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Perspektive und StrukturEine emergenztheoretische Betrachtung der Strukturontologie
(et vice versa)
Heidegger und das ostasiatische Denken
Univ.--Prof. Dr. Georg Stenger
Oliver Meschnig
Matrikelnummer: 0307020
InhaltsverzeichnisEinleitung.............................................................................................................................................2Positionen interkultureller Philosophie................................................................................................2
Hegel und der Eurozentrismus.........................................................................................................5Hermeneutik der Kulturen...............................................................................................................8Orthafte Ortlosigkeit......................................................................................................................10Zivilisation als Übel.......................................................................................................................12
Ein phänomenologischer Beitrag.......................................................................................................14Was ist Emergenz?..............................................................................................................................20
Gemeinsamkeiten der Emergenzbegriffe.......................................................................................26Emergente Strukturontologie?.......................................................................................................28Ein Beispiel....................................................................................................................................32
Conlusio..............................................................................................................................................33Literaturverzeichnis............................................................................................................................35
Einleitung
Die interkulturelle Philosophie hat in den letzten Jahrzehnten, seit ihrem Aufkommen in
den 80ern, verschiedenste Einflüsse, Ansätze und Interpretationen erlebt. Auf die
wichtigsten soll in Folge eingegangen werden. Die zentralen Kritikpunkte der
Diskriminierung anderen Denkens, des Aufwertens der eigenen Philosophie und der
Vorwurf der allgemeinen Blindheit gegenüber den Anderen, als Individuum wie als soziales
bzw. kulturelles Konstrukt, werden dabei in einer Reflexivbewegung auf die einzelnen
Thesen selbst angewandt. Sowohl hermeneutische, komparative, diskursive als auch
phänomenologische Zugänge zeigen sich dadurch in einem teils immer noch der
Perspektivität verhafteten, weil sie als solche nicht in den Blick kommt, teils die
Perspektivität auflösen zu suchenden Verhältnis, welches den normativen Telos der
interkulturellen Philosophie mehr oder weniger erfüllt. Abseits einer Kritik dieses Telos
selbst wird anhand emergenztheoretischer Überlegungen ein Versuch unternommen diese
Perspektivität als solche auszuweisen und ihre Seinsformen als strukturanalog
darzustellen.
Positionen interkultureller Philosophie
Philosophie - über die vergangenen zwei Jahrtausende hinweg, die dieser Begriff Teil des
okzidentalen Sprachgebrauchs ist, wurde er exklusiv für die Auseinandersetzungen und
1
den Diskurs im westlich-europäischen Kontext gebraucht. Die Gründe dafür liegen
sicherlich zum einen in der Herkunft des Begriffs aus dem Griechischen, zum anderen
aber auch in der Selbstklassifikation dieser spezifischen Art zu denken, zu reflektieren und
zu kritisieren als eine rein abendländische Tradition. Ihr Universalitätsanspruch, der
sowohl Inhalt als auch Geltung beeinhaltet, wirkte zusammen mit dem Eurozentrismus als
Untermauerung dieser Zuschreibung.1 Obwohl sie sich Selbstkritik auf die Fahnen heftete,
zementierte die Philosophie diese Ansicht sowohl in das jeweilig epochale
Philosophieverständnis, als auch in die Metaebene der Philosophiegeschichte. Der
philosophische Diskurs wurde als europäischer geführt und verstanden. Dieser Ansicht
wurde in der Vergangenheit nur selten und wenn, dann mit Vorbehalt, widersprochen.
Zumeist wurde die europäische Art zu denken als genuin philosophische angesehen,
während die Denkweise fremder Kulturkreise und Religionen als Weisheiten, Dichtung
oder Mystik kategorisiert wurden. Noch mit Hegel war die okzidentale Philosophie das
Eigentliche.2 Erst später erfuhr diese Binnenperspektive eine globale Wendung. Immer
wieder wurden in Form von Nietzsche, Heidegger, Jaspers und anderen Philosophen
Brücken geschlagen, nicht nur um zu vergleichen, sondern auch um in einen Diskurs zu
treten. Das erfordert immer auch schon ein Vorverständnis der zumindest thematischen
Ebenbürtigkeit des Gegenübers. Dieses Verständnis geht über simplen Respekt hinaus
und rührt an die Auffassung der Anerkennung, deren philosophische Diskussion durch
Merleau-Ponty, Derrida und Levinas den Eurozentrismus als solchen entlarvte. Im Zuge
dessen, aber auch aufbauend auf die bereits bestehenden Diskurse, wie beispielsweise
den zwischen Heidegger und Vertretern der Kyotoer Schule, entstanden Strömungen, die
sich in den 80er Jahren schließlich als interkulturelle Philosophie etablierten.3 Ihr Impetus
kristallisierte sich aus anfänglicher deskriptiv-komparativer Auseinandersetzung zur
schließlich normativen Forderung der Gleichstellung verschiedener Formen nicht-
europäischen Denkens mit der bisherigen Auffassung von Philosophie als okzidentale
Denktradition.4 Dazu galt es die eigene Perspektivität zu erkennen und diese zu
relativieren. Um der verabsolutierten europäischen Philosophie entgegenzutreten wurden
unterschiedliche Herangehensweisen vorgeschlagen, die von relativierend-differenzierte
(Raul Fornet-Betancourt) über komparativ-hermeneutischen (Ram Adhar Mall) bis hin zu
diskursiven Ansätzen (Franz Martin Wimmer) reichen. Vor allem aber auch in einer
1 Vgl. Kimmerle, S. 7 f.2 Vgl. Hegel 1979, S.121 f. bzw. Kimmerle 2009, S. 16 ff.3 Vgl. Yousefi 2005, S. 424 Vgl. Paul 2008, S. 27 bzw. Yousefi 2005, S. 12 ff.
2
phänomenologischen Analyse interkulturellen Denkens, wie sie Heinrich Rombach und
Georg Stenger unternahmen, offenbaren sich Affirmationen und Divergenzen von
Denkhorizonten verschiedener kultureller Herkunft auf grundstrukturell-
phänomenologischer Ebene.
Parallel dazu erlangte die Emergenztheorie in den letzten Jahrzehnten vor allem im
sozialphilosophischen Kontext zunehmende Bedeutung. Ausgehend von ersten
Überlegungen zu diesem Thema, die sich bereits bei Aristoteles, Baruch de Spinoza und
John Stuart Mill finden lassen, erlebten die Untersuchungen der nicht-reduzierbaren
Eigenschaften einer Makroebene auf die ihr zugrunde liegende Mikroebene ab den 70ern
einen neuen Aufschwung. Während dieser Begriff in zeitgenössischen Debatten jedoch
hauptsächlich naturwissenschaftlich konnotiert bzw. in der Philosophy of Mind oder den
Sozialwissenschaften vertreten ist, wodurch die Emergenzdebatte eher im Raum der
analytischen, wissenschaftstheoretischen Philosophie anzusiedeln ist, finden sich heute
kaum namhafte Annäherungen von phänomenologischer Seite. Obwohl sich beide
Strömungen kaum zu tangieren scheinen, während nämlich die eine einen pluralen Dialog
anstrebt, sucht die andere selbstorganisierte Strukturen auf Basis eines physikalischen
Monismus zu beschreiben, zeigen sich dennoch bei einigen Denkern, von Kants
allgemeinsten Aufbau des Denkens über das phänomenologische Projekt Husserls bis hin
zu Jaspers' Kriterien für die Entstehung philosophischer Überlegungen, bereits Ansätze
strukturontologischer Deliberation. Einer speziellen Form der Ontologie, die uns Heinrich
Rombach vorbereitete.
Die möglichen Berührungspunkte dieser verschiedenen Disziplinen führen uns zu Fragen
über die Allgemeinheit menschlichen Denkens. Aber sind die Denkmuster aller Menschen
uneingeschränkt gleich? Kant selbst dachte nur über die Regeln des Denkens aller
vernunftbegabten Wesen nach, aber gerade sein Œuvre, war stark okzidental-christlich
geprägt. In der Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von Universalitätsaussagen über
die Denkmuster aller kognitiven Wesen begann zugleich auch die Suche nach dem Aufbau
des eigenen Denkens - denn ohne das Andere des Eigenen fehlt die Reflexion.
Bewusst auf die dahinterliegenden Traditionen anspielend, kann auch von zwei
Weltsichten gesprochen werden, die es hier in Verbindung zu bringen gilt, der analytisch-
logischen und der phänomenal-(post)strukturalistischen. Obwohl die Grenze zwischen
analytischer und kontinentaler Denkweise aktuell zusehends verschwimmt, scheinen ihre
Paradigmen, als zwei voneinander getrennt zu betrachtende Ausgangspunkte, bestehen
zu bleiben. Während also die kontinentale Tradition ihre kolonialistisch-eurozentristischen
3
Wurzeln hinterfragt, scheint es keinen derartig tiefgreifenden Diskurs in der analytischen
Tradition zu geben, denn ihr Fokus war von Anbeginn auf die Episteme gelegt, die per se
kulturinvariant ist oder zumindest sein soll. Allerdings besteht ein wissenschaftlicher
Anspruch nicht einfach so eo ipso als allgemeiner Ansatz der Einfachheit der Theorien,
experimenteller Bestätigung und deren Nachvollziehbarkeit, sondern ist allein angesichts
verschiedener ästhetischer Ansprüche oder unterschiedlicher Perspektivität selbst schon
kulturell belastet. Die Leistung diese Perspektivität in den Fokus gerückt zu haben,
verdanken wir, neben allgemein wissenschaftstheoretischer Überlegungen, unter anderem
der Phänomenologie.
Allerdings wird diese Verschiedenheit der Zugänge nicht nur im Intersubjektiven virulent,
auch im Interkulturellen wird diese schlagend. Wenn also in der vedischen Philosophie
oder den Yoga-Sutren das Ideal der einer gewissen „Ausdrucksökonomie“ vorherrschte,
die es sich zur Aufgabe machte kürzest mögliche und prägnante Merksätze zu bilden,
dann erinnert dieses mitunter auch an die Forderung des Ockhamschen Rasiermessers
an die Einfachheit der Theorienbildung. Während aber im europäischen Kontext damit
Eindeutigkeit angestrebt wurde, konnten im indischen Kontext Mehrdeutigkeiten bestehen
ohne die Aussagekraft der Sutren zu mindern. Natürlich kann hier der Vorwurf gemacht
werden ich vergleiche Äpfel mit Birnen, dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden,
dass Wissenschaft selbst ein abendländischen Unterfangen ist, womit ihre vermeintliche
Objektivität relativiert wird und sie auf eine Ebene mit anderen Denktradition gestellt
werden kann.
An anderer Stelle wurde in der Wissenschaft immer wieder von einem unbeteiligten
Beobachter ausgegangen. Eine Ansicht, die sich im vergangenen Jahrhundert als falsch
herausstellte. Vielmehr ist jede Beobachtung per se immer schon zugleich auch
Teilnahme. Eine derartige Auflösung beziehungsweise Verschmelzung des Individuums
mit der Welt birgt Ähnlichkeiten mit der Materialität des Mentalen im Prakṛti der Samkhya-
Philosophie Indiens. An diesen Überschneidungen und Differenzen zeigt sich die Relevanz
und Notwendigkeit einer begriffs- und strukturontologischen Untersuchung von
Philosophien verschiedener Herkunft. Vorerst wollen wir die einzelnen interkulturellen
Positionen einer kritischen Draufsicht unterziehen, um etwaige Probleme und Mängel
aufdecken zu können, die mit einem phänomenologischen Zugang oder einem
emergenztheoretischen Ansatz erweitert werden könnten.
4
Hegel und der Eurozentrismus
In seinem Aufriss der europäischen Philosophiegeschichte im Hinblick auf den
Eurozentrismus sieht Kimmerle hier Hegel als ausgezeichneten Vertreter dieser
Strömung.5 Angesichts der globalen Vormachtstellung Europas und der selbst attestierten
Vorreiterrolle in kulturellen, geistigen und künstlerischen Belangen, ist es nur bezeichnend,
dass diese Zuspitzung der Idee des intellektuell ubiquitären Europas in den Nachwehen
der Aufklärung durch G.W.F. Hegel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie
auf den Punkt gebracht wird. Nur der westlich-europäischen Philosophie kann Echtheit
und Eigentlichkeit zugeschrieben werden, so Hegel. Er zielt damit vorrangig auf den
Charakter der formalen Argumentationsmuster und die systematische Entwicklung der auf
allgemeinsten Gedanken basierenden Schlüssen ab. Diese Systematik vermisst Hegel in
anderen Kulturkreisen. So kann er zwar allgemeine Gedanken in der indischen Religion
finden, aber diese kämen nur gelegentlich vor und sind nicht als Philosophie zu verstehen,
denn „[...] Philosophie ist nur dann vorhanden, wenn der Gedanke als solcher zur
Grundlage, zum Absoluten, zur Wurzel alles übrigen gemacht wird […]“6, was in der
indischen Philosophie eben nicht der Fall sei, denn „[b]ei den Indern läuft alles
durcheinander, was sich auf den Gedanken bezieht.“7 Bei näherer Betrachtung von Hegels
Behauptung fällt auf, dass eine derartige Abgrenzung von nicht-systematisch bzw. nicht-
formal formulierten Argumenten, aber auch von einer fehlenden strikten Abspaltung der
Gedanken von Mythos und Religion, konsequenterweise die vorsokratischen Denker
ebenfalls exkludieren müsste. Wir sehen in den Lehren der ionischen Naturphilosophen
zwar Systematik, aber die Abgrenzung zu Mythos und Religion ist noch nicht vollständig
vollzogen. Außerdem sind viele Werke nur fragmentarisch vorhanden, was nicht nur auf
lückenhafte Überlieferung und den Verlust des Wissens für die Nachwelt zurückzuführen
ist, sondern oft auch Ausdruck des lyrischen Stils ist. Insofern wird klar wie willkürlich diese
Unterscheidung von Philosophie und Volksweisheit gezogen ist. Hinzu kommt, wie auch
schon Kimmerle aufzeigt, dass es in den letzten zwei Jahrhunderten nach Hegel zu einer
vermehrten Bezugnahme auf Lyrik und Prosa durch Philosophen wie Nietzsche, Derrida,
Heidegger, Adorno, Sartre, Camus u. a. kommt.8 Das Heranziehen prosaischer Werke wie
beispielsweise Dostojewskis Schuld und Sühne oder Marquis des Sades Justine und
5 Vgl. Kimmerle 20096 Hegel 1979, S. 1107 Ebd. S. 1118 Vgl. Kimmerle 2009, S. 8 f.
5
Juliette ist aus heutigen Ethikdiskursen oder der Auseinandersetzung der Philosophie mit
dem Bösen nicht mehr wegzudenken. Damit weichen große Teile der zeitgenössischen
Philosophie von einem strikt formalen Bezug und einer rationalen Systematik ab. Vor allem
Derrida, Merleau-Ponty und Levinas als Denker der Alterität verdanken wir nicht nur, dass
der Andere als ethisches bzw. das Selbst konstituierende Moment anerkannt wird, sondern
auch die Relativierung des Eurozentrismus. Ihre Leistungen können als Wegmarken des
Aufkommens der interkulturellen Philosophie gesehen werden. Eine Entwicklung, die von
den ersten Verbindungen von Leibniz zur chinesischen Philosophie und frühesten
vergleichenden Untersuchungen Humboldts ausgehend, über Nietzsches Aufnahme der
indischen Weisheit der ewigen Wiederkehr und Jaspers' Achsenzeittheorie bis hin zur
Korrespondenz zwischen Heidegger und der Kyotoer Schule den Entstehungsweg der
interkulturellen Philosophie von westlicher Sicht aus gesehen darstellt.9
Aber nicht nur der formale Unterschied macht für Hegel die eigentliche Philosophie aus. Er
sieht, im Gegensatz zu Jaspers, nur in der griechisch-römischen Kultur und in dem
höchsten Entwicklungsstand dieses Prozesses zur Zeit Hegels, in der Form der
Staatensouveränität, die Voraussetzungen gegeben für die echte Philosophie, denn nur in
einer freien Gesellschaft kann sich diese ausbilden. Diese soziokulturellen
Voraussetzungen zur Entwicklung von Philosophie sieht Jaspers hingegen in allen
Kulturen der Achsenzeit gegeben.10 Die Antwort auf Hegels Programm der logisch-
systematischen Argumentation in der Philosophie ist der Aufbruch dieser Systematik durch
die nachfolgenden Denker, die Aufkündigung des Versprechens der allumfassenden
Erklärung.11 Die Tradition der grundlegenden Absolutheitsansprüche der
Begründungsversuche wurde verworfen als die Illusion des absoluten Wissens als solche
enttarnt wurde. Schon bei Nietzsche brodelte diese Abkehr vom durch formal-logische
Methodiken erlangten, gesicherten Wissen, die sich nicht nur in seiner Hingabe an
poetische Mittel erschöpfte. Diese Zuwendung zur Kunst war nur das Symptom der
Erkrankung des abendländischen Denkens. Obwohl Nietzsche einige folgten, sollte die
erste Diagnose Heidegger anheimfallen, der der Krankheit den Namen der
Seinsvergessenheit gab. Der abendländischen Philosophie mangelte es nach seinem
Verständnis an der Kritik am Vorurteil ihrer eigenen Entstehungsgeschichte. Eine Genese,
die niemals in Frage gestellt wurde und trotzdem als solche allgemeingültig sein sollte. Als
Antwort und erste Versuche der Heilung kann nicht nur Heideggers eigenes Projekt,
9 Vgl. Kimmerle 2009, S. 14 f.10 Vgl. Jaspers 1949, S. 17 ff.11 Vgl. Kimmerle 2009, S. 41
6
sondern auch die Dekonstruktion unter Derrida gesehen werden.
Das erste Aufkommen eines cartesianischen Zweifels an dem Absolutheitsanspruch der
Hegelschen Idee führte zur Ungewissheit, die sich nicht nur in den aphoristischen Stilen
seiner Nachfolger und ihrer Auseinandersetzung mit Poesie oder Kunst im Allgemeinen
auswirkt, sondern vor allem die Unbestimmtheit des Subjekts selbst und die radikale
Andersheit des Anderen aufzeigte. Dieser Andere, den wir nie ganz begreifen werden
können, macht die Illusion des absoluten Wissens über die Welt zunichte, er eröffnet uns
aber die Chance über diesen unseren Tellerrand hinaus zu sehen und ist
Möglichkeitsbedingung für das was heute interkulturelle Philosophie genannt wird. Als
Voraussetzung für ein Denken, welches sich selbst nicht mehr als die alleingültige Form
formallogischen Argumentierens versteht, ist der Andere paradigmatisch für das
Heraustreten aus unserem Ethos, unserem angestammten Ort der vermeintlichen
Objektivität abendländischen Denkens, auf die heideggersche Lichtung. Aber wie können
wir diesen Anderen verstehen? Ein Ansatz dazu findet sich im hermeneutisch-diskursiven
Projekt Wimmers.
Hermeneutik der Kulturen
Um ein interkulturelles Verständnis von Philosophie zu bekommen, müssen wir zuerst
klären was diese ausmacht. Worum geht es uns also, wenn wir von Philosophie
sprechen? Charakteristisch für die Philosophie ist die Art und Weise des philosophischen
Diskurses. Sie unterscheidet eine philosophische von einer ideologischen oder religiösen
Argumentation, obgleich die Themen und ihr Inhalt selbst religiöser Natur sein können und
trotzdem als philosophisch gelten können – ausschlaggebend ist hier die Methodik. Diese
Methodik ist die des Zu-sich-und-der-Welt-in-Distanz-gehen. Auf dieser Basis kann sich
erst eine reflexiv kritische Auseinandersetzung ergeben. Aber gibt diese Distanzierung
nicht schon von Anbeginn an eine bestimmte Weltvorstellung vor? Ist damit nicht schon
immer eine bestimmte Subjekt-Objekt-Konstellation mitgesagt?
Wenn wir also nach Philosophie fragen, ist es auch wichtig zu eruieren, wer es denn ist,
der hier fragt. In diesem Fall fragt der europäisch-abendländische Mensch christlicher
Prägung. Dadurch wird der Antwortbereich bereits vorgegeben und es kann nur mehr von
einer abendländischen Draufsicht auf diesen Begriff gesprochen werden, nicht aber von
7
wesentlicher Bestimmung. Damit führt uns das Problem der Fragenautorenschaft zum
eigentlichen Problem der Uneinholbarkeit unserer vor-läufigen Geschichte sowie der je
eigenen Verflochtenheit in ihr. Diese Unmöglichkeit des Heraustretens aus unserer
Eingebundenheit steht prinzipiell jeglichem Versuch entgegen interkulturelle Philosophie
zu betreiben, die als solche sich nicht im Dialog zweier Parteien erschöpft, welche nur
jeweils ihre eigene Identität vertreten. Es gibt keine interkulturelle Metaphilosophie, muss
also der Schluss lauten. Prinzipiell darf es sie nicht geben, wenn wir den Denkern des
radikal Anderen folgen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma scheint daher der Ansatz des
Polylogs von Franz Martin Wimmer. Ewig in der Binnenperspektive verhaftet können wir
nur komparativ in einen interkulturellen Austausch eintreten, so die Ausgangshypothese.
Von der sich derzeitig entwickelnden globalen Gesellschaft ausgehend, malt Wimmer ein
Bild von einer komparativen Auseinandersetzung unter gleichberechtigten Partnern.
Dieser Prozess soll durch die Zentralperspektive einer Hermeneutik der Kulturen, deren
Basis epistemische Gleichrangigkeit aller Beteiligten ist, geschaffen werden.12 Wichtig
dabei ist, zu sehen, dass Wimmer damit keine Kultur als ausgezeichnete hervorhebt, die
mehr Recht haben könnte über andere Kulturen zu urteilen und zu sprechen. Diese
Unternehmung ist geprägt von der Suche nach einer Metasprache, die denselben
deskriptiven Zugang zur Welt hat, wie die jeweiligen Sprachen der verschiedenen
Kulturen.13 Damit setzt Wimmer aber bereits zweierlei voraus: Zum einen, dass der
jeweilige epistemologische Bezug zur Welt vermittels der je eigenen Sprache prinzipiell
gleich geartet ist und zum anderen, dass dieser Zugang sich auf ein und dieselbe Welt
bezieht. Ersteres lässt sich zwar angesichts phänomenologischer Untersuchungen
erahnen, damit ist aber noch lange nicht gezeigt, dass der Aufbau des Zugangs zur Welt in
jeder Kultur gleich ist. Zweiteres widerspricht der pluralen Perspektivität des Menschen,
dessen ausgezeichnetes Bezugselement auf die Welt im sozialen Kontext Kommunikation
im weitesten Sinne nun mal ist.
Infolge dessen ergeben sich weitere Fragen über die Tragfähigkeit des Polylogs, wie
Wimmer diesen interkulturell-hermeneutischen Diskurs nennt. Ist eine solche komparativ
und doch diskursive Hermeneutik ausreichend um den Verschiedenheiten der einzelnen
Kulturen gerecht zu werden? Ist nicht vielmehr ein Widerstreit der jeweiligen
soziokulturellen Perspektiven vorprogrammiert ohne jemals auf deren Substanz sprechen
zu kommen? Kommt eine Hermeneutik überhaupt ohne eine derartige
12 Vgl. Wimmer 1993, S. 3313 Vgl. Wimmer 1993, S. 30 ff.
8
„Wesensbestimmung“ aus? Fragen die zunächst offen bleiben müssen, aber von Mall und
Yousefi zumindest aus einem anderen Blickwinkel erleuchtet werden.
Orthafte Ortlosigkeit
Vergleiche gehen im Prinzip vom Eigenen aus, um von diesem das Andere und Fremde zu
unterscheiden, aber auch Übereinstimmungen aufzudecken. Jedoch fehlt bei einem
hermeneutischen Ansatz, wie den des Polylogs, eine kritische Thematisierung der eigenen
Identität. Es fehlt am Abstand zum eigenen Wertehorizont, den eigenen Denkstrukturen
und der Relevanz der eigenen kulturspezifischen Begrifflichkeiten.
Eine gleichberechtigende Anerkennung des Denkens kann nur erfolgen wenn der
allgegenwärtige, westliche Blick auf die Dinge verlassen wird. Diese Forderung entspricht
der Malls nach der, „wenn es eine universelle philosophische Wahrheit gibt, [...] keine
bestimmte Tradition, Sprache, Kultur, Philosophie privilegiert [...]“ ist.14 Es gibt nach Mall
also ebenfalls keine reine und ausgezeichnete Kultur, sondern vielmehr einander in
gewissen Punkte ähnelnde Kulturen. Diese analogische Eigenschaft der Kulturen findet er
in den Überlappungen, die zwischen totaler Identität und absoluter Differenz angesiedelt
sind. So verhält es sich aber auch im individuellen Bereich, in dem der Andere nicht nur
als Spiegel meiner selbst gesehen werden darf. Wie die Kulturen und Individuen ist die
Philosophie orthaft ortlos. Zum einen ist sie ihrem Gründungshorizont verbunden und kann
diesen kaum abstreifen, zum anderen kann und darf sie sich nicht darin erschöpfen ohne
in Dogmatismus zu verfallen.15 Dieses Zwischenmoment, das Mall uns hier aufzeigt, wirkt
auf den ersten Blick äußerst schlüssig, vor allem weil es in erster Linie intuitiv einsichtig
ist, dass es keine monadischen Kulturkreise als solche gibt oder je gegeben hat. Schon
immer standen Hochkulturen im Austausch mit konkurrierenden bzw. angrenzenden
Völkern und konnten sich niemals vollkommen dem Einfluss der fremden Kulturen
entziehen. Weit weniger trivial stellt sich die individuelle Ebene dieser Behauptung dar,
denn vor allem für Hegel war der Andere die Negation meiner selbst und damit radikal von
mir verschieden. Lapidar ausgedrückt, kann sich erst über das Nicht-Sein, die Negation
des Ichs im Anderen dieses Ich als Subjekt ausbilden. Auch die gesamte
Anerkennungsdebatte beruht auf Annahme der Reflexionserkenntnis des Ichs durch ein
14 Mall 1993, S. 1315 Mall 1993, S. 3 ff.
9
Nicht-Ich. Allerdings müssen hier zwei Ansätze fundamental voneinander unterschieden
werden: Während die hegelsche Negation auf der inhaltlichen Bewusstseinsebene
stattfindet, beruht die Ablehnung einer totalen Differenz Malls auf den oberflächlich
betrachteten Ähnlichkeiten von mir und dem anderen. So gesehen könnten beide
Aussagen nebeneinander als gültig bestehen bleiben.
Nichtsdestotrotz bleibt die Betrachtung der Ähnlichkeit eben doch nur oberflächlich und
trifft keine Aussage über die phänomenologische Basis der Wahrnehmung, des
Bewusstseins oder des Denkens. Daher bleiben wir also trotz der oberflächlichen
Ähnlichkeit zu einem äußerlichen Vergleich verdammt, der aber wieder nur ein Abwägen
und Aufwiegen der eigenen Perspektivität darstellt. Dennoch hat uns Mall den wichtigen
Hinweis der prinzipiell auftretenden Analogismen menschlichen Denkens und des
soziokulturellen Zusammenlebens gegeben, den wir bei anderen Denkern in
verschiedener Gestalt wiederfinden werden.
Anders als Mall sieht Yousefi, obwohl dieser mit jenem in vielen Bereichen thematisch
d'accord geht, „[d]ie Methode des Vergleichs [als] etwas Äußerliches, das die
wünschenswerte gegenseitige Beeinflussung im Sinne von Bereicherung und Kritik nicht
zum entscheidenden Gegenstand des Umgangs mit diesen Traditionen werden läßt“, an.16
Daher seien auch komparatistische Philosophie, Hermeneutik und Diskurstheorie als
interkulturelle Methoden ungeeignet. Vor allem ist für ihn ein universaler Vernunftbegriff,
wie der der Diskurstheorie, problematisch. Ihm geht es klar um den normativen Anspruch
der interkulturellen Philosophie, der sich in der Beförderung der Gleichberechtigung
verschiedener Denkweisen manifestiert. In der Gestalt von Denkern wie den bereits
erwähnten Hegel, aber auch Husserl und Heidegger bis hin zu Gadamer und Höffe zeigt
sich die eurozentristische Sichtweise des originären, okzidentalen Denkens und die
Klassifizierung der reflexiv-intellektuellen Leistungen fremder Kulturen als ledigliche
Weisheiten, Mystik oder Religion. Dieses sich durchziehende Phänomen birgt aber nichts
anderes als das Selbstverständnis des überhöhten Europas.17 Allerdings zeigten sich in
Jaspers, Leibniz, von Humboldt und anderen bereits seit jeher Tendenzen die diesem
Zentrismus entgegenwirkten, welche nur leider vielerorts ungehört verhallten.
Auch bei Yousefi kann das Moment in der orthaft ortlosen Rationalität, die er im Anschluss
an Mall erwähnt, gefunden werden.18 Damit soll die subjektivistisch-kulturelle Prägung im
Eigenen einerseits, in Verbindung mit der objektivistischen Forderung nach dem
16 Yousefi/Mall 2005, S. 46 f. 17 Vgl. Ebd. S. 17 ff.18 Ebd. S. 32
10
interkulturell Universalen andererseits gebracht werden. „Die überlappende Rationalität
vernünftigen Denkens lebt in lokalen kulturellen Differenzen, sie überschreitet diese jedoch
in einer analogischen Rationalität als einem überspannenden Rahmen“, so Yousefi.19
Diese analogische Rationalität ist aber Illusion, sofern sie nicht den Begriff der Ratio selbst
als einen europäischen ausweist. Ohne ein Bewusstmachen der einzelnen
Begrifflichkeiten, die ihrerseits bereits Ausdruck einer vorausgelegten Ausgangsposition
sind, wird ein Vergleich, wie ihn Mall oder Yousefi fordern unmöglich. Denn was soll
beispielsweise das, von beiden des öfteren erwähnte, tertium comparationis zur
europäischen bzw. indischen Auffassung der Ratio sein? Lässt sich ein solcher Begriff
überhaupt inhaltlich übersetzen? Ist ein solche Vorhaben überhaupt intrakulturell möglich
und zulässig? Von einem solchen unhinterfragten Ratiobegriff gehen aber Yousefi und Mall
aus. Wie jedoch dieser Ausgangspunkt frei von aller Perspektivität operieren soll, ohne
europäische Begrifflichkeiten zu verlassen, ist die eigentliche Frage. Müsste die von Mall
und Yousefi geforderte philosophia perennis denn nicht eigene Begriffe begründen um
ihrer Interkulturalität gerecht zu werden? Steht damit nicht bereits wiederum eine
hierarchisch höherstehende Metaposition im Raum? Oder wenn dies nicht erreichbar
scheint, sie trotzdem durch Platzhalter zu ersetzen um ihre Kontingenz und Variabilität zu
markieren?
Auch hier kann keine unmittelbare Wesensbestimmung gefunden werden, die
zufriedenstellend wäre. Noch immer scheint der eigene Wertehorizont verdeckt. Einen
Versuch diesen sichtbar zu machen, lässt sich bei Fornet-Betancourt ausmachen.
Zivilisation als Übel
Für Fornet-Betancourt vollzieht sich die Entwicklung der „westlichen“ Zivilisation als eine
Verfallsform, der nur durch die gegenseitige Anerkennung der einzelnen Kulturen und ihrer
Diversität Einhalt zu gebieten ist. Kulturen werden dabei als die „ursprüngliche historische
Situation“ angesehen.20 Auf dieser Basis fördert die gegenseitige Anerkennung der
Kulturen die freie Entfaltung ihrer Mitglieder. Das Individuum versteht sich daher auch
nicht nur seiner Kulturalität unmittelbar verbunden, sondern steht ihr, genauer dem
„Eigenen“ in ihr, immer schon reflexiv gegenüber. Eben diese Reflexivität soll durch den
19 Yousefi/Mall 2005, S. 3220 Fornet-Betancourt 1998, S.152
11
interkulturellen Diskurs gefördert werden. Für Fornet-Betancourt ist der Mensch, in
Anlehnung an Sartes dialektisches Moment von Determination und Freiheit, zugleich
„kultureller Patient und Akteur“.21 Diese Sowohl-als-auch-Struktur des kulturellen
Verständnisses zeigte sich bereits bei Mall und Yousefi, allerdings fehlte diesen durch
fehlenden Bezug zur individuellen Ebene die kritische Distanz des Menschen zu seiner
eigenen Kultur. In den intrakulturellen als auch in den interkulturellen Kämpfen um
Anerkennung soll die Bejahung der Diversität der unterdrückenden Wirkung einer
homogenisierenden Weltkultur der „Gewinner“ der Globalisierung entgegenwirken, so
Fornet-Betancourt. Der angestrebte interkulturelle Dialog soll dabei nicht nur zu einem
äußeren Verständnis führen, sondern auch zu einem gegenseitigen Formen. Fornet-
Betancourt zeigt hier eine von unten ausgehende Konstitutionsrichtung einer
Universalisierung von Prinzipien wie Souveränität und Autonomie auf, die sich als
wertvolle Alternative zur uniformierenden Globalisierung offenbart.22 Das kann sie nur
leisten weil sie auf der Anerkennung der einzelnen Akteure basiert und diese nicht unter
eine, je eigene Kultur subsumiert. Durch das Eingehen auf die komplexe Tiefenstruktur der
jeweiligen Kulturkreise und dem Abgehen von einer Metaperspektive vermeidet Fornet-
Betancourt viele der Problematiken in die sich nicht nur Mall und Yousefi verstricken. Der
interkulturelle Dialog kann also durch den formenden Austausch nicht ohne einen Prozess
der Veränderung und Transformation der Philosophie erfolgen.23 Müsste sich aber
konsequenterweise hier nicht nur die Philosophie sondern auch das Denken, Bewusstsein
und die Sprache selbst transformieren? Ansonsten müsste immer von einer die Regeln
des Dialogs vorgebenden Philosophie ausgegangen werden, die als solche exponiert
wäre. Aufgrund der diskursiven Abhandlung auch dieser Philosophie im interkulturellen
Kontext stelle diese Exponiertheit aber kein Problem dar, so Fornet-Betancourt.24 Durch
die Distanz zu seiner Kultur transzendiert oder - wie Fornet-Betauncourt es ausdrückt –
transkulturiert der Mensch seine bisherige Kultur, indem er sie in Frage stellt. Diese
reflexive Distanz zur (eigenen) Kultur bedingt zugleich die Möglichkeit der Wahrnehmung
als auch der zeitlichen Kontinuität des kulturellen Rahmens für das Individuum. Durch die
Reflexion distanziert sich das Individuum aber auch von sich selbst, was wiederum erst die
Möglichkeit schafft diese Distanz auch beim anderen zu erkennen und so erst das Selbst
als ein solches wahrzunehmen.25 Diese Kriterien, also das Exponieren des Selbst aus der
21 Fornet-Betancourt 1998, S.15322 Ebd. S. 158 f. 23 Vgl. ebd. S. 16024 Vgl. ebd. S. 161 25 Vgl. Fornet-Betancourt 1998, S. 162 f.
12
kulturellen Masse, die Distanzierung von dieser Basis und die Freiheit gegenüber den
Konformierungsbestrebungen des kulturellen Hintergrundes sowie die jedem Menschen
zukommende Rationalität, stellen nach Fornet-Betancourt notwendige Voraussetzungen
im interkulturellen Dialog dar. Diese Eckpunkte sind kulturelle Invarianzen, was bedeutet
dass sie unabhängig von jeglicher kultureller Färbung überall gleich seien. Aber ist das
nicht gerade die Behauptung, die es zu zeigen gilt, wenn von einer wirklichen
Kommunikation zwischen Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen
gesprochen wird? Setzt hier nicht schon der hermeneutische Zirkel an, indem wir von dem
ausgehen was wir entdecken wollen? Kann ohne die Vorannahmen der Invarianzen
überhaupt Kommunikation stattfinden? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit ohne diese
Vorannahmen auszukommen? Die Phänomenologie scheint uns hierauf, als auch auf
einige der bisherig offengebliebenen Fragen, Antworten geben zu können.
Ein phänomenologischer Beitrag
Rombachs Zugang zur interkulturellen Philosophie rührt, im Gegensatz zu den bisherig
genannten, vom phänomenologischen Ansatz seines Denkens her. Von der Idee des
heideggerschen Daseins ausgehend, entwickelt Rombach dabei seine Vorstellung einer
Strukturontologie. Nachdem für ihn die fundamentalontologischen Überlegungen
Heideggers noch immer zu sehr mit dem Bewusstsein und damit mit dem Selbst verhaftet
sind, macht er sich für eine genetische Sicht des Seins stark. Anstatt also von
feststehendem Seienden auszugehen, sollte vielmehr ein genesiologisches Bild eines
prozessualen Aneinander-Erwachsens von Strukturen dessen Platz einnehmen. Diese
Konkreativität, wie sie Rombach nennt, ist also in dem Zwischen des Seins verortet und
spricht damit im Unterschied zum Dasein nicht nur dem heideggerschen Weltbegriff
(er)schaffendes Potential zu, sondern auch der Natur und Wirklichkeitszusammenhängen
überhaupt. Diese seien Selbstinterpretationen des Seins, das sich in Grundstrukturen
offenbart.26
Rombach zeigte in seiner Habilitationsschrift Substanz System Struktur, wie auch die
Entwicklung des abendländischen Denkens vom Substanzdenken der Antike, über die
aufkommende Systematik des Mittelalters und der Neuzeit bis hin zur heutigen
Strukturontologie eine historische und ebenfalls genesologische sei. Über die
26 Vgl. Rombach (o.J.): Versuch einer Selbstdarstellung, S. 2, zitiert nach Seubert 2006, S. 17
13
Kunstphilosophie, namentlich die Bildphilosophie, spezifiziert Rombach die
Strukturontologie, indem er von einer doppelten Bedeutung eines Bildes für die
Betrachtenden ausgeht. Zum einen stelle es etwas der Wirklichkeit Entsprechendes dar
und kommt damit qua Abbildung ontologisch nach der Realität. Zum anderen tritt das Bild
auch als Vor-Bild bzw. Archetypus in Erscheinung, womit es in Beziehung auf Wirkliches
die Stellung des Eigentlichen und Ursprünglichen einnimmt. Jenseits der, doch wieder nur
an der Wirklichkeit orientierten und damit abkünftigen Bildtypen, offenbart sich die zweite
Natur des Bildes in den Grundbildern, so Rombach.27 In diesen Grundbildern zeigt sich die
Grundstruktur unseres Wahrnehmens: „Wir blicken beispielsweise in das Geäst eines
Baumes und sehen da Stamm, Äste, Zweige und Blätter. Diese Dreistufigkeit […] hat
etwas Fundamentales.“28 Diese Struktur scheint also etwas Vorausgelegtes zu sein und
ihre Realisationen als Grundbilder „[...] meinen vielleicht den Grund von Bildern
überhaupt.“29 Diese ursprüngliche Form des Bildes ist damit allgegenwärtig als etwas, das
als Eigentlichkeit bezeichnet werden könnte, denn jeder Mensch und alle Kunst ist Bild in
diesem Sinne. Es ist das in jedem Bild eines Malers versteckte, eigentliche „Gesamtbild“
des Malers, das to ti en einai um mit Aristoteles zu sprechen, dem er sich mehr oder
weniger nähert. Diese Verstecktheit der Welt eines jeden Bildes soll in der sogenannten
Hermetik aufgedeckt werden. Aber: „[...] nicht jedes Bild ist Welt, obwohl es immer eine
Welt enthält. [Das heißt] es artikuliert sie nicht, aber es könnte sie artikulieren.“30
Rombachs Methodik des hermetischen Zugangs orientiert sich an den Tiefenstrukturen
des sich verbergenden Wissens dessen Symbolfigur er in dem griechischen Gott Hermes
begründet sieht. Für ihn stellt Hermes, wie auch sein Bruder Apoll, einen metaphorisch
angedeuteten Themenkomplex bzw. gar eine ganze Götterwelt dar, deren einzelne
Vertreter nur Abänderungen des einen originären Gottes sind. Doch die beiden Brüder
können ungleicher nicht sein: Hermes der Gott der Höhle und des Verborgenen, der auch
in diesem überdauert, während sich Apoll als Gott der Erscheinung und des Hervortretens
offenbart. Apoll als Gott des Unterscheidens und Trennens, Hermes als Gott des
Verbindens und der lebendigen Einheit. Damit vertritt Apoll für Rombach das post-
sokratische Denken, das sich in einer ständigen dialektischen Bewegung zwischen Mythos
und seiner Überwindung zeigt. In ihm manifestiere sich der westliche Forschungs- und
Wissensdrang. Apoll steht aber auch für die Hermeneutik als Kunst des Erklärens,
27 Vgl. Rombach 1991, S. 124 f. 28 Ebd. S. 12529 Ebd. S. 12630 Ebd. S. 133
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Eröffnens und Verstehens.31 Die hermetische Gestalt des Denkens hingegen finde sich
jedoch nur in der japanischen Kultur als heute vollzogene und gelebte Denkart. Das
Verborgene zeige sich also als das von den Tiefenstrukturen selbst her Verständliche. Es
ist aber vielmehr über ein Einlassen auf das Vorliegende bzw. Wahrgenommene als über
eine suchende Forschungsrichtung zu finden.32 Dieses Einlassen ist in den asiatischen
Philosophien und Denkwelten allgegenwärtig, sowie meist positiv konnotiert, während es
im westlichen Kontext als passiv betrachtet wird, welches negativ belegt ist. Entgegen der
Hermeneutik, die sich ihrerseits durch Begründung vollzieht, sucht die Hermetik den
Abgrund darzustellen, dessen Wesen die Angst ist, wodurch auch die Hermetik im Leben
noch unterdrückt und verdrängt werde. Das Verstehen der Hermeneutik hat dabei immer
einen richtungsweisenden Impetus auf ihre eigene Differenz und das Auflösen dieses
Unterschieds eines Seins und seines Ursprungs durch eine schlüssige Herleitung.
Dieses Auflösen kann jedoch nur die Hermetik schaffen, indem sie in den Abgrund blickt:
dieser Abgrund ist eben gerade das Zwischen, das Unbenannte, oder besser, er geht noch
hinter das Unbenannte selbst zurück.33 Dieses Unbenannte ist das Eigentliche und
Versteckte, das Wesen, das sich erst zeigen muss, zu dem jeder aber immer schon
unterwegs ist. In dieser Hinsicht deutet ein hermetisches Verständnis das Vorsprachliche
an, eben jener Sphäre in der sich intuitiv, unbewusste und unterbewusste
Grunderfahrungen, die selbst wiederum nach Grundstrukturen organisiert sind, abspielen.
Damit geht Rombach einen entscheidenden Schritt hinter die heideggersche
Fundamentalontologie zurück: über die heideggersche Destruktion der faktisch-trivialen
Auffassung des Seins hinaus, verallgemeinert Rombach diesen Akt als Sonderfall einer
Reduktion von Epiphänomenen auf Grundphänomene.34
Interkulturell impulsgebend wird Rombachs Philosophie nicht nur darin westliches und
östliches Selbstbildnis des Menschen als gleichberechtigt anzusehen35, sondern auch über
die Strukturanthropologie. Ihr zentrales Moment ist ein Umlegen der Grundstrukturen auf
die Begriffe der Situation und der Grundhandlung. Beide seien bereits vorgelegt vor der
konkreten Handlung und erweisen sich als jeweils sozial und kulturell geprägtes
Vorverständnis dessen, was in diesem Kontext als sinnhaft bezeichnet werden kann. In
diesem Zusammenhang hilft uns Rombachs strukturphänomenologischer Ansatz einige
Ungereimtheiten bisher erwähnter Ansätze auszuräumen. So verschiebt sich die Kritik der
31 Vgl. Rombach 1991, S. 15 f.32 Vgl. Seubert 2006, S. 57 ff.33 Rombach 1991, S. 17 ff.34 Vgl. Seubert 2006, S. 3835 Vgl. ebd. S. 30
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Möglichkeit von Übersetzungen bzw. Sinnübertragbarkeit zwischen Kulturen von der
sprachlich Ebene auf die grundstrukturelle Ebene.
Von der je eigenen Kultur wird eine Grunderfahrung vorgezeichnet, nach der sich unser
Sinnzusammenhang, ja das Subjekt selbst, organisiert. Ist damit etwas gewonnen oder
haben wir nur das Spielfeld unseres Zweifels gewechselt? Durch Verlassen des
Linguistischen in Richtung allgemeiner anthropologischer Strukturen, gelangen wir von der
konkreten Faktizität der je eigenen Perspektive zur Allgemeinheit der genesiologischen
Konkreativiät des Selbst und der vorliegenden Wirklichkeit, ja des Seins selbst. Weil
einerseits das Prinzip der Strukturen kulturinvariant ist, andererseits aber die jeweilig
konkrete Form des Bildes wiederum perspektivisch organisiert ist, lässt sich, wenn wir
Rombach hier folgen, dennoch die Möglichkeit eines „Nachvollziehens“ des Fremden
zumindest erahnen. Nachdem die Strukturontologie auch jenseits eines Subjektbegriffs
operiert, kann ihr eine kulturell geprägte Ontogenese des Selbst nicht zum Verhängnis
werden. Problematisch bleibt also der „Rest“ von Perspektivität, der irreduzibel mit den
vorsubjektiven Konstitutionen verknüpft bleibt. Dieser bringt noch immer die radikale
Andersheit mit sich, der wir scheinbar nicht entkommen können.
Auch bei Stenger, der sich bei seinen Ausführungen unter anderem auch auf Rombach
bezieht, zeigt sich eine prinzipiell strukturelle Herangehensweise an die
Grunderfahrungsthese. Stenger ortet ebenfalls in den Grunderfahrungen eine den
bewussten Erfahrungen zu Grunde liegende Schicht, die als solches erst Basis für die
Genese des Subjekts sind. Auch hier offenbart sich das konstitutive Element der
zugrundeliegenden Strukturen der Grunderfahrung mit deren Wegfall „[...] der gewohnte
und bekannte Boden bisheriger Erfahrung und Erkenntnisse weg[bricht].“36 Das Ich als
Autor des eigenen Denkens wird im Sinne der sokratischen Mäeutik erst geboren. Diesen
Prozess, den Stenger Selbsthervorgang nennt, ist selbst von keiner Entität verursacht. Es
ist ein Widerfahren, das sich selbst ereignet, noch vor der eventualiter Aufspaltung der
Subjekt-Objekt-Dichotomie. Allerdings sei die Grunderfahrung als solche ein
einschneidendes Erlebnis, eine menschheits- oder lebensgeschichtliche Zäsur, die als
Ergebnis eines Ein- und Durchbruchs zu sehen sei und weniger als stetiger Prozess des
Er-wachsens am Anderen. Es ist „ein Geschehen […], das alle Einzelmomente so
zusammennimmt, daß sie als ein einziges Geschehen auftreten.“37 Damit wird es zu einem
36 Stenger 2006, S. 49937 Stenger 2006, S. 508
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epochalen Schlüsselmoment, dessen Auswirkungen für den Einzelnen oder auch die
Masse einschneidend und verändernd sind. Aus dieser unterschiedlichen Betrachtung
ergeben sich verschiedene Konsequenzen: Während die rombachsche
Grunderfahrungstheorie auch von der Auflösung der Dichotomien in einem präsubjektiven
Modus ausgeht, wird dieser bei Stenger durch ein von außen hergebrachtes, einmaliges
Ereignis transzendiert. Das Spezielle des Ereignisses ist im Eigentlichen seine Selbstheit,
seine Freiheit von Heterarchie, sein ον αύτός, sein Selbstsein. Das ist die Essenz des
Ereignisses, wie es uns Stenger vorstellt, es ist das an einem Punkt zusammenfließende
Werden, durch das man erst Selbst wird. „'Ereignis' tritt an die Stelle des 'Seins' […] Mit
anderen Worten 'Ontologie' ist selber schon eine späte Erfassung von 'etwas', das sich vor
jedem 'etwas' 'ereignet'.“38 Hier begegnen uns Rombachs Selbstinterpretationen des
Seins, wie er seine Grundstrukturen explizierte, in der Formel „Ereignis ist die
'Selbsterfahrung der Ontologie'“39 in anderer Form wieder. Es ist das Sein selbst, das hier
durchbricht, nach Stenger, oder die konkreative Genesiologie des Seins, nach Rombach.
Beiden gemeinsam ist die prozessuale Distanzlosigkeit des Aneinander, das
Selbstabarbeiten des Seins, denn im Gegensatz zur faktischen und abgeschlossenen
Entität des Seins, deren Kritik an ihrer bisherigen unbedarften Unhinterfragtheit erst im 20.
Jahrhundert mit Heidegger einsetzte, wandelt sich in der Sicht des Strukturdenkens diese
Faktizität zur Prozessualität. Zu beachten gilt allerdings, dass sich diese Prozessualität bei
Rombach in der Konkreativität zeigt, während es bei Stenger ein epochal
zusammenlaufendes Ereignis ist, „in dem man selbst als der Ereignete und Verwandelte
hervorgeht.“40
In den verschiedenen Herangehensweisen der Struktur- bzw. Fundamentalontologie an
das Sein, spiegelt sich, zwar fahl und von weit her, aber dennoch merklich, der alte Streit
zwischen Sein und Werden, Parmenides und Heraklit, den Eleaten und den ionischen
Naturphilosophen. Es darf aber nicht der Fehler gemacht werden die derzeitige Diskussion
auf die antike Auseinandersetzung zu reduzieren. Zumal dieser Diskurs in einem frühen
Stadium der prozesshaften Entstehungsgeschichte philosophischen Denkens im Okzident
geführt wurde und wir uns heute, obwohl dieser Prozess niemals abgeschlossen sein wird,
von einer thematischen, geschichtlichen, zeitlichen als auch räumlichen Distanz der
damaligen Auseinandersetzungen annehmen. Eine solche philosophiegeschichtliche
38 Stenger 2006, S. 51239 Ebd.40 Ebd. S. 513
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Betrachtung zeigt die vertikale Natur der Struktur, wie sie auch Rombach als Kind der
Neuzeit ansah, während die horizontale Ausformung des Strukturdenkens nur aus der
Binnenperspektive respektive als kontingenzhistorische An-sicht aufgelöst werden kann.
Was ist aber mit Kontingenzhistorizität gemeint? Damit sei der Umstand ausgedrückt, dass
es um eine prinzipielle Einbettung geht, deren Natur als solche nicht direkt
ausschlaggebend ist. Ahistorizität wäre hier nicht zutreffend, denn sie würde davon
ausgehen, dass es keine geschichtliche Einbindung gibt. Dass etwas Historie hat, ist für
die Horizontalperspektive relevant, nicht aber das Wesen dieser Historie. Damit wird diese
Ausprägung als horizontale Betrachtungsweise raumzeitlich variabel und damit
unabhängig vom Vertikalen der Philosophiegeschichte oder allgemeiner: der
geschichtlichen Betrachtung überhaupt.
Um auf die Vorsokratiker zurückzukommen, zeigt sich bereits im altgriechischen φυναι (alt.
gr.: wachsen, hervorgehen), den Wortstamm der φύσις, was als Natur verstanden wurde.
Es ist ein ständiges Wachsen, eine prozessuale Autokreativität, am Werk. Dieses
Verständnis zieht sich durch alle Sparten des Lebens, es wird zum Umfeld, Medium und
Basis des Zeitgeistes. Diese Einbettung in den miterschaffenen und miterschaffenden
Hergang, des sich als konstituierendes Urmeer offenbarenden Fundaments von
Gesellschaft, Sprache und sogar dem Denken selbst, wirkt in jeder Epoche und jedem
Zeitalter. Dies ist die horizontale Dimension, die sich, trotz aller solitärer Exponiertheit des
jeweiligen Standpunktes in der Weltgeschichte, nachvollziehen lässt. Allerdings ist es in
diesem Zusammenhang notwendig die Perspektive aus der eigenen Geschichtlichkeit für
einen Moment abzustreifen, um in einem metaanalytischen Unternehmen die
ontogenetischen Strukturen, die hier am Werk sind, zu beleuchten. Dies ist der Spagat,
den es zu leisten gilt, zwischen dem arbiträrhistorischen „Immer-schon“, der
Konstitutionskriterien der jeweilig betrachteten Phase menschlichen Zusammenlebens,
Denkens oder Umfelds, und dem Bewusstsein der niemals zu entkommenden, eigenen
Historizität und ihrer Fundierung des Wahrnehmens, Denkens und Sprechens. Das
„Immer-schon“ deutet bereits durch seine Geburt in der geschichtlichen Draufsicht seine
diametrale Natur an als kontingenzhistorische Historizität.41 Nur von einer solchen Warte
aus sind ontogenetische Überlegungen, die den Menschen an sich betreffen, haltbar.
Aber gerade diese kontingenzhistorische Historizität ermöglicht es uns beliebig
raumzeitlich getrennte Ereignisse als strukturanalog zu betrachten. Wie kann aber eine
41 Obwohl an der orthaften Ortlosigkeit Malls angelehnt, handelt es sich hier, wie bereits oben erwähnt, um mehr als nur die auf die zeitliche Dimension umgedeutete Räumlichkeit.
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solche Analogie gedacht werden? Wie kann etwas per se Konstitutives arbiträr werden?
Jedes Entfernen einer Sache aus ihrem Erkenntniszusammenhang ist doch eine bewusste
Verfälschung, jede Leugnung der allgegenwärtig anhaftenden Perspektivität ein
Widerspruch zu dem bisher Gesagten. Kann es hier überhaupt eine Trennung geben, die
nicht der kopernikanischen Wende Kants widerspräche?
Wenn wir uns der Konkreativität genauer annehmen, fällt bald das Fehlen eines Akteurs
auf. Der Prozess verläuft ohne Initiator, ohne Steuerung, in auto-matischen qua selbst-
tätigen Ablauf. Das bedeutet er läuft von selbst, für sich selbst und aus ihm bildet resp.
erfährt sich das Selbst.
Können diese Grundstrukturen des Ablaufens, die Grunderfahrungen und Grundbilder
ohne Subjekt gedacht werden? Sie müssen es sogar, denn sonst fänden wir uns in einem
begründungsskeptizistischen Trilemma wieder. Es wird also von einem präsubjektiven,
prälingualen Bereich ausgegangen – dem Reich der Grundstrukturen. Das bedeutet aber
nicht, dass diese nicht perspektivisch sind und zwar durch den ihnen inherenten Ausdruck
der jeweiligen historisch-epochalen Schickung. Wir haben also eine Basisebene der
Strukturontologie, aus der über die untrennbare Verknüpfung von unmittelbaren
Wirklichkeitszusammenhängen und historisch-vertikale bzw. sozial-horizontale
Verbindungen etwas entsteht, was später einmal Subjekt genannt werden wird. Dieser
Prozess an sich soll sich also vielfach nachvollziehen lassen, womit er selbst austausch-
und übersetzbar wird.
Wenn wir uns nun also die vielen einzelnen, grundstrukturellen Veränderungen und
Einflüsse vor Augen führen, die in diesem konkreativen Prozess mitspielen, um dieses
eine, rombachsche Bild zu erzeugen, dann fühlen wir uns in die Nähe der
Komplexitätsforschung versetzt. Diese untersucht Strukturen und Systeme, die ohne
Supervisor auskommend auf einer Makroebene Eigenschaften aufzeigen, die sich nicht
von der Betrachtung der Mikroebene voraussagen lassen. In der Hoffnung die
Grundstrukturen im Sinne der Komplexitätstheorie emergent beschreiben zu können, eine
Anwendung zu finden, die eine kulturinvariante Beschreibung bzw. Übersetzung
ermöglicht, wenden wir uns nun also der Emergenztheorie zu, um diese auf mögliche
Implikationen abzuhorchen.
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Was ist Emergenz?
Die Emergenzforschung nahm, ausgehend von frühesten Denkanstößen, wie das Zitat
aus Aristoteles' Metaphysik, „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, den
pantheistischen Ansätzen eines Baruch de Spinoza oder Giordano Bruno, sowie
Überlegungen von G.W.F. Hegel und Schelling, erst am Beginn des 20. Jahrhunderts im
Form des britischen Emergentismus unter der Feder von John Stuart Mill, C. Broad und C.
Lloyd Morgan an Fahrt auf. Alles nur um in Folge wieder in Vergessenheit zu geraten und
erst in den 70er-Jahren zu einer bis heute andauernden Renaissance zu gelangen. In
zeitgenössischen Diskursen findet der Begriff vor allem in der Philosophy of Mind, der
Wissenschaftstheorie und den Naturwissenschaften Verbreitung.
In der Auseinandersetzung mit der Emergenzforschung stechen vor allem zwei
Emergenzbegriffe heraus: jene von Mark A. Bedau und Achim Stephan.42 Beide Autoren
wurden zum einen aufgrund der Verschiedenheit der Ansätze und der damit erhofften
breiteren Heranführung an das Thema ausgewählt, zum anderen aber vor allem auch
wegen der von ihnen vertretenen Kategorisierung emergenter Phänomene, die in Folge
noch ausschlaggebend sein wird. Sicherlich, es gibt auch viele andere zentrale Figuren
des Emergenzdiskurses wie Paul Hoyningen-Huene, Jaegwon Kim, Robert B. Laughlin u.
a., die zu erwähnen wären, allerdings decken sich deren Kategorisierungen großteils mit
denen von Bedau oder Stephan bzw. beleuchten nur einen Teil emergenter Phänomene.
Allen Ansätzen gemeinsam ist eine immer wiederkehrende Irreduzibilität der
Eigenschaften einer Makroebene auf die Eigenschaften der Teile der Mikroebene. So zeigt
sich am Beispiel einer Ameisenstraße, dass unsere Intuition hier einen „allwissenden
Steuermann“, einen Supervisor oder Demiurgen, verlangen würde, der eine derartig
wohlgeformte Struktur durch seine Leitung „erschafft“. In Wahrheit ist die Ausbildung einer
Ameisenstraße aber emergent: durch chaotische Suchbewegungen, Ausstoß von
Pheromonen bei erfolgreichem Fund bzw. anschließendem Heimweg zum Bau aber auch
durch eine gewissen Form des „Vergessens“, die sich durch die Flüchtigkeit der
Pheromone manifestiert, ergibt sich, nach ausreichend vielen Iterationen, eine optimale
Problemlösung. In Simulationen lässt sich nachvollziehen: stimmt auch nur eine der
Variablen nicht mit dem in der Natur Vorgefundenen überein (z.B. die Pheromone
verflüchtigen sich zu schnell oder zu langsam), dann verschwindet die Struktur der
42 s. Bedau (o.J.) bzw. Stephan (o.J.)
20
Ameisenstraße.43 Jedoch ist keiner Ameise der „Gesamtplan“ ihrer Straße bewusst. Die
Wohlgeformtheit als Merkmal ist also nur auf der Makroebene vorhanden, also emergent.44
Abseits der Irreduzibilität erwähnen einige Ansätze45 außerdem Formen von sogenannter
Abwärtskausalität. Damit sei eine Verursachung von Eigenschaften auf der Mikroebene
durch Wirkungen der Makroebene gemeint. Vor allem im sozialen Kontext sprechen
Emergenztheoretiker von Wirkungen des Systems auf seine Elemente, wobei dieser
Ansatz nicht unumstritten ist. Ebenso umstritten stellt sich auch der Begriff der multiplen
Realisierung dar. Hierbei handelt es sich um die, vor allem in der Philosophy of Mind
populären, Annahme, dass eine emergente Makroebene durch verschiedene Weisen
realisiert werden kann: so können Gefühle, wie bspw. Frustration, durch verschiedene
Zustände im Hirn hervorgerufen werden.
Aus diesen Merkmalen emergenter Strukturen lassen sich auch die zentralen
Diskursräume ableiten, in denen die Auseinandersetzungen stattfinden: so geht es hier vor
allem um Annäherung an resp. Differenzierung von Paradigmen des Physikalismus, sowie,
eng damit verbunden, des Reduktionismus. Im weiteren Fokus kommen dann auch
allgemeinere Dispute eines physikalischen Monismus gegen einen Körper-Geist-
Dualismus, inklusive der damit verbunden Probleme und Debatten, dazu. Eine genauere
Behandlung dieser, sprengt allerdings den Rahmen der vorliegenden Arbeit.
Mark A. Bedau geht von einer Unterscheidung zwischen nominaler, schwacher und starker
Emergenz aus. Ihm greift die nominale Interpretation von Emergenz zu weit. Nach ihr wäre
jedes Phänomen emergent zu nennen, sofern dessen Makroebene einerseits kausal von
der Mikroebene abhängt, andererseits aber hinsichtlich seiner Eigenschaften autonom
davon ist. Beispiele hierfür sind überall zu finden, wie das Verhältnis von Wasser
(Makroebene) zu seinen Bestandteilen den Wassermolekülen (Mikroebene). Obwohl
Wasser aus diesen Molekülen besteht, teilen diese mit ihm nicht die Eigenschaften der
Transparenz oder der Flüssigkeit. Ein anderes Beispiel wäre das Verhältnis des Kreises zu
seinen, ihn erzeugenden Punkten. Dieser Begriff ist offensichtlich zu weit und läuft Gefahr
bedeutungslos durch seine uneingeschränkte Anwendbarkeit zu werden.46 Auf die andere
43 s. dazu Simulationen mit dem Programm Netlogo - http://ccl.northwestern.edu/netlogo/44 Wichtig dabei ist, dass es sich hier nicht um eine epistemische Irreduzibilität, sondern um eine ontologische,
handelt. Vgl. dazu Greve/Schnabel 2011, S. 13 f.45 Allen voran ist hier der Ansatz Donald T. Campbell zu erwähnen, der diesen Begriff erstmals in seinem 1974
veröffentlichten Artikel 'Downward causation' in hierarchically organised biological systems prägte. Obwohl diese Theorie überwiegend kritisch aufgenommen wird, so kann unter anderem die Systemtheorie Luhmanns in ihrer Nähe verortet werden (vgl. Heintz 2004, S. 22 ff.)
46 Vgl. Hoyningen-Huene (o.J.), S. 40
21
Seite stellt Bedau die starke Emergenz, deren Forderung nach einer supervenienten
Makroebene bei gleichzeitiger Irreduzibilität der Kausalkräfte auf Mikro- und Makroebene
zu stark sei.47 Solche Systeme würden sich also durch eine Art „kausaler Abgehobenheit“
von ihrer Basis auszeichnen. Voraussetzung für starke Emergenz wäre aufgrund dieser
kausalen „Loslösung“, dass keine Simulation eine hinreichende Erklärung für die
auftretenden Phänomene liefern könnte. Vor allem Makrodetermination, wie die
Abwärtskausalität noch genannt wird, widerspräche der Supervenienz, ja der Emergenz
überhaupt, so Bedau. Nach Bedau gibt es also keinen wissenschaftlich relevanten Grund
die Aufrechterhaltung des Konzepts der starken Emergenz.48
Einzig und allein die schwache Emergenz wird von Bedau und einem Großteil der mit
Komplexitätstheorie befassten, philosophischen, aber auch wissenschaftlichen Gemeinde
akzeptiert, vor allem aber aufgrund ihrer prinzipiellen Reduzierbarkeit, deren Erklärung,
ihrer Komplexität wegen, erst durch Simulation möglich wird. Das bedeutet aber nichts
anderes als, dass uns hier kein anderer Blickwinkel übrigbleibt als der des teilnehmenden
Akteurs. Wir müssen uns in die Rolle der Ameise begeben und diese in Form einer
Simulation „nacherleben“ um Aussagen über das System machen zu können. Die Rolle
des unbeteiligten, äußeren Beobachters wird dadurch zum Widerspruch eines jeglichen
Erklärungsansatzes, denn dieser kann nur systemimmanent erfolgen. Da also jedes
Außen bereits ein epistemologisches Ausschlusskriterium in sich birgt, lässt sich eine
Begründung nur über „das Durchlaufen der mikrokausalen Netzes“49 finden. Durch dieses
Durchlaufen soll die Nicht-Komprimierbarkeit der Erklärung eines Systems ausgedrückt
werden, womit zugleich behauptet wird, dass eine Simulation die einfachst mögliche
Beschreibung des jeweiligen Systems ist.
Hier ergeben sich aber bereits prinzipielle Probleme, die noch weit vor einer allgemeinen
Epistemologiekritik der Wissenschaften ansetzt. Denn, wenn wir von einem Physikalismus
als Reduktionsbasis ausgehen, so wirkt es von vielen Autoren verfrüht, dieser Basis
unhinterfragte Sicherheit zu attestieren. Führen wir uns zunächst das
Komplementaritätsprinzip50 und die Heisenberg'sche Unschärferelation als zwei Theorien
47 Mit Supervenienz wird die Eigenschaft zweier Systeme bezeichnet, in denen die Änderung in System A von Änderung in System B begleitet wird, nicht aber umgekehrt. Ein Beispiel dazu wäre das Verhältnis der Darstellung eines Bildes zu seiner physikalischen Beschaffenheit. So kann die Darstellung nur durch die physikalische Veränderung modifiziert werden, allerdings kann dieselbe Darstellung mit einer anderen physikalischen Konfiguration realisiert werden. Vgl. dazu Greve/Schnabel 2011, S. 16
48 Vgl. Bedau (o.J.), S. 66 ff.; Neuere Erkenntnisse (s. Gu et. al. 2009) weisen allerdings auf eine prinzipielle „Nicht-Beschreibbarkeit“ von Systemen hin, die sich ihrerseits als mögliche Kandidaten starker Emergenz qualifizieren.
49 Bedau (o.J.), S. 7150 Während die Heisenbergsche Unschärferelation weithin bekannt ist, ist ihr „großer Bruder“ das
Komplementaritätsprinzip eher wenig rezipiert. Nach ihm ist es prinzipiell unmöglich zwei methodisch
22
der Quantenmechanik vor Augen, so wird schnell klar, dass eine fast schon naive
Annahme, einer mit allgemeiner Messbarkeit einhergehenden Reduzierbarkeit, fehlgeleitet
ist. Durch die Modifikation eines jeden Systems allein durch die Anwesenheit eines
Beobachters wird die Wahrnehm- bzw. Messbarkeit innerhalb des Reduktionismus
prinzipiell hinterfragt. Dieses Hauptargument gegen starke Emergenz wird somit zum
Argument gegen Emergenz überhaupt, wenn nämlich die Reduktion aufgrund fehlender
Informationen nicht möglich ist, so handelt es sich nicht um Emergenz, so die
Argumentation von Bedau, Kim und anderer Autoren.51 Daher stellt sich die Frage wo die
Grenze gezogen werden soll zwischen prinzipiellem oder vorläufigem Informationsmangel.
Denn wer würde zu behaupten wagen, dieses oder jenes ungeklärte Phänomen wäre nie
messbar? Damit scheint der von Bedau vertretene Emergenzbegriff der von Hoyningen-
Huyene geprägten und sicher auch allgemein geteilten Forderung der begrifflichen
Nichtleerheit52 selbst nicht zu genügen und würde sich somit selbst auflösen.53
Anders als Bedau unterscheidet Stephan zum einen zwischen starker und schwacher,
andererseits aber auch zwischen synchroner und diachroner Emergenz. Schwache
Emergenz weisen nach Stephan Systeme auf, die durch ihren physikalischen Monismus,
durch das Entstehen systemischer Eigenschaften, die auf der Mikroebene als solche nicht
existieren und durch ihre synchrone Determiniertheit ausgezeichnet sind.54 Synchronizität
in diesem Zusammenhang meint die vollständige Bestimmbarkeit der Mikroebene und die,
damit einhergehende, nachvollziehbare kausale Abhängigkeit der emergenten,
systemischen Eigenschaften von den Eigenschaften der Mikroebene.
Die diachrone, schwache Emergenz zeichnet sich durch die zusätzliche Forderung nach
der Neuartigkeit der emergenten Eigenschaften des Makrosystems aus. Dabei ist diese
genetische Neuartigkeit von der vorher bereits im System angelegten Neuartigkeit
systemischer Eigenschaften zu differenzieren.55 Jedoch weist Stephan selbst schon auf
die begrenzte Aussagekraft des Begriffs der schwachen, diachronen Emergenz vor allem
in Bezug auf soziale Systeme hin. An Relevanz erlangt für ihn dann erst der Begriff der
verschiedene Beobachtungen (Weg, Zeit, Impuls, Ort, etc.) mit gleicher Sicherheit durchzuführen. Es handelt sich damit um eine Verallgemeinerung der Unschärferelation, die trotz modernen Methoden die Unschärfe zu umgehen bestätigt wurde. (Vgl. dazu Zeilinger 1995)
51 Vgl. Bedau (o.J.), S. 67 f.52 Vgl. Hoyningen-Huene (o.J.), S. 4053 Die Debatte über Möglichkeit und Unmöglichkeit von starker Emergenz ist eine äußerst weitreichende und kann
hier leider nicht ausführlich behandelt werden. Es bleibt nur anzumerken, dass vor allem in der Auseinandersetzungmit sozialen Phänomenen die starke Emergenz als relevant angesehen wird.
54 Vgl. Stephan (o.J.), S. 134 f.55 Vgl. Stephan (o.J.), S.140 f.
23
starken Emergenz, sowohl synchroner als auch diachroner Natur.
Die starke synchrone Emergenz ergibt sich aus der Systemeigenschaft der Irreduzibilität.
Um diese jedoch charakterisieren zu können bedarf es zuerst der Definition des Positivs,
nämlich was denn überhaupt eine reduktive Erklärung ist. Eine solche muss Stephan
zufolge folgende drei Bedingungen erfüllen:
„(1) Die zu reduzierende Eigenschaft ist funktional (re)konstruierbar. (2) Es lässt sich zeigen, dass die funktionale/kausale Rolle der zu reduzierenden systemischen Eigenschaft durch die Interaktionen der Bestandteile des Systems erfüllt wird. (3) Das Verhalten der Bestandteile innerhalb eines bestimmten Systems ergibt sich aus ihren Eigenschaften und ihrem Verhalten in einfachen oder anders strukturierten Systemen.“56
Werden diese Kriterien nicht erfüllt, sprechen wir von Irreduzibilität. Für die Verletzung der
zweiten und dritten Forderung deutet er an, dass es sich bei dieser Ausformung um einen
Fall von abwärts gerichteter Verursachung (downward causation) handeln könnte. Damit
sei das Vorkommen von Systemen beschrieben deren konstituierende Mikroebene kausal
von den Änderungen der Makroebene abhängt, nicht aber umgekehrt. Vor allem aber in
sozialen Strukturen ist eine eindeutige Aussage über den Grund der Irreduzibilität oft nicht
erreichbar. So zeigt Stephan unter Berufung auf Durkheim, dass aufgrund
individualpsychologischer Gesetzmäßigkeiten nicht vorhergesagt werden kann, ob sich
Menschen in verschiedenen sozialen Kontexten ähnlich verhalten würden. Diese
Unvorhersagbarkeit begründe sich auf der fehlenden Projektionsfähigkeit menschlichen
Verhaltens auf die ihr zugrunde liegenden soziokulturellen Mechanismen.57 Vielmehr kann
im Hinblick auf die menschliche Gesellschaft und der Zugehörigkeit der Menschen zu
mehreren sozialen Kontexten davon ausgegangen werden, dass auch bei einer allfälligen
Determiniertheit der Individuen des jeweiligen Systems, es dennoch zu einem
deterministischen Chaos kommen könnte, das eine reduktive Erklärung vom Prinzip her
verunmöglichen würde, so Stephan.58
Irreduzibilität sei aber nicht der einzige Grund für die Unmöglichkeit einer reduziblen
Erklärung. Daneben besteht noch die Möglichkeit der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit der
Mikrostruktur des Systems. Diese Strukturemergenz tritt allerdings nur auf wenn die
Strukturen des Systems sich entsprechend den Gesetzen des deterministischen Chaos
verhalten. Diese Form der Emergenz nennt Stephan diachrone Strukturemergenz, die er
56 Stephan (o.J.), S. 14257 Vgl. ebd. S. 14958 Von einem deterministischen Chaos kann dann ausgegangen werden, wenn sich in einem vollständig determinierten
System durch minimale Veränderungen der Ausgangsbedingungen unvorhersagbare Konsequenzen ergeben. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Schmetterlingseffekt. Vgl. dazu Stephan (o.J.), S. 150 f.
24
in der Nähe von Bedaus Auffassung der nichtkomprimierbaren Erklärung der schwachen
Emergenz verortet.
Gemeinsamkeiten der Emergenzbegriffe
Wir haben nun zwei Begriffe der Emergenz kennengelernt, die sich zum Teil
überschneiden und teilweise ausschließen. Bedau vertritt dabei die Ansicht, dass es keine
starke Emergenz als solche gibt und nur die schwache Emergenz, deren Merkmal es ist
eine nichtkomprimierbare Erklärung zu besitzen, existiert. Stephan hingegen geht von
verschiedenen Arten sowohl schwacher als auch starker Emergenz aus, die sich durch
das Kriterium der Neuartigkeit von Eigenschaften der Makroebene auszeichnen. Beide
stimmen vor allem in den Grundzügen der Emergenztheorie überein, wonach in jedem Fall
von einem physikalischen Monismus ausgegangen wird und überdies jedem emergenten
System ein gewisser Grad an „Weigerung“ gegen den physikalischen Reduktionismus
attestiert wird.
Fraglich bleibt schließlich, ob sich die These des Emergentismus, also das Entstehen
genuin neuer Eigenschaften auf der Makroebene, die auf der Mikroebene nicht
vorkommen, auf Dinge anwenden lässt, bei denen eine physikalische Beschreibung nicht
zielführend wäre. Vor allem wenn es um mentale Vorgänge oder soziale Phänomene geht,
spalten sich hier die Geister. Während aber in der Philosophie des Geistes darum
debattiert wird, ob es sich bei Bewusstseinsinhalten um ein stark emergentes Phänomen
handelt oder nicht, gibt es kaum Positionen, die den ubiquitären Kanon des physikalischen
Monismus durchbrechen. Dabei wird es doch vor allem im Bereich des Sozialen
problematisch, wenn wir nichtstoffliche Dinge stofflich beschreiben wollen. Ist es
beispielsweise sinnvoll das Entstehen eines Begriffs oder gar Sprache an sich als die
Subsumption der milliardenfachen Gehirntätigkeiten der einzelnen Akteure zu verstehen?
Eine Reduktion auf den physikalischen Monismus scheint nicht nur äußerst komplex,
sondern auch wenig zielführend.
Angesichts der Fortschritte der modernen Physik scheint es treffender zu sein, vor allem in
subatomaren Kontexten, von Informationen als von Teilchen zu sprechen. Ein Beispiel für
diesen Paradigmenwechsel wäre das vor kurzer Zeit im Forschungsinstitut CERN
entdeckte Higgs-Boson. Wenn wir von diesem Partikel sprechen, also jenem Boson, dass
den subatomaren Teilchen Masse verleiht, und Masse für uns das Kriterium für Materie ist,
25
welche anderen Form der Existenz als die der Information können wir dann dem Higgs-
Boson selbst zusprechen? Wenn also die Grenzen zwischen Information und Materie
verschwimmen, scheint ein klassischer, monistischer Physikalismus nicht mehr haltbar,
jedoch kann an dieser Stelle auf dieses Thema nicht weiter eingegangen werden. Fakt ist,
bei einer Auseinandersetzung mit emergenten Strukturen in sozialen und mentalen
Kontexten haben wir an der physikalischen Beschreibung Ockham's Rassiermesser
anzusetzen und die einfachste Beschreibung zu wählen, eine Art von informologischen
Monismus. Dabei geht es vor allem um die Gründung einer tragfähigen Basis an der
Reduzibilität oder, im Falle von Emergenz, Irreduzibilität gemessen werden kann. Das
Pendant zu den subatomaren kleinsten gemeinsamen Nennern des Physikalismus ergibt
sich hier als das informologische Atom: der erfolgreiche Informationsaustausch. Bei
genauerem Hinsehen wird augenfällig warum das herkömmliche Bit der Informatik nicht
ausreichend sein kann, um soziale Begriffe und Entitäten zu beschreiben. Das Bit, die
kleinste Informationseinheit von 0 und 1, an oder aus, steht für sich allein und existiert als
solches unabhängig, womit es sich als Grundbaustein sozialer Systeme disqualifiziert,
denn diese beruhen gerade auf der Basis der Alterität, also der Existenz des Anderen.
Kleinstes Unteilbares eines solchen Konstrukts kann daher nur der elementare
Informationsaustausch sein, der die simple Existenz der Informationseinheit um die
Dimension des Gegenübers erweitert, denn ohne Messung im physikalischen oder
Wahrnehmung im epistemischen Sinn ist jede Existenzbehauptung ungesichert. Aus
diesem Grund kann es auch nur ein erfolgreicher Austausch sein, denn eine
Informationsabfrage, die ins Leere geht, ein Versuch des Begreifens des Anderen, der sich
nicht als Spiegeln des eigenes Ichs im Anderen zeigt, ist blind und bestätigt weder das
Fragende noch das Antwortende in seiner Existenz.
Aus diesen Gründen muss anscheinend die erste Forderung Stephans nach der
physikalischen Begründung reduktiver Erklärungen, durch eine informologische
Begründung modifiziert werden.
Durch diese Änderung des Forderungskatalogs reduktiver Erklärungen ergeben sich
weitreichende Konsequenzen. Zum einen haben wir damit ein angemessenes Werkzeug
um genuin mentale Entitäten zu beschreiben, zum anderen wird es möglich dieses
„Mentale" selbst emergenztheoretischen Überlegungen nahezuführen. In Folge sehen wir
uns an, ob These des informologischen Atomismus sich nun auf die Strukturontologie
anwenden lässt und ob etwas damit gewonnen sei.
26
Emergente Strukturontologie?
In der Auseinandersetzung mit der interkulturellen Philosophie, allen voran Rombachs
strukturontologischer Ansatz, und der Emergenztheorie stechen sogleich einige Parallelen
ins Auge. So geht es hier wie da um komplexe Systeme, die einer Reduktion auf ihre
Bestandteile sozusagen widerstreben. Dabei dreht es nicht nur um Makrosysteme, wie die
uns umgebende Gesellschaft, es geht vor allem auch um den Aufbau unseres Denkens,
um Entitäten mentaler Natur wie Vorstellungen, Wahrnehmung oder Begriffe. Während der
zeitgenössische Diskurs sich vor allem in Bezug darauf uneins ist, ob sich das
menschliche Bewusstsein als solches auf die ihm zugrunde liegenden neurochemischen
Prozesse reduzieren lasse, bleibt davon abgesehen die Ausbildung von Sprache als
massenphänomenales Erzeugnis als Rätsel weiter bestehen und von diesem Blickwinkel
großteils unangetastet. Selbst wenn sich die Frage klären ließe und jede Emotion, jede
Vorstellung und jeder Gedanken würde einem neurochemischen Zustand korrespondieren,
so ist aus komplexitätstheoretischer Sicht noch lange nicht geklärt, ob sich Produkte
dieses Kognitionsprozesses ebenfalls reduzibel beschreiben lassen. Es geht also um die
Frage ob sich die Ausbildung eines Begriffes wie „das Sein“ oder „das Eine“ als
Subsumtion der mannigfaltigen Ausdrücke der Interaktionen vieler Individuen verstehen
lässt, ja es geht um Begriffsbildung und Sinnzusprechung überhaupt. Reflektierend auf
das Phänomen der Sprache könnten wir sie uns als in einer Dreiheit von Silbe, Wort und
Satz gebildet vorstellen. Eine derartige Einordnung entspräche auch dem trinitarischen
Aufbau des rombachschen Grundbildes, einer Grundstruktur, die immer schon bei
unserem Zu-gang auf das Phänomen vorab bestimmend in unser Erleben eingreift.
„[Dieser] Dreiheit liegt ein Grundbild zugrunde das jede Art von Differenzierung leitet“, so
Rombach.59 Bei genauerer Hinsicht fällt allerdings auf, dass diese Trinität selbst schon
Widerspiegelung des Grundbildes unseres christlichen Weltbildes ist. Demzufolge
müssten in einer dualistisch geprägten Kultur eher nur Zweierkombinationen von Dingen
erkannt werden. Was aber an diesem Ansatz in jedem Fall interessant ist, ist die
Selbstähnlichkeit der Strukturen. Es geht also nicht um eine konkrete Dreierstruktur,
sondern um die Strukturähnlichkeit an sich. Diese ist es, die wir überall in den
Gegenständen finden und Rombachs Grundbild ist der beste Beweis dafür. Die
Strukturähnlichkeit finden wir ebenso in fraktal aufgebauten Gebilden in der Natur. Doch
59 Rombach 1991, S. 127
27
warum existieren derart viele selbstähnliche Strukturen in der Natur? Ein Ansatz zur
Klärung dieser Frage wäre sich damit auseinander zu setzen wie die Natur „lernt“. Hierfür
gibt es zwei widerstrebende und sich doch ergänzende Prinzipien: Verschwendung und
Sparsamkeit. Wird eine ökologische Nische als Problem angesehen, so ist es äußerst
verschwenderisch mittels Versuch und Irrtum über zufällige Mutationen, die beste Lösung
dafür zu finden. Und doch funktioniert die Evolution und damit die Natur genau in dieser
Weise. Ist jedoch eine erfolgreiche Lösung etabliert, so wird diese immer wieder kopiert.
Es scheint als funktioniere die Natur nach dem Credo: so einfach wie möglich, so komplex
wie nötig.60 Wenn wir nun darauf die rombachsche Grundstruktur betrachten, so wirken die
Grundbilder als wären sie nichts anderes als das sedimentierte Strukturdenken der Natur
selbst. Diese Struktur lag immer schon in den Phänomenen verborgen.
In Rombachs Beispiel von Zweig, Ast und Stamm zeigen sich die Strukturebenen, die,
ihres Wesens nach hierarchisch geordnet, für unsere Aufnahme des κόσμος qua Ordnung
verantwortlich zeichnen. Die allgegenwärtige Ordnung in der Natur erkannten nicht nur die
Griechen, auch die Inder kannten ein Ṛta, die Chinesen ein Shangdi. Die Orientierung am
Strukturgerüst der Natur scheint also nicht nur im Abendland am Anfang der Philosophie
zu stehen. Aber die Erkenntnis, dass wir in der Natur Hierarchien finden, die sich in
verschiedenen Ebenen unterteilt mehr oder weniger autark zu einander verhalten, wäre
als solche trivial. Die Crux an diesen strukturontologischen Überlegungen ist vielmehr,
dass wir gerade angesichts dieser ubiquitären Ordnungen erst unser Denken, Sprache
und Wahrnehmung entlang dieser Weltordnung organisiert haben. Damit sei nicht gesagt,
wir wären prädeterminiert durch die Physis, vielmehr sei damit das Verborgene, das sich
an den Dingen selbst zeigt, angesprochen. Es sei das Ungreifbare benannt, das
phainomenon, jenes Sich-so-an-ihm-selbst-zeigende, wie es Heidegger genannt hat, das
sich uns aber nicht als reines Sein offenbart, sondern als das Relationale, das
Dazwischen. Den Ausdruck für diese Organisation unseres Denkens sieht Heidegger auch
schon bei Kant verwurzelt, „[d]enn offenbar müssen sich Raum und Zeit so zeigen können,
sie müssen Phänomen werden können, wenn Kant eine sachgegründete transzendentale
Aussage damit beansprucht, wenn er sagt, der Raum sei das apriorische Worinnen einer
Ordnung.“61 Diese Anschauungsformen stellen aber keinesfalls eine statische Bühne dar,
60 Auch wenn viele Zusammenhänge für uns Menschen nicht auf dem ersten Blick klar erkennbar sind, gibt es immer wieder Verknüpfungen und Abhängigkeiten die sich erst im Laufe der Zeit oder von größerer Entfernung offenbaren. So erscheinen viele Lebewesen momentan als insignifikant für den Erhalt eines Ökosystems, während sich ihre Funktion für das Ökosystem erst in eventuellen Extremsituationen wie Trockenperioden oder bei Schädlingsbefall offenbart.
61 Heidegger 2001, S. 31
28
die von unserer Wahrnehmung unbeeinflusst bleibt. Wie Kant es in der kopernikanischen
Wende zeigte und Einstein,Schrödinger, Heisenberg und viele andere Physiker zu Beginn
des 20. Jahrhunderts es 200 Jahre später in einen mathematisch-physikalischen
Formalismus gossen: das Was der Wahrnehmung ist abhängig unserem jeweiligen Wie.
Dabei müssen aber konsequenterweise alle Phänomene der jeweiligen Perspektivität
genügen, denn für ein Phänomen benötigen wir zweierlei: das Seiende des Sich-so-an-
ihm-selbst-zeigenden und dasjenige Seiende, welchem sich ersteres Seiende zeigt. Wie
bereits erwähnt: ein Zeigen ohne Adressaten verlöre seine Existenzgrundlage. Damit ist
aber zugleich auch die Perspektivität des Adressaten immer schon mitgesagt. Das
Phänomen als solches existiert nicht nur für sich, sondern auch, in welcher Form auch
immer, für den anderen – so auch das Subjekt. Beide sind konkreativ, sie erschaffen sich
am jeweils anderen und sind so schon immer auf das jeweils andere Sein angewiesen.
Betrachten wir nun die an Rombach angelehnten konkreativen Züge der Welt, so
erkennen wir bei genauerem Hinsehen und in Auseinandersetzung mit der
Strukturontologien in viele Bereichen Ähnlichkeiten der verschiedenen Strukturen.
Kategorisierungen wie das bereits erwähnte Bach-Fluss-Strom-Beispiel wiederholen sich
in unserer Sprache immer wieder. Aber nicht nur die Linguistik ist von diesen Strukturen
durchsetzt, wir finden diese Bausteine auch wenn wir uns die Logik, unsere Geschichte
oder gar unsere Kultur ansehen. Selbst wenn sich aristotelischer und indischer
Syllogismus von Grund auf unterscheiden, dieser ist dreiwertig, jener fünfwertig, dieser
zielt auf Wahrheitskriterien a priori ab, jener hängt von empirischer Validiierung ab, dieser
trennt Psychologie und Logik vollkommen, jener nicht,62 dann drückt sich dadurch nicht nur
die jeweilige Weltsicht der westlichen Körper-Geist-Trennung und der Materialisierung des
Psychischen im Prakrti der indischen Samkhya-Philosophie aus, sondern auch die
Strukturen des jeweiligen Denkens. Dass es eine Syntax gibt die befolgt wird, dass es
Schlussregeln gibt in der Logik, die den Wunsch nach Systematisierung von Schlüssen
ausdrückt, dass sind die Strukturähnlichkeiten von denen die Rede ist. Nochmal: Das Was
ist hier ausschlaggebend, nicht aber das Wie. „Alles geschieht nach diesem λόγος [...]“63,
sagte uns schon Heraklit. Diese Strukturen wirken als wenn sie nicht anders sein könnten,
dabei wird in der Logik nur so argumentiert, die Geschichte nur in der Art erlebt und
niedergeschrieben oder unsere Kultur nur als solche vollzogen, weil wir diese als nichts
anderes sehen können. Ohne die ewige Wiederkehr des Gleichen könnten wir nichts
62 Vgl. Mall (o.J.), S. 7463 DK 12 B1
29
wahrnehmen. Soll heißen: hätten wir nicht immer schon Strukturähnlichkeiten
wahrgenommen, bliebe uns ein intentionaler Zugang zur Welt verwehrt, denn unsere
kognitive Fähigkeiten sind auf Wiedererkennen ausgelegt und wären mit ewig neuem
überfordert. Das ist die Subsumtion der Mannigfaltigkeiten von der Kant in der Kritik der
reinen Vernunft sprach. Selbst wenn Neues auf uns zukommt, wird dieses Originäre, durch
die Komplexitätsreduktion des menschlichen Geistes, subsumiert unter Ähnlichkeiten. Sie
erschienen uns kontraintuitiv und unlogisch. Im Prozess der präsubjektiven Konkreativität
des Seins sind unsere Kategorien, ja die Strukturen unseres Denkens selbst, immer schon
vor-aus-gelegt in das Dasein. Eine solche Erkenntnis wirkt trivial angesichts der
synthetischen Schlüssen a priori Kants und der Ek-sistenz des Daseins Heideggers.
Allerdings geht es hier nicht um eine simple gegenseitige Beeinflussung und Evokation
von Phänomen und Subjekt. Die Strukturähnlichkeit zeigt uns etwas viel substanzielleres:
beide scheinen auseinander zu emergieren.
Die rombachsche Konkreativität soll also nichts anderes sein als gegenseitige Emergenz.
Eine äußerst lapidare Aussage, denn wie soll so etwas vonstatten gehen? Wie soll
Emergenz, die per se von hierarchisch untergeordneten Ebenen ausgeht, ein
Gleichwertiges akzeptieren? Der Schlüssel hierzu liegt in der Perspektivität. Was von der
einen Warte wie Makrodetermination wirkt, ist in anderem Licht gesehen simple
Verursachung im Sinne einer nominalen Emergenz.64 Dieser Wechsel kann sich allerdings
erst vollziehen, wenn wir das Subjekt zurücklassen, was wir mit dem Fokus auf dessen
Ontogenese getan haben. Dieser präsubjektive Bereich der Betrachtung, die wir mit dem
Fokus auf die Grundbilder und Grundstrukturen der Strukturontologie gewonnen haben,
legt ein neues Feld der Untersuchung frei: eine präindividuelle, kulturinvariante und daher
kontingenzhistorische Auseinandersetzung mit dem Menschen.
Sofort stellt sich natürlich die Frage, ob ein solches Unterfangen, die Abstraktion des
Menschen von jeglichen subjektiv induzierten, genetischen Merkmalen überhaupt noch
irgendetwas dem Menschlichen ähnlichen übrig lässt? Konsequenterweise muss die
Antwort hierauf natürlich nein lauten, denn wie wir gesehen haben, können wir im
Augenschein der Konkreativität nur vom Menschen sprechen, wenn wir ihn sich selbst
zugleich mit den ihn umgebenden Phänomena evozieren lassen. Er ist niemals abtrennbar
und dennoch lässt uns der Blick auf die Grundbilder Strukturen ausmachen, die als solche
kulturinvariant bzw. präindividuell sind. Trotz ihrer Notwendigkeit sind sie niemals
64 Damit ist der Gedanke zugrunde gelegt, dass die Ausweisung der Kausalität im Auge des Betrachters liegt.
30
hinreichend und sind damit Beispiel einer multiplen Realisierung.
Ein Beispiel
Um diesen Ansatz zu konkretisieren, betrachten wir uns zunächst Grundmomente
asiatischen und abendländlischen Denkens. Dazu greifen wir uns die europäische
Denkstruktur der Dialektik und die dualistisch-widerstrebende Denkstruktur ostasiatischer
Prägung heraus. Obwohl diese beiden Denkstrukturen nicht die einzigen Vertreter ihres
jeweiligen Kulturkreises sind, so bleiben sie dennoch repräsentativ. Obwohl die trinitarisch-
dialektische Struktur eine neue hierarchisch höhere Ebene der Synthese erfordert, finden
sich dennoch bei beiden Systemen anfangs ebenbürtig widerstreitende Entitäten. Der
Widerstreit in ostasiatischen Denktraditionen bleibt als solcher auf der gleichen Ebene,
weil er selbst seinen Sinn in sich trägt, während dieser Sinn im abendländischen sich erst
im Ausgang, im Ziel bzw. Zweck ergibt. Wir haben also die Denkfigur des Widerstreitens in
beiden Kulturen, die für sich unabhängig von kultureller Prägung als solches verbreitet ist,
auf der einen Seite und die, aus ihr resultierenden, weiterführenden Überlegungen als
multiple Realisierungen dieser Grundstruktur. Die These des informologischen Atomismus
wieder heranziehend, wurde hier eben die erfolgreiche Informationsübertragung der
einzelnen präindividuellen Wesen immer schon zur conditio sine qua non der konkreativ-
emergenten Ausbildung von Denkstrukturen, Sprache und Kultur. Dieser Prozess wäre
dann aber nach der Einteilung Achim Stephans als starke Emergenz einzuordnen, denn
wir können die einzelnen Momente der Präsubjekt-Präwelt-Beziehung nicht mehr
zerstörungsfrei analysieren bzw. würden selbst durch Simulation zu immer neuen
Realisierungen kommen. Soll heißen, selbst wenn es uns möglich wäre, von
rudimentärsten, unmittelbaren Intentionalitätsbeziehungen mit der Welt, wie es erste Laut-
Ding-Identifikationen darstellen, bis hin zu den komplex verstrickten Bedingungen einer
schlussendlichen sozial motivierten Begriffsbildung, alle Momente der Ausbildung einer
derartigen Widerstreits-Denkfigur aufzuschlüsseln, so wäre durch die Konkreativität von
Subjekt und Welt bzw. Subjekt und Anderen diese selbst niemals zu trennen. Wir können
daher von emergenten Denkstrukturen sprechen, welche selbst einem informologischen
Atomismus genügen würden.
31
Conlusio
Schlussendlich bleibt die Frage im Raum was damit gewonnen sei?
Das hängt davon ab, was wir daraus machen wollen. Sehen wir uns dazu noch einmal die
verschiedenen Positionen interkultureller Philosophie an.
Wenn wir uns nochmals Wimmers Position des Polylogs ins Gedächtnis rufen, so wird in
der Auseinandersetzung mit der Hermeneutik der Kulturen eine Frage in erster Draufsicht
virulent: mit welchen Begriffen soll sich die Zentralperspektive, von der aus alle Kulturen
gleichberechtigt am Polylog teilnehmen sollen, hantieren? Wenden wir europäische
Begriffe an, so schleicht sich bei aller Sorgfalt und Vorsicht immer wieder der
abendländische Wertehorizont ein. Sagen wir Geist, haben wir immer schon die christliche
Ausformung dieses Begriffs als auch den νοῦς mitgesagt. Was ist aber mit der indischen
Auslegung des Geistig-Mentalen als Materielles in der Form des prakṛti? Wird hier nicht
von zwei unterschiedlichen Dingen gesprochen, obwohl dasselbe gemeint ist? Wichtig ist
die Perspektive von der wir uns dem Begriff nähern, das Woher des Zugangs. Das von
Wimmer geforderte interkulturelle Wörterbuch kann uns diesen präperspektivischen
Zugang nicht schaffen, weil es selbst nicht hinter diesen Zugang blickt. Vielmehr postuliert
der Polylog eine gemeinsame Sprache, ohne diese jemals auszuformulieren. Er
beantwortet die Frage nach der wesentlichen Basis eines interkulturellen Polylogs nicht.
Mall hingegen trifft schon eher den Nerv des Problems mit seiner orthaften Ortlosigkeit.
Die Doppelstruktur des Denkens, der Philosophie und des Sozialen, die zwischen
Differenzierungen und Analogismen schwankt, führt ihn zu dem Schluss, dass es keine
exklusive Position gibt von der wir den Dialog beginnen können. Aber auch Mall bleibt uns
die Antwort auf die Frage nach fundamentalen Übereinstimmungen schuldig, denn die
Forderung der orthaften Ortlosigkeit bleibt zumindest im Hinblick auf Strukturen des
Denkens, des Bewusstseins und der Wahrnehmung uneingelöst. Diese Äußerlichkeit wird
zumindest von Yousefi im Hinblick des Vergleichs als problematisch angesehen. Dem
kann nur zugestimmt werden, denn komparative Ansätze tragen der Komplexität
gegenseitiger Verstrickungen kaum Rechnung und sind eher Ausdruck eines Denkens,
das sich primär an Differenzierung denn an der orthaft-ortlosen Doppelstruktur orientiert.
Nichtsdestotrotz kann auch bei ihm, der Versuch einen Hinweis auf die Natur des tertium
comparationis des interkulturellen Vergleichs zu geben, vermisst werden.
Auch Fornet-Betancourt, der eine kritische Distanz zur eigenen Kultur und Gesellschaft
32
fordert, benennt den Ausgangspunkt interkulturellen Philosophieren nur negativ. Der Ort
an dem wir uns von unserer Eingebundenheit verabschieden, soll der Platz des Diskurses
sein. Es scheint als sei ein erster Schritt in die richtige Richtung getan, wenn das
Verlassen des eigenen gewohnten Bodens zum Ansatz wird. Der Fehler der Fornet-
Betancourt aber unterläuft, ist dass er diese Voraussetzung interkultureller Verständigung
gleichzeitig als überall vorhanden auszeichnet. Wieso fordern wir dann noch
interkulturellen Austausch und haben diesen nicht immer schon betrieben?
Entgegen des hermeneutischen Ansatzes von Wimmer und der diskursiv-komparativen
Zugänge von Mall,Yousefi und Fornet-Betancourt, zeichnen sich die phänomenologische
Ansätze von Rombach und Stenger als fundamentaler und direkter mit dem
bewusstseinstheoretischen Nabel unseres Denkens verhaftet aus. Erst Rombachs Ansatz
der strukturontologischen Konkreativität ist einer der von perspektivitätslogischer Hinsicht
Sinn macht. Die Perspektivitätshocheit wird dem Subjekt entzogen, die es trotz Ek-sistenz
im Dasein bei Heidegger immer noch hatte. Zum anderen entdeckte er mit seiner
Bildtheorie grundstrukturelle Zusammenhänge, die einem fraktal-emergenten Aufbau des
Denkens nahe kommen. Es sind die uns verborgenen Grundbilder, die von der Hermetik
entborgen werden und die Grundstrukturen des Denkens, ja des Seins überhaupt,
darlegen sollen. Grundstrukturen und Grundhandlungen sind die über den kulturellen
Kontext vermittelte Rahmenbedingungen für die Ausbildung der je eigenen Grundbilder.
Auch hier zeigt sich eine Doppelstruktur zwischen eigenperspektivischen Bildhaftigkeit und
präperspektivischer Grundstruktur. Stenger entwickelt Rombachs Gedanken der
Prozessualtität weiter indem er seinen Terminus des Ereignisses anstelle des Seins setzt.
Das Ablaufende wird auch hier anstelle des faktischen, abgeschlossenen Seienden
gestellt.
In der Entfernung vom Subjekt selbst, wird erst die überkulturelle Ähnlichkeit sichtbar.
Besser ausgedrückt eine Ähnlichkeit, die als solche nur in den rudimentärsten unserer
Denkstrukturen gefunden werden kann, fern von jeglicher Perspektivität. Diese Ferne kann
nur durch Aufgabe des Individuums erreicht werden, durch ein Einlassen auf einen
Bereich der von jeder Richtung aus, mit jeder Vorgeschichte und Prägung betreten werden
kann, denn er erfordert am Eingang das einzig Ausschlaggebende und Trennende: die
Aufgabe des Je-Eigenen. Mit einem emergent-strukturontologischen Zugang soll kein
Stein der Weisen gefunden sein, vielmehr geht es um den ersten Anstoß, einen Wegpunkt
an dem wir uns treffen können und von dem ausgegangen werden kann. Es damit noch
33
nicht einmal eine gemeinsame Basis gefunden. Es geht nur um eine Richtungsweisung,
wo diese, sofern überhaupt vorhanden, zu suchen sei.
Eine Strukturierung der Sprache, der Gesellschaft und des Denkens als emergente
Formen kann uns in diese Richtung bringen. Hier gibt es nichts Künstliches mehr. Wir sind
das Phänomen, das Ding und unser eigenes Sein selbst. Mit dem Auflösen der Differenz
fällt jegliche Perspektivität. Das ist der Punkt wo wir im Interkulturellen ansetzen können.
Das Tor ist aufgestoßen, wir müssen nur noch hindurchgehen.
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