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Ist Strategie tot? 1 In der Theorie sind Theorie und Praxis dasselbe.In der Praxis sind sie es nicht.Albert Einstein Norbert Reithofer, der Vorstandsvorsitzende von BMW, hat seinen Aufsichtsratsmitglie dern empfohlen, das Buch Der Schwarze Schwan ( The Black Swan) von Nassim Nicholas Taleb zu lesen. Das Buch hat gezeigt, dass scheinbar unmögliche Ereignisse – Schwarze Schwäne – tatsächlich eintreten können und dass sie besonders einschneidende Auswir kungen haben, ähnlich denen nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, der die gesamte Weltwirtschaft in die Krise stürzte – und das gerade weil niemand mit ihnen rech net. In Zeiten extremer Ereignisse, sagt Reithofer, sind Vorhersagen unmöglich geworden. Auch für Reithofers Landsmann, Wolfgang Reitzle, den Ex-Chef von Linde, einem 1,5 Mrd. € schweren Unternehmen, das Gase für Energiewirtschaft, Chemie und Lebens mittelindustrie herstellt, sind die sicheren Zeiten Vergangenheit. „Nie war es schwieriger als heute“, sagt Reitzle, „präzise Vorhersagen zu treffen, wie sich die Wirtschaft in Zu kunft entwickeln wird.“ 1 Erst als sich ihre angeblich plausiblen Szenarien im Laufe der Rezession, die wir so eben erlebt haben, als krasser Gegensatz zur Realität erwiesen, dämmerte es den Mana gern, „dass Strategieplanung nicht immer funktioniert“, wie es das Wall Street Journal formulierte. Das ist noch milde ausgedrückt. „Dieser Abwärtstrend hat die Art und Weise, wie wir über die Wirtschaft nachdenken werden, auf Jahre hinweg verändert“, sagte Steve Odland, Geschäftsführer und Vorstandschef von Office Depot, in einem Interview. Walt 1 Hawranek,Dietmar;Hesse,Martin;Jung,Alexander: „GenerationUnsicherheit“.DerSpiegel,31. Dezember 2012. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d−90334830.html. © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 1 T. D. Zweifel, E. Borey, Strategie in Aktion, DOI 10.1007/9783658049843_1 2 1 Ist Strategie tot? Shill, Chef von Accenture, dem nordamerikanischen Managementberatungs-

Ist Strategie tot?

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Ist Strategie tot? 1 In der Theorie sind Theorie und Praxis dasselbe.In der Praxis sind sie es nicht.Albert Einstein

Norbert Reithofer, der Vorstandsvorsitzende von BMW, hat seinen Aufsichtsratsmitglie dern empfohlen, das Buch Der Schwarze Schwan ( The Black Swan) von Nassim Nicholas Taleb zu lesen. Das Buch hat gezeigt, dass scheinbar unmögliche Ereignisse – Schwarze Schwäne – tatsächlich eintreten können und dass sie besonders einschneidende Auswir kungen haben, ähnlich denen nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, der die gesamte Weltwirtschaft in die Krise stürzte – und das gerade weil niemand mit ihnen rech net. In Zeiten extremer Ereignisse, sagt Reithofer, sind Vorhersagen unmöglich geworden.

Auch für Reithofers Landsmann, Wolfgang Reitzle, den Ex-Chef von Linde, einem 1,5 Mrd. € schweren Unternehmen, das Gase für Energiewirtschaft, Chemie und Lebens mittelindustrie herstellt, sind die sicheren Zeiten Vergangenheit. „Nie war es schwieriger als heute“, sagt Reitzle, „präzise Vorhersagen zu treffen, wie sich die Wirtschaft in Zu kunft entwickeln wird.“1

Erst als sich ihre angeblich plausiblen Szenarien im Laufe der Rezession, die wir so eben erlebt haben, als krasser Gegensatz zur Realität erwiesen, dämmerte es den Mana gern, „dass Strategieplanung nicht immer funktioniert“, wie es das Wall Street Journal formulierte. Das ist noch milde ausgedrückt. „Dieser Abwärtstrend hat die Art und Weise, wie wir über die Wirtschaft nachdenken werden, auf Jahre hinweg verändert“, sagte Steve Odland, Geschäftsführer und Vorstandschef von Office Depot, in einem Interview. Walt

1 Hawranek,Dietmar;Hesse,Martin;Jung,Alexander:„GenerationUnsicherheit“.DerSpiegel,31. Dezember 2012. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d−90334830.html.

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 1 T. D. Zweifel, E. Borey, Strategie in Aktion, DOI 10.1007/9783658049843_1

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Shill, Chef von Accenture, dem nordamerikanischen Managementberatungs-

Unterneh men, wurde noch deutlicher: „Strategie, wie wir sie kennen, ist tot.“2

Ist das so? Oder entwickelt sich Strategie vielmehr zu einem Modell, das den Ansprü chen dieses Jahrhunderts verstärkt Rechnung trägt? Wir wissen: Herkömmliche Planungs ansätze ermöglichen es nicht, mit der Flexibilität, Anpassungsleistung und beschleunigten Entscheidungsfindung zu agieren, die in Zeiten rasanter und unvorhersehbarer Verände rungen erforderlich wären. Diese Einsicht ist alles andere als neu; es handelt sich vielmehr um eine Erkenntnis, die sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte unter CEOs und Stra tegieexperten allmählich durchgesetzt hat, untermauert durch weitere Faktoren wie die zunehmende Bedeutung von Internet und E-Commerce, die globalisierte Wirtschaft, virtu elle Teams, flacher werdenden Unternehmenshierarchien sowie Free Agents und selbstbe wussteren Mitarbeitern, die ihren Arbeitgebern gegenüber wesentlich weniger loyal sind als die „Company Men“ ein oder zwei Generationen vor ihnen.

Einige Unternehmen haben große Verwerfungen auf den globalen Märkten gemeistert und sind zu dynamischen Spielern geworden, darunter Amazon, Apple, Caterpillar, Goog le, IBM, Intel, Microsoft, Nordstrom, Nucor, Starbucks oder 3M, um nur einige wenige zu nennen. Aber diese Konzerne sind Ausnahmeerscheinungen. Viele andere hatten Schwie rigkeiten, Innovationen zu schaffen, Veränderungen in ihren Branchen zu erkennen oder einfach nur die Erfordernisse der Märkte, auf denen sie sich bewegten, zu verstehen. So erlebten die Schweizer Uhrenhersteller vor einer Generation ein böses Erwachen. Sie hat ten die meisten Armbanduhren weltweit produziert, und das schon seit 1790 (wenn nicht länger), als allein die Stadt Genf über 60.000 Uhren pro Jahr exportierte. Mitte des 18. Jahrhunderts lagen die Produktionszahlen bei über 500.000 pro Jahr. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kontrollierten die Schweizer Uhrenhersteller die gesamte Branche weltweit, im Jahr 1968 hielten sie etwa 65% des weltweiten Uhrenmarktes und konnten 80% der Branchengewinne für sich verbuchen.

Im Lauf all der Jahre dieser unangefochtenen Marktführerschaft hatten sich alle Her steller an altbewährte Spielregeln gehalten und beharrlich die immergleichen erstklassigen Uhren in hoch qualifizierter und teurer Handarbeit hergestellt. Doch um 1970 wendete sich das Blatt; flinke Nachahmer aus Japan überschwemmten den Markt mit hochwertigen und dennoch günstig produzierten Armbanduhren und ließen die Schweizer weit hinter sich. Im Gegensatz zu den skeptischen Schweizer Unternehmen stürzten sich die führen den japanischen Uhrenhersteller wie Hattori-Seiko mit Begeisterung auf die neue Quarz- Technologie und profitierten von den massiven Kostensenkungen: Die durchschnittlichen Produktionskosten einer Quarz-Uhr sanken von 200 $ im Jahr 1972 auf nur 50 Cent im Jahr 1984.3

2 Lublin, Joann und Matticoli, Dana: „Strategic Plans Lose Favor“. Wall Street Journal,

25. Januar 2010.3 Cassia, Lucio; Fattore, Michael und Palleari, Stefano: Entrepreneurial Strategy: Emerging Busi nesses in Declining. Industries. Northampton MA: Edgar Elgar Publishing, 2006.

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Das Ergebnis: Um 1989 produzierte allein Seiko etwa 15 % der 690 Mio. Uhren welt weit, während die Schweizer Uhrenindustrie eine Bauchlandung erlitt und 50.000 der 62.000 Uhrmacher in der Schweiz ihre Arbeit verloren. Im Jahr 1970 hatte es noch 1.620 Uhrenhersteller in der Schweiz gegeben; 15 Jahre später waren es nur noch 600, und deren Weltmarktanteil war auf magere 15 % geschrumpft.

Ironischerweise waren die Forscher, die die erste elektronische Quarz-Uhr entwickelt hatten, ausnahmslos Schweizer. Aber als sie ihre erstklassige Innovation im Jahr 1967 auf einer Konferenz der Schweizer Uhrenhersteller vorstellten, wurde sie rundweg abgelehnt. Ja, die Quarz-Uhr funktionierte wie eine echte Uhr, sie sah aus wie eine echte Armband uhr, aber es mangelte ihr an all den Komponenten, die eine wirkliche Armbanduhr ausma chen: Zahnrädchen, Schrauben und Federn. Kurz, sie entsprach nicht dem Idealbild einer Schweizer Armbanduhr.

Während die Schweizer Uhrenindustrie zu sehr der Tradition verhaftet war, litt die Schweizer Bank UBS zu sehr unter ihren eigenen Heldentaten, jedenfalls bis August 2007, als Peter Kurer, der damalige Präsident, befand, er benötige eine Auszeit. Die Bank hatte dank der erzwungenen Schließung eines hauseigenen Hedgefonds und dem Rauswurf des Vorstandschefs einen turbulenten Sommer erlebt. Genug war genug. Aber als Kurer von einer gemächlichen Surftour auf Korsika zurückkehrte, wurde alles nur noch schlimmer. Mitte 2007 hatte die UBS mehr als 20 Mrd. $ in den Sand gesetzt, die in hauseigenen Su per-Senior-Tranches, in Papieren mit hoher Bonitätsstufe (bestimmte besicherte Schuldti tel/CDO) gehalten waren. Angeblich und erstaunlicherweise hatten die Topmanager keine Ahnung, dass diese Tranches überhaupt existierten. „20 unserer Leute lagen am Strand und zählten Sandkörner, als der Tsunami kam und alle überrollte“, erzählte ein mit den UBS-Operationen vertrauter Banker.4 Der Tsunami rollte heran und das Blatt wendete sich. Im Oktober 2007 enthüllte die Bank ihre ersten Verluste in Höhe von 4,4 Mrd. $, und zahlreiche hochrangige Führungskräfte mussten abtreten. Im Dezember, als die UBS die Bekanntgabe eines weiteren 10-Milliarden-Dollar-Verlustes vorbereitete, sorgten Ku rer und andere Manager eiligst für eine dringend benötigte Finanzspritze durch die Go vernment of Singapore Investment Corporation. Ein weiterer 4-Milliarden-Dollar-Verlust folgte im Januar 2008. Wie konnte es passieren, dass die UBS, die sich als eine der am vorsichtigsten agierenden weltweit tätigen Banken einen Namen

gemacht hatte, einen der heftigsten Schläge der Kreditkrise einstecken musste? Um fair zu bleiben, sei erwähnt, dass die UBS nicht allein dastand: Eine Blase fauler Kredite hatte einige Unternehmen leichtsinnig werden lassen. Allein in den Vereinigten Staaten wurden 152 Finanzinstitu te zahlungsunfähig, beantragten Gläubigerschutz oder schlossen ihre Türen und wurden unter Insolvenzverwaltung gestellt. Warum sah niemand den Tsunami heranrollen? Was war falsch gelaufen?

Finanzdienstleistungsunternehmen waren nicht die Einzigen, die leiden sollten. Den ken Sie an die US-Automobilindustrie. 77 Jahre lang, in guten und in schlechten Zeiten,

4 Hughes, Chris; Larsen, Peter Thai und Simonia, Haig: „Corroded to the core: How a staid Swiss bank let ambitions lead it into folly“. Financial Times, 21. April 2008.

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verkaufte General Motors mehr Autos als jeder andere Hersteller. Aber im ersten Quar tal 2008 überrundete ein anderer Konzern GMs Verkaufszahlen um 160.000 Fahrzeuge: Toyota. Der japanische Konzern stieg sogar in ein Joint Venture mit GM ein, unter an derem, um dem altehrwürdigen Unternehmen zu helfen, sein Produktionssystem wieder auf Vordermann zu bringen. Aber auch nachdem in über 3000 Artikeln die Best Practices analysiert worden waren und obwohl die Prinzipien des Konzerns überall und freimütig kopiert wurden, blieb Toyota konsequent an der Spitze5- jedenfalls bis 2010, als ein Rück ruf aufgrund unerklärlicher Probleme mit den Bremssystemen den Ruf des Unternehmens massiv beschädigte und der Vorstandschef Akio Toyoda vor dem US-Kongress eingeste hen musste: „Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass die Geschwindigkeit, in der wir gewach sen sind, vielleicht zu hoch war.“6 Aber selbst unter diesen Vorzeichen erlebte der größte Automobilhersteller der Welt, dass die US-Verkaufszahlen im Vergleich zum Vorjahr um 41 % anstiegen (in China um 33 und in Japan um 51 %), während mehrere konkurrierende Automobilhersteller in den Vereinigten Staaten kurz vor dem Bankrott standen. Viel zu lange hatten die US-amerikanischen Autobauer sich auf den nordamerikanischen Markt mit seinem Bedarf an großräumigen Fahrzeugen und Lastwagen konzentriert, solange die Benzinpreise noch niedrig waren, und die steigenden Grenzkosten mit hohem Lohnanteil ignoriert. Warum konnten GM und Chrysler ihren Niedergang zu dieser Zeit nicht abwen den (ihre Situation hat sich seither wieder verbessert)?

Oder halten Sie sich die Medien- und Unterhaltungsindustrie vor Augen: Wie können traditionelle Medienunternehmen in der neuen virtuellen Welt bestehen, insbesondere an gesichts der zielgruppenspezifischen Online-Werbung? Sind die „alten“ Medien wie Zei tungen, Zeitschriften oder auch das Fernsehen schon vom

Aussterben bedroht? Die ange schlagene Musikindustrie erlebte, obwohl sie den illegalen Download einzelner Songs und ganzer Alben beträchtlich eindämmen konnte, allein von 2006 bis 2007 einen Einbruch der Umsatzzahlen für CDs um 15% auf 500,5 Mio. Stück. Im selben Zeitraum stiegen die Online-Verkaufszahlen um 45 % auf 844,2 Mio. Tracks an, und im April 2008 war der iTunes MusicStore von Apple zum größten Musik-Einzelhändler der Vereinigten Staaten geworden.7

Im Jahr 2010 verkaufte iTunes 70% aller Musik-Downloads weltweit und wurde damit zum größten Plattenladen der Welt – nur sieben Jahre nach seiner Gründung. Der Trend ist eindeutig: Die Musik ist ins Internet umgezogen. Wie können traditionelle Plattenlabels, Verlage und Printmedien mit dieser Veränderung umgehen?

In der Spieleindustrie werden Nintendo, Sony und Microsofts Xbox von Angry Birds, Fruit Ninja und anderen Anbietern, die Spiele günstig oder kostenlos – insbesondere für Mobiltelefone und Tablets – zum Download anbieten, unter Druck gesetzt. Nachdem Nin tendo fast 100 Mio. Wiis ausgeliefert hatte, musste der Spielehersteller etwas tun, was

5 Surowiecki, James: „The Open Secret of Success“. The New Yorker, 12. Mai 2008.6

Toyoda, Akio: vorbereitete Aussage vor dem U.S. Congress Committee on Oversight and Govern ment Reform, 24. Februrar 2010.7 „U.S. Album Sales Down, Digital Sales Up“. Associated Press, 3. Januar 2008. Presseveröffent lichung Apple, 3. April 2008.

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vor wenigen Jahren noch völlig unvorstellbar gewesen wäre: die Bekanntgabe des ersten Verlustes in seiner Geschichte als Videospiele-Unternehmen. Nolan K. Bushnell, Gründer von Atari und Pate der Spiele-Industrie, sagte, dass die Spielekonsolen für die meisten Nutzer, abgesehen von den Hardcore-Spielern, schon bald zu teuer würden: „Diese Dinger werden noch in kleinen Mengen verkäuflich bleiben, aber ich glaube wirklich nicht, dass sie jemals wieder von großer Bedeutung sein werden.“ Das Unternehmen konnte sich zuvor schon ein paar Mal erholen, aber es steht vor großen Herausforderungen: Die Spiele von Nintendo lassen sich nur auf den eigenen Geräten spielen. Sollte der Konzern seine Strategie ändern und Spiele entwickeln, die mit Geräten anderer Hersteller zu verwenden sind – darunter Millionen iPod-touch-Geräte, Smartphones und Tablets in aller Welt? „Es ist die härteste Entscheidung, die Nintendo seit Langem treffen musste“, sagte Robbie Bach, der frühere Chef der Xbox-Sparte bei Microsoft.8

Auf dem Bildungssektor bedienen sich zahlreiche frei zugängliche Online-Kurse, auch MOOCs genannt, der Crowdsourcing-Technologie, um Elite-Kurse auf

College-Niveau anzubieten, die bis vor wenigen Jahren nur wenigen Studenten zu hohen Kosten vorbehal ten waren – heute sind sie kostenlos und für jeden Internetnutzer zugänglich.9 Der erste MOOC machte im Jahr 2011 von sich reden, als Sebastian Thrun, Professor an der Stan ford University, ein kostenfreies Seminar zum Thema Künstliche Intelligenz anbot – und damit 160.000 Studenten in aller Welt erreichte. Daraufhin brach ein Flächenbrand aus; andere Universitäten, die für ihre Elite-Forschung bekannt sind, wie Harvard, Princeton und MIT sowie privatwirtschaftliche Bildungsdienstleister wie Udacity, gegründet von Professor Thrun selbst; edX, ein Joint Venture des MIT und Harvards, sowie Coursera, ein Stanford-Ableger, schossen wie Pilze aus dem Boden und entwickelten Bildungsangebote für jedermann. Kosten für den Nutzer: keine. Diese Entwicklung wirft drängende Fragen auf: Wie können weniger renommierte Universitäten in diesem Wettbewerb mithalten und ihre Studierenden davon überzeugen, dass ihr Angebot die Studiengebühren rechtfertigt? Wie kann die Qualität des Produktes gewährleistet und wie der Diebstahl geistigen Eigen tums verhindert werden? Was werden die Millionen von Studierenden, die sich aktuell in Hunderte von Online-Kursen eingeschrieben haben, tatsächlich lernen? Und wie könnte das Geschäftsmodell aussehen, das es Universitäten und Bildungsdienstleistern ermög licht, mit ihren MOOCs Geld zu verdienen?

Die global agierenden Fluggesellschaften schrieben im Jahr 2007 endlich wieder schwarze Zahlen. Die Airlines hatten gerade umfangreiche Rationalisierungsmaßnahmen hinter sich gebracht. Die Treibstoff-Effizienz konnte seit der Jahrtausendwende um 19 % verbessert, gleichzeitig die nicht mit dem Treibstoff verbundenen Kosten um 18% ge senkt werden. Damit erzielten die Fluggesellschaften – zum ersten Mal seit sieben Jah ren – einen Nettogewinn in Höhe von 5,6 Mrd. $. Aber die Freude währte nicht lange.

8 Wingfield, Nick: „Nintendo Confronts a Changed Video Game World“. New York Times, 24. No vember 2010.9 Levin, Tamar: „College of Future Could Be Come One, Come All“. New York Times, 19. Novem ber 2012.

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Zahlreiche Unternehmen gerieten in Turbulenzen oder mussten, wie ATA, Aloha Airlines und Skybus, im April 2008 ihre Geschäftsaktivitäten einstellen und Insolvenz anmelden. Eine große Fluggesellschaft, Delta Airlines, gab an, die Treibstoffkosten würden allein im laufenden Jahr um 2 Mrd. $ steigen. „Der Anstieg der Rohölkosten auf über 130 $ pro Barrel zwang uns, bisher unbekanntes Terrain zu betreten“, sagte Giovanni Bisig nani, Generaldirektor des Internationalen Luftverkehrsverbandes IATA. „Zusammen mit der schwächelnden Weltwirtschaft sorgte das für einen ausgemachten Sturm in der Bran che.“10

Weltweit machten die Luftfahrtgesellschaften im vergangenen Jahrzehnt einen Verlust von 50 Mrd. $ – allein im Jahr 2009 waren es 11 Mrd.11 Um ihre weiterhin stei genden Kosten zu decken, erhöhten viele Fluggesellschaften ihre Preise, erhoben geson derte Treibstoff-Aufschläge oder Gebühren für den Transport eines zweiten Gepäckstücks (einige Gesellschaften lassen ihre Passagiere auch schon für das erste Gepäckstück be zahlen), ganz zu schweigen von immer spärlicher werdenden Serviceleistungen an Bord. Passagiere, die aus beruflichen Gründen viel fliegen, wissen mittlerweile, dass sie auf inneramerikanischen oder auch innereuropäischen Flügen für Sandwiches extra bezahlen müssen, und American Airlines verkauft sogar den Wein auf Flügen von und nach Europa. Dean Headley, Koautor der Airline Quality Survey (Luftfahrt-Qualitätsstudie), sagte über die Branche: „Die Ölpreise haben sie gezwungen zu sagen:,Wir können nicht mehr so auf die Bedürfnisse unserer Kunden eingehen, wie wir es eigentlich gern tun würden, weil wir uns zu sehr darauf konzentrieren müssen, im Geschäft zu bleiben.‘“12 Die Preisanstiege hätten zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Weil sie sich selbst mit der schwächelnden Wirtschaft auseinanderzusetzen hatten, mussten viele Unternehmen und Touristen den Umfang ihrer Flugreisen drastisch einschränken. Ulrich Schulte-Strathaus, Generalsekretär des Europäischen Luftverkehrsverbandes, sagt, dass das Geschäftsmodell der Branche sich „bis zur Unkenntlichkeit“ verändere.13 Warum konnten die Fluggesell schaften – mit Ausnahme einiger weniger Unternehmen, wie zum Beispiel Southwest – dieser Entwicklung nicht mit tragfähigen Strategien entgegenwirken?

Im Energiesektor geriet British Petroleum im Frühjahr und Sommer 2010 heftig in die Schlagzeilen, als die Bohrplattform „Deepwater Horizon“ vor der Golf-Küste Louisianas mit der größten von Menschenhand verursachten Ölkatastrophe in der Geschichte der Ver einigten Staaten von sich reden machte. BP erlitt durch dieses Ereignis einen immensen Imageschaden. Die eigentliche Ursache war keineswegs – im Gegensatz zu den Behaup tungen vieler Analysten – auf eine fehlerhafte Ausstattung oder minderwertige Bohrer oder ein schlechtes Krisenmanagement zurückzuführen. Das wirkliche Problem beruhte auf der im Konzern üblichen Top-down-Entscheidungsfindung und dem Ausschluss wich tiger Stakeholder von der Strategieentwicklung, ja selbst von alltäglichen Entscheidungen.

10 Done, Kevin: „Air industry angst driven by oil and regulation“. Financial Times, 3. Juni 2008.11 Ling, Chan Su und Lin, Liza: „Airline Industry Will Take Three Years to Recover, IATA Says“. Bloomberg Business. Week, 31. Januar 2010.12 McMillin, Molly: „Quality of Air Travel Sinks“. Wichita Eagle, 7. April 2008.13 Done, Kevin: „Air industry angst driven by oil and regulation“. Financial Times, 3. Juni 2008.

1 Ist Strategie tot? 7

Im Juni 2010 hatte BP mit seiner auf Alleingänge und kurzfristige Erfolge ausgerichteten Strategie einen hohen Preis gezahlt: Der Wert des Grundkapitals war um 100 Mrd. $ – um mehr als die Hälfte – geschrumpft.

Regierungen sind von diesem kurzfristigen Denken ebenso betroffen wie die Wirt schaft. In den 1960er-Jahren gab die Nasa 24 Mrd. $ aus, um zwölf Astronauten zum Mond zu schicken, das macht 2 Mrd. $ pro Astronaut (Dollarwert des Jahres 1969). Aber nach der Einstellung des Apollo-Programms gingen die Ingenieure, die über das entschei dende Wissen verfügten, entweder in den Ruhestand oder starben (oder beides), ohne ihr Wissen zuvor an die nachfolgende Generation weitergegeben zu haben. Wichtige Blau pausen wurden entweder nicht korrekt oder gar nicht abgelegt und katalogisiert, und die Mitarbeiter, die sie einst gezeichnet hatten, waren nicht mehr da, um sie noch ein zweites Mal zu Papier zu bringen. Das Ergebnis: Heute erfindet die NASA das Rad neu. Die Kos ten für den amerikanischen Steuerzahler belaufen sich auf geschätzte 100 Mrd. $ (Dollar wert des Jahres 2005).14 Wie konnte das passieren?

Und die Nasa ist nur eine von vielen staatlichen Institutionen. Wie sollte die Strategie der Vereinigten Staaten (oder eines beliebigen Staates in diesem Zusammenhang) im 21. Jahrhundert beschaffen sein? Wie zum Beispiel könnten die Vereinigten Staaten Terroris ten bekämpfen, die nicht in Hierarchien, sondern in lose miteinander verbundenen Zellen – mit anderen Worten in Netzwerken – organisiert sind? Militärstrategen reden über den Net War, der völlig andere strategische Ansätze erfordert, als sie aus der guten alten Zeit der Kriegführung zweier Nationen gegeneinander bekannt sind – oder aus der ebenso be ängstigenden, aber doch recht ordentlichen und überschaubaren bipolaren Welt des Kalten Krieges.

Schließlich haben auch internationale Organisationen unter schlechten Strategien zu leiden. Die Weltbank verabschiedete einen 300-Millionen-Dollar-Plan, um afrikanische Bauern in abgelegenen ländlichen Regionen mit Handpumpen auszustatten und damit für saubereres Wasser zu sorgen. Die wohlmeinende Initiative sah sich allerdings mit einem Problem konfrontiert: Die Entwickler der Pumpen hatten Männer vor Augen gehabt. Die Planer in Washington, D.C., waren einem weitverbreiteten Irrglauben aufgesessen – was nicht überraschend ist, denn wenn wir über „afrikanische Bauern“ reden, dann sehen die meisten Menschen Männer vor sich. Tatsächlich aber werden 80% der Lebensmittel in Afrika von Bäuerinnen angebaut (der einzige Sektor, in dem afrikanische Männer mehr produzieren als Frauen, ist der Wohnungsbau/das Baugewerbe). Die Weltbank lieferte also Pumpen aus, die für Frauen zu groß und zu unhandlich waren; nur Männer konnten sie bedienen. Schlimmer noch, die Bank versäumte es, vor Ort Ansässige darin auszu bilden, die Pumpen zu reparieren. Die Bäuerinnen, fast ausnahmslos Analphabetinnen, konnten die Anleitungen nicht lesen und warfen

die Pumpen einfach weg, wenn sie nicht mehr funktionierten. Dann kehrten sie zu ihrer alten Routine zurück, öffentliche, oft ver schmutzte Zisternen zu nutzen oder verdreckte Teiche aufzusuchen. Das Ergebnis waren

14 Kunzelman, Michael: „BP has lost more than $ 100B in value since oil spill started“. Associated Press; 26. Juni 2010.

8 1 Ist Strategie tot? verheerende Krankheiten, darunter Typhus und Malaria – ganz zu schweigen von den

300 Mio. $, die buchstäblich in den Sand gesetzt worden waren.

1.1 Eine kurze Geschichte der Strategie

Es überrascht nicht, dass Strategieansätze die Zeiten widerspiegeln, in denen sie entwi ckelt wurden. Das heißt nicht, dass man aus der Geschichte nicht lernen könne. Und ein großer Teil der geleisteten Arbeit ist von hohem Wert. Der spanische Philosoph George Santayana sagte weise: „Diejenigen, die sich an die Vergangenheit nicht erinnern, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ In diesem Zusammenhang empfehlen wir einen klei nen Ausflug in die Geschichte der Strategie. Ziel ist, die wesentlichen historischen Grund pfeiler des aktuellen Strategieparadigmas kennenzulernen. Wir wollen uns die Rosinen herauspicken, die uns helfen können, die Strategieansätze der Zukunft zu entwickeln. Im Folgenden finden Sie die Zusammenstellung einiger wesentlicher Ideen, die unser Denken beeinflusst haben.

Sun Tzu (6. Jahrhundert v. Chr.), ein Zeitgenosse des Konfuzius, war ein chine sischer General, der im Staat Wu lebte und für König Helü von Wu in einer Position arbeitete, die mit der eines Militärberaters in der heutigen Zeit vergleichbar ist. Sun Tzu stellte seine Führungsqualitäten unter Beweis, indem er ein Bataillon untrainierter Frauen aufstellte, deren Führungskräfte keine geringeren waren als die engsten Konkubinen des Königs. Sun Tzus Vorstoß erlaubte es Helü, den Staat Chu einzunehmen und Wu zum mächtigsten Staatswesen seiner Zeit zu machen. Dann verschwand Sun Tzu, und sein ex akter Todeszeitpunkt und -ort sind bis heute ein Mysterium. Sein Vermächtnis wird in der westlichen Kultur üblicherweise unter Titeln wie „Die Kunst des Krieges“ veröffentlicht, und obwohl sowohl Stalin als auch Mao angeblich seine Schriften studierten, während sie ihre Kriege führten, befürwortete Sun Tzu keineswegs den Krieg, sondern legte stattdes sen eine Reihe philosophischer Grundsätze fest, um Konflikte zu vermeiden und in einer angespannten Situation mit einem Feind dennoch die Kontrolle zu behalten. „Jegliche Kriegführung beruht auf Täuschung“, schrieb er.

Wenn wir also in der Lage sind anzugreifen, muss es so aussehen, als seien wir dazu nicht in der Lage; wenn wir unsere Waffen einsetzen, muss es so aussehen, als seien wir inaktiv; wenn wir in der Nähe sind, müssen wir den Feind glauben machen, wir seien weit entfernt; wenn wir weit weg sind, muss es den Anschein haben, als seien wir ganz in der Nähe. Wir müssen Köder auslegen, um den Feind anzulocken, und Unordnung vortäuschen, um ihn dann ver nichtend zu schlagen.

Chanakya (350 – 283 v. Chr.) war Wirtschaftwissenschaftler (der erste der Welt, wie einige behaupten), Professor an der Taxila-Universität und später erster Premierminister des Maurya-Reiches im antiken Indien. Im Allgemeinen wird er als Autor des Buches Art hashastra, eine Abhandlung über die Staatskunst, Wirtschaftspolitik und Militärstrategie, geführt (artha heißt auf Sanskrit weltlich, wohlhabend; shastra bedeutet Wissenschaft).

9

Zuweilen als „indischer Machiavelli“ bezeichnet, riet er einem König, berechnende und manchmal brutale Maßnahmen zu ergreifen, um sein Königreich zu schützen und das Ge meinwohl zu bewahren, zum Beispiel, indem er Spione einsetzte, um über ausreichende strategische Intelligenz zu verfügen. Aber Chanakya lehrte auch, wie ein weiser und tu gendhafter König zu herrschen hatte – beispielsweise, indem er darlegte, wie ein Rechts system entwickelt und ein effektives bürokratisches System durchgesetzt werden konnte. Er entwickelte sogar ein tägliches Routineprogramm für das Staatsoberhaupt, mit dem die Anliegen des Staates in 90-Minuten-Zeiteinheiten abgearbeitet werden konnten (zum Beispiel:„die ersten eineinhalb Stunden nach Sonnenaufgang:Berichte über Verteidigung, Einnahmen und Ausgaben entgegennehmen“; „die ersten eineinhalb Stunden nach Son nenuntergang:Gespräche mit Geheimagenten führen“).

Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) war, natürlich, der politische Philosoph der italie nischen Renaissance, der schließlich zum Zweiten Kanzler der Republik Florenz gewählt wurde. Wie Chanakya gab auch Machiavelli in seinem Buch Der Fürst (Il Principe) einem Herrscher Ratschläge, wie er den Staat zu führen habe. Zu seinen Ideen gelangte er durch die Beobachtung des Soldaten und Kirchenmannes Cesare Borgia, der seine Herrschaft in Zentralitalien mittels einer Strategie des Selbstvertrauens und der Vorsicht, der Macht, Einschüchterung und zuweilen auch Grausamkeit ausbaute. Ganz ähnlich wie der indische Stratege fast zwei Jahrtausende vor ihm, war auch Machiavelli Realist: Er war weniger darauf bedacht, wie Dinge sein könnten oder sein sollten, sondern hatte immer den Blick auf den tatsächlichen Zustand seiner Umwelt gerichtet. In einer idealen Welt wäre Ma chiavelli ein Befürworter der virtù (Tugend) gewesen, aber er musste sich mit der ihn umgebenden, nicht ganz so perfekten Welt abfinden.

Ich glaube, es ist angemessen, die Dinge so darzustellen, wie sie wirklich sind, und nicht so, wie wir sie uns vorstellen. Viele vor mir haben von Republiken (Staatsformen) und Fürsten tümern geträumt, die in Wahrheit niemals existiert haben; die Kluft zwischen der Art und Weise, wie wir leben sollten, und der, wie wir wirklich leben, ist so groß, dass ein Mann, der das, was tatsächlich getan wird, mit dem verwechselt, was getan werden sollte, den Weg der Selbstzerstörung erlernt, statt an seiner Selbsterhaltung zu arbeiten. Es ist eine Tatsache, dass ein Mann, der in jeder Hinsicht tugendhaft handeln will, notwendigerweise in Kummer ver sinkt angesichts so vieler Menschen, denen es an Tugend mangelt.15

Carl von Clausewitz (1789 – 1831) war ein preußischer Offizier, Militärhistoriker und einflussreicher Militärtheoretiker, der für seine Aussage, Krieg sei „nur die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln“, Berühmtheit erlangte – ebenso für seine in der west lichen Welt bedeutendste Abhandlung über die Philosophie des Krieges, Vom Kriege, die auch heute noch in den Militärakademien der Welt studiert wird. Vor Clausewitz wur den die Armeen von den Königen oder Machthabern eines Landes selbst geführt. Auf grund dieser Gepflogenheit liefen die Länder Gefahr, ausgelöscht zu werden – fast wie im Schachspiel:Verlier Deinen König, und Du verlierst alles. Armeen in aller Welt verdanken

15 Machiavelli, Niccoló: Der Fürst. Hamburg 2009.

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Clausewitz und einer Gruppe junger abenteuerlustiger Generäle um König Friedrich den Großen die Idee einer Offizierskaste, eine wichtige Innovation nach der vernichtenden Niederlage, die die preußische Armee gegen Napoleon erlitten hatte. Die zugrunde lie gende Idee bestand darin, die Macht auf die Mitglieder des Offizierskaders zu verteilen, die nicht länger aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit, sondern auf einer Wettbewerbs basis ausgewählt wurden. Offiziere konnten trainiert und ausgetauscht werden, sodass die Armee mehr und mehr einer Maschine glich und weniger anfällig für Niederlagen wurde. An der Stelle eines einzelnen Kommandanten an der Spitze gab es nun ein anonymes Generalhauptquartier oder das Hauptquartier eines elitären Offiziers-Corps. Der Begriff Headquarter wird noch heute in vielen Unternehmen verwendet.

Max Weber (1864 – 1920) war der Soziologe, der (obwohl er sich als Wirtschaftswis senschaftler und Historiker betrachtete) die moderne bürokratische Organisation als ein Gebilde ansah, das Regeln und Regulatorien, Pflichten und eine eindeutige Verteilung der Autoritäten sowie klare Kompetenzen benötigt, um effektiv zu funktionieren.

Nach Weber war ein wesentliches Merkmal aller großen Organisationen ihre „unver änderte und fortdauernde Existenz, wenn nicht die Schaffung, reiner bürokratischer Ver waltungen“. Eine solche Verwaltung sollte sich üblicherweise zum gut geölten Apparat entwickeln: „Der voll entwickelte bürokratische Mechanismus verhält sich zu anderen Organisationen genauso wie die Maschine zu den nicht mechanischen Produktionstechni ken.“ Diese Maschine existiert ohne „Rücksicht auf Personen“. Sie ist streng hierarchisch organisiert, genau wie Clausewitz ́ militärische Struktur: „Die bürokratische Struktur geht einher mit der Konzentration der materiellen Mittel des Managements in der Hand des Meisters.“ Weber machte bereits einen der Fallstricke bürokratischer Organisationen aus: „Sobald sie einmal völlig etabliert sind, gehört eine Bürokratie zu den sozialen Strukturen, die am schwierigsten zu zerstören sind.“16 Bürokraten würden fast alles tun, um den Status quo und die Maschine selbst am Leben zu erhalten.

Frederick Taylor (1856 – 1915), ein Zeitgenosse Webers, war der Vater dessen, was später als „wissenschaftliche Betriebsführung“ bezeichnet wurde. Er betrachtete die in dustrielle Betriebsführung seiner Zeit als amateurhaft, glaubte, dass das Management eine akademische Disziplin sein und er „eine beste Methode“ der Unternehmensführung entwi ckeln könne, indem er die Arbeit analysierte. Er verschlankte betriebliche Abläufe, senkte Kosten, quetschte das letzte bisschen Produktivität aus jedem Arbeiter heraus und behan delte die Organisation wie eine Maschine, indem er den Input minimierte und den Out put maximierte. Im Jahre 1893 gründete Taylor eine unabhängige Wirtsschaftsberatung in Philadelphia. Auf seiner Visitenkarte hieß es: „Tätigkeitsschwerpunkt: Systematisierung von Prozesssteuerung und Produktionskosten“. 1898 ging Taylor zu Bethlehem Steel: Das Unternehmen sollte seine erste Fallstudie darstellen. Für seine Entwicklung der Be handlung von Hochgeschwindigkeits-Werkzeug-Stahl erhielt Taylor während der Welt ausstellung im Jahr 1900 in Paris eine persönliche Goldmedaille und wurde im selben

16

Gerth,HansHundMills,CWright:FromMaxWeber:EssaysinSociology.London2007.Kap.8, Bürokratie, S. 203–228.

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Jahr außerdem mit der Elliot-Cresson-Goldmedaille ausgezeichnet. In seiner berühmten Zeit- und Bewegungsstudie zerlegte Taylor eine Tätigkeit in ihre Einzelschritte und maß die Zeit jedes dieser Teilschritte auf die Hundertstelminute genau. Eine seiner Studien be zog sich auf Schaufeln. Er bemerkte, dass die Arbeiter ein und dieselbe Schaufel für alle Materialien verwendeten, und

berechnete, dass die effektivste Last 21 1/2 Pfund (9,75 kg) betrug. Dann suchte oder entwickelte er für die unterschiedlichsten Materialien Schaufeln, deren Abmessungen die Beladung mit exakt diesem Gewicht zuließen.

1901 wurde Taylor aufgrund von Auseinandersetzungen mit anderen Managern ge zwungen, Bethlehem Steel zu verlassen, und hatte insgesamt wenig Erfolg mit seinen Bemühungen, seine Konzepte umzusetzen. Letztendlich war es vor allem den Anstren gungen seiner Anhänger zu verdanken, dass Taylors Ideen in der Industrie Anwendung fanden. (Dennoch verkaufte sich sein Buch, Shop Management, das er nach der Trennung von Bethlehem Steel geschrieben hatte, sehr gut.) Taylors Ansatz hatte einen schreck lichen Nebeneffekt: Er verstärkte eine Denkweise, die dem Produktionsprozess den etwas eigenwilligen Zug nahm, durch den Innovationen erst möglich werden und der Menschen Befriedigung verschafft. Taylor selbst schrieb: „Unser Modell fragt nicht nach der Initiati ve des einzelnen Menschen. Uns interessiert sein Engagement nicht... wir verlangen von unseren Männern nicht, dass sie denken.“17

Alfred P. Sloan (1875 – 1966) wird im Allgemeinen als Vater des modernen Industrie unternehmens angesehen. Von 1899 an war er Präsident von Hyatt Roller Bearing Inc., einem Hersteller von Kugel- und Walzenlagern. Als Hyatt mit der United Motors Corpo ration fusionierte, die später von General Motors aufgekauft wurde, stieg Sloan erst zum Direktor, dann zum Generaldirektor und schließlich zum Präsidenten des Verwaltungsra tes bei GM auf. Unter Sloan erlangte der Autohersteller Berühmtheit, weil erstmals unter schiedliche Betriebsabläufe mithilfe von Finanzstatistiken wie dem Return on Investment gemanagt wurden. Sloan etablierte eine Preisstruktur, nach der Chevrolet, Pontiac, Olds mobile, Buick und Cadillac in festgelegte Preissegmente (von unten nach oben) eingeteilt wurden, so- dass sie nicht miteinander konkurrierten. Auf diese Weise konnten die Kunden an die GM-Familie gebunden werden, auch wenn ihre Kaufkraft sowie ihre Präferenzen sich im Laufe ihres Lebens veränderten. Dieses Konzept führte neben der Verweigerung Fords in den 1920er-Jahren, derartige Innovationen ebenfalls umzusetzen, dazu, dass GM in den frühen 1930er-Jahren die Marktführerschaft übernahm. Über 70 Jahre lang hielt GM diese Spitzenstellung. Unter Sloans Führung wurde GM zum größten, erfolgreichsten und profitabelsten Industrieunternehmen, das die Welt je gesehen hatte. Die Sloan-Stif tung richtete 1952 die MIT School of Industrial Management ein, die den Auftrag erhielt, eine Ausbildung zum „idealen Manager“ zu gewährleisten. Die Schule wurde später in MIT Sloan School of Management umbenannt und ist noch heute eine der bedeutendsten Wirtschaftsschulen der Welt.

17 Taylor, Frederick W: „Report of a lecture by and questions put to F.W. Taylor: a transcript“, Jour nal of Management. History, 1:1, 1995, S. 8–32.

12 1 Ist Strategie tot?

Diese Ansätze, von Sun Tzu bis Sloan, haben dazu beigetragen, dass die Grundlagen für die Management- und Strategieansätze des 20. Jahrhunderts geschaffen werden konn ten. Diese wurden größtenteils in mechanistisch ausgerichteten, produzierenden Unter nehmen wie der Schweizer Uhrenindustrie umgesetzt, deren Mitarbeiter kleine Rädchen im Getriebe waren, die man hin- und herschieben konnte, wie man wollte. Sie sahen eine strikte Hierarchie als notwendige Voraussetzung und glaubten, dass die Fürsten oder Ge neräle an der Spitze über die erforderliche Intelligenz verfügten. (Churchill drückte es so aus: „Je höher Sie aufsteigen, desto mehr erkennen Sie das große Bild der Vision und Stra tegie.“) Sie lebten in einer einfacheren Welt, die von einigen wenigen, mächtigen Staaten dominiert wurde, in denen die Feindeslinien klar abgesteckt und die Märkte zumeist regio nal begrenzt waren. Vor allem aber lebten sie in einer Welt, in der die Zeit noch langsam verging und linear verlief, und in der die Zukunft im Großen und Ganzen eine Fortsetzung der Gegenwart war.

1.2 Sieben Facetten der Neuen Landschaft

Aber die Welt hat sich in mindestens siebenfacher Hinsicht verändert, und diese Verän derungen haben traditionelle Strategieansätze abrupt beendet und dafür gesorgt, dass die alten Spielregeln keine Gültigkeit mehr haben.

Geschwindigkeit Vor einigen Jahren war Luftfrachtpilot Seth Brady, der eine 747 flog, völlig sprachlos, als ein früherer Arbeitgeber einen Learjet aus Toledo losschickte, der einen British-Airways-Flug am John F. Kennedy International Airport in New York abpas sen sollte, weil GM die Rückenlehnen für fünf Sitze in seinem Chevrolet-Corvette-Werk fehlten. „Sie flogen das erforderliche korinthische Leder aus England ein, luden es am JFK in den Learjet um, brachten es nach Pontiac, stellten innerhalb von drei Stunden die neuen Rückenlehnen her, verfrachteten diese wieder in den Learjet und brachten sie nach Bowling Green in Kentucky, nur damit die Produktionsstraße nicht heruntergefahren wer den musste.“ Der Pilot wunderte sich besonders, wie jemand „es sich leisten konnte, all diese Flugzeuge fliegen zu lassen“, bis man ihm erklärte, dass der Transport der Fracht in der Luft billiger war, als die Produktionsstraße anzuhalten – das hätte nämlich 42.000 $ pro Minute gekostet.18

Die verwirrende Geschwindigkeit, mit der sich Fortschritte in der Technologie vollzie hen, die Forderungen der Kunden und die Angriffe des Wettbewerbs, die es vor wenigen Tagen noch gar nicht (oder scheinbar nicht) gab, haben die Zeit zwischen Geschäftsaktivi täten und Reaktionen enorm reduziert. Mittlerweile spricht man davon, dass ein „Internet- Jahr“ drei Monate dauere. Die Zahl der Textbotschaften, die pro Tag versendet und emp fangen werden, übersteigt die

Gesamtbevölkerungszahl der Erde. Mehr als 3000 Bücher werden Tag für Tag veröffentlicht. Laut BBC News wird pro Sekunde ein neuer Blog

18 Walker, Michael: „Frequent Flyers“. Men’s Vogue, März 2008.

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geschaltet, und die Zahl der Blogs verdoppelt sich im Schnitt alle fünf Monate.19

Unsere Kinder werden Technologien nutzen, Produkte verbrauchen und sich mit Dingen ausein andersetzen müssen, die heute noch nicht einmal existieren. Die bloße Geschwindigkeit, mit der Informationen auftauchen, verarbeitet und in neues Wissen komprimiert werden, stellt alle bisherigen Strategieansätze auf den Kopf.

Globalisierung Im ersten Quartal des Jahres 2008 erzielte das in Armonk, New York, ansässige Unternehmen IBM 65% seines Umsatzes außerhalb der Vereinigten Staaten. Tata, der indische Riese für technische Dienstleistungen mit Sitz in Mumbai, wiederum erzielte 51% des Umsatzes in Nordamerika.20 Die fünf Prozent der chinesischen Bevöl kerung oder, falls Sie das lieber hören, die sieben Prozent der indischen Bevölkerung mit dem höchsten IQ zählen inzwischen mehr Köpfe als die gesamte Bevölkerung Großbritan niens. Die Auswirkungen der Globalisierung auf die Strategieplanung sind in ihrer Gänze schwer zu erfassen und werden an anderer Stelle ausführlicher behandelt21, aber so viel steht fest:Der globale Marktplatz hat das Spiel drastisch verändert.

Internet und virtuelle Organisationen Das Internet hat eine Revolution ausgelöst, die mit einer verbreiteten Zunahme der individuellen Persönlichkeitsentfaltung einhergeht. Wenn Facebook ein Staat wäre, wäre es das drittgrößte Land der Welt, dem jeder siebte Weltbürger angehörte, und wäre wahrscheinlich in Kürze das bevölkerungsreichste Land der Erde. Monat für Monat gibt es bei Google 2,7 Mrd. Suchanfragen. Neun von zehn Teenagern besitzen (zumindest in den Industrienationen) einen Computer, ein Mobiltele fon und eine Spielkonsole – aber 72 % aller Lehrer spielen niemals ein Computerspiel.

Die Arbeitnehmerschaft verändert sich mit dem Internet. Wissensarbeiter wechseln ihre Jobs und selbst ihre beruflichen Laufbahnen im Laufe ihrer produktiven Lebens arbeitszeit mehrmals. Jeder zweite Berufstätige arbeitet seit weniger als fünf Jahren für seinen jetzigen Arbeitgeber. Mehr und mehr Menschen arbeiten in virtuellen Teams, ent weder weil Tätigkeiten in Back Offices in Asien, Lateinamerika oder Afrika outgesourct wurden oder moderne Kommunikationstechnologien dies ermöglichen. Die meisten Arbeitnehmer fahren

nach wie vor jeden Morgen zu ihrem Arbeitsplatz, aber die Zahl der Telearbeitsplätze nimmt deutlich zu: Eine Studie aus dem Jahr 2007 ergab, dass 23 % der amerikanischen Arbeitnehmer regelmäßig ihre Arbeit von einem anderen Arbeitsplatz aus als dem Büro erledigen und dass 62 % der Befragten, die das nicht können, auch gern so arbeiten würden.22

19 BBC News: „One blog created ,every second‘“, 2. August 2005.20 Hamm, Steve: „IBM vs. Tata: Who’s more American?“ Business Week, 14. Mai 2008.

21 Zweifel, Thomas D: Culture Clash 2: Managing the Global HighPerformance Team. Überarbei tete Auflage. New York 2013.22 Kanaracus; Chris: Telecommuting: „A Quarter of U.S. Workers Do It Regularly“. PC World, 28. November 2007.

14 1 Ist Strategie tot?

Neue Technologien Technologien sind einem stetigen Wandel unterworfen. PayPal ermöglicht es Menschen, Bankgeschäfte ohne Bank zu erledigen, Skype lässt Menschen telefonieren, ohne ein Telefon zu nutzen, und mit dem Smartphone kann man Zugtickets kaufen, ohne Geld auf den Tisch zu legen. Und das ist nur der Anfang: Schon jetzt sind 3-D-Drucker erhältlich, die so ziemlich alles drucken, was Sie sich wünschen, angefangen von Einlegesohlen für die Schuhe Ihrer Tochter über Ersatzteile für Ihre Bohrmaschine bis hin zum Deckel einer Tupperdose, den Sie verloren haben. Und all das basierend auf Vorlagen, die Sie im Internet herunterladen können. Wahrscheinlich wird es nur noch eine Generation dauern, bis die Nanotechnologie (eine Technologie, die auf Teilchen in der Größe eines millionstel Meters beruht) es Menschen ermöglichen wird, Produkte Molekül für Molekül zusammenzusetzen. Das könnte den wirtschaftlichen Prozess der Produktion und des Konsums grundlegend verändern, weil die Verbraucher dann in der Lage wären, selbst kleinste Produktionsstätten zu betreiben und ihre eigenen Produkte zu Hause oder in einer Ecke in ihrer Küche herzustellen.23

Demokratisierung Zu Sloans und Taylors Zeiten gab es weltweit nur einige wenige demokratische Staaten. Top-down-Organisationen waren die Regel. Heute verfügen Organisationen über flache Strukturen, sie automatisieren Routineaufgaben oder schaffen schlicht das mittlere Management ab, um Kosten zu sparen und wettbewerbsfähig zu blei ben. Für Unternehmen brachte die Demokratisierung durch Konsumenten generierte Inno vationen mit sich:Die Verbraucher sind heute in zahlreichen Branchen in die Entwicklung von Produkten involviert, von Windsurfing-Ausstattung über Google-Anwendungen bis hin zu Mountainbikes.24 Sie drehen ihre eigenen Videos und laden sie bei YouTube hoch, der (nach dem Mutterkonzern Google, der seit 2015 Alphabet

heisst) zweitgrößten Such maschine der Welt. Sie posten ihre Musik auf YouTube. Sie veröffentlichen Bücher im Eigenverlag. Gleichzeitig stehen die Manager unter genauester Beobachtung der Medien und der Shareholder. Es gibt eine viel ausgeprägtere öffentliche Wahrnehmung als früher, und auch die Forderung nach Profitabilität und Regelkonformität ist stärker als jemals zuvor. Der zunehmende Zynismus, mit dem große Konzerne und staatliche Einrichtungen, ihre Absichten und ihre Effektivität bedacht werden, sorgt für die einschüchternde Über forderung, die richtigen Dinge zu tun und alles richtig zu machen.

Empowerment Die Art und Weise, wie Taylor, Sloan und ihre Zeitgenossen mit den Arbeitern umgingen, spiegelt schlicht die Bedingungen ihrer Zeit wider. Der Mensch war ein Objekt, ein Rohstoff, bestenfalls Humankapital. Arbeitnehmer stellten keine Fragen. Wenn doch, dann fragten sie: „Was soll ich tun?“ Thomas’ Vater arbeitete 35 Jahre bei Sandoz, dem Konzern, aus dem später Novartis wurde; er kam abends häufig nach Hause und brachte seinen Frust über das Unternehmen zum Ausdruck – aber er stellte niemals ersthaft infrage, ob er dort auch weiterhin arbeiten solle. Schon in der nachfolgenden

23 Harvard Business Review. „Breakthrough Ideas for 2007“.24 Hippel, Eric von: Democratizing Innovation. Cambridge 2005.

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Generation (zumindest im Westen) hatte sich diese Einstellung grundlegend geändert. In den späten 1960er-Jahren begannen Arbeitnehmer zunehmend zu fragen: „Was will ich denn?“25

Komplexität Das Geschäft mit dem Geschäft ist wesentlich komplexer geworden. Es gibt Schätzungen, dass die Menge an Informationen, die innerhalb einer Woche in The New York Times veröffentlicht werden, größer ist als die Menge an Informationen, denen ein durchschnittlicher Mensch im 18. Jahrhundert im Laufe seines oder ihres Lebens begegnete. Die englische Sprache umfasst heute um die 540.000 Wörter – fünfmal so viele wie zu Zeiten William Shakespeares. Das Problem der Wirtschaft besteht darin, all dies sinnvoll zu nutzen – nämlich Informationen in Wissen umzuwandeln. Aber kein Mensch, keine Geschäftsführung, egal wie brillant oder erfahren sie sind, kann heute noch das gesamte Bild überblicken. Die neue Welt ist viel zu komplex, als dass ein einzelner Mensch sie meistern könnte.

Zusammengenommen führen diese verschiedenen Facetten zu Veränderungen, die tat sächlich nicht vorhersehbar, geschweige denn planbar sind. (Wahrscheinlich ist das der Grund, warum McKinsey im Jahr 2008 ein „Zentrum zum Management

von Unsicherheit“ eingerichtet hat, um der rezessionsgeschüttelten Wirtschaftswelt etwas entgegenzusetzen.) Die eigentliche Idee der Strategie ist infrage gestellt worden. Der Management-Theore tiker Henry Mintzberg und seine Mitarbeiter waren nicht die Ersten, die den Prozess der Strategieplanung kritisierten; bereits in den späten 1990er-Jahren wies die zunehmende Literatur über Hyperkonkurrenz darauf hin, dass formales strategisches Denken in einer ständigen Veränderungen unterworfenen Wirtschaftswelt zum Scheitern verurteilt sei.26 Und hier waren technologische Innovationen wie Suchanfragen, E-Commerce, PayPal oder Soziale Netzwerke noch gar nicht berücksichtigt. Unbeirrt erklärte Michael Porter im Jahr 1999 in einem Interview mit der Zeitschrift Fortune: „Die zunehmende Bedeutung des Internets wird jede Branche auf die eine oder andere Art und Weise beeinflussen, aber für mindestens die Hälfte der Wirtschaft ist keine entscheidende Veränderung in Sicht. Das Internet wird einen weitreichenden Einfluss auf die Bereitstellung von Informationen für Kunden sowie auf die Beziehung zwischen Unternehmen und ihren Zulieferern haben, aber es handelt sich hier nicht um eine mit dem Auto vergleichbare Innovation. Sie müs sen die Strategietheorie nicht verändern, um sich mit dem Internet zu arrangieren.“ Porter mag in Bezug auf das Internet allein richtigliegen; das Web wird nicht aus sich heraus die Strategietheorie verändern. Aber in Kombination mit anderen Kräften, die die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts bestimmen, angefangen bei der Globalisierung bis zum Outsourcing oder Off-Shoring, von der Demokratisierung bis hin zu flachen Hierarchien, vom Wis sensarbeiter bis zum Freien Mitarbeiter, wird sich die Strategiepraxis verändern müssen, wie Sie feststellen werden, wenn Unternehmen und andere Organisationen in einer sich

25 Drucker, Peter: „Managing Oneself “. Harvard Business Review. März-April 1999, S. 65–74.

26 Mintzberg, Henry; Ahlstrand, Bruce und Lapel, Joseph: Strategy Safari: Der Wegweiser durch den Dschungel des strategischen Managements. München 2012.

16 1 Ist Strategie tot?

ständig verändernden Umwelt überleben und erfolgreich bleiben wollen. Vielleicht haben die umfassenden Veränderungen in der vergangenen Generation die Strategie selbst nicht verändern können. Aber sie schaffen sowohl Möglichkeiten für als auch eine Nachfrage nach Veränderungen, wie Sie strategische Maßnahmen erfolgreich entwickeln und um setzen können. Und das verändert alles.

1.3 Die acht Fallstricke der Planung

Wenn strategische Maßnahmen fehlschlagen, wird stets die Frage gestellt, ob es

sich um eine schlechte Strategie handelt oder ob „nur“ die Ausführung mangelhaft war. Halten Sie sich Dell vor Augen, den Hersteller, der die Spielregeln im PC-Geschäft veränderte, in dem er den Zwischenhandel ausschaltete und direkt an die Kunden verkaufte. Das „Dell- Modell“ war einst ein Synonym für Effizienz, Outsourcing und niedrige Lagerbestände und wurde in Harvard und an anderen hochkarätigen Wirtschaftshochschulen als Inbegriff einer überlegenen Strategie und cleverer Ausschaltung der Konkurrenz gelehrt. Aber in den vergangenen Jahren hatte das Unternehmen mit ernsthaften Problemen zu kämpfen: Kundenwünsche wurden fehlinterpretiert, der Kundendienst war suboptimal, die Produkte wiesen eine fragwürdige Qualität auf und die Buchhaltung war unsauber. Ist Dells Nie dergang die Folge einer fehlgeleiteten Strategieplanung oder vielmehr auf Fehler in der Umsetzung zurückzuführen? Wahrscheinlich ist es von beidem etwas. „Der Konzern Dell war das Modell, auf das sich vor zehn Jahren jeder konzentrierte“, sagt David B. Yoffie, Professor für International Business Administration in Harvard. „Aber wenn Sie die Ig noranz gegenüber einer Reihe wesentlicher Verlagerungen in der Branche und die chao tischen Zustände im Management miteinander kombinieren, dann können Sie schwerlich verhindern, dass Ihr Stern zu sinken beginnt.“27 Herkömmliche Planungsansätze haben die Tendenz, Trends und neue Landschaften zu ignorieren, und werden schnell zum Opfer nicht erkannter und nicht untersuchter Allgemeinplätze und blinder Flecken, die kritische Informationen ausblenden und damit die Kreativität und Produktivität lähmen, die sich innerhalb von Organisationen verstecken. Wir haben acht Fallstricke ausgemacht, die sich auf dem Weg zu erfolgreichen Strategien als Hemmnis erweisen können.

Verdinglichung „Strategie ist eine Sache.“ Planer (und viele ihrer Kollegen) neigen dazu, Strategie als Blaupause zu betrachten, als Plan, als Buch, als Produkt, das kom plett und solide ist, sobald es einmal fertiggestellt wurde, und das es ihnen erlaubt, diese Blaupause einfach nur auszurollen und danach zu arbeiten. Das funktioniert vielleicht, wenn Sie eine Brücke oder das Kanalisationssystem für Mumbai entworfen haben, aber es scheitert, sobald Menschen Bestandteil der Gleichung sind. Heute kann Strategie nicht mehr als etwas Unveränderliches betrachtet werden; es muss vielmehr ein dynamischer

27 Vance, Ashlee: „Suit Over Faulty Computers Highlights Dell ́s Decline.“ New York Times, 28. Juni 2010.

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und sich selbst korrigierender Prozess sein. Wir verwenden das Wort „Prozess“, um ein Paradigma zu benennen, das einem Projekt oder Programm mit

festgefügtem Beginn und Ende gegenübersteht.

Kontrolle „Ich trage hier die Verantwortung – was immer ich auch sage, wird von oben nach unten durchsickern und umgesetzt werden.“ Vor einigen Jahren befragte Ed einen Technologie-Manager über seinen Ansatz zur strategischen Planung, Entscheidung und Umsetzung. Er fand heraus, dass der Ansatz des Managers darin bestand, alle Daten zusammenzutragen, die er bekommen konnte, sich zurückzuziehen und über eine Lösung nachzudenken, diese Lösung zu verkünden und zu erwarten, dass seine Leute sie umsetz ten. Dieser Ansatz verleiht ihm zwar mehr Macht, aber er schmälert den Wert seiner direkten Untergebenen und verhindert, dass sich um ihn herum neue Führungstalente ent wickeln können.

Der Harvard-Professor Clark Gilbert bedauert, dass „einige unserer Kollegen, die sich intensiv mit Strategieplanung befasst haben (und einige Berater, deren Beratungs schwerpunkt im Bereich Strategie liegt), (...) annehmen, dass Strategieansätze, sobald sie sie entworfen haben, auch umgesetzt werden. Sie setzen sich nicht mit dem Prozess auseinander.“28 Vertrauensselige Planer mögen glauben, dass der strategische Prozess uni lateral von oben herab kontrolliert werden kann. In der heutigen, höchst komplexen Um welt ist Kontrolle jedoch eine Illusion. Selbst wenn sie umsetzbar wäre, wäre Kontrolle immer noch kontraproduktiv, weil sie die Tendenz hat, die Führungsarbeit, das Engage ment und die Innovationen, die vor Ort von den Frontline-Mitarbeitern in den Prozess ein gebracht werden, abzuwürgen. Nach 9/11 realisierte selbst die oberste Führungsriege der US-Armee, dass auch der Fußsoldat in Sadr City oder Seoul über strategische Intelligenz verfügt, auf die auch die Planer im Pentagon angewiesen sind, um strategische Fiaskos zu vermeiden.

Der Fallstrick namens Kontrollwut wirkt sich auch umgekehrt aus: Führungskräfte im mittleren Management sind abgeneigt, ihre Vorgesetzten offen infrage zu stellen – so wie in der Geschichte der Korean Airlines, in der der Kopilot die Einschätzung des Piloten nicht anzuzweifeln wagte, als dieser eine Fehlentscheidung traf. „Er ist der Pilot“, gab der Kopilot später zu Protokoll, „also glaubte ich, er wird schon wissen, was er tut.“ Ergebnis: Das Flugzeug stürzte ab.

Linearität „Strategie kann in Mini-Aufgaben unterteilt und Schritt für Schritt umgesetzt werden.“ Planer der alten Schule glauben, dass Strategie ein linearer Prozess ist. Ist sie aber nicht. Random House kaufte vor einiger Zeit einen Lagerkomplex mit über 90.000 m2 Lagerfläche, um seinen riesigen Bestand an Buchtiteln unterbringen zu können. Das Problem war, dass eine neue Technologie namens Print-on-Demand derart umfangreiche Lagerbestände überflüssig machte. Der Verlag mit Sitz in New York saß plötzlich mit

28 Lagace,Martha:„WhatReallyDrivesYourStratey?

Q&AWithJosephBowerandClarkGilbert“. Harvard Business School Working Knowledge. 9. Januar 2006.

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einem riesengroßen, leeren Gebäude und hohen Kosten da. Allzu häufig verändern Top manager ihre Strategien nicht, wenn sich die Bedingungen an der Front ändern. Das führt zu unbeabsichtigten Folgen, die an die Stelle zuvor festgelegter Ergebnisse treten. Wie Henry Miller (und nach ihm John Lennon) so schön sagte: „Leben ist das, was uns zustößt, während wir ganz andere Pläne hatten.“

Die Pfadabhängigkeit ist ein naher Verwandter der Linearität. Weil es viel schwieri ger ist, die Struktur oder Kultur einer Organisation zu verändern, sobald sie einmal Fuß gefasst hat, hängt die Zukunft in der Regel von der Vergangenheit ab. Viele Planer (und Manager) werden dafür bezahlt, Risiken zu minimieren – nach der Theorie, dass Fehler vermieden werden müssen, koste es, was es wolle, oder die Geldverschwendung werde unermesslich sein. Sei es aufgrund ihrer eigenen Risikoscheu, ihrer eigenen Angst um ihren Job oder aufgrund ihres Mangels an Autorität – sie sind nicht in der Lage, eine breit angelegte und nicht vorhersagbare Vision zu entwerfen. Wenn es gut läuft, sind sie selbstgefällig und bleiben der Vergangenheit verhaftet; wenn es schlecht läuft, dann fallen sie auf Muster zurück, die beim letzten Mal funktioniert haben. Die Konsequenzen einer solchen Pfadabhängigkeit können sich negativ auf die Strategieumsetzung auswirken, wie Professor Gilbert in einem Interview ausgeführt hat.

Beispiel

So sagt beispielsweise das Senior-Management einer US-amerikanischen Zeitung: „Wir müssen ins Internet gehen, wir müssen diesen Schritt zu einer Priorität machen und hohe Investitionen leisten.“ Aber dann haben Sie auf dem Betriebslevel des Unter nehmens einen Vertriebschef, der es gewohnt ist, Werbeanzeigen für 40.000 $ zu ver kaufen. Der neue Branchenzweig hat eine viel geringere Bruttomarge, der Kunde, der den Anzeigenplatz kauft, gehört nicht zum eigentlichen Kundenstamm des Vertriebs repräsentanten und der Preis ist nicht der gleiche. Und so sagt der Vertriebler: „Nun ja, ich kann entweder eine Zeitungsanzeige für 40.000 $ verkaufen, oder ich kann einen dieser neuen Kunden suchen und ihm eine Bannerwerbung für 2000 $ verkaufen.“ Je den Tag, an dem der Vertriebsrepräsentant zur Arbeit kommt, trifft er auf Betriebsebene eine Entscheidung über die Mittelzuweisung – nämlich, indem er beschließt, worauf er seine Zeit und Aufmerksamkeit verwendet –, und damit wird de facto keine Investition getätigt, obwohl finanzielle Ressourcen bereitgestellt wurden.29

Die Gleichsetzung von Menschen und Gegenständen „Menschen sind

entbehrlich und austauschbar.“ Ein Fortune-500-Unternehmen wollte in dieser Hinsicht bis zum Äußersten gehen und plante, um Einsparungen zu generieren, etwa 5000 IT-Mitarbeiter ins Ausland zu verlagern. Allein die Pläne sorgten dafür, dass die Mitarbeiter ängstlich wurden, die Moral im Unternehmen sank, und die qualifiziertesten Leute (die besten Spieler) began

29 Lagace, Martha: ebenda.

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nen, sich nach einem anderen Arbeitgeber (normalerweise einem Wettbewerber) umzuse hen. Die Kosten waren immens, weil menschliche Talente im Gegensatz zu Technologien nicht einfach kopiert oder reproduziert werden können.

Soft vs. Hard Skills „Strategie ist eine fachliche Kompetenz und gehört damit zu den Hard Skills; Kompetenzen, die das Personal betreffen, sind Soft Skills.“ Viele Planer glau ben, dass nur „harte“ Themenkomplexe wie Strategie, Finanzen und Betriebsabläufe wirk lich zählen und „weiche“ Aspekte wie Kommunikation, Kultur oder Beziehungen Luxus sind, ein Anhängsel, ganz nett, aber nicht von wesentlicher Bedeutung. Andere scheuen sich vor dem soften Zeug, weil Anliegen, die mit Menschen zu tun haben, unweigerlich unberechenbar, chaotisch und kaum systematisch zu managen sind. Und dennoch sind es genau diese Aspekte, die häufig über gute oder schlechte – oder ungewollte – Resultate entscheiden.

Die Festung „Aufgabe des Managements ist es, das Unternehmen zu führen, nicht sich von Dingen ablenken zu lassen, die draußen passieren.“ Manche Planer versäumen es, die Macht der Umwelt und ihren Einfluss auf die Organisation zu erkennen. Oder sie reden nur mit Menschen, die ihre Interessen oder Vorurteile teilen. Aber Erfolg und Scheitern werden in weiten Teilen durch das unternehmerische ökologische System bestimmt, das die Organisation (oder das Land, wie wir in der nächsten Fehleinschätzung sehen) umgibt.

Ethnozentrismus „Unser Unternehmen ist vor allem auf den heimischen Markt ausge richtet.“ CEOs und ihre strategischen Planer neigen dazu, sich einzureden, dass ihre Stra tegie nur von nationaler Bedeutung ist. Aber Staatsgrenzen sind angesichts der weltweiten Ströme von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Menschen und Informationen zunehmend bedeutungslos. Ein ausschließlich auf den nationalen Markt ausgerichtetes Mindset kann Planer blind machen für das Verständnis auswärtiger Einflüsse auf ihre heimischen Markt dynamiken (erinnern Sie sich an die Verwerfungen in der Schweizer Uhrenindustrie?).

Mit den Worten von Robert Evans, dem dreisten und extravaganten früheren Holly wood-Produzenten, der mit seinen Memoiren unter dem Titel Das Kind bleibt im Bild bekannt wurde, klingt das folgendermaßen: „Plant nicht, Kinder“, so sagte der alte Kino- Veteran, denn „Planung ist etwas für Arme.“30 Evans war kein Experte im eigentlichen Sinne, aber in gewisser Hinsicht hatte er recht: In den heutigen Internetjahren und hoch volatilen Märkten ist altmodisches strategisches Planen nicht mehr geeignet, um die anste henden Aufgaben zu bewältigen. Was also können wir tun? Mit welchem Strategieansatz kann diese Fehleinschätzung umschifft werden? Die gute Nachricht lautet – auch wenn der Titel des Kapitels anderes vermuten lässt –, dass Strategie alles andere als tot ist; sie ficht nur gerade die Kriege der letzten Generation aus und kämpft, um den evolutionären Sprung zu schaffen und in der heutigen Umwelt bestehen zu können.

30 Salamon, Julie: „A Hollywood Used-to-Be Who’d Like to Be Again“. New York Times, 28. Juli 2002.

20 1 Ist Strategie tot?

Auf den Punkt gebracht

• Nie gab es einen größeren Bedarf an guten Strategien und ihrer Umsetzung als heute. Und die überwiegende Mehrheit der Organisationen rühmt sich, eine Stra tegie zu haben. Warum also scheitert diese dann so häufig? Warum konnten so unterschiedliche Branchen wie die Schweizer Uhrenindustrie, die US-amerikani schen Autobauer, der Bildungssektor, die Medienindustrie oder Fluggesellschaf ten nicht vorhersehen und sich auf das vorbereiten, was sie erwartete?

• Das heute verbreitete Strategiemodell hat eine lange Geschichte, die von Sun Tzu über Machiavelli bis zu Clausewitz und schließlich bis hin zu Alfred Sloan und Frederick Taylor zu Beginn des 20. Jahrhunderts reicht. Ihre Prinzipien haben jahrhundertelang das Paradigma geprägt, wie Strategien umzusetzen waren.

• Aber die Welt hat sich verändert. Geschwindigkeit, Globalisierung, das Internet und virtuelle Teams, neue Technologien, Demokratisierung und flachere Hier archien, Empowerment und die zunehmende Bedeutung des Wissensarbeiters sowie eine zunehmende Komplexität haben die Art und Weise, wie Unternehmen ihrer Geschäftstätigkeit nachgehen müssen, nachhaltig verändert. In einer kom plexen, dynamischen und unsicheren Welt sind herkömmliche Planungsmetho den nicht mehr zeitgemäß.

• Übliche Ansätze haben die Tendenz, acht Fehleinschätzungen zu unterliegen: Linearität, Pfadabhängigkeit, Kontrolle, Verdinglichung, Gleichsetzen von Men schen und Gegenständen, Soft Skills vs. Hard Skills, Festung und Ethnozentris mus. Es ist Zeit für einen neuen Ansatz.