechnik den Interaktionen nicht äußerlich, sie sind nicht deren bloße Objek­te, wie die Architektur auch kein pass iver Container eier Interaktionen ist. Jede Archi­tektur gibt bestimmte Bewegungen, Körperhaltungen und Sichtbarkeiten vor. Sie formt damit die Interaktionen und die Subjekte mit. Die Architektur ist - nun in eier Denkwei­se einer Soziologie der Artefakte - statt des bloßen Objekts eher ein »socius« (Iat. Ge­fährte) .2 Kurz, die Architektur gibt den spezifischen sozialen Verhältnissen - elarunter auch dem Politischen - erstens eine dauerhafte Gestalt und sie ist zweitens über ihren Eintluss auf den Körper mit beteiligt an der Schaffung der Subjekte einer Gesellschaft.

Hier wird eine ganz bestimmte Denkweise verfolgt, um elie politische Effektivität der Architektur zu verstehen, jene Denkweise, die die französische Lebensphilosophie in die soziologische Debatte einbringt. Es handelt sich um einen Ansatz, der bei Henri Bergson das stetige, unvorhersehbare Werden zum Ausgangspunkt nimmt und bei Gil­les Deleuze eine vitalistische »Philosophie der Differenz« entfaltet: eine grundlegende Kritik an der klassischen Identitätsphilosophie, insofern diese stets »dasselbe« (Identi­tät) denke. Mit dieser klassischen Denkweise bleibt auch die Soziologie in ihren stati-

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sehen Modellen der sozialen Wirklichkeit, wenn sie die Architektur als Spiegel oder Ausdruck des eigentlichen Sozialen versteht, das ohnehin schon existiert.

Im Folgenden wird zunächst diese Denkweise erläutert und hinsichtlich des Politi­schen spezifiziert, um an zwei konträren Gesellschaftstypen - sehr kursorisch - die politische Effektivität von Architektur zu analysieren: an der griechischen Polis und den Zelten einer nomadischen Gesellschaft. Gesellschaften der Zelte und Gesellschaften der Städte: es handelt sich um eine andere Architektur, um andere Räume, um ein anderes Politisches, um andere kollektive Begehren und um andere Subjekte.

Vorweg sind zwei Begriffe zu klären: das Politische und der RauJ/1 oder der Raum­typus. Erstens: Das Politische wird im Folgenden mit Cornelius Castoriadis bestimmt, dessen Politikbegriff Hannah Arendt sicher näher ist als Carl Schmitt. Aber er ist auch von einer Einengung dieses Begriffs bei Arendt befreit, insofern diese das Politische den »ahistorischen« Völkern schlichtweg abspricht: womit sie nur den Griechen folgt in deren Differenzierung der Menschen von den »Barbaren«.' Für Castoriadis hingegen ist das Politische diejenige grundlegende Dimension des Gesellschaftlichen, die mit der Entscheidungsmacht zu tun hat (mit Instanzen, die Ziele formulieren und Anweisungen erlassen). Dabei spielt es keine Rolle, ob die Instanz dieser Entscheidungsdimension ein Häuptling, ein Staatsapparat oder ein ganzer Stamm ist. Gesellschaften »ohne Staat« sind demnach keineswegs unpolitische Gesellschaften . Auch sie haben ihre Begehren, ihre Kontliktregelungen, ihre Entscheidungen . Pien'e Clastres und Gilles Deleuze haben ihrerseits zwar staatliche und »gegen-staatliche« Gesellschaften unterschieden, beide aber als politische Gesellschaften aufgefasst.4 Mit einem solchen Politikbegriff ist das Politische jeder Gesellschaft zuzusprechen. Jede hat damit auch ihre eigenen politi­schen Räume und ihre politisch effektive Architektur. Nicht jede aber hat eine »politi­sche Architektur« im Sinne eines sozialen Teilsystems (Parlamente, Schlösser, Kanzle­rInnenämter. .. ).

Zweitens : Der RallJ/1begrijf wird hier in einem architektonischen Sinn gefasst. »Raum« meint dann stets den Raum, der von den architektonischen KÖlpem gebildet wird . Es geht also nicht um eine Metapher oder um einen eher idealistischen oder kon­struktivistischen Raumbegriff, zu dem auch noch Hannah Arendt neigt, wenn sie den Begriff des »öffentlichen« und damit des »politischen Raums« fasst. Denn für sie ist dieser »Raum« nur vorhanden, sofern gesprochen und gehandelt wird. Dabei sieht A­rendt selbst, dass das Handeln immer »zwischen Dingen« stattfindet und ohne diese kaum zu denken ist. 5

Architektur als »Medium« des Sozialen6

Um die politische Effektivität der Architektur zu analysieren - ihren Beitrag zum Politi­schen einer Gesellschaft -, muss man sich zunächst von den Ausdrucks- und Repräsen­tationsbegriffen lösen : insofern diese zur Annahme zwingen, dass das »eigentliche Soziale« durch die Architektur nur noch ausgedrückt oder »kopiert« wird. Will man die Architektur soziologisch adäquat fassen, handelt es sich nicht nur um den bloßen »Aus­druck« einer Gesellschaft. Eher hat man es mit einem konstitutiven Medium des Sozia­len zu tun. Die Architektur ist sozial konstitutiv in mindestens zwei Aspekten: in der räumlichen Gestalt, die sich eine Gesellschaft in ihrer Architektur wählt und in der sie sich jedem Einzelnen erst wahrnehmbar und erkennbar macht. Um die konstitutive

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Gesellschal'le n der Städte lind Gesellschal'le n der Ze lte 23

Leistung dieser architektonischen Gestalt der Gesellschaft zu erkennen, bedarf es einer nicht repräsentations- oder identitätslogischen Denkweise, für die die Architektur nicht nur ausdrückt, was ohnehin bereits existiert. Der andere Aspekt ist derjenige der fakti­schen Koexistenz der Akteure, ihrer Wahrnehmungen und Bewegungen mit der Archi­tektur. Man muss ihren Status als »socius« einrechnen, ihre Evokation je bestimmter Wahrnehmungen und Bewegungen. Hierzu benötigt man eine nicht-cartesianische und nicht-soziozentrische Denkweise, für die das Soziale nicht in der reinen Interaktion aufgeht.

In beiden Hinsichten bietet sich die französische Soziologie an: insbesondere dieje­nige Theorie, die an die Philosophie Henri Bergsons anschließt. Vor allem Gilles De­leuze und Felix Guallari einerseits, Cornelius Castoriadis andererseits haben diese Denkweise in die soziologische Theorie und politische Philosophie eingebracht ; der eine mit Blick auf die räumliche Gestalt der Gesellschaft, die anderen hinsichtlich der Inter-Aktionen von Menschen und Dingen. Beide sind selbst allerdings kaum auf die Architektur eingegangen . Man muss ihre Argumente also auf dieses Medium übertra­gen .

Grundlegend geht Cornelius Castoriadis zunächst vom stetigen, unvorhersehbaren Anders-Werden aus . Auf der elementaren sozialen Ebene gibt es nichts weiter als den stetigen Wandel der Einzelnen, ihrer Atlekte7, Perzepte und Begehren. Die »Gesell­schaft« mit ihren sozialen Strukturen ist demgegenüber eine imaginäre Fixierung; eine »imaginäre Institution«. Das Soziale muss sich, so Castoriadis, seinen stetigen Wandel zugunsten der Kontinuität und Identität verleugnen; es muss sich imaginär feststellen . In der Tat kann sich keine Gesellschaft vorstellen, je ganz anders gewesen zu sein oder es zu werden. Jede Gesellschaft schalTt sich eine Kontinuität der Einzelnen im Neben­einander (im Raum) und im Nacheinander (in der Zeit). Jede Gesellschaft ist damit eine je spezifische Art und Weise, die fluide soziale Realität zu unterteilen, bestimmten Sphären einen Wert zuzusprechen und grundlegend zu bestimmen, welche Dinge für sie überhaupt »real « sind. Die Seinsweise der »Gesellschaft« ist für Castoriadis demnach die der SetZling einer Bedelltllng; sie setzt sich selbst als eine bestimmte Gesellschaft mit ihren spezifischen Subjektformen . Und sie setzt sich selbst je spezifische Begehren: in jeder Gesellschaft gibt es Dinge, »mr die wir leben «, und solche, »mr die wir ster­ben«.x Es gibt in dieser lebenssoziologischen Denkweise, die vorn stetigen Anderswer­den ihren Ausgang nimmt, keine fixe Sozialstruktur, wie Klassen, Schichten oder Ge­schlechterverhältnisse, die sich im Symbolischen nur noch spiegeln. Ebenso wenig gibt es Subjekte. Was es stalldessen wirklich sozialontologisch gibt, ist das stetige Subjekt­Werden, die stetige Individuation. Es handelt sich denll1ach auch bei Klassen oder Ge­schlechtern um kontingente Einteilungen des Wirklichen, um imaginäre Segmentierun­gen, Hierarchisierungen und Subjektivierungen gegenüber dem stetigen und unvorher­sehbaren Wandel.

Diese Fixierung, das »Imaginäre« bedarf des »Symbolischen«, und dieses bedarf seinerseits des »Realen «. Das Imaginäre bedarf der Anschauung und diese der Materia­lität. Jede Gesellschaft instituiert sich, indern sie sich grundlegend als eine Weise des zeitlichen Nacheinanders und als eine Weise des räumlichen Nebeneinanders der Ein­zelnen setzt. Sie schafft sich dazu eine Geschichtlichkeit, eine Vorstellung eier Vergan­genheit und Zukunft, und eine Zeitlichkeit, eine Einteilung der Zeit.') Und sie gibt sich ebenso grundlegend eine rälllllliche Gestalt . Die räumliche Figur oder Gestalt des Ge-

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sellschaftlichen ist dann nicht die bloße Hülle eines sowieso schon ablaufenden sozialen Geschehens. Sie ist vielmehr die »Art und Weise, ill der sich das Gesellschaftlich­Geschichtliche selbst entfaltet«. Jede Gesellschaft »erschafft sich als Figur, das heißt als Verräumlichung« und jede erschafft sich als »Anderssein/Anderswerden dieser Figur, das heißt als Zeitlichkeit.«'o Und die wichtigste Weise, in der sich eine Gesellschaft eine Gestalt ihrer selbst gibt, an der sie sich selbst erkennt, ist für Castoriadis nun aus­drücklich die Architektur: das »Aufbauen« - auch wenn er ansonsten vor allem auf die Mengenlogik und die Sprache einer Gesellschaft achtet. 11

Mit Gilles Deleuze und Felix Gualtari lässt sich diese Gesellschaftstheorie mit einer »Mikrosoziologie« verknüpfen, die ganz konkret beschreibt, welchen Bezug die Archi­tektur zum Körper hat, welche Bewegungen, Blicke und Interaktionen sie evoziert, welche Affekte sie dabei mit welchem Material und in welchen Formen und Dimensio­nen schafft, schließlich, welchen Bezug zum Boden eine Architektur den Einzelnen nahelegt. Neben den architektonischen und den menschlichen Körpern muss man dabei auch die Aussagen einrechnen, die Diskurse einer Gesellschaft . Die je spezifische Dis­kursformation, das Imaginäre durchquert die Artefakt-Akteur-Gefüge oder die Netz­werke (Bruno Latour) der anorganischen und organischen Körper, und führt dabei mit zu spezifischen Subjektformen. Michel Foucault hat am Fall des Panopticon und der Genese des disziplinierten Subjekts beschrieben, wie das zu denken ist. Stets muss man dabei auch die ganz konkrete Materialität einrechnen: aus dem nicht jede beliebige Form folgt, nicht jede beliebige Bedeutung und nicht jeder beliebige Affekt. 12

Zm' politischen Effektivität des Mediums Architektur

In der Gesellschaftstheorie von Castoriadis gibt es für jede Gesellschaft ein zentrales Begehren, welches das »Magma« der veränderlichen einzelnen Psychen ausrichtet, einen intentionalen Vektor in die einzelnen Triebkräfte und Begehren einbringt. Jede Gesellschaft hat ein »zentrales Imaginäres«, eine Bedeutung, die alle anderen wie ein schwarzes Loch krümmt: etwa »Goll«, »Autonomie« oder »Rationalität«. Anders for­muliert: Keine Gesellschaft beschränkt sich auf ihre Selbsterhaltung, sie gibt sich eine Aufgabe, ein Selbstverständnis. Damit kommt das Politische ins Spiel. Jede Gesell­schaft besitzt etwas, das für sie »zu tun bleibt«, und darüber muss sie eine Entscheidung fällenY Will man das Politische einer Gesellschaft und damit auch ihr zentrales Imagi­näres, ihre Subjektformung, ihre Begehren verstehen, ist es nun vielleicht geradezu notwendig, sich an die Architektur zu halten. Da ist zum einen der Bezug zum Boden, den sie schafft und damit Identität: woraus beziehen die Einzelnen ihr Selbstverständ­nis, wie ist ihre »Heimat« definiert? Da sind zum zweiten die Einteilungen des Sozia­len, die eine Gesellschaft in ihrer Architektur vornimmt. Da sind drittens die Bewegun­gen und Haltungen, Sicht-, Hör- und Tastbarkeiten, die mit einer Architektur einhergehen . Der denkbar größte Gegensatz besteht hier sicherlich zwischen Nomaden und Sesshaften, so dass sich territorial gebundene Gesellschaften vielleicht erst konsti­tuieren konnten, indem sie sich gegen die Nomaden, diese notorischen »Reichestlirzer und Kulturüberschwemmer«'4 stellten und deren Bewegungen mit Hilfe der Architektur stoppten. Das gilt etwa für die Griechen in ihrer tiefgreifenden Beziehung zu den Skythen. Und auch moderne sesshafte Gesellschaften haben ihre Nomaden, ihre

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»Flüchtlinge«, deren Bewegungen sie politisch ' und architektonisch zu kanalisieren suchen.

Politische Räume einer urbanen Gesellschaft: die griechische Polis

Die Rolle des Imaginären ist Schöpfung, das Auftauchen neuer Institutionen, neuer Lebensweisen. In dieser Hinsicht haben die Griechen Außerordentliches geschaffen. Sie haben die Demokratie erfunden und damit unsere Vorstellung des Politischen. Nicht, dass sie »das Politische« im Sinne der expliziten Macht erfunden hälten. Aber sie haben »die Politik« geschaffen , I ) insofern sie das Politische nicht mehr auf ein Außen zurück­führten , sondern es als Selbstgesetzgebung erkannten. »Autonomie« ist die Erfindung und das zentrale Imaginäre der Griechen; und dies geht für die Griechen notwendig mit Exklusion und Heteronomie einher (in der Einrichtung von Kolonien) . Wenngleich wir heute weit weniger Griechen sein mögen , als wir glauben, wie Michel Foucault fest­stellt - da wir nicht mehr selbst auf den Rängen und der Bühne sind ' 6 und einem ganz anderen Politischen folgen -, so gestalten uns die Griechen doch »kein Ausruhen«. Wir partizipieren schließlich noch immer an ihrem Ideal, der Autonomie, und ihrem Schat­ten, der sozialen Exklusion. ' 7

Das Politische der antiken griechi­schen Gesellschaft ist oft beschrieben worden. Nicht immer allerdings hat man dabei die Architektur zur Kenntnis genommen. IX Dabei »braucht« jede Gesellschaft ihr Symbolisches und darunter nicht zuletzt ihre Bautypen und Bauweisen. In ungeheuer kurzer Zeit verwandelten sich die Gesell­schaft, ihre politische Verfasstheit und ihr gebautes Gesicht: ihre Gestalt, auf der im Folgenden der Akzent liegen wird. »Der Frieden mit den Peloponne­siern (445 v.u.Z.) bestätigt Athens Übermacht. 450 erbaut Phidias die Statue der Athena; 447-438 errichtet man den Parthenon; 445 wird die lange Mauer wieder aufgebaut«'9 Dabei sind insbesondere die Tempel und die Agora völlig neu und müssen so auch emp­funden worden sein . Die Griechen schufen sich mit dieser Architektur »neue Falten im sozialen StotT«20.

AGORA

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Abb. I: Cnllldriss der Agora Athells ill klassi­scher Zeit (1111/ 400 II.II.Z.). Rekollstruktioll: Williall/ Bell Dillsl//Oor Jr. , 1942

Athen bildet eine Gesellschaft , die sich auf den Rängen, der Bühne, dem Platz kon­stituiert. Die Bürger werden notfalls per Zwang zum Versammlungsort (pnyx) getrie­ben. Diese Gesellschaft konstituiert sich öffentlich. Sie braucht dafür eine Architektur die Sichtbarkeit schafft: Siiulen anstelle geschlossener Wände, Sitzstufen um Pliitze: affektive Kultgebiiude in Sichtweite. Paul Veyne hat die griechische Polis mit einem

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Schiff ohne Passagiere verglichen. Alle - gleichsam auch die Heroen und Götter - sind am Rudern beteiligt. Die Polis braucht daher diesen »völlig neuen sozialen Raum, einen öffentlichen Raum, der um die agora [ ... ] mit dem dort befindlichen Staatsherd ange­ordnet ist«, so dass sich die Macht »in der Mille« befinde1.21 Es geht um die Ungeteilt­heit der Macht, um die Beteiligung aller. Hinsichtlich dieser politischen Eigenart ist zentral, dass man es eben nicht mit einem Palast, sondern einem Platz zu tun hat. Es ist eine Gesellschaft, die sich architektonisch gegen die Teilung der Gesellschaft, gegen die Herrschaft wehrt, indem sie in ihrer gebauten Gestalt keine Abtrennung der Macht zulässt, sondern das Politische in voller Sichtbarkeit etabliert. Und um das Politische, Gemeinsame, vom Privaten, Partikularen, zu trennen und für sich zu stellen, bedarf es der Atriumhäuser mit ihrer völligen Einfaltung der häuslichen Tätigkeiten. Die Agora muss frei sein von allen Alltagsgeräuschen, Waren und »Banausen«, wie es Aristoteles ausdrückt - und von den Frauen.22 Notwendig ist, mit anderen Worten, die architektoni­sche Separierung der Aktivitäten zur Reproduktion des Lebens, die Ausgrenzung der Sklaven und Frauen aus der Sichtbarkeit.23

Abb. 2: Agora IIl1d Akropolis VOll Nordwest, zwischel/ 1850-1880

Nicht zuletzt bedarf es auch der Af­fektivität, der »Schönheit« der öffentli­chen Gebäude.24 Es bedarf nicht nur der Kluft zwischen privalfgemeinsam, sondern auch des Aufstiegs zum Ge­meinsamen, dessen Priorität in der Anschauung. Die Agora braucht eine Verausgabungsarchitektur, bei der man nicht umhin kam, sie zu bewundern. Hier muss man auch den Anblick ein­rechnen, den der Tempelberg in sorg­fältiger Distanz bietet - und zur Un­trennbarkeit von Politik und Kult kommen . Der Parthenon kann die A­thener nicht so gleichgültig gelassen haben, wie es bei Pausanias scheint;

Pausanias, der das Äußere gar nicht erwähnt, sondern gleich zum Inneren übergeht: »Tritt man in den Tempel hinein, den sie Parthenon nennen, so bezieht sich die ganze Darstellung am Giebel auf die der Athena [ .. . ]. «25 Dieser Tempel war und ist vielmehr­mit Le Corbusier gesprochen - eine »Maschine zur Erregung von Affekten «21>. Er war gewiss kein Bau, der die Größe der Athener nur noch spiegelte. An ihm wird sich ihre Dynamik, ihr Könnensbewusstsein, ihre Autonomie vielmehr erst gebildet haben. Und er wird sie jeden Tag aufs Neue affiziert haben Y Dabei ist es nicht zweitrangig, dass es sich um eine religiöse Architektur handelt. Das Verhältnis von Politik und Kult ist in dieser Gesellschaft denkbar eng; bei klarer Dominanz allerdings des Politischen. Tra­gödie, Philosophie und Architektur entstehen in dem Moment, in dem das Verhältnis Religion-Politik respektive GÖller-Menschen problematisch wurde. Es zählt jetzt, im 5. Jahrhundert v.u.Z. »nicht mehr das rituelle Wort«2X . Auch wenn das Orakel stets befragt wird, muss die Entscheidung in der Versammlung selbst getroffen werden. Castoriadis spricht daher von der »Autonomie« als dem zentralen Imaginären der antiken griechi­schen Polis.

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Die gebaute Stadt der Griechen war alles andere als übersichtlich, gemessen an da­maligen Verhältnissen . »Der Empirie der Stadt als gebauter Form folgend , wird man an innere Stufung, Mehrstöckigkeit denken müssen. Technisch-architektonische und poli­tische Bestimmungen müssen in ihren Korrespondenzen und Fügungen bedacht wer­den, damit die urban-politische Gemeinschaftsimagination machbar ist.«2'J Man muss sich die relative Urbanität dieser Gesellschaft vor Augen halten, die Vielzahl der Dinge und (Wohn-)Architekturen, die das Problem aufwirft, wie Gleichheit unter den Um­ständen der Besitzungleichheit möglich ist. Die Lösung dieser Frage ist die Demokratie, das Losverfahren unter Beteiligung aller Bürger. Und man muss jene griechischen Arte­fakte berücksichtigen, die unzähligen Heroenstatuen und Standbilder, die ihnen auf Schrill und Trill begegneten. Sie stellen eine ganz spezifische Vergangenheit her, näm­lich den heroischen Weg zur Autonomie. ·lO Die Griechen brauchen ebenso ihre Herd­Altäre, die sie mit dem Boden verwurzeln und die zugleich den Gegensatz des Eigenen zum Fremden, den Barbaren, stiften.·l1 Ein Rundtempel mit dem »Staatsherd« befand sich auch millen auf der Agora ebenso wie die Statuengruppe der Tyrannenmörder.

Da die griechische Polis aus Stadtkern und umgebendem Land besteht , sind auch die peripheren Architekturen wichtig, ebenso wie die territoriale Gliederung. Die urbane Ausstallung soll sich, so Aristoteles, auf dem »plallen Land« wiederholen. 12 Es geht in der kleisthenischen Reform um Einheitsstiftung und um eine rationale Ordnung, um ArtifizialiUil oder Autonomie auch in dieser Hinsicht. Die Griechen vollziehen die Um­stellung der Selbsteinteilung der Gesellschaft vom Verwandtschafts- aur das Territorial­system. Sie geben sich eine komplizierte Symmetrie, die Parteilichkeit verhindern soll und welcher im Übrigen auch eine Neuordnung der Zeit entspricht.J·l Um Autonomie geht es auch in der Einführung von Bau normen durch Hippodamus. »Der politische Körper der antiken Stadt wird künstlich in symmetrische Teile verfaßI. «J4 Beides sind Maßnahmen, mit denen sich diese Gesellschaft ordnet. Und sie denkt dabei immer auch an außenpolitische Dinge: an Befestigung, an den Feind. Man muss die griechische Gesellschaft in ihrem Kamprcharakter sehen, sie also eher mit der Triere vergleichen, jenem Kamprschill, mit dem die Grie­chen die Perser schlugen, als mit einem Handelsschirf. Veyne hat das Wort »Demokratie« nicht ohne Grund durch das der »Militanz« ersetzt. Die Polis ist eine Gesellschaft, die sich in der dau­ernden kriegerischen Abgrenzung ge­gen andere erschafft·l.' und insofern wenig mit unserem Demokratiever-

Abb. 3: Akropolis. Ostseite des Parthel/ol/. Detail der »111{/chille it elllollvoir«

ständnis gemein hat. Daher sind für diese Gesellschaft die »langen Mauern« - die Be­festigung, die Athen und vor allem den Weg vom politischen Zentrum zum Hafen um­gab - ebenso zentral wie Agora und Akropolis: zur Erhaltung von Autonomie und Au­tarkie.

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Man wird schließlich annehmen können, dass die Affektivität der Architektur und die Dynamik, mit der sie vorangetrieben wurde, zentral waren, dass sie Legitimität schufen und stärker noch, dass diese großartige Architektur den Athenern selbst erst klar machte, was sie sich »zu tun« gaben und was sie sein wollten. Die Griechen brauchten die Artifizialität und den Glanz ihrer Architektur. Die Potenz ihrer Vergesell­schaftung wurde ihnen vielleicht selbst erst deutlich angesichts der geschaffenen Wer­ke . »Wir sind in und durch die Liebe zur Schönheit und Weisheit, wie wir auch in und durch das Handeln sind, das diese Liebe hervorruft [ .. . ]. «36 Mit diesen Bauten und den mit ihnen einhergehenden Bewegungen und Sichtbarkeiten schafften sie es auch, den »Barbaren« ihre Lebensweise nahezu legen, sie zu kolonialisieren. Mauern und Kultbau­ten an der Peripherie, neue Städte, welche die Gestalt ihrer Gesellschaft und diese selbst in fremde Gesellschaften einbrachten: die Griechen »kerbten« die Räume nach ihrem MusterY Mauern, Agora, Tempel bringen eine spezifische Kerbung des Raumes ein, die mit der Schaffung von Begehren und Affekten einhergeht, nicht zuletzt mit dem

Stolz, Athener zu sein.

Politische Räume nomadischer Gesellschaften: die Zelte der Tuareg3M

Ein Zeitsprung und e in Architektur- und Gesellschaftssprung: Die Tuareg, die Kamel züchtenden, Salz und Datteln tauschenden Nomaden der Sahara, tragen alles mit sich herum, auch ihre Architektur. Es sind Zelte aus Leder oder Palmwedeln, hüfthoch, mit einem Gedränge tierischer und menschlicher Körper, nur ungenügenden visuellen und keinerlei akustischen Trennungen und einer gleichwohl rigiden Ordnung der Dinge. Der Platz der Frauen, der Hüterinnen des Zeltes, die regelrecht mit ihm verschmelzen, und der Männer ist streng reglementiert. Die Zelte sind wenig widerständig, kaum ex-

pressi v, sie kennen kaum ästhetische und kaum Größendifferenzen; sie sind zudem nicht funktional differenziert. Es gibt nur einen Bautyp, der aber

" einer spezifischen Anordnung folgt und -,it so einen prägnanten Raumtyp schafft.

Und bis auf das Bett, das auch als Tra­gegestell während der Wanderungen dient, ist die gesamte Architektur aus weichem Material; es gibt keine Mau-ern und Trennwände, keine Türen und

Etagen. Das weiche Material - Leder

Abb .. 4: Ein Tuareg-Zell in der Sandl\liisle und Wolle - gibt dem »nomadischen Leben seine Einheit« und ermöglicht seine »symbolische und visuelle Stabi­Ii tät«. 3Y

Diese nomadische Architektur ist nur zusammen mit dem geografischen Milieu zu denken: dem weiten Raum der Wüste. Und sie ist nur mit der Existenz bestimmter Tiere zu denken: der Kamele, deren Produkte und Affekte (Ausdauer, Geschwindigkeit, Ge­nügsamkeit, Tragfähigkeit) sich die Tuareg zunutze machen. Die Architektur ist

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schließlich auch nicht ohne den mangelnden Pflanzenwuchs zu denken, der die Sesshaf­tigkeit verhindert.

Es handelt sich um eine Architektur, die sich ständig bewegt. Das Territorium »ent­hält« für den Nomaden keine Wohnung, nicht so, wie es e twa ei nen großen Stein un­veränderlich und gewiss enthält. Die nomadischen Gesellschaften scheinen sich dabei regelrecht zu verbieten, feste Gebäude zu errichten. Sie sind »deterritorialisiert par excellence«, haben ein anderes Subjektkonzept als die Sesshaften und auch ein anderes als der Migrant. 411 Mit den Zelten geht eine andere Gesellschaft einher, mit anderen Begehren und anderen Affekten . Diese Gesellschaft g ibt sich eine strikte Hierarchie, obwohl sie keine zentrale Gewalt kennt, sie schwankt also zwischen Segmentarität und Stratifikation, und sie kennt einen Monotheismus , den sie andererseits kaum praktiziert, schwankt auch in diesem Bereich zwischen einem hierarchischen und einem segmentä­ren Konzept. Kurz, der Nomade scheint sich zwischen allen geläufigen Kategorien der Soziologie zu bewegen.41

In der Architektur, die einen »weichen « Raum schafft, konstituiert sich wesentlich ein dynamisches Sozial- und Selbst verhältnis. Für den Nomaden befindet sich alles im Fluss, im Gegensatz zur Suggestion der Stabilität des Sozialen und des Selbst, welche die sesshafte Architektur einbringt. Sicher gibt es dabei eine strikte, stets erneut etab­lierte Anordnung der Zelte, in der sich die Anordnung des Sozialen konstituiert. Auch diese Gesellschaft kommt nicht ohne soziale Trennungen aus; nicht ohne eine Fixierung und Klassifikation der Einzelnen. Sie ist in ihrer Architektur vielmehr stark separiert und hierarchisiert, und zwar auf drei Ebenen: auf der ersten Ebene, im Inneren der Zel­te, wird strikt zwischen den Geschlechtern get re nnt. Auf der zweiten Ebene, innerhalb des Lagers (Douar), werden die Zelte U-förmig verteilt, um die Tiere herum . Zwar scheint es hier »keine erkennbare Regel « der Positionierung zu geben, aber der Älteste und Angesehenste sucht sich doch seinen Platz als Erster aus, gefolgt vom nächst Höhe­ren und den Islam-Gelehrten . Und um sie ordnen sich die jeweiligen Sklaven an sowie am äußersten Rand die Handwerker, so dass sich eine konzentrische räumliche Struktur ergibt.42 Auf der drillen Ebene schließlich differieren die Lager untereinander: es ist ein Unterschied der sozialen Position der Sippe im Stammesgefüge, ob 10 oder 100 Perso­nen, inklusive Sklaven, zusammen wohnen.

Aber obwohl die Tuareg diese strenge vertikale Hierarchie kennen, zu der Noble, Tributpt-lichtige, Priester, Handwerker, Sklaven gehören, verschwinden in der Imagi na­tion des Sozialen tendenziell doch diese Trennungen . Die Tuareg-Hierarchie ist viel­mehr wesentlich dynalllisch, sie richtet sich nach der Raumentfaltung, im Zelt oder außerhalb, und der Aktivität wie Arbeit oder freies Umherschweifen. Und sie wird als zutiefst wandelbar vorgestellt: Sklaven werden, soviel ist sicher, eines Tages frei sein, Herren umgekehrt Sklaven sein. Diese dynamische Imag ination des Sozialen entspricht einem Raum, der nicht durch Mauern gekerbt wird. Sie entspricht der flachen Gestalt der Gesellschaft, die die ebenerdigen und Ilur hüfthohen Zelte schaffen. Entsprechend der Bewegung sind auch die räumlichen Konturen dieser Gesellschaft llexibel. Grenzen sind für die Tuareg keine Barrieren, sondern Orte zum »Schmieden « neuer Allianzen: sie sind ein Bewegungsfeld und somit die Quelle des kollektiven AufstiegsY Auch Herkunft und Zukunft und die Einteilung der Zeit folGen der BeweGunG Die TuareG

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nehmen einen ewigen Kreislauf an, in dem sich alle Dinge und Wesen befinden. Und da die Zelte sich nicht eingraben, nicht fixiert sind, ist auch das Absolute nicht mit einem

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Ort verbunden. Diese Architektur bietet »kein günstiges Terrain für die Religion «44 Der Targi hat einen »schlecht praktizierten« Islam und ansonsten seine Dämonen und die wandernden Ahnen der Zelte.

Die politische Ordnung wird nun von den Tuareg selbst mit architektonischen Meta­phern gefasst: die Imagination der Gesellschaft entspricht dem Zelt, das die Begriffe für die soziale Einheit, deren Funktionen und Teile liefert: Die Funktion der Gesellschaft entspricht im nomadischen Denken der des Zeltes (Schutz); ihre Ressource dem Zelt­boden (der weite Raum); ihr vil/clIllIl/1 sociale, ihr Verbindendes, wird mit dem Spann­seil der Zelte verglichen.45 Und wie das Zelt zwar eine zentrale Stütze hat, es aber ohne weitere Stützen nicht hält, ist die Konföderation der Stämme die oberste Entscheidungs­instanz. Es gibt keine zentrale Macht.

Um das Politische dieser Gesellschaft zu formulieren, um zu fassen, was sie sich zu »tun « vorgibt, muss man sich nicht nur an die sozialen Unterschiede halten, an den hierarchischen sozialen Raum, den die Anordnung der Zelte stiftet. Man muss sich vielmehr - einer nomadischen Gesellschaft angemessen - auch an die tierischen Gefüge halten: an die Reitkamele, welche die Zelte und Lebensmittel transportieren und mit den Tuareg ein permanentes »Geschwindigkeitsgefüge«46 bilden . Und man darf sich hier nicht über den kriegerischen Charakter täuschen, über die »Leichtigkeit«, mit der sich aus diesen beweglichen Gefügen »despotische Gewalten« entfalten, Gewalten, mit denen vor allem die Steppen nomaden ganze Kulturen transformiert haben.47 Die Tuareg haben ihre Raubzüge ( »rezzu«) wie die Seenomaden ihre Piraterie: sie gehören zu ihrer sozialen Existenz und können beträchtliche Ausmaße erreichen, die Existenz ganzer Stämme gefährden. Die rezzu stiften die sozialen Beziehungen und führen ihnen stän­dig erneut soziale Energie ZU. 48 Pierre Clastres sieht im auffallenden Bezug nicht funk­tional differenzierter Gesellschaften zur Gewalt (den er selbst in Südamerika beobach­tet) eine zutiefst politische Logik. Es geht diesen Gesellschaften Clastres zufolge darum, die staatliche Logik - die Einrichtung einer Zentralgewalt, einer zentralen, in alle Ecken ausstrahlenden Machtinstanz - permanent zu durchkreuzen. Das politische Imaginäre der nomadischen Gesellschaften ist gerade nicht die »Einheit« eines Territo­riums. Vielmehr handelt es sich um die entgegengesetzte Logik der »Fliehkraft«. Es ist eine Gesellschaft, die sich konstitutiv, und dies gewaltsam, zerstreut: die sich mit Hilfe ihrer mobilen Architektur gegen den Staat, also gegen die latente Teilung und Abgabe der Macht »wehrt «.4~ Während die Anordnung der Zelte die soziale Klassifikation be­trifft, die sich diese Gesellschaft auferlegt, liegt das Politische - also die Frage, was diese Gesellschaft sich »zu tun« gibt, welche Entscheidungsinstanzen sie hat - viel­leicht anderswo: eben in der mobilen, dynamischen Gestalt der Gesellschaft, die die Zelte schaffen, und der Geschwindigkeit, die sie den Tuareg erlauben, für Handel und Raubzüge.

Fazit

Man hat es mit zwei Architekturen, zwei politischen Räumen, zwei Gesellschaften zu tun . Die mobilen Zelte sind erstens - im Gegenzug zur Agora - ein Hemmungsmecha­nismus gegen die Einrichtung eines allf Dauer gestellten Ortes der Macht. Im Gegen­satz zur Antike geht es den Tuareg zweitens offenbar nicht um eine faszil/ierel/de Ar­chitektur. Ihre Zelte sind anders als die Tempel , Herdaltare und Buleuterien nicht

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Gesellschaften der Stüdte und Gesellschaften der Zelte 31

sonderlich affektiv; sie stiften keine Priorität einer' sozialen Sphäre etwa des Politischen und des Religiösen . Und im Gegensatz zu den Griechen ist die Zelt-Architektur drillens auch nicht auf KJeativität angelegt. Vielmehr wehrt sich die Gesellschaft möglicherwei­se zutiefst auch gegen das Nelle, sc hafft sich Gewohnheiten , die am anschaulichen Außenhalt der Architektur stets erneut erzeugt werden. Die nomadische Art zu »bauen« verbindet sich derart mehrfach mit dem Gegenteil des Sesshaften, deren Architektur daher auch ein regelrechter Transformator der nomadischen Existenz ist.

Die Polis und die Zelte aber sind gleichermaßen Hemmungsmechanismen geoen die Ausdifferenzierung eines Staatsapparates. Dies stellt beide Gesellschaften in d~n Ge­gensatz zu allen staatlich el/ Gesellschaften: in den Gegensatz zu uns, unserem Politi­schen und unserer politisch effektiven Architektur.

Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philo­sophie (frz. 1975). Frankfurt am Main 1984. S. 20 I.

2 Robert Seyfen: »Zum historischen Verhältni s von Lebensphilosophie und Soziologie und das Programm einer Lehenssoziologie« In: Karl-Siegben Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesell­schaft (Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS in Kassel). Frankfun am Main 2008, CD, 4684-4694.

3 Hannah Arendt: Vita activa. München 41985 (engl. 1958). S. 198: »Ohne die gestaltete Welt [ . . . ] bliebe [ .. . ] alles, was zwischen Menschen sich ereignet [ .. . ] in dem Dunkel schwermüti­ger Vergebli chkeit , die wir so gu t aus dem Volksleben von Nomadenstämmen kennen«.

4 Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Frankfurt am Main 1976 (t:rz. 1974); Gilles Deleuze, Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapit ali smus und Schizophre­ni e. Berll11 1992 (lrz. 1980), Kap. 121'.

5 »In einer Welt zusammenleben heißt wesentlich , daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt [ ... ].« Arendt 1985 (wie Anm. 3), S. 52.

6 Vgl. Heike Delitz: Architektur als Medium des Sozialen (Diss., TU Dresden 2009). 7 Affekte bezeichnen bei Spinoza die Arten, auf die ein Körper andere Körper erregt und von

ihnen erregt wird. Affekte zu betrachten (im Gegensatz zu Emotionen). ist eine Frage der Per­spektive: ob man »im« Subjekt ansetzt oder in der Relation von Körpern. Banich de Spinoza: Die Ethik . Hamburg 1999 ( 1677).

8 Castoriadis 1984 (wie Anm. I). S. 300. 9 Ebd. , S. 307. 10 Ebd., S. 370. 11 Ebd., S. 452.

12 Deleuze, Guuttari 1992 (wie Anm. 4), S. 12ft". und Kap. 111'. 13 Cornelius Castoriadis: »Macht. Politik. Autonomie« (frz. 1988) In : Ders.: Autonomie oder

Barbarei. Lich 2006. S. 135- 168. hier S. 145. 14 Friedrich Ratze!: Anthropo-Geographie. Stuttgan 1882, S. 216. 15 Castoriadis 2006 (wie Anm. 13). S. 149.

16 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1976 (frz. 1975), S. 279.

17 Castoriadis 1984 (wie Anm. I) , S. 305.

18 Tonio Höl scher betont di es gegen all e »Idea li sten«, die Thukydides folgend die Poli s mit den Menschen gleichsetzen ( »wo immer ihr seid , werdet ihr die poli s sein«: Geschichte des Pelo­ponnesischen Krieges, VII , 77; vgl. Arendt 1985 (wie Anm. 3), S. 192), statt die Architektur als »Voraussetzung« dieser Gesellschaft zu verstehen: Tonio Höl scher: Öffentliche Räume in

32 Heike Delitz

frühen griechi schen Städten. Heidelberg 1998, S. I I tl lan Morris nennt die Tempel und an­dere Architekturen »,oblique< manifestation(s) 01' the polis« (Burial and ancient society: the ri se 01' the Greek city-state. Cambridge 1987, S. 7). Zudem neigt man dazu, die zentrale Archi­tektur beiseite zu lassen. Vgl. das gleichwohl großartige Buch von Fran,<ois de Polignac: Cults, Territory, and the Origins of the Greek City-State. C hicago 1995 (frz. 1984) .

19 Corneliu s Castoriadis: " Aeschylean Anthropogony and Sophoclean Self-Creation 01' Man « In: Ders.: Figures of the Thinkable, Stanford 2007 (frz. 1991), S. 1-20, hier S. 10r.

20 Gilles Deleuze: »Über Leibniz« In : Ders.: Unterhandlungen. 1972- 1990. Frankfurt am Main 1993, S. 227-236, hi er S. 228f.

2 1 Pien'e Vidal-Naquet: Der schwarze Jäger. Denkformen und Gesellschaftsformen in der grie­chischen Antike. Frankfurt am Main/New York 1989, S. 210.

22 Aristo!eles : Politik. Hamburg 41981, V11.12 . Das vorhergehende Kapitel widmet sich der Befestigung und gesunden Anlage der übrigen Gebäude.

23 Die Betonung dieser Ausschließungen bei Vidal -Naquet 1989 (wie Anm. 2 1), Kap. 3. 24 Aristoteles 1981 (wie Anm. 22) , 1331 a 37. 25 Pausanias : Beschreibung Griechenlands ( 144- 160), Bd. I, München 1972, 24.5. 26 Le Corbusier: 1922. Ausblick auf e ine Architektur. BraunschweigiWiesbaden 41982, S. 38.

Ders.: Rei se nach dem Orient. Zürich 1991 (frz. 1966), S. 322-335. 27 Die Betonung des Neuen bei Christian Meier: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte.

München 1995, S. 452 u.Ö. 28 Vidal-Naquet 1989 (wie Anm. 2 1), S. 2 11. Vgl. zum Verhältnis von Kult und Politik auch

Numa Denis Fustel de Coulange: Der antike Staat. Studie über Kultus, Recht und Einrichtun­gen Griechenlands und Roms. Berlin/Leipzig 1907 (1864), S. 182- 19 1 und S. 206-2 13. Die Betonung der Denkmäler als Institui erung der eigenen Stadt-Vergangenheit : S. 192-205.

29 Wolfgang Eßbach: " Die Gemeinschaft der Güter und die Soziologie der Artefakte« In: Ästhe­tik und Kommunikation, Jg. 26, Heft 96, 1997, S. 13-20, hier S. 16.

30 Seltsam nüchtern die Aufzählung bei Pausanias 1972 (wie Anm. 25), S. 55-91 ; überschwäng­lich Jacob Burckhardt: Die Akropolis von Athen. Ein Vortrag. Berlin 1844. Vgl. zu den Statu­en im Kontext des urbanen Raums Ralf Krumeich, Christian Witschel: »Hellenis ti sche Statuen in ihrem räumlichen Kontext: Das Beispiel der Akropolis und der Agora von Athen« In: Alb­recht Matlhei , Martin Z immermann (Hg.) : Stadtbilder im Hellenismus. Berlin 2009, S. 173-226. Betont wird hier auf archäol ogischer Basis deren raumstrukturierende Funktion .

31 Vgl. zur Bedeutung der Verwurzelung für die Griechen Jean-Pierre Vernant: »Hestia-H ermes. Über den reli giösen Ausdruck von Raum und Bewegung bei den Griechen« In : Ders. : Der maskierte Dionysos. Stadtplanung und Geschlechterrollen in der griechischen Antike. Berlin 1996, S. 13-54.

32 Aristoteles 1981 (wie Anm. 22), VI1.12. 33 Vidal-Naquet 1989 (wie Anm. 2 1), S. 2 10. 34 Eßbach (wie Anm. 29), S. 16. Vgl. Jean-Pierre Vernant: " Raum und politische Organisation

im an tiken Griechenland« In : Ders. : Der maskierte Dionysos. Stadtplanung und Geschlechter­rollen in der griechi schen Antike. Berlin 1996, S. 55-74.

35 Paul Veyne: » Kannten die Griechen die Demokratie?« In : Christian Meier, Paul Veyne: Kann­ten die Griechen die Demokratie? Zwei Studien. Berlin 1988, S. 13-46, hier S. 18.

36 Cornelius Castoriadis: " Die griechi sche polis und die Schaffung der Demokratie« (frz. 1983) In : Ulrich Röd l (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990, S. 298-328, hier S. 325f.

37 Deleuze, Guattari 1992 (wie Anm. 4), S. 496 u.Ö.

Gesellschaften der SUidte und Gesellschaften der Zelte 33

38 Vgl. zum Folgenelen ausführlich Heike Delitz: », Die zwei te Haut eies Nomaden <. Zur sozialen Effektivität nicht-moderner Architekturen « In : Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel (Hg.) : Bausteine einer Soziologie vormoelerne r Architekturen . Münster 2009 (im Druck) .

39 AI1I1e Milovanoff: »La seconde peau du nomade« In: Nouvelles lilteraires, Nr. 2646, 1978, S. 18. Vgl. Deleuze, Gualtari 1992 (wie Anm. 4), S. 5221T.

40 Deleuze, Gualtari 1992 (wie Anm. 4), S. 525.

41 Helene C1audot-Hawael : »Neither Segmentary, nor Centralized: The Sociopolitical Organisa­tion of a No maelic Society (Tuaregs) beyond Categories« In: Orient wissenschaftliche Hefte , 14. Jg., 2004, S. 57-69.

42 Susan Smith: "The Environmental Adaptati on of NOIll<lds in the West African Sahel: A Key to Understanding Prehistoric Pastoralists« In: Martin A. J. Williams , Hugues Faure (Hg.): The Sahara and the Nil e. Rotterdam 1980. S. 467-487, 48 1; vg l. die Sk izze aul' 482. Siehe zudem zur Bedeutung des Zeltes für rituelle Praktiken : Susan Rasmussen: »The Tent as Cultural Symbol and Field Site: Social and Symbolic Space, "Topos«, and Authority in a Tuareg Community« In: Anthropological Quarterly, Jg. 69, Bd. I, Januar 1996, S. 14-26.

43 Claudot-Hawad 2004 (wie Anm. 42), S. 651'. 44 Deleuze, Guatlari 1992 (wie Anm. 4), S. 526f. 45 C1audot-Hawad 2004 (w ie Anm. 42) , S. 6 1. 46 Deleuze, Gualtari 1992 (wie Anm. 4), S. 558. 47 Ratzel 1882 (wie Anm. 14), S. 2 16.

48 Helene C laudot-H awad : Tuareg. Porträt e ines Wüsten volks. Bael Honnef 2007 . S. 29. 49 Pierre Clastres: »ArchHologie eier Gewalt. Der Krieg in primitiven Gesellschal"ten« (frz. 1977)

In : Ders.: Archäologie der Gewa lt. Berlin 2008, S. 33-8 1, 77ft". ; ders. 1976 (wie Anm. 4).