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VASILIOS N. MAKRIDES (Erflirt) ORTHODOXIE UND POLITIK: DIE RUSSISCH-GRIECHISCHEN BEZIEHUNGEN ZUR ZEIT KATHARINAS II. Die Beziehungen der Russen mit den Griechen unter osmanischer Herrschaft in der Ära der Kaiserin Katharina II. stellen ein besonderes Kapitel in den langen und vielschichtigen Verbindungen zwischen diesen beiden Völkern seit spät- byzantinischer Zeit dar. Katharinas Regierungszeit entsprach in Südosteuropa einer Periode weitreichender Veränderungen unter dem Einfluß der westlichen Aufldä- rung und der Verbreitung revolutionärer Ideen. Dièse Prozesse fachten erneut die Hoffnungen der Griechen auf eine Befreiung von der osmanischen Herr- schaft durch eine russische Intervention an, eine Vision, die schon seit der Herr- schaft Peters des Großen (1682/89-1725) existierte.^ Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, einen Überblick über die russisch-griechischen Beziehungen in der Ära Katharinas II. zu geben und ihren Stellenwert im Kon- text des orthodoxen Osteuropas zu bestimmen. I Politisch kennzeichnet es Katharinas Regierungszeit, daß sich Rußland seines Potentials in Südosteuropa bewußt wurde. Wollte sich das Russische Reich auf dem Wasserweg einen unmittelbaren Zugang zum Mittelmeer schaffen und damit den traditionellen Handel zu Lande, den griechische Kaufleute über die Ukraine und die Donaufürstentümer vermittelten, ablösen, so erschien eine solche Orien- tierung als zwingend notwendig. Zudem wurde die Politik Rußlands in Südost- europa durch die Ideologie der Nachfolge von Byzanz und durch Katharinas Rolle als Beschützerin der unterdrückten orthodoxen Christen auf dem Balkan überhöht. Nicht zuletzt bewirkten der innere Verfall des gebrechlichen Osma- nischen Reiches, die Schwächung seiner Zentcalgewalt, der Aufstieg starker loka- ler Paschas, der Machtkampf zwischen Klephten, Armatolen, Primaten und Bo- jaren in verschiedenen Gebieten des Reiches und die Existenz von halbautono- men Gebieten auf der griechischen Halbinsel (z. B. die Mani auf dem Pelopon- nes), daß ausländische Mächte wie Rußland auf mancherlei Art und Weise ver- suchten, diese Simation zu ihrem Vorteil zu nutzen. ^ Vgl. dazu Paschalis M. KlTROMILlDES, Neoellinikos Diaphotismos. Oi politikes kai koino- nikes idees, Athen 1996, S. 169-178.

"Orthodoxie und Politik: Die russisch-griechischen Beziehungen zur Zeit Katharinas II.“, in: Claus Scharf (Hg.), Katharina II., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen

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VASILIOS N. MAKRIDES (Erflirt)

ORTHODOXIE UND POLITIK:DIE RUSSISCH-GRIECHISCHEN BEZIEHUNGEN

ZUR ZEIT KATHARINAS II.

Die Beziehungen der Russen mit den Griechen unter osmanischer Herrschaft in der Ära der Kaiserin Katharina II. stellen ein besonderes Kapitel in den langen und vielschichtigen Verbindungen zwischen diesen beiden Völkern seit spät­byzantinischer Zeit dar. Katharinas Regierungszeit entsprach in Südosteuropa einer Periode weitreichender Veränderungen unter dem Einfluß der westlichen Aufldä- rung und der Verbreitung revolutionärer Ideen. Dièse Prozesse fachten erneut die Hoffnungen der Griechen auf eine Befreiung von der osmanischen Herr­schaft durch eine russische Intervention an, eine Vision, die schon seit der Herr­schaft Peters des Großen (1682/89-1725) existierte.^ Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, einen Überblick über die russisch-griechischen Beziehungen in der Ära Katharinas II. zu geben und ihren Stellenwert im Kon­text des orthodoxen Osteuropas zu bestimmen.

I

Politisch kennzeichnet es Katharinas Regierungszeit, daß sich Rußland seines Potentials in Südosteuropa bewußt wurde. Wollte sich das Russische Reich auf dem Wasserweg einen unmittelbaren Zugang zum Mittelmeer schaffen und damit den traditionellen Handel zu Lande, den griechische Kaufleute über die Ukraine und die Donaufürstentümer vermittelten, ablösen, so erschien eine solche Orien­tierung als zwingend notwendig. Zudem wurde die Politik Rußlands in Südost­europa durch die Ideologie der Nachfolge von Byzanz und durch Katharinas Rolle als Beschützerin der unterdrückten orthodoxen Christen auf dem Balkan überhöht. Nicht zuletzt bewirkten der innere Verfall des gebrechlichen Osma­nischen Reiches, die Schwächung seiner Zentcalgewalt, der Aufstieg starker loka­ler Paschas, der Machtkampf zwischen Klephten, Armatolen, Primaten und Bo­jaren in verschiedenen Gebieten des Reiches und die Existenz von halbautono­men Gebieten auf der griechischen Halbinsel (z. B. die Mani auf dem Pelopon­nes), daß ausländische Mächte wie Rußland auf mancherlei Art und Weise ver­suchten, diese Simation zu ihrem Vorteil zu nutzen.

Vgl. dazu Paschalis M. KlTROMILlDES, Neoellinikos Diaphotismos. Oi politikes kai koino- nikes idees, Athen 1996, S. 169-178.

Das erste Ereignis, das die russischen Interessen öffentlich demonstrierte, war der Russisch-Osmanische Krieg von 1768 bis 1774.^ Die Brüder Aleksej (1737- 1808) und Grigorij Orlov (1734-1783)^ unterstützten und organisierten den ihn begleitenden griechischen Aufstand, so z. B. durch Agenten wie den Hauptmann der Artillerie der kaiserlichen Garde, Georgios Papazolis. Angestachelt durch alte Orakel über die Intervention der »hellhaarigen Rasse aus dem Norden« (= der Russen), die den durch göttlichen Willen vorgezeichneten Fall des Osmanischen Reiches beschleunigen sollte, reagierten viele Griechen mit Sympathie auf die russischen Versprechungen und zeigten sich bereit^ mit Rußland zusammenzu- arbeiten.'^ Der Ausbruch dieses Krieges weckte auch die Emotionen der in der

Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema siehe: An Authentic Narrative of the Rus­sian Expedition against the Turks [...] by an Officer on Board of the Russian Fleet, London 1772; K. A. P ala io logos, Rossika peri EUados engrapha [...], in: Parnassos 1 (1877), S. 915-921; 2 (1878), S. 459-464, 708-712; 5 (1881), S. 143-153; 7 (1883), S. 223-228, 449-452; 9 (1885), S. 693-698; Pantelis M. KONTOJANNIS, Oi EUines kata ton proton epi Aikaterinis II rossotour- kikon polemon 1768-1774, Athen 1903; Camillo ManfronÍ, Documenti veneziani sulla cam- pagna dei Russi nel Mediterráneo 1770-71, in: Atti del Reale ¡Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti 72/2 (1912/13), S. 1143-1176; Michail V. Sakellariou, I Peloponnisos kata tin devteran Tourkokratian (1715-1821), Athen 1939, S. 162-206; Evgenij Viktorovic T arle , Cesmenskij boj i pervaja russkaja ekspedicija v archipelag, 1769-74 gg.,; Moskau 1945; Sergej Sergeevic Dmitriev, Cesmenskaja pobeda, Moskau 1945; Sokratis V. KOUGEAS, Symvolai eis tin istorian tis ypo tous Orlov peloponnisiakis epanastaseos (1770), in: Peloponnisiaka 1 (1956), S. 50-107; Ariadna Camariano-Cioran, La guerre russo-turque de 1768-1774 et les Grecs, in: Revue des Études Sud-Est Européennes 3 (1965), S. 513—547; Tasos Gritsqpgulgs, Ta Orlofika. I en Pe- loponniso epanastasis tou 1770 kai ta epakoloutha avtis, Athén 1967; ders., Oi Rosoi eis to Ai- gaion kata to 1770, in: Athina 71 (1970), S. 85-129; Apostolos E. V a k a l o p o u l o s , Ai en etei 1770 navmachiai rosikou kai tourkikou stolou eis tin laikin mas poüsin, in: EUinika 11 (1939), S. 109-114; ders., Istoria tou Neou EUinismou. IV. Tourkokratia 1669-1812. I oikonomiki áno­dos kai o photismos tou Genous, Thessaloniki 1973, S. 372-430; V. I. SiNICA, Vosstanie v Moree 1770 g. i Rossija, in: Voprosy novoj i novejsej istorii, Minsk 1974, S. 12-21; Stephanos Papado- POULOS, I elliniki epanastasi tou 1770 (Ta Orlofika), loannina 1975; Andreas BODE, Die Flot­tenpolitik Katharinas IL und die Konflikte mit Schweden und der Türkei (1768-1792), Wiesba­den 1979; Isabel de MADARIAGA, Russia in the Age of Catherine the Great, New Haven/London 1981, S. 205-236; John ALEXANDER, Brigandage and Public Order in the Morea 1685-1806, Athen 1985, S. 51-57; Franco VENTURI, La rivolta greca del 1770 e il patriotismo dell’età dei lumi, Roma 1986; Nicholas Charles PAPPAS, Greeks in Russian Military Service in the Late 18* and Early 19'*' Centuries, Thessaloniki 1991, S. 65-75; siehe auch The Modem Encyclopedia of Rus­sian and Soviet History 32 (1983), S. 186-189; Gregory L. BrueSS, Religion, Identity and Em­pire: A Greek Archbishop in the Russia of Catherine the Great, Boulder/New York 1997,S. 37-43.

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Siehe die betreffenden Artikel in: The Modem Encyclopedia o f Russian and Soviet History 26 (1982), S. 103-109.

Siehe z. B. eine schriftliche Petition der Manioten, angeführt von Panajotis Benakis, an Ka­tharina: K. A. Palaio lo go s, Aitisis tou ellinikou ethnous pros tin avtokrateiran Aikaterinin II, in: Parnassos 10 (1886), 499-502; siehe auch Sokratis V. KoUGEAS, I katagogi tou protostatisan- tos eis tin Orlofikin Epanastasin Panajoti Benaki photizomeni apo ta archeia tis Venetias, in: Pe­loponnisiaka 6 (1963/68), S. 1-42.

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iSP.

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Diaspora lebenden Griechen.^ Wie erwartet, fürchteten andere exiropäische Mächte mit bedeutenden Interessen in diesem Gebiet wie Frankreich, England, Öster­reich und Preußen* das russische Vordringen im Mittelmeerraum, obwohl sie auf verschiedene Art und Weise aus diesem Krieg auch ihren Vorteil zu ziehen such­ten. So stellte Großbritannien Nachschub und ReparaturmögHchkeiten für die russische Flotte zur Verfügung und zeigte sich bestrebt, mit Rußland ein Bündnis zu schließend Im Januar 1770 fuhr die russische Flotte in das Mittelmeer ein und näherte sich der peloponnesischen Küste. Dies war die erste größere russische Flottenpräsenz in dieser Region. Das gesamte Unternehmen war jedoch nicht gut genug organisiert, um einen allgemeinen Aufstand auf der Balkanhalbinsel gegen das Osmanische Reich zu entfachen. Das Fehlen einer systematischen Vorbe­reitung, die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit von Russen und Griechen und die Unmöglichkeit, in Griechenland eine reguläre Armee aufzubauen®, erwie­sen sich für dieses riskante Unternehmen als verhängnisvoll. Als die russische Flotte im Mai 1770 mit Aleksej Orlov den Peloponnes in Richtung Ägäis verließ, mußten die griechischen Rebellen brutale Vergeltungsmaßnahmen der osmani­schen Armee vind ihrer albanischen Söldner ertragen. Nicht nur auf dem Pelo­ponnes, sondern auch an anderen Orten hatten die örtlichen Revolten schwer­wiegende, sogar katastrophale Folgen.^ Die anschließende Seeschlacht in der Ägäis nahe der anatolischen Küste gegenüber Chios (bei (^e§me) zwischen der russi­schen und der osmanischen Flotte endete mit der Zerstörung der letzteren. Dies hinwiederum erregte die Freiheitsliebe der Inselgriechen. Die Schlacht fand auch ein starkes Echo in Westeuropa, wo es Versuche gab, eine einheitliche christliche

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Der griechische Kaufmann loannis Pringos, gebürtig aus Zagora (Peliongebirge), der in Amsterdam Handel trieb, betete zu Gott, er möge der allerfrömmsten Kaiserin Katharina hel­fen, die Osmanen zu besiegen und die Griechen zu befreien. Siehe Vangelis Sk o u v a r a s , loan­nis Pringos (1725?--1789). I elliniki paroikia tou Amsterdam, i scholi kai i vivliothiki Zagoras, Athen 1964, S. 203 f.; vgl. auch Richard Cl q g g , The Byzantine Legacy in the Modem Greek World: The Me a// Idea, in: Lowell Clu cas (Hrsg.), The Byzantine Legacy in Eastem Europa, Boulder, Colorado, 1988, S. 253-282, hier S. 259-261.

Siehe Ilias P. G eorgiou , I galliki politiki kata tas ellinikas exegerseis 1770 kai 1790, Athen 1970; Hamish M. ScOTT, Frederick II, the Ottoman Empire and the Origins o f the Russo-Prus- sian Alliance of April 1764, in: European Studies Review 7 (1977), S. 153-175.

Siehe Matthew S. ANDERSON, Great Britain and the Russian Fleet, 1769-70, in: SEER 31 (1952), S. 148-163; ders.. Great Britain and the Russo-Turkish War o f 1768-74, in: EHR 69 (1954), S. 39-58.

® Einige russische Berichte in: K. A. P a l a il o l o g o s , Imerologion avtographon tou Rosou Na- varchou Greig kata tin eis Peloponnison ekstrateian ton Roson to 1769, in: Parnassos 3 (1879), S. 34-50; ders., Imerologion avtographon Stephanou Petcovic Chmetevskij, ploiarchou kata tin eis Peloponnison ekstrateian ton Roson, in: Parnassos 8 (1884), S. 239-249; siehe auch C a m a - RlANO-ClORAN, La guerre, S. 526-530, 533-536; Anthony G. C r o ss , Samuel Greig, Catherine the Great’s Scottish Admiral, in: Mariner’s Mirror 60 (1976), S. 251-266.

Siehe VAKALOPOULOS, Istoria, S. 548—553. Anastasia PapaDIA-Lala, Martyries gia tis epip- toseis ton Orlofikon sti Mikra Asia, in; Mikrasiatika Chronika 5 (1984/85), 127—179.

Front gegen das Osmanische Reich aufzubauen. Neben anderen^^ schrieb Voltaire, angeregt durch Katharina, zwischen 1770 und 1772 vier kurze philhellenische Schriften, die ins Griechische und Rumänische übersetzt wurden. Aber trotz die­ses Sieges und trotz der Kontrolle der Ägäis durch die russische Flotte^ die grie­chische und andere Seeleute unterstützten, gefährdete die russische Expedition kei­neswegs die osmanische Souveränität, begrenzten sich doch Rußlands Hauptziele auf die wirtschaftliche Ausbeutung der Region und die Einschränkung des engli­schen und vor allem des französischen Handels.^^

Der Krieg endete mit dem Frieden von Küfük Kaynarca, den Rußland und das Osmanische Reich im Juli 1774 abschlossen.^"^ Dieser Vertrag wurde zwar oft als Erfolg für die russische Diplomatie gefeiert, doch sollte seine Bedeutung nicht überbewertet werden. Der Vertrag sah eine Amnestie für die südosteuropäischen Kombattanten vor, erlaubte ihnen, frei und sicher unter russischer Flagge zu se­geln, und gewährte ihnen Immunität gegenüber osmanischen Interventionen und Erpressungen, kommerzielle Vorteile und Kriegsentschädigungen. Rußland er­hielt das Recht, Konsuln und Vizekonsuln (sogar griechischer Herkunft) in eini-

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Großen Einfluß hatte auch das Buch von Domenico CamineR (1731-1796), Storia della guerra presente tra la Russia, la Polonia e la porta Osmana, Venedig 1770, das wiederhoh her­ausgegeben und in andere Sprachen übersetzt wurde, darunter von Spyridon Papadopoulos ins Griechische in sechs Bänden (Venedig 1770,1773). Zum Kontext dieser Übersetzung siehe Pa­schalis M. Kitromilides, Ideologikes epiloges kai istoriographiki praxi: Spyridon Papadopoulos kai Domenico Caminer, in: Thisavrismata 20 (1990), S. 500-517.

Siehe Ariadna Ca m a r ia n o , Spiritul revolufionar francez §i Voltaire in limba greacä §i ro- mänä, Bucuregti 1946, S. 131-143; Ca m a r ia n o -C io rAN, La guerre, S. 530-532; Dimitris N. P a n - TELODIMOS, Energeiai tou Voltairou pros apelevtherosin tis EUados kata tin diarkeian tou rosso- tourkikou polemou (1768-1774), in: Ipeirotiki Estia 18 (1969), S. 479-515.

Für weitere Details siehe Dimitrios S. PASCHALIS, Ai Kyklades ypo tous Rosous (1770- 1774) met’ anekdoton engraphon, in: Epetiris Etaireias Kykladikon Meleton 1 (1961), S. 234—292; siehe auch S. K l o NOS, Anekdota engrapha pros tous katoijkous ton Kykladon apostalenta epi tis katochis avton ypo ton Roson, in: Athinaion 6 (1877), S. 203-243; Antonios SiGALAS, Epi- stoli Pavlou Nesterov pros tous katoikous tis Syrou 1 Avgoustou 1772, in: EUinika 1 (1928), S. 138-143.

Für die Handelsaktivitäten dieser Länder in der Region siehe Elena Frangakis-Syrett, The Commerce o f Smyrna in the Eighteenth Century (1700-1820), Athen 1992. Als die russi­sche Flotte 1772 die Dardanellen blockierte, wurde Konstantinopel auf Bitten der osmanischen Regierung von mehr als sechzig französischen und von neun englischen Schiffen von Maze­donien aus versorgt. Siehe Daniel Pa n z a c , International and Domestic Maritime Trade in the Ottoman Empire during the 18* Century, in: International: Journal of Middle Eastern Studies 24 (1992), S. 189-206, hier S. 206, Anm. 45.

Zum Wordaut des Vertrages siehe Thomas Erskine HOLIAND, A Lecture on the Treaty Relations of Russia and Turkey from 1774 to 1853, London 1877, S. 36-55; siehe auch Johann Wilhelm ZiNKEISEN, Geschichte des osmanischen Reiches in; Europa, Fünfter Theil, Gotha 1857, S. 958-962; Pantelis M. K o n to jan n is, Oi prostatevomenoi, Athen 1917; Elena loasafovna D r u - ZININA, Kjucuk-Kajnardzijskij mir 1774 goda, Moskau 1955; C a m a r ia n o -C io r a n , La guerre, S. 543-547.

gen Städten des Osmanischen Reiches zu etablieren.^^ Auch mußte die Pforte den muslimischen Krimtataren die Unabhängigkeit zugestehen.^^ Von größter Wichtigkeit war jedoch die Tatsache, daß Rußland - aufgrund einer 1775 in St. Petersburg erstellten und inhaltlich leicht veränderten französischen Überset­zung des originalen Verjaragstextes — die Rolle eines Hüters des orthodoxen Glau­bens und der orthodoxen Völker auf dem Balkan für sich selbst beanspruchte und das Friedensabkommen gezielt in diesem Sinne interpretierte. Dieser Akt »gab« Rußland das Recht, sich in die innere Politik des Osmanischen Reiches zu­gunsten der orthodoxen Untertanen einzumischen, obwohl der Vertrag ursprüng­lich ein solches Schutzrecht ausgeschlossen hatte .T ro tzdem waren die Ergeb­nisse dieser Strategie sowohl für die russischen als auch für die griechischen In­teressen von außerordentlicher Bedeutung. Sie leitete die erste größere Interven­tion eiaer europäischen Macht in innerosmanische Angelegenheiten ein und eb­nete schüeßKch auch für die Mächte des Westens den Weg für eine intensive Konkurrenz um wirtschaftlichen Gewinn in der Levante. Ein späterer Vertrag — abgeschlossen in Konstantinopel im Juni 1783 - gewährte den Griechen auch das Recht auf freien Handel vinter der Voraussetzung, daß sie russische Untertanen wurden und auf ihren Schiffen die russische Flagge führten. Darüber hinaus ver­sprach Katharina im Februar 1784 ausländischen Kaufleuten, die sich in den Schwarzmeerhäfen niederlassen oder dort Handel treiben wollten, besondere Ver­günstigungen. Diese Offerten hatten unmittelbar zur Folge, daß der Handel der Griechen rasch anwuchs, die Zahl ihrer Schiffe im Schwarzen Meer zunahm und eine systematische Auswanderung in sein nördliches Küstengebiet einsetzte. So eröffnete der Frieden von Kü^ük Kaynarca auf der einen Seite eine neue Ära für die Balkanvölker in ihrem Streben für Unabhängigkeit. Auf der anderen Seite förderte er die Bestrebungen des Russischen Reiches, im Schwarzen Meer und im östlichen Mittelmeer die Vorherrschaft zu erlangen, um den Handel mit dem Orient und die osmanische Politik zu kontrollieren. Außerdem führte er zu einer territorialen Expansion Rußlands zu Lasten des Osmanischen Reiches.^®

Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen erwies die politische Entwicklung nach 1774, daß sich das Interesse Katharinas II. an den osmanischen Angele­genheiten noch verstärkte. Diese Tendenz zeigte sich besonders in dem berüch­tigten »Griechischen Projekt« oder dem »Großen Plan« mit den Zielen einer weiteren Ausdehnung Rußlands nach Süden, der Eroberung von Konstantinopel, der Kontrolle des Ausgangs vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer und der Be-

Siehe Pappas, Greeks, S. 86-88.Siehe Alan W. FiSHER, The Crimean Tatars, Stanford 1978.Dazu Rodetic Davison, »Russian Skill and Turkish Imbecility«: The Treaty o f Kuchuk

Kainardji Reconsidered, in; Slavic Review 35 (1976), S. 463-483; ders., The »Dosografa« Church in the Treaty o f Küfük Kaynarca, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 42 (1979), S. 46-52; Ivan PÄRVEV, Russia, Orthodoxy in the Ottoman Empire and the Peace of Kuchuk Kainardja 1774, in: Bulgarian Historical Review 18 (1990), S. 20-30.

Bode, Die Flottenpolitik, S. 93.

Orthodoxie vind Politik 89

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freiung der Griechen.^^ Kadiarinas zweiter Enkel, der 1779 geboren wurde, er­hielt den symbolischen Namen Konstantin und sollte, nach einer angemessenen Erziehung durch griechische Erzieher und Lehrer, den Thron eines griechischen Reiches in Konstantinopel besteigen und Erbe der byzantinischen Kaiser werden. Dieses Ziel wurde auch aiusdrücläch in Kadiarinas eigenem Testament von 1792 erklärt. Doch schon auf der Rückseite der Medaille aus Anlaß der Geburt des Großfürsten Konstantin Pavlovic am 27. April 1779 wurde die Kirche Hagia Sophia in Konstantinopel abgebildet und damit deutlich auf das russische Ziel der Wiederherstellung eines byzantinisch-griechischen Reiches Bezug genommen (siehe die Abbildung unten).

Aus: Gregory L. Bruess, Religion, Identity and Empire: A Greek Archbishop in die Russia of Cadierine the Great, Boulder/New York 1997, S. 238.

Siehe Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches, Sechster Theil, Gotha 1859, S. 268-271, 309-313, der solche Informationen den Depeschen des preußischen Diplomaten Gört?, aus St. Petersburg entnahm.

Weitere Veränderungen wie der Tod von Maria Theresia im November 1780, der wachsende Einfluß von Grigorij Aleksandrovic Potemkin (1739-1791), einem Mann mit großen Ambitionen und Fähigkeiten^®, wie auch der Aufstieg von Ka­tharinas Sekretär Graf Aleksandr Andreevic Bezborodko, der einen ersten skiz­zenhaften Entwurf des 5>Griechischen Projekts« verfaßte, gaben den Ausschlag für ein Bündnis zwischen Rußland und Österreich im Frühjahr 1781.^ Beide Regierungen verknüpften ihre Zielsetzungen mit unterschiedlichen Erwartungen an ihre Allianz gegen das Osmanische Reich, von dessen völliger Zerstörung bis zu einer Zerstückelung.^^ In einem Brief an Kaiser Joseph II. vom 10. September 1782 umriß Katharina klar ihr Ziel, das byzantinische Reich, unabhängig von ihrem Imperium und mit ihrem Enkel Konstantin als Kaiser in Konstantinopel, auf den Überresten der barbarischen osmanischen Herrschaft wiederzuerrich- ten.^ Eine solche Vision war für die Interessen Österreichs, entweder vom Os­manischen Reich oder von Venedig (z. B. in Istrien und Dalmatien) weitere Ter­ritorien zu gewinnen, nicht ohne Reiz, obwohl Joseph wegen der Reaktionen der anderen europäischen Staaten auf die russisch-österreichische Allianz eitiige Be­denken ätoßerte. " Die seinerzeitige Verbreitung solcher Ideen läßt sich vielfältig belegen, etwa aus der Widmung eines Buches, das eine Beschreibung des ägäi- schen Archipel enthielt und das 1786 in St. Petersburg erschien, an den Groß­fürsten Konstantin Pavlovic, in der auf die voraussichtliche Eroberung Kon­stantinopels entsprechend den Vorhersagen der Orakel angespielt wurde.^^ Der Mann, der hinter dem »Griechischen Projekt« stand, war der Generalgouverneur von Neurußland, Potemkin. Seine außerordentliche Unterstützung für die dichte griechische Besiedlung in diesem Gebiet nach 1774 \and besonders nach 1783, als Rußland die Krim annektierte^^, stand im Einklang mit der russischen Expan­sionspolitik. Die Tatsache, daß ein organisiertes Bataillon griechischer Soldaten mit der Aufgabe, die Küste der Krim zu bewachen, betraut wurde, zeigt, daß die Präsenz von Griechen für die zukünftigen Operationen Rußlands als wesentlich erachtet wurde. Auch das Treffen Katharinas mit Joseph 1787 in Cherson, d. h. in den neueroberten Gebieten des Russischen Reiches, galt als ein bedeutender Schritt der russisch-österreichischen Allianz auf dem Weg zu einer Aufteilung des

Orthodoxie und Politik 91

Siehe The Modem Encyclopedia o f Russian and Soviet History 29 (1982), 123-128.Siehe Isabel de MADARIAGA, The Secret Austro-Russian Treaty o f 1781, in: SEER 38

(1959/60), S. 114-145.Siehe Karl A. ROIDER, Jr., Kaunitz, Joseph II and the Turkish War, in: SEER 54 (1976),

S. 538-556; ders., Austria’s Eastem Question, 1700-1790, Princeton 1982.Siehe Alfred von A rNETH (Hrsg.), Joseph II. und Katharina von Russland: Ihr Brief­

wechsel, Wien 1869, S. 143-147.Siehe den Brief von Joseph an Katharina vom 13. November 1782, ebenda, S. 169-175. Siehe VAKALOPOULOS, Istoria, S. 557 f.Siehe Alan W. FlSHER, The Russian Annexation o f the Crimea, 1772-1783, Cambridge

1970.

Osmanischen Reiches und provozierte die Reaktion der anderen europäischen Mächte, so z. B. Englands.^^

Ein unmittelbares Resultat jener Ereignisse war der Ausbruch des zweiten Rus- sisch-Osmanischen Krieges (1787-1791)^^ Der Krieg wurde zuerst vom Osma­nischen Reich erklärt, däs dieses Mal versuchte, die griechische Bevölkerung mit verschiedenen Mitteln unter Kontrolle zu halten, sogar durch antirussische En­zykliken des Patriarchates von Konstantinopel. Dennoch gibt es zahlreiche Be­lege dafür, daß auch dieser Krieg die griechischen Hoffnungen auf eine Befreiung von neuem belebte. Griechische Werber wurden eingesetzt, um andere Griechen für den Krieg zu rekrutieren^^, so z. B. Loudovikos oder Luigi Sotiris, der auch während des ersten Russisch-Osmanischen Krieges aktiv gewesen war. ® Ein an­derer Grieche, Agapios Loverdos, stellte aus verschiedenen ausländischen Wer­ken ein Buch über diesen Krieg mit dem Titel Istoria dyo eton 1787—1788 zusam­men, das 1791 in Venedig veröffentlicht wurde. Im gleichen Jahr erschien in Wien ein Pamphlet Aitiologia tou panntospolemou metayy Rjossi'as kai Tourkias, das die zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich ausgetauschten offi­ziellen Dokumente enthielt. Die allgemeine politische Lage war jedoch nicht sehr günstig für die Verwirklichung des »Griechischen Projekts«. Auch konzentrierten sich die militärischen Operationen hauptsächlich im russisch-osmanischen Grenz- gebit *■. Allerdings brachen mehrere lokale Aufstände innerhalb des Osmanischen Reiches aus. Einen dieser Aufstände, den Potemkin unterstützte, führte der grie­chische Seemann Lampros Katsonis (1752—1804) an.^ In der Ägäis intensivierte sich die Freibeuterei von Griechen und Russen, die von den russischen Behörden

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Zu den seinerzeitigen Beziehungen zwischen dem Habsburgerreich und Rußland vgl. Erich D o n n e rt , Joseph II. und Katharina II. Ein Beitrag zu Österreichs Rußland- und Orientpolitik 1780 bis 1790, in; Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Eiaropa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Internationales Symposion in Wien 20.—23. Oktober 1980, Bd. 1, Wien 1985, S. 575-592.

Siehe V. A. P e t r o v , Vtoraja tureckaja vojna v carstvovanie Ekateriny II, 1787-1791 gg., Bde. 1-2, St. Petersburg 1880; G. T. K o l ia s , Oi Elünes kata ton rossotourkikon polemon (1787-1792), Athen 1940; Emmanuel G. Pr o t o psa l t is , I epanastaüki kinisis ton EUinon kata ton devteron epi Aikaterinis II rosotourkikon polemon (1787-1792). Loudovikos Sotiris, in: Del- tion tis Istorikis kai Ethnologikis Etaireias EUados 14 (I960), S. 33-155; VAKALOPOULOS, Istoria, S. 558-574; M a d a r ia g a , Russia, S. 393—426; Pa p p a s , Greeks, S. 75—78; siehe auch den diesbe­züglichen Artikel in; The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History 32 (1983), S. 189-194.

00Siehe Vasilis N. KOLIOS, Mia prospatheia stratologias kata to rosotourkiko polemo tou

1787-1792, in: Thisavrismata 19 (1982), S. 231-246.Siehe Konstantinos D . M ertzio s, T o epanastatiko kinima tou 1770 kai o Janniotis Loudo­

vikos Sotiris, in; Ipeirotiki Estia 4 (1955), S. 1075-1077; P a p p a s , Greeks, S. 88-93.Siehe Emmanuel G. PROTOPSALTIS, SymvoK eis tin istorian tou Lamprou Katsoni, in; Athi­

na 62 (1958), S. 61-78; Konstantinos D. Mertzios, Neai eidiseis peri tou Lamprou Katsoni kai tou Androutsou, Athen 1959; Ilias P. Georgiou, O thalassomachos Lampros Katsonis, Athen 1971; Olga Katsiardi-Hering, Mythos kai Istoria. O Lampros Katsonis, oi chrimatodotes tou kai i poliriki taktiki, in; Rodonia. Timi ston M. I. Manousaka, Bd. 1, Rethymno 1994, S. 195-214.

geduldet wurde.^^ Einzelne Paschas verursachten zusätzKche regionale Probleme, wie z. B. Machmud Pascha von Skodra und Ali Pascha von Epirus, die sich von der osmanischen Zentralregierung loslösen wollten. Ali Pascha, der für seine Ambitionen, diplomatischen Fähigkeiten und aufrührerischen Pläne berüchtigt war, begann sogar Verhandlungen über eine zukünftige Allianz mit Rvißland gegen das Osmanische Reich.^^ Auch die Sulioten aus Epirus, die sich damals mit Ali Pa­scha im Konflikt befanden, entsandten 1789 eine Delegation nach St. Petersburg, um für eine russische Unterstützung zur Fortsetzung ihres Kampfes zu werben. Katharina empfing ihre Delegation im Aprü 1790 zu einer Audienz. Dabei unter­breiteten die Sulioten eine Petition in altgriechischer Sprache, in der sie die Kai­serin um Hilfe bei der Befreiung der griechischen Nation und um die Ernennung ihres Enkels Konstantin zum König der Griechen baten. " Auch dies bezeugt die Verbreitung von Informationen über das »Griechische Projekt« unter der griechi­schen Bevölkerung.

Trotz der schwierigen Position des Osmanischen Reiches signalisierten der Ausbruch der Französischen Revolution und deren Auswirkungen, der Tod Jo­sephs II. Anfang 1790 und die anschließende Änderung der österreichischen Po­litik den Anfang einer neuen Ära in der europäischen Politik. Ein Frieden zwi­schen Rußland und dem Osmanischen Reich kam am 9. Januar 1792 durch den Vertrag von Jassy zustande. Rußland verlor die Krim nicht, sondern gewann so­gar noch das Gebiet zwischen den Flüssen Bug und Dnestr in der Ukraine hinzu. Darüber hinaus wurden der Vertrag von Kü^ük Kaynarca und insbesondere der Anspruch Rioßlands auf den Schutz der orthodoxen Bevölkerung im Osmani­schen Reich noch einmal bestätigt. Militärische Operationen griechischer Rebel­len, so von L. Katsonis, die von dem neuerlichen russisch-osmanischen Frieden tief enttäuscht waren, dauerten jedoch noch einige Zeit an. Wie erwartet, mußte die griechische Bevölkerung in der Folge wiederum Repressalien in jeglicher Hin­sicht ertragen, eine Entwicklung, die eine zweite große Emigrationswelle in die südHche Ukraine auslöste.

Was das »Griechische Projekt« betrifft, so ist vorauszusetzen, daß es sich in das allgemeine Interesse Rußlands an Südosteviropa und am Osmanischen Reich ein­fügte. Der Hinweis mag genügen, daß es zwischen 1676 und 1878 elf russisch- osmanische PCriege gab, die insgesamt dreißig Jahre dauerten. Mindestens beweist diese Reihe das kontinuierliche Interesse Rußlands an einer territorialen Expan­sion in jener Region. Es sollte aber nicht von vornherein angenommen werden, daß die russische Aristokratie, auch wenn sie dem »Griechischen Projekt« gegen-

Siehe Elena F rANGAKIS-Syrett , Greek Mercantile Activities in the Eastem Mediterranean, 1780-1820, in: Balkan Studies 28 (1987), S. 73-86, hier S. 85. Für einen allgemeinen Überblick R. C. A n d e r so n , Naval Wars in the Levant, 1559-1853, Princeton, N.J., 1952, S. 319-345.

Siehe dazu das wichtige Werk von Grigorij L. ArS, Albanija i Epir v konce XVIII - na- cale XIX v.: Zapadnobalkanskie pasalyki Osmanskoj imperii, Moskau 1963.

Siehe Konstantinos N. Sathas, Tourkokratoumeni Ellas (1453-1821), Athen 1869, S. 539-

Orthodoxie und Politik 93

541.

94 Vasilios N. Makrides î

Über grundsätzlich positiv eingestellt war, die beiden Russisch-Osmanischen Kriege während der Ära Katharinas positiv beurteilte. Einige führende Adelsvertreter, so z. B. Fürst Michail Scerbatov und Graf Aleksandr Voroncov, kritisierten viel­mehr solche militärischen Unternehmungen wegen ihrer mannigfachen finan­ziellen Belastungen wie höherer Steuern, wie der Bankrotte, wie der Menschen­verluste innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung. Sie waren außerdem der Mei­nung, daß diese russischen Expansionspläne mehr durch Katharinas persönliche Eitelkeit als durch strategische Ziele begründet waren, und hielten einige Gebiete im Ostseeraum für sehr viel wichtiger für das Russische Reich.^^

Die Existenz eines »Griechischen Projekts« wird zudem bestätigt durch das allgemeine Interesse Katharinas und Potemkins für die griechische Bevölkerung im Osmanischen Reich und anderswo. Viele griechische Gemeinden in West­europa erhielten regelmäßig Geschenke oder finanzielle Unterstützung von der Kaiserin. Russische Diplomaten in westlichen Hauptstädten pflegten aus unter­schiedlichsten Anlässen häufig Kontakte mit Griechen der Diaspora. Diese Kon­takte können in der wichtigen griechischen Gemeinde in Venedig beobachtet werden, die sich lebhaft für den Russisch-Osmanischen Krieg von 1768-1774 interessiert zeigte. Aleksej und Fedor Orlov blieben einige Zeit in Venedig, um ihre zukünftigen Operationen zu planen, Geld zu sammeln und griechische Frei­willige anzuwerben. Diese Verwandlung Venedigs in eine antiosmanische Basis beunruhigte die Hohe Pforte, die ihrerseits die Wahl eines neuen Metropoliten für die Griechen in Venedig verzögerte und behinderte. Nach dem Vertrag von Küçük Kaynarca traten die prorussischen Emotionen der Griechen in Venedig erneut klar zu Tage, obwohl sich die venezianischen Behörden gegenüber den russischen Plänen und einem möglichen Bündnis zwischen Rußland und Öster­reich ablehnend verhielten. Am Sonntag, dem 20. Januar 1781, veranstalteten die Griechen einen offiziellen Empfang in der St.-Georgs-Kirche für den Großfür­sten Pavel Petrovic (1754-1801), den späteren Kaiser von Rußland (1796—1801), und seine Gemahlin Marija Fedorovna, die den Gottesdienst besuchten und der Gemeinde Geld spendeten. 1783 fand ein ähnKcher offizieller Empfang zu Ehren des russischen Botschafters in Venedig, Graf Aleksandr Voroncov^ und seiner Frau statt.^*’ Darüber hinaus ist die Tatsache, daß viele europäische Staaten und Diplomaten solche russischen Pläne als echt ansahen, ein weiterer indirekter Be­weis für die Existenz eines »Griechischen Projekts«.^^ Im Ergebnis suchten auch sie von einer Zerstückelung des Osmanischen Reiches zu profitieren.

•2 r

Siehe Georg SACKE, Die sozialen und wirtschafdichen Voraussetzungen der Orientpolitik Katharinas II., in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 32 (1939), S. 26-36.

Siehe Georgios N. MOSCHOPOULOS, Oi EUines tis Venetias kai lUyrias (1768-1797), Diss., Athen 1980, S. 85-89,137-140,206-208,212 f.

Siehe den Bericht von Graf Johann Eustach von Görtz an Friedrich II. vom 24. August 1784 aus St. Petersburg, der über die Allianz zwischen Rußland und Österreich mitteilte, sie solle Katharinas Hauptziel verwirklichen; »L’objet principal de son alliance avec l’Empereur a tou­jours été l’exécution de son vaste projet pour détruire l’Empire des Turcs en Europe et d’établir un Empire Grec pour le second de ses petits fils, le Grand duc Constantine, projet, pour lequel

Das Interesse der russischen Regierung für das griechische Volk wurde gleich­zeitig durch Josephs II. positive Politik gegenüber der orthodoxen Bevölkerung im Habsburgerreich ergänzt. Dies bezeugt noch einmal den Stellenwert, den bei­de Mächte den Griechen beimaßen. Joseph praktizierte religiöse Toleranz und einen aufgeklärten Absolutismus mit einer Art von Reformen, die als »Josephi­nismus« bekannt wurden, und gewährte den orthodoxen Gemeinden unterschied­licher ethnischer Herkunft Privilegien, um ihren wirtschaftlichen Wohlstand ab­zusichern und ihre jeweilige kulturelle Identität zu erhalten.^^ Obwohl diese or­thodoxen Gemeinschaften nicht mit den Griechen gleichzusetzen sind, waren die Präsenz und die Aktivitäten der Griechen besonders in den größeren Städten wie in Wien auffällig, wo sie bedeutende religiöse, kulturelle und kommerzielle Zen­tren aufgebaut hatten. So wurde das Kaiserliche Privileg v o n J o s e p h , das die Rechte der orthodoxen griechischen Kaufleute aus dem Osmanischen Reich garantierte, die in Österreich Handel trieben, 1783 in Wien in drei Sprachen gleichzeitig ver­öffentlicht, auf deutsch, griechisch und russisch.^^

Was die Rezeption des »Griechischen Projekts« betrifft, so haben es ältere Hi- storikergenerationen'^ nicht in Frage gestellt und ihre Darstellung vor allem auf die schon erwähnte Korrespondenz zwischen Katharina und Joseph und zwi­schen den unmittelbar beteiligten Personen — Ludwig Graf von Cobenzl, dem österreichischen Botschafter in St. Petersburg, und Graf Wenzel Anton von Kau­nitz, Josephs Kanzler — gegründet. Einige moderne Historiker haben jedoch die tatsächliche Existenz des »Griechischen Projekts« in Zweifel gezogen und die Frage aufgeworfen, ob es wirklich in der russischen Außenpolitik der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte.'^ Als einer dieser Historiker überprüfte Edgar Hösch die gesamte Geschichte des »Griechischen Projekts« und zog den Schluß, daß es nicht als ein systematischer Plan der russischen Außen­politik betrachtet werden kann." Hösch lehnte das »Griechische Projekt« als eine Vision der Politik Rußlands nicht ab, sah jedoch außerhalb des Reiches der Ideen keine konsequenten Aktionen, um einen so ambitiösen Plan zu verwirklichen. Nichtsdestotrotz gelangte er zu der Auffassung, daß das »Griechische Projekt«

Orthodoxie und Politik 95

eile a jugé l’alliance avec l’Empereur nécessaire.« Vgl. ZlNKElSEN, Geschichte des osmanischen Reiches, Sechster Theil, S. 939.

Siehe Emanuel TURCZYNSKl, The National Movement in the Greek Orthodox Church in the Habsburg Monarchy, in: Austrian History Yearbook 3/3 (1967), S. 83-128, der acht größere orthodoxe Gemeinden im Habsburgerreich ausmachte.

Siehe Konstantinos S. Staikos, Ta typomena sti Vienni ellinika vivHa 1749—1800, Athen 1995, S. 58 f.

Vgl. das wichtige Werk von Hans U ebersberger , Russlands Orientpolitik in den letzten zwei Jahrhunderten, Bd. 1: Bis zum Frieden von Jassy, Stuttgart 1913.

Siehe O. S. M a r k o v a , O proischozdenü tak nazyvaemogo greceskogo proekta (80-e go- dy XVIII v.), in: IstSSSR, 1958, Nr. 4, S. 52-78.

Edgar H ö SCH, Das sogenannte »griechische Projekt« Katharinas II, in: JGO N. F. 12 (1964), S. 168-206.

auch in dieser Form die Beziehungen zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich durchaus entscheidend beeinflußte.

Obwohl solche Interpretationen schon früher kritisiert worden waren'^ , war es Hugh Ragsdale, der neues Beweismaterial aus russischen, französischen und öster­reichischen Archiven beibrachte, das die immer noch unbekannten Seiten des »Griechischen Projekts« betrifft, und der versuchte, den Plan auf eine andere Art zu bewerten. Als erstes trennte er das »Griechische Projekt« von einem apo­kryphen Schriftstück, dem sogenannten »Testament« Peters 1.^, das falsche Vor­stellungen über die Außenpolitik und die langfristigen Ziele Rußlands in die Welt setzte und die westliche Russophobie im 19. und 20. Jahrhundert anheizte. Die­ses »Testament« wurde auch mit dem »Griechischen Projekt« in Verbindung gebracht, weil es sich zum Teil mit dessen Zielsetzungen deckte, so im Hinblick auf die territoriale Expansion rund um das Schwarze Meer, auf die Kooperation mit den Österreichern gegen die Osmanen und auf die Eroberung der Levante.Nach Ragsdales Meinung führte diese scheinbare Kongruenz deshalb in die Irre, weil es sich um zwei verschiedene Geschichten handelt."^ Auf der Basis von schon bekannten, aber vor allem von neuen Dokumenten präsentierte Ragsdale jedoch das »Griechische Projekt« aus einem neuen Blickwinkel."^^ Danach war das Projekt so real und so konsequent geplant, daß nach 1787 sogar Frankreich ver­suchte, seine langjährige positive Haltung gegenüber dem Osmanischen Reich zu ändern, und die Möglichkeit einer französisch-russischen Allianz und einer Betei- ligung am »Griechischen Projekt« auslotete. Dies implizierte natürlich einen be­deutenden Wandel der französischen Außenpolitik, die traditionell dahin tendiert hatte, das Osmanische Reich zu bewahren. Auch der spätere österreichisch-rus- sische Vertrag von 1795 band (in einer Geheimklausel) die beiden Länder an das »Griechische Projekt«, wie es in Katharinas Brief an Joseph II. vom 10. Sep­tember 1782 formuliert worden war. Außerdem sind die Verbindungen zwischen Potemkin und dem russischen Botschafter bei der Pforte, Jakov Bulgakov, er­hellend, besonders in bezug auf die Vorbereitungen des zweiten Russisch-Osma- nischen Krieges. Aus den von Ragsdale benutzten Quellen geht klar hervor, daß

Siehe den informativen Artikel von David M. GRIFFITHS, The Greek Project, in: The Mod­em Encyclopedia of Russian and Soviet History 13 (1979), S. 128-132.

^ Siehe dazu E. N. DANILOVA, Zavescanie Petra Velikogo, in.' Trudy istoriko-archivnogo in- stituta 2 (1946), S. 205-270; Orest SUBTELNY, »Peter I’s Testament«: A Reassessment, in; SR 33 (1974), S. 663-678.

Siehe Hugh RAGSDALE, Russian Projects o f Conquest in the Eighteenth Century, in; Ders.(Hrsg.), Imperial Russian Foreign Policy, Washington, D. C./Cambridge 1993, S. 75-102, beson­ders S. 75-82.

Für Details siehe Hugh RAGSDALE, Montmorin and Catherine’s Greek Project. Revolution in French Foreign Policy, in: CMRS 27 (1986), S. 27-44; ders., New Light on the Greek Project:A Preliminary Report, in: Roger BARlLETr/Anthony G. CROSS/Karen RASMUSSEN (Hrsg.), Rus- c§sia and the World of the Eighteenth Century, Columbus, Ohio, 1988, S. 493-501; ders.. Evalua­ting the Traditions of Russian Aggression: Catherine II and the Greek Project, in: SEER 66 (1988), 5 S. 91—117; ders., Russian Projects, S. 82-102,

96 Vasilios N. Makrides

die beiden Personen, die das gesamte »Griechische Projekt« von ganzem Herzen favorisierten, Katharina und Potemkin waren. Andere Beamte, sowohl Russen wie Ausländer, hegten hingegen Bedenken, und auch ein bedeutender Teü der russi­schen Adligen reagierte negativ auf Kadiarinas Politik."^ So verschwand dieses besondere Projekt, das nur einem kleinen Personenkreis bekannt war, nach dem Tod Katharinas im Jahre 1796, da ihre Nachfolger lieber ein schwaches Osma- nisches Reich bewahren wollten, statt eine neue Großmacht zum Nachbarn zu haben. Insgesamt ist Ragsdale der Auffassung, daß das »Griechische Projekt«, obwohl es wirklich existierte, kaum ein »russisches« Projekt genannt werden kön­ne, da seine überzeugten Verfechter - Katharina als Deutsche, Potemkin mit seiner russisch-polnischen Herkunft \ind der Ukrainer Bezborodko — keine gebo­renen Russen gewesen seien. In anderen Worten; Ragsdale möchte zwischen dem »Griechischen Projekt« und dem langwährenden und oft manifestierten Interesse vieler russischer Regierungen an einer Expansion zum Mittelmeer und an den damit einhergehenden militärischen und wirtschaftlichen Interessen unterschei­den. Nach seiner Ansicht ruhte die Außenpolitik in der Ära Katharinas auf einer sehr schmalen sozialen Basis. Gegen diese Politik habe der russische Adel nicht offen opponiert, sondern ausschließlich darauf abgezielt, die beteiligten Diplo­maten zu beeinflussen.'^^

Obwohl die Argumentation von Ragsdale, soweit es um die Realität des »Grie­chischen Projekts« geht, als schlüssig erscheint, ist sein Versuch, diesen Plan im Kontext der langfristigen Politik der russischen Regierungen zu isolieren, indem er ihn als prinzipiell »nicht-russisch« darstellt, wenig überzeugend. Trotz der Besonderheit des »Griechischen Projekts« kann es keineswegs aus der traditio­nellen russischen Haltung gegenüber Südosteuropa herausgelöst werden. Andere Historiker versuchten, die Politik Katharinas und Potemkins in der Südukraine neu zu bewerten. Sie interpretierten diese Politik nicht in bezug auf das hoch­trabende »Griechische Projekt«, sondern suchten nach anderen realen Zielen und bescheideneren Motiven Katharinas: der Befriedung der Grenzgebiete, der for­cierten Entwicklung des Südens, der wirtschaftlichen Nutzung und Maximierung der Ressourcen, der innenpolitischen Strategien gegenüber der kosakischen Be­völkerung."^^ Zweifellos gab es solche anderen Motive, die, mit dem Projekt ver­flochten oder nicht, die kaiserliche Politik im Süden beeinflußten und nicht nur in einer Kategorie zusammengefaßt werden körmen. Dennoch kann diese Politik sicherlich nicht von dem breiteren Interesse an Griechenland und den Griechen,

Siehe Robert E. JONES, Opposition to Wat and Expansion in Late Eighteenth-Century Rus­sia, in: JGO N. F. 32 (1984), S. 34-51.

Gegen diese Ansicht betonte Elena loasafovna D r u z in in a , Severnoe pricernomor’e v 1775-1800 gg., Moskau 1959, daß der russische Adel die Politik des kaiserlichen Hofes hin­sichtlich der Entwicklung des Südens sehr wohl unterstützte.

Siehe zum Beispiel Marc RAEFF, The Style o f Russia’s Imperial Policy and Prince G . A. Po­temkin, in; G . M. G ro b (Hrsg.), Statesmen and Statecraft of the Modem West. Essays in Honor o f Dwight E. Lee and H. Donald Jordan, Barra, Mass., 1967, S. 1—51.

Orthodoxie und Politik 97

m

wenn nicht speziell vom »Griechischen Projekt« Katharinas und Potemkins, ge­trennt werden. Eine ganzheitliche Ansicht und Bewertung von Katharinas Hal- tong gegenüber dem griechischen Volk, sowohl im Osmanischen Reich als auch in Rußland, wie sie sich im Fall von Evgenios Voulgaris, dem prominentesten Sprecher der griechischen Sache, manifestierte^®, kann auch nicht ohne Bezug­nahme auf das »Griechische Projekt« erklärt werden. Darüber hinaus sollte das System der russischen Schirmherrschaft über die griechische Elite im Osmani­schen Reich - es gab zahlreiche Griechen, die russische Konsuln oder Vizekon­suln waren - ein Netzwerk zur Unterminierung der osmanischen Autorität schaf­fen und seine ohnehin schon dezentralisierten Herrschaftsstrukturen durch Bünd­nisse mit örtlichen Paschas, wie z. B. Ali Pascha, schwächen. Eine solche prak­tische Unterstützung kann vielleicht in größerem Maße Potemkin zugeschrieben werden, der von Katharina weitreichende Vollmachten im Rahmen des »Grie­chischen Projekts« erhalten und viele Griechen in seinen Dienst aufgenommen hatte. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß die Griechen selber, ob sie nun in russischen Diensten waren oder nicht, den Gerüchten über das »Grie­chische Projekt« starke Impulse gaben. Sie waren naturgemäß an dieser Ent­wicklung mehr zur Förderung ihrer eigenen Interessen interessiert, was zu einer Überbewertung und Übertreibung der anfänglich bescheideneren philhellenischen Pläne der Russen beigetragen haben mag. Auf jeden Fall wurde das russische Parameter auf dem Weg zur Unabhängigkeit von den Griechen als real angese­hen, trotz einiger Bitterkeit wegen der erfolglosen Aufstände in der Ära Katha­rinas. Angesichts dieser ziemlich komplizierten Situation, die nicht monokausal erklärt werden kann, ist es eine plausiblere Argumentation, daß enge innenpoli­tische Interessen mit langfristigen Expansionsplänen in der russischen Politik in der Südukraine und insbesondere im Hinblick auf die Griechen koexistierten.

Um zusammenzufassen; Die erwähnten zwei Russisch-Osmanischen Kriege^^ markierten auf eine entschiedene Art und Weise den Beginn der Einmischung Rußlands in die inneren Angelegenheiten des schwächer werdenden Osmani­schen Reiches. Das Schwarze Meer war nicht mehr der türkische See, der es bis zu den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts gewesen war. Außerdetp. bewiesen diese Ereignisse zweifelsfrei, daß der osmanische Staat, trotz einer unter Sultan Selim III. (1789—1807) beginnenden Modernisierung, mit den anderen Staaten des europäischen Kontinents nicht gleichziehen und sein Territorium nicht ef­fektiv verteidigen konnte. Angesichts dieser Situation versuchte Rußland entwe­der direkt oder indirekt, von den inneren Problemen und der innenpolitischen Anarchie im Osmanischen Reich zu profitieren.

Siehe Stephen K. BatALDEN, Catherine IFs Greek Prelate: Eugenios Voulgaris in Russia, 1771-1806, Boulder/New York 1982, S. 93-98 und passim.

Zur Wirkung dieser Kriege auf die Griechen vgl. Paschalis M. KlTROMILlDES, War and Political Consciousness: Theoretical Implications of Eighteenth-Century Greek Historiography, in: Günther E. ROTHENBERG u. a. (Hrsg.), East Central European Society and War in the Pre- Revolutionary Eighteenth Century, Boulder/New York 1982, S. 351-370, besonders S. 357-366.

98 Vasilios N. Makrides

Orthodoxie und Politik 99

II

Von besonderer Bedeutung waren die religiösen und kulturellen Verbindungen zwischen Russen und Griechen in dieser Periode. Abgesehen von ihrem gemein­samen byzantinischen Erbe wurden beide Völker entscheidend durch ihren Kon­takt mit dem Westen beeinflußt. Die Transformation Rußlands seit der Herr­schaft Peters I. wie auch seine Verwestlichung wurden zu einem bewunderns- und nachahmenswerten Modell für die Griechen im Osmanischen Reich, das we­gen seiner Rückständigkeit westlichen Einflüssen und Tendenzen einer Moder­nisierung fast vollständig verschlossen blieb. Dieser Gegensatz verstärkte sich noch während Kadiarinas Herrschaft, die mit einer Periode der politischen und der kulturellen Wiederbelebung der Balkanvölker zusammenfiel. Der Westen er­schien als ein Faktor im Ringen um die intellektuelle und letztlich die politische Unabhängigkeit. Rußland fungierte in diesem Prozeß als ein Kanal, durch den westliche Ideen und Modelle Südosteuropa erreichten und beeinflußten.^^ Dabei versteht sich von selbst, daß sich dieser Prozeß der Verwestlichung sowohl in Rußland als auch auf dem Balkan als ziemlich ambivalent erwies und auf die starke Opposition retardierender Kräfte traf, darunter auch der orthodoxen Kir­che.

Darüber hinaus gab es eine Form der Abhängigkeit der griechisch-orthodoxen Politik von der entsprechenden russischen Politik in Katharinas Regierungszeit, die durch radikale Entwicklungen im Westen wie die Französische Revolution ge­kennzeichnet war. Die orthodoxe Kirche, die vor allem vom Patriarchat von Konstantinopel dominiert war, hatte als einzige Institution den Fall von Byzanz überlebt. Ihre Funktion erstreckte sich weit über den im strengen Sian religiösen Bereich hinaus. In Anbetracht der bedeutenden Veränderungen im 18. Jahrhun­dert vind ihrer Auswirkungen im Osmanischen Reich beachtete das Patriarchat im allgemeinen die russische Politik und richtete seine eigene Haltung dementspre­chend aus. Dies ist sogar in seiner frühen Wertschätzung der westlichen Aufklä­rung erkennbar. Katharinas enge Verbindungen mit den philosopheP^ vor der Fran­zösischen Revolution wurden vom Patriarchat zur Kenntnis genommen, das an­fangs eine ähnlich tolerante Politik gegenüber dem griechischen Wiedererwachen unter dem Einfluß des Westens verfolgte. Trotz ihrer formellen Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche, ihrer betonten Unterstützung der Orthodoxie und ihrer öffentlich zur Schau gestellten Frömmigkeit teilte Katharina allerdings in Wirk­lichkeit die Ansichten der Aufklärung über die Religion — die Idee der Toleranz, den Deismus, die Kritik des Aberglaubens, des Fanatismus und des religiösen

Siehe Cyril E. BLACK, Russia and the Modernization of the Balkans, in: Charles and Barbara JELAVICH (Hrsg.), The Balkans in Transition, Berkeley/Los Angeles 1963, S. 145-183.

Siehe Erich DONNERT, Katharina II von Rußland, Voltaire und Diderot, in: Beiträge zur Romanischen Philologie 24 (1985), S. 325-332.

Obskutantismus.^"^ Diese Akzeptanz bestimmter Ideen der Aufklärung^^ impli­zierte freilich nicht, daß Katharina gleichzeitig auch die aufklärerischen Ansichten über Autorität, Autokratie und Monarchie, Gleichheit und radikale soziale Ver­änderungen akzeptiert hätte. Als die Nachrichten über die Hinrichtung Lud­wigs XVI. und die aufrührerischen französischen Ideen St. Petersburg erreichten, wandelten sich Katharinas Ansichten sofort abrupt wegen der als Bedrohung empfundenen Folgen der Französischen Revolution.^*^ Ein solcher tiefgreifender Umschwung ließ auch das Patriarchat von Konstantinopel nicht unberührt, das zur gleichen Zeit zwischen seiner Loyalität zur Hohen Pforte einerseits und sei­nen prorussischen Gefühlen und seiner orthodoxen Verbundenheit mit dem gro­ßen Reich des Nordens andererseits hin- und hergerissen war. Hatte zuvor das Patriarchat eine intellekmelle Renaissance unter der Einwirkung des Westens nur toleriert und gestattet, als keine direkte Bedrohung der Orthodoxie erkennbar ge­wesen war; so zwangen es nun sowohl die veränderte Haltung Katharinas gegen­über Voltaire und der Aufklärung als auch das Ende des zweiten Russisch-Os- manischen Krieges, im Rahmen der allgemeinen antiwestlichen Verteidigung der Hohen Pforte eine reaktionäre Politik zu verfolgen.^" Dies bedeutet freilich nicht, daß das Patriarchat keine eigenen Gründe gehabt hätte, die gefährlichen Ideen aus dem Westen zu bekämpfen. Die Relativierung des orthodoxen Glaubens, der Frömmigkeit und der religiösen Praxis, die die Aufklärung ausgelöst hatte, war sowohl im Klerus als auch unter den Laien offensichtlich. Ähnliche Phänomene waren auch in Rußland ziemlich bekannt^^ und hatten genauso starke Reaktionen der russischen Kirche verursacht. Beide Kirchen ergriffen im Prinzip gleiche Maß­nahmen gegen die Verbreimng der neuen Ideen. Vor allem verstärkten sie die

John D . K lier, Cadierine II, in; The Modem Enq^clopedia of Religions in Russia and the Soviet Union 5 (1993), S. 72-84, hier S. 73.

Zur Aufklärung in Rußland in der Zeit Katharinas siehe Paul DUKES, The Russian En- lightenment, in: Roy PORTER/Mikulas Teich (Hrsg.), The Enüghtenment in National Context, Cambridge 1981, S. 176-191, besonders S. 181-191. Zu den Beziehungen der damaligen griechi­schen Aufklärer zu Rußland siehe Grigorij L. ArS, Novogreceskoe prosvescenie i Rossija (K postanovke problemy), in; Balkanskie issledovanija, Bd. 9, Moskau 1984, S. 304-313.

Zum historischen Kontext siehe M. M. STRANGE, Russkoe obscestvo i francuzskaja re- volucija 1789—1794 gg., Moskau 1956, S. 151-181; siehe auch verschiedene Artikel in: Velikaja francuzskaja revolucija i Rossija, Moskau 1989. Die Änderung in Katharinas Haltung zum t^sischm Wahnsinn« wird im Fall Aleksandr Radiscev deutlich; siehe Allen McCONNELL, The Empress and her Protégé: Catherine II and Radishchev, in; JMH 36 (1964), S. 14-27; vgl. auch M a d a r ia g a , Russia, S. 532-548.

Konstantinos Th. DiMARAS, Neoellinikos Diaphotismos, 4. Aufl., Athen 1985, S. 70 f., 146-148,154 f., 172 £, 247 f.

CQZu einem in dieser Hinsicht bezeichnenden Beispiel siehe Adelheid Rex h e u seR, Ortho­

doxe Frömmigkeit und westliche Bildung in Rußland im 18. Jahrhundert, in: Kirche im Osten 37 (1988), S. 148—177; siehe auch Gregory L. Fr e e ze , Church, State and Society in Catherinean Russia: The Synodal Instruction to the Legislative Comnaission, in: Eberhard MÜLLER (Hrsg.), »... aus der anmuthigen Gelehrsamkeit«. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert. Dietrich Geyer zum 60. Geburtstag, Tübingen 1988, S. 155-168.

;100 Vasilios N. Makrides

Zensur, um die Veröffentlichung und Verbreitung von Büchern effektiver kon­trollieren zu können.

Dabei ist hervorzuheben, daß das orthodoxe Band zwischen Rußland und sei­nen Glaubensgenossen auf dem Balkan von vorrangiger Bedeutung für die Er­richtung und Erhaltung^ dieser Kommunikationen und wechselseitigen Beeinflus­sungen war. Trotz der Funktionalisierung der Orthodoxie für politische Zwecke und Projektionen blieb das gemeinsame religiöse Erbe ein äußerst wichtiger Fak­tor in der Verbindung zwischen verschiedenen Völkern in Osteviropa. Die Or­thodoxie bildete zu jener Zeit eine der grundlegenden Komponenten einer »ge­meinsamen Balkanm entalität«.Erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dran­gen die beunruhigenden Kräfte des Nationalismus von Westen her in Südost­europa ein, die dann im Laufe des 19. Jahrhunderts die übernationale orthodoxe Einheit durch die Gründung unabhängiger Nationalstaaten auf dem Balkan zer­störten.^^

Neben dieser gemeinsamen religiösen Herkunft wurde Rußland auch als ein Fluchtpunkt für die Orthodoxen angesehen, wo sie sich in der Emigration sicher fühlen vind wo sie gedeihen konnten, vor allem diejenigen, die mit den osmani­schen Behörden in Konflikt geraten waren. Diese Möglichkeit bestand sowohl für Geistliche als auch für Laien. So war zum Beispiel der ehemalige Patriarch Serapheim IL (22. Juli 1757 - 26. März 1761) für seine starke prorussische Sym­pathie bekannt. Deshalb war er auch nach seiner Absetzung auf den Berg Athos verbannt worden. Doch während des ersten Russisch-Osmanischen Krieges ver­ließ er den Berg Athos und bekundete offen seine Unterstützung für die Russen. Damit löste er eine heftige Reaktion der Hohen Pforte aus, die den Berg Athos mit einer Geldstrafe belegte. Patriarch Theodosios IL (11. April 1769 — 16. No­vember 1773) versuchte, den Sultan zu besänftigen, und veröffentlichte sogar mehrere Gegenenzykliken, um die Verbreitung solcher rebellischer Ideen zu un­terbinden. Serapheim floh schließlich 1775 nach Rußland, wo ihm durch Katha­rinas Edikt vom 2. Dezember 1775 eine Rente gewährt wurde. Dort starb er auch

Orthodoxie und PoKtik 101

Siehe Richard Cl o g g , The »Dhidhaskalia Patriki (1798)<c an Orthodox Reaction to French Revolutionary Propaganda, in: Middle Eastem Smdies 5 (1969), S. 87-115. Gary MARKER, Pu­blishing, Printing, and the Origins of Intellectual life in Russia, 1700-1800, Princeton, N. J., 1985, S. 212-232.

Vgl. Paschalis M. KlTROMILlDES, »Balkan Mentality«: History, Legend, Imagination, in: Nations and Nationalism 2 (1996), S. 163-191.

Vgl. Paschalis M. KlTROMILlDES, »Imagined Communities« and the Origins o f the Natio­nal Question in the Balkans, in: Martin BUNKHORN/Thanos V erem is (Hrsg.), Modern Greece: Nationalism and Nationality, Athen 1990, S. 23-66, hier S. 51-59. Zur Rolle Rußlands in die­sem Prozeß ders., Apo tin Orthodoxi Koinopoliteia stis ethnikes koinotites: to politiko perie- cho meno ton ellinorosikon pnevmatikon scheseon kata tin Tourkokratia, in: Hellas - Russia. One Thousand Years o f Bonds, Athen 1994, S. 139-165, hier S. 158-165.

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am 7. Dezember 1779.^^ Nach dem ersten Russisch-Osmanischen Krieg emi­grierten noch weitere griechische Geistliche vom Peloponnes und aus anderen Orten nach Rußland, so Metropolit Venediktos von Navplion, Metropolit An- thimos von Monemvasia und MetropoKt Serapheim von Lakedaimonia. Im Rus­sischen Reich fanden siè eine Basis för die spätere Gründung und das Aufblühen griechischer Gemeinden in der Südukraine. Ein weiterer Geistlicher, der Metro­polit von Palaias Patras, Parthenios, emigrierte nach St. Petersburg, wo er am 12. April 1780 in der Palastkirche eine Ansprache zu Ehren von Katharina hiek.*’ Phanariotische Adlige, die aufgrund ihrer Funktionen in der osmanischen Ver­waltung die Herrschaft über die Walachei und die Moldau erhalten hatten, flohen auf ähnliche Weise nach Rußland. Der halbautonome Status dieser Provinzen wie auch ihre geographische Nähe zum Habsburgerreich machten sie für eine Politik des Widerstands besonders geneigt. Darüber hinaus war der Statos eines jeden von ihnen wegen der Machtkämpfe zwischen den phanariotischen Familien in Konstantinopel und ihrer Verschwörungen um mehr Macht und Einfluß immer überaus prekär. Einer dieser Phanarioten, Alexandros Mavrokordates (1754-1819), der während des ersten Russisch-Osmanischen Krieges in St. Petersburg gelebt und studiert hatte, wurde für eine kurze Zeit Fürst der Moldau (1785—1786). Als Mavrokordates wegen des wachsenden Einflusses osmanischer Beamter, die auf einen neuen Krieg gegen Rußland zusteuerten, um sein Leben fürchtete, floh er am Vorabend des zweiten Russisch-Osmanischen Krieges im Dezember 1786 nach Rußland, statt nach Konstantinopel zurückzukehren. Wegen dieser Flucht erhielt er den Spitznamen »firari« (= Flüchtling, Ausreißer). Er blieb in Rußland bis an das Ende seines Lebens und pflegte dort Verbindungen zu prominenten Griechen, so zu Evgenios Voulgaris, und zu Persönlichkeiten der russischen Ge­sellschaft.^"^

Die religiösen Verbindungen zwischen Russen und Griechen können in jener Zeit auch auf einer anderen Ebene beobachtet werden, nämlich auf der Ebene des Transfers theologischer Literatur. So veröffentKchte zum Beispiel Adaman- tios Korais (1748—1833), ein bedeutender griechischer Intellektueller, der vor al­lem in Frankreich lebte, die griechische Übersetzung eines bedeutenden theologi­schen Werkes des Metropoliten von Moskau, Platon Levsin (1737—1812).^^ An-

Siehe Constantin PapoulIDIS, Le Patriarche Oecuménique Sérapheim II et les Russes, in: Balkan Studies 17 (1976), S. 59-66; Stephen K. Batalden, A Further Note on Patriarch Sera­pheim II’s Sojourn to Russia, in: Balkan Studies 18 (1977), S. 409-411.

Siehe H. H. Christian BACMEISTER, Russische Bibliothek, zur Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes der Literatur in Rußland, Bd. 7, St. Petersburg/Riga/Leipzig 1781, S. 362-364; siehe auch Georgios I. ZaVIRAS, Nea Ellas i ellinikon theatron, Athen 1872, ND Athen 1972, S. 512.

Siehe Dimitris SPATHIS, Phanariotiki koinonia kai satira, in; Georgios N . SoUTZQS, Alexan- drovodas o asyneiditos. Komodia syntetheisa en etei 1785, hrsg. und bearb. von Dimitris Spathis, Athen 1995, S. 207-429, hier S. 281-337.

Platon [LEVàlN], Orthodoxes Didaskalia itoi Christianiki Theologia en synopsei [...], Wien 1783; zu Levsin siehe K. P apm eh l , Metropolitan Platon of Moscow (Peter Levshin, 1737-1812). The Enlightened Churchman, Scholar and Educator, Newtonville, Mass., 1982.

1Q2 Vasilios N. Makrides

dererseits verbrachte der ukrainische Mönch Pajsij Velickovskij (1722—1794), der die hesychastische und asketische Tradition in Rußland wiederbelebte, mehrere Jahre auf dem Berg Athos. Unter anderem sammelte er eine Anzahl mystischer und asketischer Texte (J^hilokaliä), die er schließlich ins Russische übersetzte und damit einen starken Eirtfluß auf die Entwicklung des russischen Monastizismus ausübte.*^ Das beste Beispiel für einen solchen Transfer von - vor allem theo­logischer - Literatur aus der griechischen Welt in die russische und umgekehrt ist jedoch Evgenios Voulgaris (1716-1806). Er selbst übersetzte mehrere russische Werke ins Griechische, während einige seiner eigenen Texte ins Russische über­setzt wvirden. Als Polyhistor beobachtete Voulgaris auch die Entwicklungen in Rußland unter der Herrschaft Katharinas sorgfältig und versuchte, seine Lands­leute entsprechend zu informieren. Er war mit dem früheren Patriarchen Sera­pheim IL bekannt und emigrierte 1771 nach Rußland, wo er den Rest seines langen Lebens v erb rach te .In jenem gleichen Jahr veröffentlichte Voulgaris in St. Petersburg den Katharinas II. von 1767, ihre Instruktion für die Kom­mission zur Beratung eines neuen Gesetzbuchs, in einer griechischen Überset­zung, der der russische Text beigefügt wurde. In seiner Widmung an die Kaiserin wünschte Voulgaris, daß die griechische Nation eines Tages mit den gleichen Ge­setzen wie Rußland regiert werden möge, also unter dem Einfluß der Ideen des aufgeklärten Absolutismus und des Naturrechts.^^

Voulgaris stand gleichfalls unter dem Einfluß der apokalyptischen Überliefe­rung vom Fall des Osmanischen Reiches und von einem christlichen Kreuzzug gegen die »Ungläubigen«. So publizierte er anonym ein Büchlein mit dem Titel Stochasmoi eis tous parontas krisimous Kairous, tou Kratous tou Othomanikou, das ohne Ort und Datum, aber wahrscheinlich 1772 in St. Petersburg erschien und auch ins Russische und ins Französische übersetzt wurde. Darin unternahm er den Versuch, die poEtische Situation seiner Zeit im Lichte des damals stattfindenden Russisch-Osmanischen Krieges zu analysieren und die Möglichkeiten für eine ak­tive europäische Intervention in die osmanischen Angelegenheiten auszuloten. Seiner Meinung nach waren mit der Ausnahme von Frankreich, das beträchtliche Handelsinteressen in der Levante habe, alle europäischen Nationen gemeinsam im Stande, eine solche Unternehmung problemlos auszuführen. Andernfalls wer­de die osmanische Bedrohung für die christliche Identität Europas verhängnis­voll. Voulgaris widersprach auch den Hoffnungen eines muslimisch-osmanischen Messianismus, Gott werde das Osmanische Reich bewahren und in seinen Be­strebungen unterstützen, nach einigen wichtigen Reformen, so der »Europäisie- rung« der osmanischen Armee, die gesamte Welt zu erobern. In diesem Kontext

Siehe Sergei C heTVERIKOV, Starets Paisii Velichkovskii. His Life, Teachings, and Influence on Orthodox Monasticism, übers, von V. Lickwar and A. L Lisenko, Belmont, Mass., 1980.

Für seinen Lebensabschnitt in Rußland vgl. neben der überaus informativen Studie von B a t a l d e n : Grigorij L. ArS, Evgenij Bulgari v Rossü, in: VIst, 1987, Nr. 4, S. 103-113.

Vgl. dazu im einzelnen Panajotis I. Z epo s, Nomothetikai prospatheiai Aikaterinis tis megalis kai synchronoi pothoi ellinikoi, in: Epetiris Etaireias Vyzantinon Spoudon 23 (1953), S. 593-603.

Orthodoxie und PoKtik 103

spielte Voulgaris sogar eine maßgebliche Rolle in der Politik Rußlands, weil er die schon erwähnten philhellenischen Traktate Voltaires ins Griechische übersetzte. Veranlaßt wurden diese Aktivitäten vor allem durch Katharinas Interesse an einer ideologischen Unterstützung ihrer politischen Pläne durch Intellektuelle, seien es Griechen oder Westeuropäer. In den Jahren 1771—1772 wurden in St. Petersburg insgesamt sieben Pamphlete in griechischer Sprache herausgegeben, um Katha­rinas Schirmherrschaft über die Orthodoxen im Osmanischen Reich und ihren gerechten Krieg gegen die Osmanen zu preisen.

Im ganzen war das Bild, das sich die Griechen von Katharina II. und den Rus­sen machten, überaus ambivalent und stark von den spezifischen zeitgenössi­schen Ereignissen und Konstellationen geprägt. Die überkommene prorussische Einstellung der griechischen Bevölkemng wurde durch den Fehlschlag der »Orlo­fika« und deren gravierende Folgen auf eine harte Probe gestellt. Der erste Rus­sisch-Osmanische Krieg Katharinas führte nicht zum Zusammenbruch des Os­manischen Reiches oder wenigstens zur Schaffung eines kleinen unabhängigen griechischen Staates, auch wenn der Frieden von Küçük Kaynarca und die rus­sische Politik in der Folgezeit den orthodoxen Untertanen im Osmatiischen Reich manche Vorteile verschaffte. Ebenso änderte sich nach dem zweiten Russisch- Osmanischen Krieg die Situation nicht wesentlich. Insofern stellten diese Ereig­nisse die apokalyptische Überliefemng von einer Intervention der Russen mit dem Ziel einer Befreiung der Griechen in Frage. Daher ist es nicht verwunderlich, daß viele führende griechische Persönlichkeiten einen Aufstand gegen das dekadente Osmanische Reich entweder ohne Hüfe von außen oder mit Hilfe westlicher Mächte ins Auge faßten. Dennoch erwies sich, daß der gesamte Mythos und die weit verbreitete Vision eiaer von Gott vorherbestimmten und voraussehbaren Rolle Rußlands für die Zukunft Griechenlands nicht leicht zerstört werden oder verschwinden konnten. Es wurden sogar verschiedene Adaptionsmechanismen, Rechtfertigungen und Erklärungen angeboten, um die ausbleibende Erfüllung der Prophezeiung mit vorübergehenden Schwierigkeiten zu erklären. Es versteht sich von selbst, daß die meisten dieser Interpretationen und Bewermngen eigenartig und nicht selten widersprüchlich waren.^® So schrieb ein griechischer Mönch vom Peloponnes, Kyrillos Lavriotis (1741/44—1829), der einen Großteil seines Lebens in Bukarest verbrachte, eine umfangreiche, noch nicht veröffentlichte Exegese der Offenbarung des Johannes, nach welcher er historische Ereignisse inter­pretierte und zahlreiche Vorhersagen über den Lauf der Geschichte traf. Wie zu erwarten, spielte er vor allem auf Rußland und auf die russische Politik jener Zeit im Hinblick auf das Osmanische Reich und die Griechen an. Auf der einen Seite geißelte KyriUos die griechischen Hoffnungen auf eine Befreiung mit Hilfe der Westmächte oder Rußlands, da die von Gott vorherbestimmte Zeit für einen

Siehe Nestor CAMARIANO, Epta spania ellinika phylladia dimosievmena stin Petroupoli (1771-1772), in: O Eranistis 18 (1986), S. 1-34; vgl. auch KlTROMILlDES, Neoellinikos Diapho- dsmos, S. 178-186; B r u e ss , Religion, S. 44-46.

Vgl. C l o GG, The Byzantine Legacy, S. 261-264.

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»

solchen Aufstand noch nicht gekommen sd?^ Ausdrücklich hob auch er die katastrophalen Folgen der »Orlofika« hervor und kritisierte die Russen, sie hätten die griechischen Erwartungen getäuscht und sie der Gnade der albanischen Ban­diten ausgeliefert. Diese hatten seine Heimatstadt Patras wie auch den Pelo­ponnes und andere Orte auf der griechischen Halbinsel zerstört. Kyrillos be­zweifelte sogar ernsthaft die Effektivität einer gemeinsamen russisch-griechischen ordiodoxen Front gegen die Osmanen.’ ^ ^ f der anderen Seite äußerte er sich positiv über Katharina und die spätere russische Präsenz auf den Ionischen In­seln. Seine persönlichen Bekanntschaften unter russischen Offizieren in den Donaufürstentümern veranlaßten ihn jedoch, deren unmoralisches Leben auf der Grundlage seiner eigenen strengen puritanischen Prinzipien zu kritisieren. Er ging sogar so weit, diese russischen Orthodoxen als schlimmer als die »Moham­medaner« und die atheistischen Franzosen anzusehen. Die widersprüchlichen Ur­teile dieses griechischen Mönches sind nicht verwunderlich, da Kyrillos offen­sichtlich ein exzentrischer und streitbarer Mensch war und da sein Werk viele eigenartige und manchmal kuriose Meinungen und Interpretationen enthält.

Es gab auch manche andere positive Urteile über die russische und vor allem über Katharinas Politik gegenüber den Griechen, die ihren Ursprung in einem ähnlichen Klima apokalyptischer Extase hatten. Der schon erwähnte Kaufmann loannis Pringos lobte zum Beispiel Katharinas Unterstützung für die Wissen­schaft und den Fortschritt der Bildung. Er hatte auch eine hohe Meinung von ihrer Sozialpolitik und ihrer Sorge für die Untertanen, vor allem für die Unter­drückten. Da Pringos fest an die Orakel von Leo dem Weisen und an ihre Erfül­lung zu jener Zeit glaubte, pries er Katharina als die Vorkämpferin der weltweiten Orthodoxie.^^ Allgemein wurden die Russisch-Osmanischen Kriege und Katha­rinas sonstige Aktivitäten im Rahmen des »Griechischen Projekts« oft mit ver­schiedenen Orakeln in Beziehung gebracht. Einige Deuter dieser Orakel erstell­ten sogar Berechnungen über das genaue Jahr des Falls des Osmanischen Reiches durch eine russische Intervention.^"^ Es verdient Erwähnung, daß ein bedeuten­der Intellektueller und Wissenschafüer jener Zeit, Nikolaos Zerzoulis (ca. 1706— 1772/73), der Verbindungen zu hohen russischen Persönlichkeiten, so zu dem Heerführer Graf Petr Aleksandrovic Rumjancev-Zadunajskij (1725-1796), unter­hielt, auch ein lebhaftes Interesse an der Interpretation solcher Prophezeiungen

Orthodoxie und Politik 105

Konstantinos D y o v o UNIOTIS, II. Ai en ti eimineia tis Apokalypseos tou KyriUou tou Pa- treos thriskevtikai gnomai kai kriseis avtou peri diaphoron prosopon, in: Theologia 24 (1953), S. 504-519, hier S. 506.

*70Konstantinos D y o v o u n io t is , III. Istorikai eidiseis ek tis ermineias tis Apokalypseos tou

KyriUou tou Patreos, in: Theologia 26 (1955), S. 441-444, hier S. 443.Siehe Skouvaras, loannis Pringos, S. 166 f., 204.Siehe Astéries A r g y r io u , Les exégèses grecques de l’Apocalypse à l’époque turque (1453-

1821), Thessaloniki 1982, S. 386-388, 430, 436, zu den apokalyptischen Interpretationen von Pantazis von Larissa und loannis Lindios, dem Metropoliten von Myra.

an den Tag legteJ^ Zudem soll er vier Lobreden auf Kadiarina verfaßt habenJ^Natürlich wurden der Kaiserin auch manche Bücher in griechischer Sprache zum Zeichen der Dankbarkeit für ihr Interesse an der griechischen Sache gewidmet.So widmete Athanasios Psalidas (1767—1829), ein wichtiger griechischer Ver­fechter der Aufklärung, der am Priesterseminar von Voulgaris in Poltava studiert hatte, sein Werk Alithis evdaimonia itoi vasis pasis thriskeias (Wien 1791) »der aller­mächtigsten und allerfrömmsten Katharina der Großen«. Anläßlich des zweiten Krieges Katharinas gegen die Osmanen veröffentlichte Psalidas 1792 in Wien ein kurzes Werk, in dem die Privilegien Katharinas für die in Südrußland lebenden Griechen und ihre künftigen Pläne für die Befreiung Griechenlands lobende Er­wähnung fanden.^^ Ebenfalls in Wien wurde 1791 eine kurze Ode auf Katharina als Friedensstifterin (;>>Aikaterini eirinopoio<<) veröffentlicht, im pindarischen Vers­maß gedichtet von dem berühmten Philhellenen Lord Guilford (1766—1827).Schließlich erschien in Wien nach dem Tode Katharinas 1796 eine kiorze Bio­graphie über sie in griechischer Sprache: Sjntomos Viographia Aikaterinis tis Devteras Avtokratorissispason ton 'Kossion [...]. Sogar die Übersetzung eines Dictionarium Va- rini Phavorini ins Griechische, die 1801 in Venedig veröffentlicht wurde, war Ka­tharina gewidmet und erschien auch mit ihrem Porträt am Anfang des Buches.^^

Ebenso lobte eine bedeutende geistKche Persönlichkeit der Zeit, Athanasios Parios (ca. 1721—1813), einer der heftigsten Gegner der Aufklärung, die Kaiserin Katharina. Auch Parios hatte Verbindungen zu russischen Amtsträgern. Da er einige Zeit in Thessaloniki mit Lehrtätigkeiten verbracht hatte, kannte er offen­sichtlich den dortigen russischen Konsul Dionisij Mel’nikov und dessen Frau, wie aus drei Briefen von ihm an den Konsul hervorgeht. In einem von ihnen gra­tulierte er dem Konsul aus Anlaß des Sieges der russischen Flotte bei (^ejme 1770; in einem anderen Brief von 1785 gratulierte Parios ihm aus Anlaß des Namenstages der Kaiserin Katharina.^^ In einem anonymen Text, datiert 1795/96, drückte Parios offen seine prorussischen Gefühle aus und rühmte Katharinas Politik als vorteilhaft für die Griechen. Unter anderem lobte er Katharinas offi­zielle Patronage von Evgenios Voulgaris, den sie mit großen Ehren in ihrem Land empfangen hatte. Parios erwähnte auch die unvergleichlichen Errungenschaften der Russen auf vielen Gebieten. Seiner Meinung nach zeichneten sich die Russen durch ihre Frömmigkeit und ihren festen orthodoxen Glauben, durch ihre poli-

Siehe C l o g g , The Byzantine Legacy, S. 261.Z a v ir a s , Nea EUas, S. 496.Siehe KlTROMILlDES, Neoellinikos Diaphotismos, S. 188-200. Kurz darauf änderte Psali-

das jedoch seine Meinung grundsätzlich und wairde zum Kritiker der unter den Griechen ver­breiteten Hoffnungen auf eine vage, künftige russische Hilfe; vgl. ebenda, S. 191-197.

Siehe Philippos ILIOU, Elliniki Vivliographia tou 19ou aiona. Vivlia — Phylladia, Bd. 1: ’(1801-1818),S. 14 f. (1801.27).

Siehe Georgios M e t a l u n o S, Athanasios Parios (1721—1813) (Ergographia — Ideología —Vivliographika), in: Epistimoniki Epetiris tis Theologikis Scholis Panepistimiou Athinon 30 (1996),S. 293-349, hier S. 326.

106 Vasilios N. Makrides

tischen Eliten und ihr vorbildlich funktionierendes System, durch ihren Heiligen Synod, durch ihre ausgezeichneten Akademien und Hochschulen, am allermei­sten aber durch ihre mächtige und hoch angesehene Kaiserin Katharina aus, »das Wunder von vielen Jahrhunderten«. Parios stellte das Russische Reich als ein Land dar, das eine hegemoniale Position errungen habe und anderen europäi­schen Nationen Lehren in politischen Angelegenheiten erteile. Das Wohlwollen Katharinas, »der Grande Dame«, »deren Reich für immer leben möge«, gegen­über den Griechen führte er auf den unermeßlichen Patriotismus von Voulgaris zurück, der niemals sein Land und seine geplagten Landsleute vergessen habe.®® Diese intensiven prorussischen Gefühle von Parios müssen wahrscheinlich im Kontext mit der Betonung der orthodoxen Tradition der Russen und ihrer Be­wahrung im Zeitalter der Aufklärung erklärt werden, in anderen Worten: in einem Zeitalter, in dem Frankreich begonnen hatte, sich zu dechristianisieren und antichristliche und antiklerikale Strömungen zu unterstützen, was Parios mit Wut und Fanatismus geißelte. Parios zufolge waren die enormen Errungenschaften und die Macht des Russischen Reiches nicht zuletzt dessen herausragendem or­thodoxem Charakter zuzuschreiben, der nicht nur zu himmlischem Lohn, son­dern auch zu weltlichem Erfolg verhelfe.

Bei der Agitation für ihre legitime Sache in Westeuropa und in der Hoffnung, dort philhellenische Sympathien zu wecken, versuchten auch andere Griechen, das »Griechische Projekt« zu verteidigen und die Notwendigkeit der Befreiung ihres Landes herauszustreichen. Dabei reagierten Griechen häufig auf öffentliche Äußerungen, die der Sache und den Zielen der Griechen abträglich waren. In einer solchen Antwort mit der Überschrift Schreiben aus Lembetg an den Herrn N. N. in Wien über einen in der Brünner Zeitung Nro. 27 vom ersten A pril dieses Jahres enthaltenen Artikel, die Griechen betreffend (Wien 1788), verteidigte der anonyme Autor das »Grie­chische Projekt« gegen die Anschuldigung, Joseph und Katharina seien mehr an dem Leben eines einzigen ihrer Soldaten als an dem von Millionen von Griechen interessiert! Eine solche Behauptung entbehrte nach Meinung des anonymen Autors jeder Begründving, da Katharina beschlossen habe, für die griechische Sache einen Krieg gegen das Osmanische Reich anzufangen und da Joseph be­sondere Maßnahmen ergriffen habe, um die Griechen in seinem Reich zu achten und zu schützen.® Ein anderer Grieche in Wien, Polyzois Lampanitziotis aus loannina, veröffentlichte 1792 in zwei Bänden eine komplette Geschichte der Krim, die er aus dem Italienischen übersetzt hatte und in der alle russisch-osma­nischen Knege analytisch präsentiert wurden, darunter auch die zwei Kriege wäh­rend der Herrschaft Katharinas. Positiv kommentierten überdies oft griechische Emigranten in Rußland die progriechische Politik Katharinas. Dies war im Hin-

Siehe Athanasios Th. Ph o to pOULOS, »Elenchos tou psevdotalanismou tis EUados«. Ortho­doxi apantisi sti Dytiki proklisi peri ta teU tou 18. aiona, in: Mnimosyni 11 (1988/90), S. 302-364, hier S. 345,347 f.

QlSiehe Polychronis K. EnepekIDES, Griechischer Widerstmd gegen die antigriechische Rei-

seüteratur der Aufklärungzeit, in: Balkan Studies 28 (1987), S. 87-123.

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III

blick auf die Privilegien, die ihnen die Kaiserin gewährt hatte und die zu dem Aufblühen griechischer Gemeinden in Rußland beitrugen, verständlich. Eine sol­che Dankbarkeit kann vorrangig im Fall von Evgenios Voulgaris beobachtet wer­den, der Katharina mehrere seiner Bücher widmete.®^ Aus Anlaß des Friedens von Küçük Kaynarca veröffentlichte Voulgaris am 3. August 1774 in St. Peters­burg ein kurzes Buch, das den Frieden und seine Folgen wie auch Kadiarinas Siege über das Osmanische Reich feierte. Dieses Buch wurde auch ins Russische übersetzt und erschien noch einmal in einer zweisprachigen Ausgabe 1775 in Moskau. Auch in zahlreichen Briefen an seine Landsleute brachte Voulgaris häu­fig seine Dankbarkeit gegenüber Katharina zum Ausdruck und pries das Inter­esse und die Sorge der Kaiserin für die unterdrückte griechische Nation.® Ähn­lich dankbar äußerten sich griechische Kaufleute, die sich des russischen Schutzes für ihre Handelsaktivitäten erfreuten, so Georgios Krommydis aus Epirus, der auch mit Voulgaris korrespondierte.^"^ Der schon erwähnte Psalidas veröffent­lichte 1792 in Wien einen Augenzeugenbericht von Katharinas Reise 1787 durch Nezin in die Südukraine und lobte darin auch ihr überaus großes Interesse an der griechischen Bevölkerung ihres Landes sowie ihre Zielsetzung, die Griechen von der osmanischen Herrschaft zu befreien. Alle diese Zeugnisse deuten auf ein überaus positives Bild Katharinas bei der griechischen Bevölkerung hin, die das »Griechische Projekt« nicht nur als real ansah, sondern auch mit Enthusiasmus aufnahm.

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Schließlich kam der enormen griechischen Emigration nach Rußland mit ihren vielschichtigen Auswirkungen in jener Zeit eine große Bedeutung zu. Während der Herrschaft Katharinas und vor allem nach dem ersten Russisch-Osmanischen Krieg gab es einen sich weit ausbreitenden Strom der Auswanderung der griechi­schen Bevölkerung aus dem Osmanischen Reich nicht nur nach Österreich und Ungarn, sondern auch nach Rußland. Neben den negativen Folgen der »Orlo­fika«, die eine solche Emigration erzwangen, boten die Landgewinne Rußlands in der Südukraine einen wichtigen Anreiz für einen solchen riesigen Transfer grie-

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sthenta kai simeiosesi dünekesi dievkrinisthenta, verfaßt von Evgenios Voulgaris, Bd. 1, St. Pe­tersburg 1791, S. 5-17 (Ansprache an Katharina); Adam ZoERNIKAV, Peri tis ekporevseos tou Agiou Pnevmatos ek monou tou Patros pragmateiai theologikai ennea kai deka, übers, von Ev­genios Voulgaris, Bd. 1, St. Petersburg 1797, S. 10-13 (Ansprache an Katharina).

Dazu einige bezeichnende Briefe von Voulgaris an Griechen in: Konstantinos Th. DiMA­RAS (Hrsg.), NeoeUiniki Epistolographia, Athen [1955], S. 94—98.

G[eorgios] K[R0MMYDIS], Diatrivi epi tis katastaseos tis enestosis koinis imon glossis [...],Moskau 1808, S. 76. Auf Anregung von Voulgaris hatte zudem Krommydis 1775 in Moskau eine Ode zu Ehren von Katharina anläßlich der russischen Siege über die Osmanen im Krieg von 1768-1774 verfaßt, die er an den Metropoliten Platon Levsin richtete; siehe ebenda, S. 301—304.

chischer Bevölkerung.®^ Der dritte Paragraph des Vertrages von Küçük Kaynarca sah auf der einen Seite die Autonomie der Krimtataren und die Rückgabe einiger Gebiete an sie durch die Russen vor; auf der anderen Seite aber erhielt Rußland neue Territorien, die in die Gouvernements Neurußland und Azov integriert wur­den, sowie einige stratëgische Städte wie Kerc und Enikale. Um diese Städte zu entwickeln und zu bevölkern, lud Katharina, die 1778 die Stadt Cherson gegrün­det hatte, Ausländer, darunter auch Griechen®^, ein, sich in diesen Gebieten an­zusiedeln. Eine solche Einladung hatte sicherlich eine klare politische Motivation, auch wenn man in Betracht zieht, daß diejenigen, die im Krieg in der Armee Rußlands gedient hatten, besondere Privilegien erhielten und nicht länger im Os­manischen Reich bleiben durften (vgl. einen Brief von Aleksej Orlov vom 2. Sep­tember 1774). Ein neues Dekret von Katharina (28. März 1775) gewährte allen Griechen, vor allem denen von den Ägäischen Inseln, das Recht, sich in dem neuen russischen Territorium anzusiedeln, während Rußland versprach, die nöti­ge Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und ihnen Sonderprivilegien zu gewäh­ren (Steuerfreiheit für die ersten dreißig Jahre, gleiche Rechte wie die russischen Untertanen).®^ In der Folge verließen ab 1775 Tausende von Griechen das Os­manische Reich, siedelten sich im russischen Süden an und bildeten mit insge­samt ca. 500 000 Menschen einen der stärksten Auswanderungsströme der Ge­schichte. Eine der größten griechischen Gemeinden bildete sich in Taganrog, das 1706 von Peter I. gegründet worden war, wo den Griechen 14 000 Desjatinen Land zur Kultivierung zugeteilt wurden. Die neuen vielversprechenden Bedin­gungen in diesen Gebieten bewegten auch viele Griechen aus dem Krimkhanat, die der tatarischen Herrschaft überdrüssig waren, sich für die Umsiedlung ins russische Gebiet zu bewerben. Ihre Petition wurde angenommen: Per Dekret vom 21. Mai 1779 gewährte Katharina allen Christen von der Krim dieses Recht und bot ihnen besondere Anreize, Privilegien und fruchtbares Land nahe Ekaterino- slav. Schätzungsweise 20 000 Griechen emigrierten fast sofort von der Krim nach Rußland, wo sie wichtige Gemeinden und Städte gründeten, so z. B. Mariupol’.®® Obwohl viele Griechen weiterhin aus verschiedenen Gründen auf der Krim blie­ben (1779 ca. 10 000), wurden diese Gebiete schließlich 1783 durch die Annexion

Vgl. Grigorij L. ArS, Greceskaja émigracija v Rossiju v konce XVIII - nacale XIX v., in: Sovetskaja Etnografija 1969, Nr, 3, S. 85-94, hier S. 85 f.; Andreas BODE, Albaner und Grie­chen als Kolonisten in Neurußland, in: Beiträge zur Kenntnis Südosteuropas und des Nahen Orients 16 (1975), S. 29-35; Vasilis K a r d a sis , O Ellinismos tou Evxeinou Pontou, Athen [1997]; ders-, Ellines omogeneis sti Notia Rossia 1775-1861, Athen 1998, besonders S. 41-76; loannis K. C h asio tis (Hrsg.), Oi EUines tis Rossias kai tis Sovietikis Enosis, Thessaloniki 1997, S. 55-73.

Siehe Roger B a r t l e t t , Human Capital. The Setdement of Foreigners in Russia 1762-1804, Cambridge 1979, S. 130; aus der früheren Literatur siehe S. S a f o n o v , Ostatki greceskich legio- nov V Rossü ili nynesnee naselenie, in: Zapiski Odesskogo Obscestva Istorii i Drevnostej 1 (Odessa 1844), S. 205-236.

Siehe A r§, Greceskaja émigracija, S. 86 f.Siehe Viron K ar id is, The Mariupol Greeks: Tsarist Treatment o f an Ethnie Minority ca.

1778-1859, in: Journal of Modern HeUenism 3 (1986), S. 57-74.

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des Krimkhanats in das Russische Reich integriert. Daher kehrten manche Krim­griechen wieder an ihre früheren Wohnorte zurück, so nach Kaffa und Simfe- ropol’. Dieser gewaltige griechische Exodus, zusammen mit der Auswanderung nach Österreich, Ungarn und in die Donaufürstentümer, hatte natürKch äußerst negative Folgen für die Land- und Inselbevölkerung im Osmanischen Reich. Al­lerdings verlangsamte sich die griechische Auswanderung von den Inseln zu einem gewissen Grad durch einige Gegenmaßnahmen der Hohen Pforte und durch die neuen Möglichkeiten, die der Handel zwischen Ost und West in der Ägäis er­öffnete.

Besondere Erwähnung verdient, daß der Generalgouverneur von Neurußland,Fürst Potemkin, der dort für die Ansiedlung von Ausländern verantwortlich war und diese initiierte, die griechischen Einwanderer in ihren ersten schweren Jahren stark unterstützte. Im August 1776 lud er sie ein, sich in Taganrog anzusiedeln, das er in eine Militärkolonie umwandeln und »Sparta« nennen wollte.® Sein Ruf als PhilheUene und seine enge Verbindung mit dem »Griechischen Projekt« wa­ren den Griechen damals bekannt, so daß ihm griechische Intellektuelle und Kle­riker Bücher, Oden und Epigramme^^ als Zeichen der Freundschaft und Dank­barkeit widmeten. Einige führende Griechen priesen ihn überschwenglich als den wahren Verteidiger und Schutzherrn der griechischen Nation, da es hieß, daß Potemkin die Griechen mehr als alle anderen Völker liebe. Außerdem widmeten zwei wichtige griechische Intellektuelle und Kleriker vom Peliongebirge in Thes­salien, Daniel Philippidis und Grigorios Konstantas, Potemkin ihr Geographie­buch Geographia Neoteriki [...], das 1791 in Wien erschien. Die Widmung war zweisprachig, griechisch und französisch, und begann wie folgt: »A son Altesse sé- rénissime Monseigneur Le Prince Grégoire Potémkin Généralissime des armées de sa majesté l ’impératrice de toutes les 'Kussies (& c. <& c. <& c.«. Ähnlich widmete Polyzois Lampa­nitziotis Potemkin seine Ausgabe der gesammelten Werke von Makarios, dem Erzbischof von Thessaloniki, die gleichfalls 1791 in Wien veröffentlicht wurde.Nichtsdestotrotz ersetzte er nach Potemkins Tod im Jahre 1791 die vier Blätter der Widmung und Anrede an Potemkin durch eine neue Widmung an den Patri­archen von Konstantinopel Neophytos. Im Rahmen seiner philhellenischen Tä­tigkeit und seines Interesses für die griechischen Antike erwarb Potemkin auch die Bibliotheken von Griechen, so von Voulgaris und dem ehemaligen Patriar­chen Serapheim IL, mit dem Ziel, eine bedeutende Bibliothek für eine Akademie ,, oder Universität in der Südukraine aufzubauen.^^

Die Annexion weiterer Gebiete in der Südukraine nach dem zweiten Russisch- * ;Osmanischen Krieg begünstigte einen zweiten umfangreichen griechischen Ein­wanderungsstrom in diese Regionen, die besonders ' reich und fruchtbar waren und große wirtschafdiche Möglichkeiten boten. Die Entwicklung des Südens wur-

110 Vasilios N. Makrides

■Ï:Siehe A rs, Greceskaja emigracija, S. 87; BATALDEN, Catherine, S. 69. f

on Siehe ein solches Epigramm des Metropoliten von Palaias Patras, Parthenios, in: Z a v ir a s ,Nea EUas, S. 511.

Siehe BATALDEN, Catherine, S. 74-76.

de zu einem wichtigen Ziel für das Russische Reich, beginnend mit ihrer syste­matischen Besiedlung und der Gründung der neuen Stadt Odessa per Dekret vom 27. Mai 1794. Seit der Inaugurationszeremonie am 22. August 1 7 9 4 ^ erlebte Odessa eine beispiellose Entwicklxing. Die neue Stadt zog sofort eine große An­zahl von Griechen aus dem Osmanischen Reich wie auch aus anderen Teilen Südrußlands an und wurde schnell zu einem bedeutenden griechischen Zentrum. In einem Dekret vom 19. April 1795 bot Katharina Griechen, die in der rus­sischen Armee gedient hatten, freies Land und finanzielle Unterstützung an; Grie­chen aus der Ägäis wurden mit ähnlichen Privilegien eingeladen. Das Aufblühen von Odessa, an dem griechische Seeleute, Kaufleute und Bankiers maßgeblichen Anteü hatten, ging so rasch vor sich, daß Katharina beschloß, ein Rathaus in der Stadt zu errichten, die dann kn Laufe des 19. Jahrhunderts eine beeindruckende Entwicklung erlebte.^^ Nichtsdestotrotz ist es sicherlich übertrieben, Odessa als überwiegend »griechische Stadt« anzusehen, blieb doch die Anzahl der Griechen dort immer begrenzt. Allerdings verliehen deren vielschichtige Aktivitäten der griechischen Gemeinde in der Stadt Ansehen und Einfluß. '^

Neben der griechischen Präsenz in dem neu gewonnenen russischen Territo­rium ist zu erwähnen, daß es auch in anderen Städten Rußlands bedeutende grie­chische Gemeinden gab, so ki Moskau, St. Petersburg und Nezin, das schon im 17. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum für die griechische Emigration geworden war.^^ Katharina sorgte sich nicht zuletzt um die Ausbildung junger Griechen in der Absicht, sie in russischen Diensten im Rahmen ihrer Politik in der Levante zu

Siehe Patricia Herlihy, Odessa. A History, 1794—1914, Cambridge, Mass., 1986, S. 3-20.Aus der umfangreichen Literatur siehe Patricia H erlih y , Greek Merchants in Odessa in

the Nineteenth Century, in: Harvard Ukrainian Studies 3—4 (1979/80), S. 399-420; dies., The Greek Community in Odessa, 1861-1917, in: Journal of Modern Greek Studies 7 (1989), S. 235- 251; Viron K ar id is, A Greek Mercantile Paroikia: Odessa 1774-1829, in: Richard Cl o g g (Hrsg.), Balkan Society in the Age of Greek Independence, London 1981, S. 111-136; Jean NlCOLOPOU- LOS, Correspondance commerciale d’Odessa. Quelques renseignements sur l’activité des Grecs en Russie méridionale en XIX siècle, in: O Eranistis 17 (1981), S. 224-235; Konstantinos K. PA­POULIDIS, I ekpaidevtiki kai politistiki drastiriotita ton EUinon tis Odissou to 19. kai 20. aiona, in: Diakonia. Aphieroma sti Mnimi Vasileiou Stojannou, Thessaloniki 1988, S. 645-658; Kostas G. A v g it id is , Oi Ellines tis Odissou kai i Epanastasi tou 1821. Aphieroma sta 200 chronia apo tin idrysi tis Odissou (1794—1994), Athen/Ioannina 1994; siehe auch verschiedene Artikel in: Mou- seio tis Philikis Etaireias. Odissos. Istorika - Katalogos, Idryma Ellinikou Politismou, Athen 1994; Maria K a r a v ia , Odissos - I lismonimeni patrida (Chroniko-photographiko levkoma), Athen 1998; K a r d a sis , Ellines omogeneis, S. 76-96.

Siehe H erlih y , Odessa, S. 92 f., 125-127, 258 f ; siehe auch dies., The Ethnie Composition of the City of Odessa in the Nineteenth Century, in; Harvard Ukrainian Studies 1 (1977), 53-78.

Siehe Sokratis A n g e u d iS, Istoria ton Eilinon tis Nezhin Oukranias, Thessaloniki 1996; Christos S. L a s k a r id is , T o katastatiko tis eUinikis emporikis koinotitas sti Nizna tis Oukranias, loannina 1997; vgl. auch Konstantinos K. PAPOULIDIS, Ellinooukranikes poKtistikes scheseis, in: Valkanika Symmeikta 9 (1997), S. 321-333, besonders S. 328-333; Alexander PiLIPENKO, The Nezhin Greek Brotherhood in the XVII-XIX Centuries (Ukraine), in: A. A r g y r io u u . a. (Hrsg.), Praktika tou I. Evropaikou Synedriou Neoellinikon Spoudon, BerUn, 2-4 Oktovtiou 1998: »O El- linikos Kosmos anamesa stin Anatoli kai ti Dysi 1453-1981«, Bd. 2, Athen 1999, S. 45-50.

Orthodoxie und Politik 111

benutzen. Neben der Formierung von einigen besonderen griechischen militä­rischen Einheiten, wie dem griechischen Balaklava-Infanterie-Regiment auf der Krim und der Odessaer Griechischen Abteilung^^, gründete Kadiarina 1775 in St. Petersburg, das damals eine weitverbreitete »Graekomanie« erlebte^" , ein grie­chisches Gymnasium oder ein »Kadettenkorps für ausländische Glaubensgenos­sen« (J^detskij Korpus älja cu^strannjch edinovercei)^^ Sein Lehrplan umfaßte eine breite Palette von Fächern, einschließlich Geschichte, Madiematik, Geographie und verschiedenen Fremdsprachen. Nach Beendigung des Gymnasiums konnten die Schüler ihre Ausbildung an den militärischen Lehranstalten fortsetzen. Später wurde das Gymnasium jedoch selbst ia eine Militärschule umgewandelt, von der einige griechische Absolventen höchste Dienstgrade in der russischen Armee er­reichten. Ziel des Lehrplans war die Ausbildung nicht allein von Armeeoffizieren, sondern auch von Diplomaten, die in den russischen Konsulaten im Ausland ein­gesetzt werden konnten, um dort die Interessen Rioßlands zu fördern.

Abgesehen von der erwähnten hochgebildeten griechischen Intelligenz be­schränkten sich auch die Aktivitäten der übrigen Angehörigen der griechischen Gemeinden in Rußland keineswegs nur auf den Handel.^^ Vielmehr erstreckten sie sich auch auf Kultur, Büdung und Verlagswesen. Zum Beispiel wurden in Rußland Bücher in griechischer Sprache gedruckt, wie das Orthodoxe Glaubens­bekenntnis von Georgios Konstantinos aus loannina (St. Petersburg 1764) und ein Buch von Anastasios Michail aus Phüippoupolis über die vorchristlichen sla­wischen Gottheiten, die Christianisiemng Rußlands und die Geschichte der rus­sischen Kirche (Moskau 1796). Eine der wichtigsten KaufmannsfamiUen waren die Brüder Zosimades aus Epirus, die sich in Nezin niedergelassen hatten und später nach Moskau übersiedelten. Ihre Handelstätigkeit verschaffte ihnen be­trächtlichen Reichtum, den sie auch für philanthropische und kulturelle Zwecke einsetzten, wie zahlreiche Belege aus ihrer Korrespondenz zeigen.^®® Unter ande­rem unterstützten sie mehrere griechische Schulen, vergaben Stipendien an grie­chische Studenten und finanzierten die Veröffentlichung von Büchern von Ev­genios Voulgaris, Nikiphoros Theotokis und anderen. Die Existenz von so ein-

Siehe Pa p p a s , Greeks, S. 78-84.Siehe Stoian T r o ia n o v ic h , Russian Domination in the Balkans, in: T. H u n C2:a k (Hrsg.),

Russian Imperialism from Ivan the Great to the Revolution, New Brunswick, N.J., 1974, S. 198- 238, hier S. 212.

Siehe B a t a l d e n , Catherine, S. 30 f.; Pa p p a s , Greeks, S. 84-86.Für die Handelsaktivitäten der Griechen in Rußland siehe KARDASIS, Ellines omogeneis,

S. 97-278; siehe Vasilis KOUOS, Synetairismos dyo EUinon gia emporio me tim Petroupoli (Sym- phonitiko kai logariasmoi. 1779—1780), in: Thisavrismata 18 (1981), S. 325—335. Es gibt auch einen Hinweis auf Antonios Koukis, einen griechischen Kaufmann in St. Petersburg 1779, der mit Griechen in Holland Handel trieb. So B. J. SLOT, O Dimitrios Kourmoulis kai to diethnes em- porion ton EUinon kata ta eti 1770-1784, in: Mnimosyni 5 (1974/75), S. 117-149, hier S. 142.

Siehe D im arAS (Hrsg.), NeoeUiniki epistolographia, S. 113-120; vgl. auch Stephanos B e t- TIS, Oi Zosimades kai i symvoli tous sti NeoeUiniki Anagennisi (1 zoi kai to ergo tous), loannina 1990.

112 Vasilios N. Makrides

I*

flußreichen griechischen Gemeinden in Rußland und ihre mannigfachen Aktivi­täten machten die Kenntnis der russischen Sprache notwendig. Eine erste Hilfe­stellung hierfür war das russisch-griechische Wörterbuch von Methodios, das 1795 in Moskau erschien und einen Empfehlungsbrief des Erzbischofs Nikipho­ros Theotokis in griechischer Sprache im Vorwort enthielt. Der oben erwähnte Anastasios Michail veröffentlichte 1796 eine Grammatik der russischen Sprache, die ausdrücklich der griechischen Gemeinde, die in Moskau Handel trieb, gewid­met war.

Neben den schon erwähnten befanden sich damals noch weitere bedeutende griechische Persönlichkeiten in Rußland.^® Zum Beispiel schrieb Andreas Soug- douris aus loannina, der nach St. Petersburg ausgewandert war, eine Hymne im homerischen Versmaß, die der Göttin Athene gewidmet war, aber auch auf Ka­tharina anspielte. Wegen seiner militärischen Kenntnisse und Fähigkeiten lud ihn Potemkin in den Süden eki, wo er geehrt wurde und entscheidend zu einigen militärischen Operationen beitmg.^® Antonios Paladoklis aus Mytüim wurde spä­ter zum Konsul für den russischen Handel in Dalmatien ernannt. 1771 veröf­fentlichte er in St. Petersburg zu Ehren von Katharina und Aleksej Orlov meh­rere Gedichte und Oden im altgriechischen Versmaß sowie 1775 ein weiteres poetisches Werk in griechischer und russischer Sprache mit dem Titel Kalliopi mit Bezugnahme auf die glorreichen Siege der Russen über die Osmanen im Krieg zwischen 1768 und 1774. * Georgios Baldanis, Absolvent des Griechisch-russi­schen Gymnasiums in St. Petersburg, verfaßte eine Ode auf Katharina als die Beschützerin der griechischen Nation, übersetzte sie ins Russische und veröf­fentlichte diese zweisprachige Ausgabe 1779 im Verlag der Petersburger Aka­demie der Wissenschaften. Überdies schrieb er zwei weitere Oden in griechischer und russischer Sprache aus Anlaß der Geburt von Katharinas zweitem Enkel Konstantin 1779. " Auch darin lassen sich beispielhaft die Erwartungen und die Hoffnungen von Griechen erkennen, die letztlich im »Griechischen Projekt« Ka­tharinas und ihrer Umgebung Resonanz fanden.

Hervorzuheben sind jedoch vor allem die beiden berühmtesten Griechen im Rußland jener Zeit, Evgenios Voulgaris und Nikiphoros Theotokis, die auch eine echte jahrzehntelange Freundschaft verband. Voulgaris war noch in Leipzig, als er durch eine Intervention von Graf Vasilij Orlov nach Rußland eingeladen wur­de. Trotz einiger anfänglicher Bedenken akzeptierte Voulgaris schließlich die Pa­tronage Katharinas, die ihm ein anfängliches Unterhaltsgeld von jährlich 1 500 Ru­bel und zusätzlich 1 000 Rubel für Umzugskosten anbot. Voulgaris kam um den

Zu den griechischen Intellektuellen und bedeutenden Kaufleuten in Rußland nicht nur zur Zeit Katharinas, sondern in einem längeren Zeitraum vgl. Grigorij L. A rS, Ellines dianoou- menoi- emporoi evergetes tis edinlkis paideias sti Rosia ( 1 8 - 1 9 aiones), in: Hellas - Russia. One Thousand Years of Bonds, Athen 1994, S. 167-212.

02 Siehe Z a v ir a s , Nea EUas, S. 197 f.Siehe BACMEISTER, Russische Bibliothek, S. 477-483; ZAVIRAS, Nea EUas, S. 504 f.Dazu B a c m e ist e r , Russische Bibliothek, S. 364-368; Z a v ir AS, Nea EUas, S. 459 f.

Orthodoxie und Politik 113

14. Juli 1771 in St. Petersburg an. Er wurde Katharina am 27. Juli 1771 vor­gestellt, wobei er in einer kurzen Ansprache seine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. Batalden hat Recht in der Annahme, daß die Einladung an Voulgaris, nach Rußland zu kommen, mit zwei grundlegenden Einstellungen von Kathari­nas Rußland zusammenhing: einerseits mit dem allgemein wachsenden Interesse am griechischen Altertum und andererseits mit den Versuchen Rußlands, im Krieg gegen das Osmanische Reich von 1768-1774 Kontakte mit der einheimischen griechischen Führungselite anzuknüpfen. Voulgaris eignete sich für beide Zwecke hervorragend und konnte als ein Symbol dienen. Nach dem Ende des Krieges wurde er 1775 zum Erzbischof der neugegründeten russisch-orthodoxen Diözese von Cherson und Slavjansk in Neurußland an der neuen strategischen Grenze ernannt. Diese Wahl war kaum zufällig, zieht man sowohl die verbesserten Chan­cen für die Präsenz Rußlands in der Levante als auch die Tatsache in Betracht, daß Oberhaupt der Region Potemkin war, der sich bei seinen Stodien an der Slawisch-Griechisch-Lateinischen Akademie in Moskau der engen Verbindungen Rußlands mit den orthodoxen Balkanvölkern bewußt geworden war. Voulgaris’ Aktivitäten in Poltava, dem Sitz der Diözese, umfaßten rein religiöse Aufgaben wie auch den Bildungsbereich, so z. B. den Aufbau eines Priesterseminars. Nach­dem er in den Ruhestand getreten war, blieb er zunächst zwei weitere Jahre in der Region. Dann zog er wegen der zusätzlichen Probleme, die durch den Exodus der griechischen Bewohner der Krim nach Taganrog und an das Nordufer des Azovschen Meeres verursacht wurden, nach Cherson um. Ende 1788 kehrte Voulgaris nach St. Petersburg zurück, wo er die letzten Jahre bis zu seinem Tod im Jahre 1806 verbrachte. Neben seinen wissenschaftlichen und intellektuellen Aktivitäten verfolgte er intensiv die politische Entwicklung und Rußlands Rolle auf dem Balkan. Wahrscheinlich kannte er das »Griechische Projekt«; er war auch an der griechischen Erziehung des Großfürsten Konstantin beteiligt, für den er 1793 auf Katharinas Bitte hin ihre Anweisungen ß i r die richtige Erhebung der Groß­

fürsten Aleksandr und Konstantin ins Griechische übersetzte. Voulgaris übersetzte auch die berühmte Abhandlung von Jean Benigne Bossuet Politique tirée de propres paroles de l ’Ecriture Sainte à monseigneur le dauphin aus dem Französischen ins Grie­chische und widmete sie 1790 Konstantin Pavlovic.^^^ Dies sind nur einige der zahlreichen Beispiele, die das Engagement von Voülgaris im Rahmen der rus­sischen Politik seiner Zeit zeigen.

Im gleichen Bereich war auch Voulgaris’ Nachfolger, Nikiphoros Theotokis, russ. Feotokij (1731-1800), überaus aktiv und erfolgreich.^®^ Theotokis, ein be­deutender Kleriker, Theologe und Wissenschaftler aus einer korfiotischen Fami-, lie, ließ sich 1775 in Rußland nieder, nachdem ihn Voulgaris in seine Diözese in

Siehe allgemein BATALDEN, Cadierine, S. 22 f., 34, 39—74, 79—91. Auch andere Bücher in griechischer Sprache wurden Konstantin Pavlovic zu jener Zeit gewidmet. Dazu iLlOU, Elliniki VivUographia, S. 38 (1802.27).

Siehe B r u e ss, Religion, passim; ders., Crossing Boundaries: Nikiforos Theotokis in the Russia o f Catherine II, in: Modem Greek Studies Yearbook 9 (1993), S. 51—73.

114 Vasilios N. Makrides

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Poltava eingeladen hatte. Dort wurde Theotokis ein Mitglied des erzbischöflichen Rates und unterrichtete am Priesterseminar. Nach seiner Ordination zum Erz­bischof in St. Petersbxirg am 6. August 1779 wurde er Nachfolger von Voulgaris als Erzbischof von Slavjansk und Cherson. Dort konzentrierte sich seine Tätig­keit sowohl auf die griechischen Gemeinden als auch auf die Probleme mit den Altgläubigen und ihre Versöhnung mit der russisch-orthodoxen Kirche; zu die­sem Zweck schrieb er mehrere Werke. Erwähnenswert ist, daß Theotokis eine bedeutende Rolle bei Kadiarinas Versuchen spielte, das Schisma der Altgläubigen zu überwinden. Dabei propagierte er den »einen Glauben« (Edinoverie) und er­laubte den Altgläubigen, das vornikonische Ritual beizubehalten, sofern sie die russisch-orthodoxe Kirche als die eine wahre, katholische und apostolische Kir­che Christi anerkannten. Diese neue Politik der Adaption, die auf Theotokis’ ökumenisches Verständnis der Orthodoxie und auf seine Kenntnis ihrer lokalen Eigentümlichkeiten zurückzuführen ist, wurde auch durch Potemkin auf der Krim unterstützt, war in manchen Fällen erfolgreich und wurde später vom russischen Staat und vom Synod offiziell als die am besten geeignete anerkannt. Am 28. No­vember 1786 wurde Theotokis in die Erzdiözese von Astrachan’ und Stavropol’ versetzt, wo er seine frühere Missionstätigkeit fortsetzte und wo er bis zum 16. April 1792 blieb. * Danach setzte er sich im Danilov-Kloster in Moskau zur Ruhe, wo er noch einige seiner Bücher verfaßte. Er starb ebenda am 31. Mai 1800. ®® Wie Voulgaris war Theotokis eine bedeutende Persönlichkeit, die für engere Verbindungen zwischen Griechen und Russen durch Vermitdung der or­thodoxen Kirche eingesetzt werden konnte. Bei seiner Ansprache nach seiner Wahl zum Erzbischof am 6. August 1779 hielt er eine meisterliche Eloge auf Katharinas Leistungen, ihre Wohltaten für die Griechen und insbesondere auf ihr Wohlwollen gegenüber seiner Person. Bemerkenswert ist, daß Theotokis die Stär­ke des Russischen Reiches in einer grundsätzlich byzantinischen Denkweise er­klärte, als er eine harmonische Symbiose und Zusammenarbeit zwischen einem frommen politischen Oberhaupt und einer wahrhaft orthodoxen Kirche am Wer­ke sah, eine Verbindung, die Gottes Gunst und Hüfe für solch einen idealen Staat bewirken werde. Übrigens bezog sich auch Theotokis offensichtlich auf den grie­chischen Namen von Katharinas Enkel, Konstantin, im Einklang mit den Hoff­nungen der Griechen auf ihre Erlösung aus der osmanischen Herrschaft und mit den entsprechenden apokalyptischen Schriften.^® Nicht zuletzt deutet dieser Kon­text daraufhin, daß auch er selbst das »Griechische Projekt« kannte.

107 Ygj ßRugss, Religion, S. 134-208; Igor S m o litsch , Geschichte der russischen Kirche, Bd. 2, hrsg. von Gregory L. Freeze, Wiesbaden 1991, S. 170 195.

Siehe B r u e ss , Religion, S. 209-219.1 no

Diese Rede wurde 1779 in griechischer, russischer und französischer Sprache in St. Pe­tersburg veröffentlicht und später durch BACMEISTER, Russische Bibliothek, S. 359-362, nach­gedruckt. Als angeblich »unediert« veröffentlichte sie neuerdings Robert Benedicty, Eine un- edierte Rede von Nikephoros, Metropolit von Cherson, in: Johannes IRMSCHER/Marika Mineemi (Hrsg.), O Ellinismos eis to exoterikon. Über Beziehungen des Griechentums zum Ausland in der neueren Zeit, Berlin 1968, S. 289-295.

Orthodoxie und Politik 115

Beurteilt man die hier skizzierte Politik Rußlands im ganzen, so ist vorrangig festzustellen, daß Katharinas Unterstützung für die massenhafte Emigration auch der Griechen darauf abzielte, die Bevölkerung zu vergrößern und die neuerwor­benen Gebiete zu entwickeln” ®, was für Rußlands weitere Interessen in der Re- ; gion unabdingbar war.^^ Der Hauptgrund für diese Unterstützung war also stra­tegischer und wirtschaftlicher Namr im Rahmen der Bestrebungen Rußlands, die J nördliche Küstenregion des Schwarzen Meeres zu kontrollieren. Katharinas Zie­le, die Potemkin in die Tat umzusetzen suchte, beschränkten sich jedoch nicht i auf die demographischen und wirtschaftlichen Aspekte, sondern müssen auch im Zusammenhang mit dem »Griechischen Projekt« und der Politik einer Stabili- f sierung der Präsenz Rußlands im Süden der Ukraine und auf dem Schwarzen 4 Meer gesehen werden: Die Annexion und die Erschließung des Südens sollten . 1 die Basis für eine langfristig geplante Strategie gegen das Osmanische Reich | schaffen. Insofern spielten diese russischen Pläne eine wichtige Rolle für die Er- weckung der griechischen Bevölkerung in Rußland und trugen wesentlich zum |l Unabhängigkeitskrieg von 1821 bei.^^^

Vasilios N. Makrides

IV1

Wie dieser ÜberbHck über die russisch-griechischen Beziehungen im Zeitalter Katharinas II. zeigt, kann kein Zweifel bestehen, daß es eine entscheidende Pe­riode in der Geschichte beider Völker war. Ein zentrales Leitmotiv für die rus­sische Politik unter der Regierung Katharinas war, in den Worten von Hamish M.Scott, »die Transformation der Stellung Rußlands in der kontinentalen Politik und seine vollständige Etablierung als bedeutender europäischer Staat«.^^^ Tat­sächlich konsolidierte das Russische Reich in jener Zeit seine Expansionspolitik in Richtung Süden. Erstens gelang es ihm, sich in der Südukraine neue Gebiete 1anzueignen und seine Macht im Schwarzmeerraum zu stabilisieren. Zweitens |gewann Rußland aus den beiden Kriegen gegen seinen Rivalen, das Osmanische SReich, beträchtliche Vorteile, darunter auch die Unterstützung und das Engage­ment der Griechen für seine Interessen sowohl im Schwarzen Meer als auch im Mittekneer. Diese Entwicklung etablierte Rußland nicht nur als eine bedeutende europäische Macht, die die Vormachtstellung Englands und Frankreichs in der Levante herausforderte. Vielmehr errichtete Rußland gleichzeitig auch durch die

Siehe B a r t l e t t , Human Capital, S. 230.111 Vgl. Alan Fisher, Sources and Perspectives for the Study of Ottoman-Russian Relations in

the Black Sea Area, in; International Journal ofTurkish Studies 1 (1980), S. 77-84.112 Vgl. die nützliche Übersicht von Theophilus C. P rOüSIS, The Greeks o f Russia and the

Greek Awakening, 1774-1821, in; Balkan Studies 28 (1987), S. 259-280.11 Hamish M. ScOTT, Russia as a European Power, in; Roger BARTLETT/Janet M. HARTLEY

(Hrsg.), Russia in the Age o f the Enlightenment. Essays for Isabel de Madariaga, London 1990,S. 7-39, hier S. 7. -4

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Vermitdung von Griechen seine Präsenz als Wirtschafts- und Handelsmacht im Mittelmeerraum und forderte insbesondere die englische und französische öko­nomische Hegemonie heraus, eine Situation, die mit dem beginnenden 19. Jahr­hundert offener zu Tage trat. Überdies setzte Rußland seit Katharinas Zeit seine aktive Intervention in die innere Entwicklxong des Osmanischen Reiches und der benachbarten Gebiete, zum Beispiel Bessarabiens,

Auf der anderen Seite waren die beiden Russisch-Osmanischen Kriege für die Griechen klare Signale in ihrem Kampf um ihre erstrebte und möglicherweise nahe Unabhängigkeit, obwohl dieses Ziel während der Herrschaft Katharinas nicht verwirklicht wurde. Trotz mancher Enttäuschung und Unzufriedenheit über die russische Politik bekundeten die Verträge von Küçük Kaynarca und Jassy ein leb­haftes Interesse Rußlands an der griechisch-orthodoxen Bevölkerung im Osma­nischen Reich. Daneben übte die vorher weitverbreitete Tradition der Orakel über eine Hilfe der Russen beim Sturz der Osmanenherrschaft bis zum Ausbruch des griechischen Unabhängigkeitskrieges noch einen starken Einfluß auf die öf­fentliche Meinung aus.^^ Überdies trug die umfassende Unterstützung der ge­waltigen griechischen Emigration nach Rußland und insbesondere in die neuer­worbenen Territorien zum Aufblühen der dortigen griechischen Diaspora bei, die eine enge Verbindung zu den Landsleuten im Osmanischen Reich aufrechterhielt und diese ihrerseits sowohl kulturell wie im Bildungsbereich als auch politisch und finanziell unterstützte. Wichtiger noch: Die Griechen in Rußland neigten eher zu revolutionären Plänen als ihre Landsleute in Mitteleuropa. Das gemein­same orthodoxe Band zwischen Russen und Griechen und das gemeinsame In­teresse gegen einen nichtchristlichen Feind boten einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung solcher revolutionärer Aktivitäten. Der Anstoß der Französischen Revolution für solche Tendenzen in ganz Europa förderte, trotz der Gegenreak­tion der europäischen Monarchien, auch erheblich die Herausbildung revolu­tionärer Emotionen der Griechen in Rußland und auf dem Balkan, eine Tatsache, die in der russischen Politik nicht unbemerkt blieb, Da Rußland griechische revolutionäre Gesellschaften auf seinem Territorium im allgemeinen duldete, war es kein Zufall, daß die erste revolutionäre Gesellschaft, die das Ziel hatte, einen allgemeinen griechischen Aufstand zu organisieren, 1814 in Odessa von drei Griechen unter dem Namen »Philüd Etaireia« gegründet wurde. Einige, Jahre später zog Alexander Ypsilantis (1792—1828), ein verdienter Offizier der russi­schen Armee, von dieser Region aus in die Donaufürstentümer. Zwar blieb sei-

Orthodoxie vind Politik 117

Siehe George F. JEWSBURY, The Russian Annexation of Bessarabia, 1774-1828: A Study of Imperial Expansion, Boulder, Colorado, 1976.

115 Ygj Zeugnis von Robert Walsh, dem Kaplan der britischen Gesandtschaft in Kon­stantinopel, in; C l o g g , The Byzantine Legacy, S. 259.

Siehe G. L. Arch [Ars], L’influence de la Révolution Française dans les Balkans (d’après les documents des Archives de politique extérieure de la Russie), in: Études Balkaniques 27 (1991), S. 34-39.

ner Revolte gegen das Osmanische Reich der Erfolg versagt, doch zog sie den Ausbruch des griechischen Unabhängigkeitskrieges nach sich.!!”

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Orthodoxie als gemein­sames Element von Russen und Griechen bei der Definition der russisch-grie­chischen Beziehungen in der Ära Kadiarinas von großer Bedeutong war. Ein­deutig wurde die Orthodoxie in dieser Zeit als ein Machtinstrument für Einfluß und Politik benutzt.! Was die Religion im allgemeinen und die Orthodoxie im besonderen betrifft, so ist es richtig, daß »Kadiarina eine perfekte Pragmatikerin war. Sie erkannte deutlich die Nützlichkeit der Religion als einer Kraft, die Loyalität und Gehorsam unter der Bevölkerung fördern konnte und war sich der Gefahren der Beleidigung von religiösen Empfindlichkeiten bewußt, sogar dahin­gehend, daß sie kleinliche religiöse Vorurteile to lerierte«.!Z w eifellos war das Russische Reich multikultorell und huldigten seine Untertanen einer Vielzahl von Religionen, aber trotz Katharinas toleranter und pragmatischer Einstellung gegen­über anderen Religionen erlaubte der offizielle orthodoxe Charakter des Staates zu einem beträchtlichen Grad keine Freiheit und gleiche Rechte für alle religiösen Minderheiten. Nichtsdestotrotz bedeutete das orthodoxe Band zwischen den Russen und den Balkanvölkern keine vollständige Übereinstimmung ihrer Inter­essen und Pläne, wie dies größere Konflikte und Uneinigkeiten im Verlauf des 19. Jahrhunderts deutlich zeigten, so zum Beispiel die Auseinandersetzungen um das bulgarische Exarchat und der Panslawismus. Daher wurde Rußland von den ebenfalls orthodoxen Staaten auf dem Balkan beschuldigt, ein gefährlicher Un­terdrücker zu sein und sich von egoistischen Motiven leiten zu lassen.l^® Doch trotz dieser späteren Entwicklungen und Probleme ist es auch wahr, daß der or­thodoxe Faktor, zusammen mit anderen Parametern, die aktive russische Präsenz und das starke Engagement im Balkan im allgemeinen erleichterte. Katharinas Regierungszeit kann jedenfalls als die entscheidende Vorlaufphase für die fol-

118 Vasilios N. Makrides

4 -f yDazu allgemein Theophilus C. P r o u sis, Russian Society and the Greek Revolution, De

Kalb, III. 1994.Yg] priedrich H e y e r , Russisch-orthodoxe Einwirkung auf die Orthodoxie der sich eman­

zipierenden Nationen Südosteuropas, in; K. C. F e lm y u . a. (Hrsg.), Tausend Jahre Christentum in Rußland. Zum Millennium der Taufe der Kiever Rus’, Göttingen 1988, S. 819-830.

11^ K u e r , Catherine II, S. 73; vgl. Aleksandr S. M yl ’NIKOV, The Transformation of Reality, in; Russian Smdies in History 33 (1995), No. 4, S. 17-34, besonders S. 24, 32 Erich Br yn e r ,»Respecter la religion, mais ne la faire entrer pour rien dans les affaires d’état«. Die Orthodoxe Kirche als staatstragendes Element unter Katharina II., in; Eckhard HÜBNER/Jan KUSBER/Peter N itsch e (Hrsg.), Russland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus - Aufklärung - Pragmatismus, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 151-167. ' '£

120 Ygl. die kritischen Bemerkungen von Barbara JELAVICH, Tsarist Russia and Balkan Na- itional Liberation Movements; A Smdy in Great-Power Mythology, in; R. SUSSEX/J. C. E a d e (Hrsg.), Culture and Nationalism in Nineteenth-Century Eastem Europe, Columbus, Ohio 1985,S. 56-66, die über die »Undankbarkeit« der Balkanstaaten gegenüber Rußland spricht und die der Meinung ist, daß die Gewinne aus dem russischen Engagement den viel höheren Kosten nicht entsprachen.

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genden radikalen Umwälzungen in Südostexiropa im Prozeß des allmählichen Niedergangs des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert angesehen werden.^^^

Orthodoxie und Politik 119

Zu den russisch-griechischen Beziehungen besonders im 19. Jahrhvmdert vgl. Les rela­tions entre les peuples de l’URSS et les Grecs. Fin du XVIII'"’« - début du XX''"« siècle. Troi­sième colloque organisé à Thessalonique et Ouranoupolis, Halkidiki (24-27 mai 1989) par l’In- stitut d’Etudes Balkaniques de Thessalonique et l’institut d’Études Slaves et Balkaniques de l’Académie des Sciences de l’URSS (Institute for Balkan Studies 229), Thessaloniki 1992; vgl. auch Athanassios E. K a r a t h a n a ssis , O ellinikos kosmos sta Valkania kai tin Rossia, Thessa­loniki 1999, S. 373-393.