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Adamik, Philipp 2016: Protestieren als Netzwerk? Eine netzwerktheoretische
Organisationsanalyse des Aktionsbündnisses „Stop G7 Elmau“
In der aktuellen soziologischen Diskussion ist die Frage, ob der Begriff des Netzwerks ein
Beobachtungsinstrument oder eine Form der sozialen Organisation beschreibt, stark umstritten
(vgl. Laux 2014, S. 22). Paradigmatisch für diese beiden Pole der Diskussion stehen der
französische Soziologe Bruno Latour mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2010) und
der amerikanische Soziologe Manuel Castells mit seiner Theorie der Netzwerkgesellschaft
(Castells 2004). Während Latour mit Vehemenz seine These vom Netzwerk als reinem, aber
universell anwendbaren Beobachtungsinstrument vertritt (Latour 2010, S. 228), ist für Castells
ein Netzwerk eine sehr alte Form der sozialen Organisation, die sich von zentralisierten
Hierarchien einerseits durch einen großen Vorteil und andererseits durch einen großen Nachteil
unterscheidet. Auf der einen Seite sind Netzwerke die flexibelste und anpassungsfähigste Form
der Organisation. Auf der anderen Seite haben sie Schwierigkeiten in der Koordination von
Funktionen, in der Konzentration von Ressourcen auf eine bestimmte Aufgabe, und mit dem
Management der Komplexität einer Aufgabe ab einer bestimmten Größe des Netzwerks.
Dieser Nachteil wurde aber, so Castells, durch die Einführung der neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien ausgeglichen. Durch diese wurden Netzwerke in Form von
Informationsnetzwerken zur überlegenen Organisationsform für alle menschlichen Aktivitäten
(vgl. Castells 2000, S. 15f). Aber ist Castells’ überlegene Organisationsform überhaupt
empirisch nachweisbar, oder ist Begriff des Netzwerks doch nur ein Beobachtungsinstrument?
Diese Frage bildet die Grundlage für die Diskussion beider Netzwerkkonzepte, die in einer
zunehmenden Konkretisierung und Anpassung des Netzwerkbegriffs als Organisationsbegriff
mündet, der am Beispiel des Aktionsbündnisses „Stop G7 Elmau“ hinsichtlich seiner Existenz
überprüft wird.
Ein Vergleich der beiden Netzwerkkonzepte zeigt dabei, dass Castells’ Konzept, trotz seiner
Anlagen abstrakter und, damit verbunden, noch stärker dem Konzept des universell
anwendbaren Beobachtungsinstruments entspricht als Latours Konzept (Kapitel 1). Aus
diesem Grund wird hier Castells Netzwerkbegriff zunächst als Beobachtungsbegriff im Sinne
Latours eingeführt, der analog zu Niklas Luhmanns Systembegriff in einen
Organisationsbegriff umgewandelt wird. Trotz dieser theoretischen Argumentation erscheint
der Begriff des Netzwerks immer noch zu allgemein, als dass er ein klares Bild von
Netzwerken als Organisationsform liefern könnte. Weitere Konkretisierungen des Begriffs
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werden demnach notwendig, wofür mit den Begriffen „Akteur“ und „Mittler“ zwei Konzepte
aus Latours Theorie herangezogen werden. Diese werden von ihrem ideologischen Ballast, der
Dominanz von nicht-menschlichen Akteuren, befreit in das Konzept des Netzwerks
implementiert. Trotz dieser zunehmenden Konkretisierung entspricht das Konzept immer noch
zu stark einem Beobachtungsbegriff, als dass mit dessen Hilfe zwischen Netzwerken und
Hierarchien als Organisationsform unterschieden werden könnte. Weitere Konkretisierungen
sind notwendig, die in den beiden Idealtypen „Hierarchie“ und „Netzwerk“ münden. Diese
werden anschließend an die Enden eines Kontinuums der Organisationsformen gesetzt.
Durch die entscheidende Eigenschaft von Netzwerken, ihrer Flexibilität, rücken dabei die
Entstehungsprozesse von Organisationen in den Fokus des Interesses. Hierfür wird im zweiten
Kapitel Henning Laux’ Modell der „Mechanismen der Strukturbildung“ (Laux 2014, S. 158 -
174) dargestellt und auf die Entwicklung von Hierarchien und Netzwerken als
Organisationsform angepasst.
Mit Hilfe der in den ersten beiden Kapiteln entwickelten theoretischen Instrumentarien wird
im dritten Kapitel die Entstehung und Strukturbildung des Aktionsbündnisses „Stop G7
Elmau“ (Aktionsbündnis Stop G7 Elmau 2014a) auf Basis von medialen Quellen,
insbesondere der ausführlichen Selbstdarstellung des Bündnisses nachgezeichnet.
Im Fazit werden die zentralen theoretischen Ergebnisse dieses Artikels zusammengefasst und
im Lichte der empirischen Untersuchung reflektiert. Den Abschluss des Artikels bildet ein
kommentiertes Schaubild des Aktionsbündnisses „Stop G7 Elmau“.
1. Das Konzept des Netzwerks bei Bruno Latour und Manuel Castells: eine
systemtheoretische Deutung
Auf der rein theoretischen Ebene lässt sich die Frage, ob sich der Begriff des Netzwerks auf
ein wissenschaftliches Beobachtungsinstrument oder eine reale Organisationsform bezieht,
nicht lösen. Denn weder der Nachweis der Existenz von Netzwerken als Organisationsform
noch als Beobachtungsinstrument schließt das jeweils andere theoretisch aus. Dabei ähneln
sich beide Begriffe so stark, dass auf der Ebene der abstrakten und visualisierbaren
Definitionen die Unterschiede zwischen beiden Konzepten verschwinden. So beschreibt
Castells Netzwerke als ein Gefüge aus untereinander verbunden Knoten. Wobei ein Knoten der
Punkt ist, an dem die Kurve sich selbst schneidet (vgl. Castells 2000, S. 15). Bei Latour sind
Netzwerke eine sternförmige Verzweigung, deren Linien zu anderen Punkten führen, die aus
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nichts als aus neuen Verbindungen bestehen (Latour 2010, S. 230). In der folgenden Abbildung
1 sind beide Konzepte visualisiert.
Abbildung 1: Visualisierung der Netzwerkbegriffe von Manuel Castells und Bruno
Latour
Castells Netzwerkbegriff gleicht dabei eher dem Bild einer unstrukturierten Wolke, während
Latours Netzwerk über deutlich mehr und klarer zu identifizierende Strukturen verfügt. Diese
graphischen Unterschiede sind aber eher oberflächlicher Natur und verschwinden, sobald die
Krümmung von Castells’ Kurve auf den Wert Null gesetzt wird und diese so die Form einer
Gerade und das gesamte Netzwerk die Form von Latours Netzwerk annimmt.
Aber auch ohne diese graphische Gleichsetzung ist allein auf Basis von Castells’ abstrakter
Definition nicht ersichtlich, wie es sich dabei um eine Organisationsform handeln kann.
Castells’ Theorie wirft damit ein ähnliches Problem auf wie Niklas Luhmanns These, dass es
„Systeme gibt“ (Luhmann 1987, S. 30). Ein System ist dabei zunächst definiert als die
Differenz zwischen System und Umwelt (vgl. Luhmann 1987, S. 35). Systeme existiert dabei
innerhalb der Systemtheorie in zwei Formen. Zum einem existieren Systeme als
Beobachtungsinstrument in Form einer externen Beobachtung von System und Umwelt. Zum
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anderem existieren Systeme als konkret vorliegende System/Umwelt-Differenz, wie sie als
„Prozess der Selbstbeobachtung […] die Differenz von System und Umwelt in den Systemen
selbst verfügbar macht“ (Luhmann 1987, S. 246f).
Diese doppelte Existenz von Systemen wird hier auf die Existenz von Netzwerken übertragen.
Als Beobachtungsinstrument ist ein Netzwerk demnach die Beobachtung einer Verknüpfung
von mehreren Knoten und als Organisationsform die beobachtbare und selbstständige
Verknüpfung der Knoten selbst.
Diese Übertragung steht dabei nicht im Widerspruch von Luhmanns Systemtheorie, sondern
verlegt einzig den Fokus von der Operation der Differenzierung hin zur ebenfalls bei Luhmann
vorhandenen Operation der Verknüpfung (vgl. Luhmann 2011 (Orig. 1975), S. 10 u. Luhmann
1997, S. 38 u. 46).
Allerdings vernachlässigt Luhmann diese Seite des Systembegriffs, weshalb es sinnvoll ist, die
Systemtheorie von den Netzwerktheorien aus weiter zu denken, oder - wie hier - den
Netzwerkbegriff systemtheoretisch sowohl als Beobachtungs- als auch als
Organisationsbegriff zu modellieren.
Verknüpfung und Differenzierung stehen dabei nicht im Widerspruch zueinander. Vielmehr ist
die Differenzierung die Kehrseite jedweder Verknüpfung, weil in einer komplexen Umwelt
jede realisierte Verknüpfung gleichzeitig den Ausschluss anderer Verknüpfungen nach sich
zieht (vgl. Luhmann 1987, S. 46).
Trotz dieser theoretischen Überlegungen, die die Verwendung des Netzwerkbegriffs sowohl als
Beobachtungsinstrument als auch als Organisationsform ermöglichen, verbleiben Netzwerke
als Organisationsform noch recht wage. Zur weiteren Konkretisierung wird im nächsten
Kapitel der Frage nachgegangen, welche Knoten von Organisationen verknüpft werden
können.
1.1 Die Konkretisierung des Netzwerkkonzepts
Ziel der Konkretisierung des Netzwerkkonzepts ist seine bessere Anwendbarkeit auf
Organisationen. Obwohl Latour sein Netzwerk als reines Beobachtungsinstrument konzipiert,
sind bei ihm für diesen Zweck deutlich mehr Hinweise zu finden als bei Castells.
Analog zu Luhmann und dem oben herausgearbeiteten Konzept des Netzwerks als aktive
Verknüpfung von Knoten geht es Latour um das empirische Nachzeichnen der Assoziationen
der Akteure (vgl. Latour 2010, S. 17f), dabei verwendet Latour einen vom üblichen
soziologischen Gebrauch abweichenden Akteursbegriff.
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In der soziologischen Tradition wird der Begriff des Akteurs ausschließlich auf Menschen
angewandt. Latour erweitert diesen Begriff auf materielle Gegenstände wie Messer,
Vorstellungen wie Einhörner und Tiere wie die Jakobsmuschel (Latour 2010, S. 122 u. 183).
Für diese Erweiterung schwächt er den Handlungsbegriff, der häufig mit zweckrationalem
Handeln gleichgesetzt wird, ab. Nach Latour genügt es um zu handeln einen Unterschied
machen. So ist für ihn „[j]edes Ding, dass eine gegebene Situation verändert, indem es einen
Unterschied macht“ ein Akteur (Latour 2010, S. 123). Dieses zielt auf die Zuweisung der
Hauptrolle von nicht-menschlichen Akteuren in jedweden Handlungsverlauf (vgl. Latour 2010,
S. 158). Dieser Zuweisung fehlt allerdings jedwede theoretische und empirische Begründung
und basiert ausschließlich auf der systematischen Ausblendung der Bedeutung von
menschlichen Akteuren. So blendet Latours These, dass Messer „Fleisch schneiden“ (Latour
2010, S. 122), nicht nur die Bedeutung des Menschen aus, ohne den das Messer nur in der
Schublade liegen würde, sondern auch derjenigen Menschen, die im Sinne des
Netzwerkkonzepts über den Produktionsprozess mit diesem Messer verknüpft sind.
Eine Gleichsetzung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ist auch nach Latour
theoretisch nicht konsistent. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit Latours Handlungsbegriff
ebenfalls zurückgewiesen und zum soziologischen Handlungsbegriff nach Max Weber
zurückgekehrt, der auch zweckrationales Handeln umfasst (vgl. Weber 2005, S. 17f). Dennoch
soll hier die Bedeutung von Latours „nicht-menschlichen Akteuren“ nicht geleugnet oder gar
negiert werden. Diese können durchaus einen Unterschied machen. So basiert Castells’
Postulat von der Überlegenheit von Informationsnetzwerken auf der Entwicklung der nicht-
menschlichen Akteure der Informations- und Kommunikationstechnologien. Aber Einen-
Unterschied-machen ist eben auch kein Handeln. Um diese Differenz zwischen Gegenständen
und Menschen, Handeln und Einen-Unterschied-machen deutlich hervorzuheben wird hier der
Akteursbegriff ausschließlich für Menschen verwendet. Für relevante Gegenstände wird hier
der ebenfalls von Latour verwendete und bei ihm mit dem Akteursbegriff bedeutungsgleiche
Begriff des Mittlers (vgl. Latour 2010, S. 224) verwendet.
Durch diese Vorüberlegungen lässt sich Castells’ abstrakter Netzwerkbegriff etwas weiter
konkretisieren. Als Beobachtungsinstrument können Netzwerke als ein Gefüge aus
untereinander verbunden Akteuren und Mittlern verstanden werden. Erfolgt die Verknüpfung
nicht durch einen externen Beobachter, sondern durch die Akteure eines Netzwerks, liegt ein
Netzwerk als Organisation vor.
Bei dem Aktionsbündnis „Stop G7 Elmau“ (in Folge auch „Stop G7“) handelt es sich um eine
solche Organisationsform. So wird in dem Aufruf für die Proteste gegen den G7 Gipfel in
6
Elmau 2015 eine Verbindung zwischen “Einzelpersonen, Organisationen und Parteien
unterschiedlichster Spektren und politischer Anschauungen“ (Schreer 2014a) gezogen.
Allerdings ist hiermit noch nicht geklärt, ob es sich bei diesem „Bündnis“ um ein Netzwerk
oder eine Hierarchie im Sinne von Castells handelt (s. o.). Denn das bisherige Konzept des
Netzwerks lässt sich sowohl auf Hierarchien als auch auf Netzwerke anwenden. Deswegen
werden im folgendem Kapitel die theoretischen Spezifika der beiden Organisationsformen
herausgearbeitet und als theoretische Idealpunkte an die Enden eines Kontinuums gesetzt.
1.2 Netzwerk und Hierarchie als Enden eines Kontinuums der Organisationsformen
Den Kern des bislang entwickelten Netzwerkkonzepts bildet die Definition vom Netzwerk als
allgemeingültiges Beobachtungskonzept. In diesem Sinne sind Netzwerke ein Gefüge aus
untereinander verbunden Akteuren und Mittlern. Diese Beobachtung ist sowohl von Akteuren
innerhalb von Hierarchien als auch von Netzwerken auf die sie umgebende Organisation
anwendbar. Damit aber ein Unterschied zwischen diesen beiden Organisationsformen
feststellbar ist, muss ein beobachtetes Netzwerk eine andere spezifische innere Form als eine
Hierarchie aufweisen. Diese innere Form, so legt es zumindest Castells’ Modellierung von
Organisationen als Informationsnetzwerke nahe (vgl. Castells 2000, S. 16), lässt sich anhand
von Informations- und Kommunikationsströmen nachzeichnen. Idealtypisch und
Übereinstimmung mit dem bisherigen Modellen wurden die Informations- und
Kommunikationsströme von Hierarchien und Netzwerken als Diskursarten von dem
tschechischen Medienphilosophen und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser
(Flusser 1996) beschrieben.
Abbildung 2: Der pyramidale Diskurs
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(Flusser 1996, S. 22)
Der hierarchische, bei Flusser der pyramidale Diskurs (vgl. Abbildung 2) wird aus der
Perspektive der Netzwerktheorie in die Akteure „Sender“ und „Empfänger“ unterteilt. Beide
Akteure sind durch einen Kommunikationskanal verbunden, der nur eine
Kommunikationsrichtung den Begriffen entsprechend vom Sender zum Empfänger zulässt.
Zwischen diesen beiden stehen die Relais, denen bei Flusser die Rolle der Autoritäten
zukommt. Ihre Aufgabe ist es, die Information entweder an den Autor zurückzuspielen oder an
dem Empfänger weiterzuleiten (vgl. Flusser 1996, S. 22f). Innerhalb der hier sich
entwickelnden Netzwerktheorie käme ihnen hier ebenfalls die Rolle eines Akteurs zu.
Abbildung 3: Netzdialoge
(Flusser 1996, S. 32)
Innerhalb von Flussers Visualisierung von Netzdialogen, die Latours Konzept sehr stark
ähnelt, werden die Knoten nicht weiter konkretisiert (vgl. Abbildung 3 u. Flusser 1996, S. 32f).
Gemäß der hier sich entwickelnden Netzwerktheorie können Netzdialoge als ein Gefüge aus
Akteuren und Mittlern verstanden werden.
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Diese beiden Diskursarten fließen hier in die weitere Modellbildung ein. Dabei erscheint für
die empirische Forschung Castells’ Annahme, dass innerhalb von Organisationen nur diese
beiden Diskursarten existieren, recht unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist die Annahme,
dass in Organisationen sowohl netzwerkartige als auch hierarchische Diskurse stattfinden.
Dieser Annahme wird hier Rechnung getragen, indem beide Diskursarten als Idealtypen die
Enden eines Kontinuums von Organisationsformen bilden (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4: Kontinuum der Organisationsformen
Hierarchie Mitte Netzwerk
Innerhalb dieses Kontinuums können Organisationen wie „Stop G7“ von einem externen
Beobachter gemäß ihrer internen Kommunikationsströme positioniert werden. Dabei zeichnet
sich der Idealtypus der Hierarchie bislang durch zentralisierte von einem Akteur getroffenen
Kommunikationsentscheidungen aus. Der Informationsstrom fließt dort vom Akteur „Sender“
über die Relais zum Akteur „Empfänger“. Die Positionen der Akteure und Mittler sind fixiert
und „ihre Distanzen, Abhängigkeiten, Repräsentanten, Kompetenzen, Zuständigkeiten, Rollen
und Funktionen“ (Laux 2015, S. 168) klar bestimmt.
Im Idealtypus des Netzwerks können die Informationen frei fließen. Die Akteure wechseln
ihrer Position zwischen Sender und Empfänger. Ihnen kommt dabei selbst die Entscheidung
zu, an wen sie etwas weiterleiten und von wem sie etwas empfangen (vgl. Castells S. 15).
Diese Entscheidungsfreiheit bedingt den großen Vorteil von Netzwerken, ihre Flexibilität (vgl.
Castells 2000, S. 15).
Hierarchien basieren demnach auf festen Strukturen, während Netzwerke auf Aktualität,
Anpassungsfähigkeit und Flexibilität ausgerichtete Gefüge sind. Diese Flexibilität gestattet es
Netzwerken, auch kurzzeitig die Form einer Hierarchie anzunehmen und Akteure und Mittler
jederzeit zu integrieren oder zu desintegrieren. Als Konsequenz daraus können Netzwerke und
Hierarchien nicht mehr allein auf Basis ihrer aktuellen Kommunikationsströme charakterisiert
werden. Weitere Kriterien wie die aktuelle Anzahl der Akteure und Mittler müssen hinzugefügt
werden (vgl. Castells 2000, S. 15).
Diese Flexibilität erschwert die Untersuchung von Organisationen und ihrer spätere
Positionierung innerhalb des Kontinuums. Eine Organisation, die sich zunächst als Hierarchie
darstellt, kann später die Form eines Netzwerks annehmen. Um diesem Phänomen Herr zu
werden, werden die von Flusser entlehnten Kriterien Form der internen Kommunikation,
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Flexibilität des Informationsstroms und Einfluss der Akteure auf den Informationsstrom
ergänzt durch die weiteren Merkmale Zeitbezug der Organisation, Zusammensetzung der
Akteure und Mittler, Stabilität der Innen-/Außengrenze und Stabilisierungsmechanismus. In der
folgenden Tabelle 1 sind diese Kriterien zusammengefasst und in ihrer jeweiligen Ausprägung
für die Idealtypen Hierarchien und Netzwerk aufgeführt.
Tabelle 1: Idealtypen - Netzwerk und Hierarchie
Netzwerke befinden sich diesem Idealtypus nach in einem ständigen Wandlungsprozess, in
dem der Modus der Verknüpfung von Akteuren, aber nicht die Verknüpfungen selbst auf eine
gewisse Dauer gestellt sind. Flexible Verknüpfung bedeutet nämlich, dass ständig
irgendwelche Akteure und Mittler miteinander verknüpft sind, aber nicht, dass es ständig
dieselben sind. Diese Flexibilität erzwingt, um Netzwerke überhaupt als solche identifizieren
zu können, diachrone Beobachtungen vorzunehmen. Idealweiser beginnen diese Beobachtung
Kriterium Hierarchie Netzwerk
Form der internen
Kommunikation
starre Struktur flexibles Gefüge
Flexibilität des
Informationsstroms
keine: ausschließlich vom
Sender zum Empfänger
hoch: frei fließend
Einfluss von Akteuren auf den
Informationsstrom
keiner: wird durch die
Struktur vorgegeben
hoch: selbstständige
Steuerung der Akteure
Zeitbezug der Organisation Dauerhaftigkeit Aktualität
Flexibilität der sozialen
Position
starr flexibel
Zusammensetzung der
Akteure & Mittler
konstant: Ausschließlich
Ersetzungen
flexibel: Einbindung,
Ausgrenzung und Ersetzung
Stabilität der Innen-
/Außengrenze
starr flexibel
Stabilisierungsmechanismus feste Positionen flexible Verknüpfung
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bei der Entstehung der Organisation und enden beim aktuellen Zustand. Hierfür steht mit den
„Mechanismen der Strukturbildung“ (Laux 2014, S. 158 - 174) ein netzwerktheoretisches
Modell zur Verfügung, dass im folgenden Kapitel vorgestellt und für die Entwicklung beider
Organisationsformen angepasst wird.
2. Wie entstehen Organisationen? Die Mechanismen der Strukturbildung nach
Henning Laux
Die Grundlage von Henning Laux’ Modell bildet ein Kontinuum, das zwischen den beiden
Polen „offene“ und „geschlossene Situationen“ verläuft.
Geschlossene Situationen verfügen dabei über „keinerlei Spielräume [und] alles was passiert,
unterliegt einem unveränderlichen, totalen Regularium“ (Laux 2014, S. 158). Im Gegensatz
dazu prozessieren „in offenen Situationen […] die Akteure frei und kreativ“ (Laux 2014, S.
157).
Dieses Kontinuum umfasst aufgrund seines hohen Abstraktionsgrades auch beide
Organisationsformen als Idealtypen einer organisatorisch geschlossenen und offenen Situation
(Hierarchie und Netzwerk). Laux’ Modell zielt dabei darauf „die Mechanismen zu studieren,
mit deren Hilfe „Regeln und Regelmäßigkeiten“ (Reckwitz 1997) entstehen und offene in
geschlossene Situationen transferiert werden (vgl. Laux 2014, S. 158). Um diesen Prozess
nachzuzeichnen modelliert er die drei Mechanismen Kollision, Komposition und
Institutionalisierung, die durch einen vierten Mechanismus, der Dekonstruktion, der die
Öffnung einer geschlossenen Situation bewirkt (vgl. Laux 2014, S. 160), ergänzt werden. Die
folgende Abbildung 5 bietet einen Überblick über die vier Phasen anhand der Darstellung von
Laux.
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Abbildung 5: Die Mechanismen der Strukturbildung nach Laux
Auf die Entwicklung von Organisationen angewandt kann mit Hilfe dieses Modells der
Prozess nachgezeichnet werden, durch den sich aus einer offenen Situation (Kollisionsphase)
ein Netzwerk (Kompositionsphase) und schließlich eine Hierarchie
(Institutionalisierungsphase) entwickelt, die in der Dekonstruktionsphase wieder zerfällt. Da
Laux den Begriff der Hierarchie als Ordnungsprinzips und nicht als Organisationsbegriff
verwendet, ist für ihn jede Organisation auch dann eine Hierarchie, wenn die Akteure freien
und gleichen Einfluss auf den Kommunikationsstrom haben (vgl. Laux 2014, S. 168). Diese
Position wird hier nicht vertreten, sondern die beiden oben entwickelten Idealtypen werden
beibehalten und die vier Phasen für die Entwicklung beider Organisationsformen angepasst.
2.1 Die Kollisionsphase
Die Kollisionsphase ist bei Laux der Prototyp einer offenen Situation, der von einem „sozialen
Vakuum zur strukturierten Situation“ (Laux 2014, S. 161) führt. Hier treffen heterogene
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Elemente unkontrolliert aufeinander und „verketten sich zu einem konturlosen und amorphen
Gemenge“. Während dieser Phase ist noch nichts vorherbestimmt. „Feste Positionen,
Distanzen, Abhängigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen können sich während dieser Phase
weder herausbilden noch festigen“ (Laux 2014, S. 161).
Hier kann weder von Netzwerken noch von Hierarchien als Organisation gesprochen werden.
Einige Verknüpfungen lassen zwar die Ursprünge eines Netzwerks erahnen, aber der Modus
der Verknüpfung ist noch nicht auf eine gewisse Dauer gestellt (s. o.). Dieses erfolgt erst in der
Kompositionsphase.
2.2 Kompositionsphase
In Laux’ Modell geschieht die Stabilisierung von Verknüpfungen zunächst durch die
wiederholte Begegnung von Akteuren (vgl. Laux 2014, S. 163). In diesem Punkt trennen sich
die Entwicklungen von Netzwerken und Hierarchien. Hierarchien stabilisieren sich hier durch
die Begegnung der immer gleichen Akteure, während sich Netzwerke durch die Begegnung
unterschiedlicher Akteure stabilisieren. Damit sich aus diesen unterschiedlichen Begegnungen
Organisation entwicklen können, müssen weitere Verknüpfungselemente wie die
Herausbildung geteilter Narrative hinzukommen (vgl. Laux 2014, S. 163). Für netzwerkartige
Organisation müssen diese Narrative, um die Flexibilität des Netzwerks zu erhalten, vor allem
die schnelle Integration neuer Akteure und die Umstrukturierung vorhandener Verknüpfungen
ermöglichen.
Die Narrative von Hierarchien müssen in andere Richtung zielen. Sie müssen dauerhafte
Verknüpfungen etablieren. Sollte dieses erfolgreich sein, entsteht nach Laux „eine unscharfe
Anordnung von Elementen und Relationen, deren Kontingenz zwar noch erkennbar ist, deren
Zusammensetzung aber trotzdem nicht ohne weiteres verändert werden kann“ (Laux 2014, S.
163). Aber zwischen dieser unscharfen Anordnung und einer voll entwickelten Hierarchie steht
bei Laux noch die Öffentlichkeit.
Die Phase der Komposition hält Laux für „die beste und mitunter letzte Gelegenheit, um
Einfluss auf die endgültige Zusammensetzung einer sozialen Form zu nehmen“, weshalb die
Ausbildung einer Struktur von „Interventionen, Kontroversen, Beifallsstürmen, Gewalt und
Protesten geprägt“ (Laux 2014, S. 165f) ist. Als Ergebnis des Kompositionsprozesses existiert
für ihn nur die Zerstörung oder Institutionalisierung einer Struktur (vgl. Laux 2014, S. 165).
Netzwerke in der hier konzipierten Form oszillieren zwischen dieser und der nächsten Phase,
der Institutionalisierung, und müssten demnach einen ständigen Einfluss der Öffentlichkeit
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ausgesetzt sein. Diese These wird im weiteren Verlauf anhand des empirischen Beispiels, dem
Aktionsbündis „Stop G7 Elmau“ diskutiert. Zuvor werden aber noch die beiden fehlenden
Mechanismen, Institutionalisierung und Dekonstruktion dargestellt.
2.3 Institutionalisierung
In der dritten Phase, der Institutionalisierung, kommt es zur Stabilisierung der Struktur. „Die
Position der Elemente wird fixiert, Überraschungen und Uneindeutigkeiten werden auf ein
Minimum reduziert […]“ (Laux 2014, S. 166). Gleichzeitig wird eine systemtheoretische
Innen-Außen-Grenze errichtet, mit der sie sich die Struktur von ihrer Umwelt abhebt und sich
intern weiter ausdifferenziert (vgl. Laux 2014, S. 168). Innerhalb dieser Struktur werden
„Verfahren, Automatismen, Routinen, Standards und Subjektprofile“ durch „Wiederholung
inkorporiert und verinnerlicht“. Die Strukturvorgaben erscheinen den Akteuren „als
Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr hinterfragt werden“ (ebd.). In hierarchischen
Organisation ist die Position und die Anzahl der Akteure fixiert. Neue Akteure können nicht
ohne weiteres Teil der Hierarchie werden. Nur die Ersetzung von Akteuren oder die
Erweiterung der Struktur unter Beibehaltung der Strukturprinzipien ist möglich (vgl. Luhmann
1987, S. 38f). Dieses Stadium entspricht dem Reifestadium von Hierarchien als Organisation.
Nach Laux verbleibt ihnen danach nur noch der Verfall (Dekonstruktionsphase).
Netzwerke können in dieser Phase ebenfalls Strukturen ausbilden, die aber nur so lange
erhalten werden, bis sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Anschließend zerfällt diese Struktur gemäß
der in der folgenden Dekonstruktionsphase beschriebenen Mechanismen.
2.4 Dekonstruktion
Die Institutionalisierung einer Struktur garantiert nicht, dass sie in ihrer konkreten Form auch
auf Dauer besteht. In der Dekonstruktionsphase wird die zuvor „eingegrenzte, definierte,
fixierte stabilisierte Einheit“ unterlaufen, „zersetzt, attackiert, infiltriert, erodiert und zerstreut“
(Laux 2014, S. 170). Es kommt „in Abhängigkeit von wechselnden Hegemonien zur
Veränderung, Umcodierung, Mutation, Zersetzung, Zerstörung, Interpenetration, Intrusion
oder Reparaturen der sozialen Form“ (Laux 2014, S. 171). Hierarchien droht in dieser Phase
die endgültige Zerstörung.
Für Netzwerke als Organisationen ist dieser Prozess ein Dauerzustand. Sie wandeln
kontinuierlich ihr inneres Gefüge zwischen „strukturiert“ und „offen“. Sie passen sich der
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aktuellen Aufgabe an und oszillieren mittels des Mechanismus der Dekonstruktion beständig
zwischen der Kompositions- und der Institutionalisierungsphase hin und her. Die Reifephase
eines Netzwerks liegt zwischen diesen beiden Phasen. Hier können Verknüpfungen
aufgabenbezogen zu festen Strukturen gerinnen, um sich anschließend wieder aufzulösen und
so neue Verknüpfungen und andere Akteurskonstellationen zu ermöglichen. Aber auch ihnen
droht in dieser Phase die endgültige Zerstörung.
Dieses Modell und die Idealtypen von Organisationen werden im folgendem Kapitel auf das
Aktionsbündnis „Stop G7 Elmau“ angewandt und reflektiert.
3. Existieren Netzwerke als Organisationen? Eine Analyse des Aktionsbündnisses
„Stop G7 Elmau“
Mit Hilfe der bisher entwickelten theoretischen Grundlagen, den Idealtypen „Hierarchie“ und
„Netzwerk“ und dem Phasenschema der Entstehung von Organisationen wird im Folgendem
die Entwicklung einer Organisation nachgezeichnet. Um ebenfalls der Frage nach der Existenz
von Informationsnetzwerken gemäß der hier verwendeten Definition von Organisationen als
interne Anwendung der Operation „Verknüpfung“ nachzugehen, wird hier mit dem
Aktionsbündis „Stop G7 Elmau“ eine Organisation untersucht, die mit dem Begriff des
Bündisses ihren netzwerkartigen Charakter bereits im Namen proklamiert. Darüber hinaus
zeichnet sich das Bündnis „Stop G7“ auf seiner Webseite „www.stop-g7-elmau.de“ durch eine
sehr ausführliche und detaillierte Dokumentation seines Entstehungsprozesses aus. Dieses
erleichtert nicht nur die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses, sondern bietet gleichzeitig
auch eine Einblick in die Verwendung von IuK-Technologien wie Webseiten, dem sozialen
Medium „Facebook“ und von Mailinglisten, denen Castells eine entscheidende Bedeutung für
den Erfolg von Netzwerken als dominante Organisationsform zubilligt (s. o.). Zwar kann so
die empirische Bedeutung dieser Technologien für den Organisationsprozess nicht untersucht
werden, hierfür wären Interviews mit den Akteuren notwendig, aber die Bedeutung dieser
Technologien innerhalb des Bündnisses kann durchaus abgeschätzt werden.
Der Entstehungsprozess des Bündnisses wird hier von seinen Ursprüngen, die noch vor seiner
offiziellen Gründung Ende September 2014 liegen, nachgezeichnet, mit Hilfe des oben
entwickelten Phasenschemas analysiert und in die entsprechenden Phasen eingeteilt. Dabei
werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem idealtypischen Phasenmodell
und der realen Entwicklung aufgezeigt und die Organisationsform des Bündnisses mit Hilfe
der Idealtypen „Hierarchie“ und „Netzwerk“ charakterisiert. Starke Veränderungen in der
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Zusammensetzung der Akteure, eine ständig wechselnde Form und Intensität der
Strukturierung würden dabei für die Organisationsform Netzwerk sprechen, ein
kontinuierlicher und zunehmender Strukturierungsprozess für eine Hierarchie. Aufgrund der
Konzentration auf eine konkrete Organisation lässt aber auch eine abschließende Einordnung
des Bündnisses und seines Erfolges keine Schlüsse bezüglich der gesamtgesellschaftlichen
Dominanz einer der beiden Organisationsformen im Sinne Castells zu.
3.1 Phase 1: Kollision
Offiziell wurde das Aktionsbündnis „Stop G7 Elmau“ Ende September 2014 gegründet (s. u.).
Die ersten Vorbereitungen zur Gründung des Bündnisses begannen aber bereits im Mai 2014.
Im Unterschied zum Phasenmodell ist das Bündnis nicht aus einem sozialen Vakuum
entstanden, sondern wurde von zwei bereits bestehenden Bündnissen initiiert.
Die Entstehung des Aktionsbündnisses wurde vom „Münchener Bündnis gegen Krieg und
Rassismus“ initiiert, das zu Beginn der 2000er Jahre gegründet wurde (vgl. Münchener
Bündnis gegen Krieg und Rassismus 2015). Ab Mai 2014 begann das Münchener Bündnis mit
der Vorbereitung der Proteste. Hierfür veröffentlichte das Bündnis über die Seite
www.sicherheitskonferenz.de als „PDF“-Dokument eine Einladung zur „Aktionskonferenz zu
Vorbereitung der Proteste gegen den G7 Gipfel am 4. - 5. Juni in Elmau“ (Bündnis gegen die
Nato-Sicherheitskonferenz 2014a). Hinter dieser Webseite steht das ebenfalls in München
ansässige „Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz“. Beide Bündnisse sind durch den
bekannten Münchener Aktivisten Claus Schreer (vgl. Münchener Bündnis gegen Krieg und
Rassismus 2015a u. Bündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz 2014a) und durch den
Mittler der Informations- und Kommunikationstechnologien miteinander verbunden. So
erfolgte die Einladung zur Aktionskonferenz über beide Bündniswebseiten und in der
Einladung wurde auf eine E-Mailadresse „als Kommunikations- und Koordinationsstruktur“
(Schreer 2014a) hingewiesen.
Das weitere Wachstum des Bündnisses richtete sich aber dem Modell entsprechend in ein
soziales Vakuum hinein. So wurde zur Aktionskonferenz „ein möglichst breites Spektrum von
Verbänden, Interessengruppen und Vereinen“ (Schreer 2014a) eingeladen.
Bereits in dieser Entstehungsphase zeigen sich also erste Unterschiede zu Laux’ Modell. Der
entscheidende Unterschied liegt in der Existenz kompetenter Akteure, die bei Laux keine Rolle
spielen. Die weitere Entwicklung des Bündnisses wurde von diesem nicht als willkürliches
aufeinandertreffen heterogener Elemente hingenommen, sondern als zielgerichteter Prozess
16
initiiert. Bereits in der Einladung wurde die Vorbereitung von Protesten gegen den G7-Gipfel
als Ziel festgelegt und mit den Themen der „Konstituierung von Arbeitsgruppen“ und
„Kommunikationsstruktur und Öffentlichkeitsarbeit“ (ebd.) zukünftige Strukturen des
Bündnisses angelegt. Gleichzeitig gab es während dieser Phase bereits Abgrenzungsprozesse.
Es wurden nur „alle Organisationen und Personen, die an einem erfolgreichen Protest
mitarbeiten möchten“ (ebd.) zur Aktionskonferenz eingeladen. Da aber die Prüfung der
Mitarbeit nicht bei den Initiatoren, sondern bei den potentiellen Akteuren selbst lag, entspricht
diese Form der Abgrenzung dem Organisationstypus des Netzwerks. In der folgenden Tabelle
2 wird das Bündnis anhand der Kriterien der beiden Idealtypen analysiert.
Tabelle 2: Analyse des Bündnisses
Kriterium Bündnis Organisationstypus
Form der internen
Kommunikation
öffentliche Mailadresse und Webseiten;
Arbeits- und Aktionskonferenzen
teilstrukturiert, aber offen
für neue Akteure; eher
Netzwerk
Flexibilität des
Informationsstrom
s
Öffnung (neue Kommunikationsstrukturen)
und angedachte Schließung (AGs)
netzwerkartige und
hierarchische Elemente
Einfluss von
Akteuren auf den
Informationsstrom
Dominanz der Initiatoren bei angedachter
Egalisierung
Hierarchie mit Tendenz
zum Netzwerk
Zeitbezug der
Organisation
aktuell, konkretes Ereignis des G7-Gipfels Netzwerk
Flexibilität der
sozialen Position
Erweiterung und Konstituierung als Ziel Hierarchie mit Tendenz
zum Netzwerk
Zusammensetzung
der Akteure &
Mittler
Erweiterung der Akteure als Ziel s. o.
17
Kriterium Bündnis Organisationstypus
Stabilität der
Innen-
/Außengrenze
Ausdehnung der Außengrenze als Ziel. Netzwerk
Stabilisierungs-
mechanismus
regelmäßige Treffen offen für beide
Organisationsformen
Insgesamt Hierarchie
In der Kollisionsphase war das Bündnis vorwiegend hierarchisch strukturiert. Allerdings waren
in dieser Struktur Entwicklungstendenzen i
n Richtung Netzwerk angelegt. Wie diese Darstellung der ersten Phase zeigt, ist eine exakte
Zuordnung des Entstehungsprozesses des Bündnisses zu den einzelnen Phasen schwer
möglich. Bereits vor einem ersten Treffen wurden zahlreiche Elemente wie die Planung des
Treffens und die Errichtung einer ersten Kommunikationsstruktur von den Akteuren bedacht
und initiiert. Unter diesen Bedingungen entsteht die Offenheit der nun folgenden
Kompositionsphase aus der Ungewissheit, ob diese Bemühungen auch Früchte trugen.
3.2 Phase 2: Komposition
Erst durch das Nachzeichnen des Prozesses lässt sich zeigen, dass die Bemühungen der beiden
Ursprungsbündnisse in der Kollisionsphase auch erfolgreich waren. Tatsächlich erschienen die
eingeladenen Verbände, Interessengruppen und Vereine zur ersten Aktionskonferenz am 5. Juli
2015. Die Ergebnisse dieser sind allerdings kaum dokumentiert, weshalb die folgende
Darstellung hauptsächlich aus Rückschlüssen aus dem gesamten Prozess basiert.
Aufgrund der folgenden raschen Entwicklung ist davon auszugehen, dass auf dieser Konferenz
tatsächlich Arbeitsgruppen (in Folge AGs) entstanden sind. Es wurden auch im Sinne Laux’
wiederholte Aktivitäten wie eine Arbeitskonferenz am 09. August 2014 und eine zweite
Aktionskonferenz am 20. September 2014 geplant (vgl. Bündnis gegen die Nato-
Sicherheitskonferenz 2014b). Auf der Arbeitskonferenz wurden vermutlich vorwiegend
Themen, die zur Entwicklung einer gemeinsamen Narration und zum Ausbau der
Kommunikationsstrukturen gehören, besprochen. Dort wurde der Name des Bündnisses „Stop
G7 Elmau“ festgelegt und eine Webseite vorbereitet. Denn ab dem 27. August 2014 wurde
18
zusätzlich zu der Webseite des Bündnisses gegen die Natosicherheitskonferenz auch auf der
neuen Seite „www.stop-g7-elmau.info“ für die nächste Aktionskonferenz eingeladen (vgl.
Aktionsbündnis Stop G7 Elmau 2014b u. Bündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz
2014c). In dieser Einladung ist auch die weitere Entwicklung der Narration, insbesondere in
der Darstellung des politischen Gegners erkennbar. So heißt es dort: „Die G7 stehen für
Ausbeutung, für Kriege, für Umweltzerstörung, für Abschottung gegenüber Flüchtlingen“
(Schreer 2014b).
Eine Einflussnahme der Öffentlichkeit, die laut Laux in dieser Phase auftritt, ist nicht zu
erkennen. Zwar richten sich die Einladungen und die Webseite an die Öffentlichkeit, diese
schließt sich aber entweder dem Bündnis an oder ignoriert es. Eine Einordnung des
Aktionsbündnisses zu einem Organisationstypus ist aufgrund der geringen Datengrundlage
nicht möglich. Es findet aber ein Ausbau internetbasierten Informations- und
Kommunikationsströmen und eine Erweiterung hin zur physischen Kommunikation während
der Konferenzen statt. Dies entspricht einer weiteren Öffnung der Kommunikation für die
Öffentlichkeit (eigene Webseite und Errichtung aufgabenspezifischer E-Mailadressen) und
eine interne Schließung der Kommunikation (AGs). Insgesamt scheint der bereits zu Beginn
angelegte Strukturierungsprozess weiter fortgeschritten zu sein. So wird in der Einladung die
„Konstituierung eines Aktionsbündnisses“ als Ziel angegeben.
3.3 Phase 3: Institutionalisierung
Wie in der Einladung angekündigt fand auf der Aktionskonferenz vom 20. - 21. September
2014 die eigentliche Gründung des Aktionsbündnisses „Stop G7 Elmau“ statt. In den vier
Monaten seit Mai 2014 ist das Bündnis immens gewachsen. Auf dem Treffen waren circa 100
Einzelpersonen aus etwa 80 Organisationen wie Attac, der Rosa Luxemburg Stiftung,
Gewerkschaften, kirchlichen Organisationen, Parteien, linksradikale und MigrantInnen
Organisationen anwesend (Aktionsbündis Stop G7 Elmau 2014c).
Die Organisationsstruktur der AGs hat sich während dieser Konferenz gefestigt. In insgesamt
sechs AGs zu den Themenbereichen Mobilisierung, Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Camps
und Aktionen vor Ort, Demonstration in München, Gegengipfel und Ko-Kreis (Koordinierung)
wurden zahlreiche Ergebnisse erarbeitet, die anschließend in einem Plenum als neuem Element
der Organisationsstruktur diskutiert und abgestimmt wurden. Insbesondere die AG
Mobilisierung erarbeitete den Aufruf, der für die Proteste gegen den G7-Gipfel mobilisieren
sollte (ebd.). In diesem Aufruf wurde die gemeinsame Narration zu einer Narration der ‚bösen
19
G7-Staaten’ weiterentwickelt. Dort heißt es: „Die Politik der G7-Staaten bedeutet neoliberale
Wirtschaftspolitik, Krieg und Militarisierung, Ausbeutung, Armut und Hunger“ (Schreer
2014b). Ebenfalls wurde hier als Teil der Narration die Form des Protestes spezifiziert: „Wir
werden uns mit vielfältigen und kreativen, offenen und entschlossenen Aktionen, mit
Demonstrationen, Blockaden und Versammlungen direkt am Schloss sowie der
Großdemonstration in Garmisch-Partenkirchen und dem Gegengipfel in München der Politik
der G7 in den Weg stellen“ (ebd.). Ergänzt wurde dieses durch sechs gemeinsame Forderungen
u. a. gegen Freihandelsabkommen, Kriege und sozialen Kahlschlag.
Der im Aufruf angekündigte Fahrplan der Proteste wurde auf dieser Konferenz beschlossen
und später in recht ähnlicher Form auch umgesetzt.
Insbesondere während der Pressekonferenz am 21.09. wurde die zunehmende Strukturierung
des Bündnisses deutlich. Auf der Konferenz sprachen vier gewählte VertreterInnen, die das
gesamte Spektrum „von sehr weit Links bis Mitte Links“ abbilden sollten. Vertreten waren
dort das Bündnis selbst, die Parteien durch eine Sprecherin der Partei DIE LINKE, die Kirchen
und die radikale Linke durch einen Sprecher des „Revolutionären Bündnisses 3A“. Des
Weiteren wurde Benjamin Ruß als zentraler Pressesprecher ernannt, der auch die
Pressekonferenz moderierte (vgl. Aktionsbündnis Stop G7 Elmau 2014c).
In Anschluss an diese Aktionskonferenz kam es zu einer Erweiterung der
Kommunikationsstrukturen in den Bereich der sozialen Medien hinein. Am 28. September gab
es den ersten „Post“ auf der „Facebook“-Seite des Bündnisses (Aktionsbündnis Stop G7
Elmau 2014d), der gleichzeitig einen der ersten Presseberichte über das Bündnis abbildet (vgl.
Mittelbayrische Zeitung 2014). Aber auch in diesem Artikel ist keine Einflussnahme der
Öffentlichkeit auf die Struktur des Bündnisses erkennbar. Vielmehr hat sich diese, bestehend
aus dem Plenum, mehreren AGs, Vertretern der politischen Spektren und eines zentralen
Pressesprechers weiter gefestigt, denn die nächsten Aktionskonferenz, am 13. u. 14. Dezember
in München, wurde nach dem gleichen Schema organisiert (vgl. Aktionsbündnis Stop G7
Elmau 2014e). In der folgenden Tabelle 3 wird das Bündnis nach dem bekannten Schema
analysiert und eingeordnet.
20
Tabelle 3: Analyse des Aktionsbünisses „Stop G7 Elmau“
Kriterium Stop G7 Elmau Organisationstypus
Form der internen
Kommunikation
Austausch zwischen AGs und Plenum teilstrukturiert,
zwischen Netzwerk
und Hierarchie
Flexibilität des
Informationsstroms
Informationen fließen sowohl aus den AGs in
das Plenum als auch umgekehrt
teilstrukturiert, eher
Netzwerk
Einfluss von
Akteuren auf den
Informationsstrom
höherer Einfluss der AGs auf den
Informationsstrom, Plenum hat hauptsächlich
Kontroll- und Legitimationsfunktionen
eher Hierarchie
Zeitbezug der
Organisation
aktuell, konkretes Ereignis des G7-Gipfels Netzwerk
Flexibilität der
sozialen Position
Fixierung von sozialer Positionen
(Pressesprecher und Vertreter der
Bündnisteile)
eher Hierarchie
Zusammensetzung
der Akteure &
Mittler
starke Erweiterung; Akteure gehen nicht im
Bündnis auf, sondern Verbleiben in ihren
Organisationen
Eher Netzwerk
Stabilität der Innen-
/Außengrenze
starke Ausdehnung; Pressekonferenzen und
eigene Publikationsorgane (Webseite & Social
Media) dienen als Grenzregime zwischen
Bündnis und Öffentlichkeit
eher Hierarchie
Stabilisierungs-
mechanismus
regelmäßige Treffen offen für beide
Organisationsformen
Insgesamt Hierarchie mit netzwerkartigen Elementen
21
Die bisherige Entwicklung des Bündnisses folgte dem in Laux’ Modell vorgezeichneten
Entwicklungspfad hin zu einer zunehmenden Strukturierung und Hierarchisierung, die durch
wenige netzwerkartige Elemente abgeschwächt wurde. Dieser Trend setzt sich auch in der
Dekonstruktionsphase fort.
3.4 Dekonstruktion:
Gemäß dem Phasenschema erfolgte eine Dekonstruktion des Bündnisses nach der
Institutionalisierungsphase. Auslöser war die Frage nach dem Veranstaltungsort der
Großdemonstration. Während auf der vorherigen Aktionskonferenz sowohl in Garmisch-
Partenkirchen als auch in München eine Demonstrationen geplant war, wurde auf der dritten
Konferenz am 13./14. Dezember im Plenum beschlossen, dass nur eine Großdemonstration in
Garmisch-Partenkirchen stattfinden sollte (Aktionsbündnis Stop G7 Elmau 2014f). Aufgrund
dieser Entscheidung spalteten sich einige Akteure ab und riefen später einen Trägerkreis für
eine Demonstration in München ins Leben (Trägerkreis Demonstration München 2015a). Dazu
heißt es in einem Artikel von ATTAC Deutschland: „Zum anderen beschloss ein Kreis von
OrganisationsrepräsentantInnen, in dem BasisaktivistInnen kaum vertreten waren, eine Demo
in München am 4. Juni“ (Attac 2015).
Diese Abspaltung hatte Konsequenzen für die Narrationen der jeweiligen Protestbündnisse.
Während sich die Demonstration in München auf die Themen Freihandelsabkommen,
Klimaschutz und Armutsbekämpfung konzentrierte (Trägerkreis Demonstration München
2015b), war das Themenspektrum von „Stop G7“ weiter gefasst. Der Hauptunterschied lag
darin, dass „Stop G7“ die G7 als illegitimen Zusammenschluss betrachtete (vgl. Schreer
2014b), während sich der Trägerkreis nicht zu diesem Punkt äußerte. Die Spaltung zwischen
beiden Bündnissen wird in dem Punkt der Überschneidung zwischen den Organisatoren des
Trägerkreises und den Unterzeichnern des Aufrufs von „Stop G7“ deutlich. Von den elf
Mitgliedern des Trägerkreises hatten nur zwei auch den Aufruf von „Stop G7“ unterzeichnet.
Eine weitere Konsequenz war der Rückzug von ATTAC Deutschland aus allen Protesten gegen
den G7-Gipfel (vgl. Attac 2015).
Die Abspaltung der bürgerlichen Kreise hatte zwar Konsequenzen auf die Zusammensetzung
der Akteure, zog aber bis auf den Wegfall AG „Demonstration in München“ keine
Veränderungen der Organisationsstruktur nach sich. Aus diesen Gründen erübrigt sich eine
detaillierte tabellarische Darstellung. Weitere Dekonstruktionseffekte sind im weiteren Verlauf
22
nicht erkennbar. Allerdings beginnt nach dieser dritten Konferenz der Einfluss der
Öffentlichkeit und der Anti-Gruppen, der im nächsten Kapitel thematisiert wird.
3.5 Anti-Gruppen und Einfluss der Öffentlichkeit
Entgegen dem Modell von Laux machte sich der Einfluss der Öffentlichkeit erst nach der
Institutionalisierungsphase bemerkbar. Zur genaueren Analyse wird hier der Begriff der
Öffentlichkeit durch den von Latour stammenden Begriff der Anti-Gruppen (Latour 2010, S.
58f) differenziert. Unter Öffentlichkeit werden dabei netzwerktheoretisch alle Akteure
verstanden, die Informationen über einen bestimmten Sachverhalt besitzen, aber maximal über
Meinungsäußerungen in die Gestaltung des Sachverhalts eingreifen. Zu dieser Akteursgruppe
gehört auch die Presse (vgl. Hans-Bredow-Insitut (Hg.) 2006, S. 263). Anti-Gruppen
unterscheiden sich von der übrigen Öffentlichkeit durch eine aktive und antagonistische
Einflussnahme (vgl. Latour 2010, S. 58f). Im Fall von „Stop G7“ stellten die bayrischen
Behörden die wichtigste Anti-Gruppe dar.
Um ihre Aktionen und Demonstrationen durchzuführen, hielt „Stop G7“ die Errichtung eines
Protestcamps für notwendig. Die bayrischen Behörden versuchten bereits ab Januar 2015 dies
zu unterbinden. Sie forderten BürgermeisterInnen und Landwirte dazu auf, keine Campflächen
zur Verfügung zu stellen oder die Errichtung eines Camps durch sehr hohe Auflagen zu
erschweren (vgl. Aktionsbündnis Stop G7 Elmau 2015a). Die Stadt Garmisch-Partenkirchen
erließ daraufhin ein Campverbot, das durch die Ansicht begründet wurde, dass die Camps eine
Keimzelle der Gewalt seien (vgl. Heiner 2015).
Erst über den Klageweg konnte „Stop G7“ kurz vor dem Beginn der Proteste am 2. Juni 2015
das Campverbot aufheben (vgl. Süddeutsche-Online 2015).
Die Arbeit der Anti-Gruppe der bayrischen Behörden richtete sich, im Unterschied zu Laux’
Modell, nicht auf die Dekonstruktion der Organisation, sondern auf deren Ziele (Camp) und
der Diskreditierung der Akteure in der Öffentlichkeit als gewaltbereit.
Während diese erste Einflussnahme vorwiegend von der Anti-Gruppe der bayrischen Behörden
getragen wurde, wurde das Thema der Gewaltbereitschaft von DemonstrantInnen nach der
Demonstration gegen die Eröffnung des neuen Gebäudes der Europäischen Zentralbank am 18.
März 2015 in eine breitere Öffentlichkeit getragen. Bei der zum Teil gewaltsamen
Demonstration in Frankfurt wurden 130 AktivistInnen und 94 PolizistInnen verletzt (Adamik
2015). Hiernach wurde auch die potentielle Gewaltbereitschaft der AktivistInnen in Elmau in
der Presse thematisiert. Insbesondere den Befürchtungen der bayrischen Polizeikräfte wurde
23
dabei recht viel Raum gegeben. So titelte die Onlineausgabe von „n-tv“: „Polizei:
"Vorgeschmack auf G7": Blockupy muss sich scharfer Kritik stellen“ (n-tv.de 2015).
Auch diese Einflussnahme richtete sich nicht gegen die Organisation selbst, sondern gegen
ihre Akteure (Gewaltbereitschaft). Demzufolge sind auch bei „Stop G7“ keine Veränderungen
der Struktur zu verzeichnen. Im abschließenden Fazit werden die zentrale Ergebnisse dieses
Artikels zusammengefasst.
4 Fazit: Protestieren als Netzwerk?
Im ersten Kapitel konnte gezeigt werden, dass der Begriff des Netzwerks sowohl ein
universelles wissenschaftliches Beobachtungsinstrument als auch eine konkrete
Organisationsform bezeichnen kann. Dabei wurden Netzwerke als allgemeines
wissenschaftliches Beobachtungsinstrument nach Castells definiert als ein Gefüge aus
untereinander verbundenen Knoten. Wobei ein Knoten der Punkt ist, an dem die Kurve sich
selbst schneidet (Castells 2000, S. 15). Diese Definition wurde mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-
Theorie nach Bruno Latour für den soziologischen Gebrauch konkretisiert und als ein Gefüge
aus untereinander verbundenen Akteuren und Mittlern definiert. Im Unterschied zu Latour
bezieht sich der Begriff des Akteurs ausschließlich auf Menschen, während bedeutsame
Gegenstände als Mittler bezeichnet werden.
Zur Überführung des Beobachtungsbegriffs in den Organisationsbegriff wurde auf Luhmanns
Systembegriff zurückgegriffen. Analog zu Luhmanns Definition von real existierenden
Systemen wurden Netzwerke als Organisationen durch die Anwendung der Operation
„Verknüpfung“ durch die Akteure eines Netzwerks definiert. Dabei konnte gezeigt werden,
dass Netzwerktheorien und die Systemtheorie nicht in einem Widerspruch zueinander stehen,
sondern dass Netzwerktheorien den Schwerpunkt von der Operation „Differenzierung“ zur
Operation „Verknüpfung“ verschieben. Hierdurch wurden erste Anknüpfungspunkte für eine
gemeinsame Theorieentwicklung geschaffen.
Trotz dieser Konkretisierungen konnte mit Hilfe des Netzwerkbegriffs nicht trennscharf
zwischen Netzwerken und Hierarchien als Organisationsform unterschieden werden. Deshalb
wurden beide Organisationsformen als Idealtypen durch mehrere Kriterien weiter
konkretisiert. Dabei diente das Kriterium der Flexibilität als Leitdifferenz zwischen
Hierarchien und Netzwerken. Anschließend wurden die Idealtypen an die Enden eines
Kontinuums der Organisationsformen gesetzt, mit dessen Hilfe sich jedwede Organisation
analysieren und innerhalb dieses Kontinuums positionieren lässt.
24
Den Abschluss des theoretischen Teils (Kapitel 2) bildet die Frage nach der Entstehung beider
Idealtypen. Hierfür wurde Henning Laux’ allgemeineres Phasenmodell der „Mechanismen der
Strukturbildung“ für die Entstehung von Organisationen spezifiziert und für die beiden
Idealtypen differenziert. Hiernach werden Netzwerke als Organisationen angesehen, die zur
flexiblen, aufgabenbezogenen Strukturbildung fähig sind, während Hierarchien starre
Strukturen ausbilden. Während in Netzwerken nur der Modus der Verknüpfung auf Dauer
gestellt ist, stabilisieren sich in Hierarchien konkrete Verknüpfungen zwischen festen
Akteuren.
Während in den ersten beiden Kapiteln die netzwerktheoretischen Grundlagen zur Analyse von
Organisationen entwickelt wurden, wurden diese im dritten Kapitel auf das Aktionsbündnis
„Stop G7 Elmau“ angewandt. Dabei bestätigte sich Laux’ Phasenschema im Trend. Mit Hilfe
des Phasenschemas konnte die Entwicklung des Bündnisses nachgezeichnet und in die
entsprechenden Phasen eingeteilt werden. Die Abweichungen von den einzelnen Phasen
bestätigten dabei, dass die von Latour und Laux vertretene „Hauptrolle“ von nicht-
menschlichen Entitäten bei jedweder Konstruktion (vgl. Latour 2010, S. 158 u. Laux 2014, S.
166) weder theoretisch noch empirisch haltbar ist. Die Strukturierung des Aktionsbündnisses
wurde maßgeblich von „menschlichen“ Akteuren initiiert, vorangetrieben und gesteuert. Trotz
dieses Fehlers in Laux’ Theoriekonzeption verlief die Entwicklung des Bündnisses beinahe
idealtypisch nach dem Phasenschema hin zu einer zunehmenden Strukturierung. In der
folgenden Abbildung 5 ist die endgültige Organisationsstruktur des Bündnisses visualisiert.
25
Abbildung 5: Organisationsstruktur des Aktionsbündnisses „Stop G7 Elmau“
(Eigene Darstellung 2015)
Das Bündnis setzt sich aus deutschlandweit verstreuten AktivistInnen mit Schwerpunkt
München und Umgebung zusammen. Mit Ausnahme des Ausscheidens einiger bürgerlicher
AktivistInnen (vgl. Dekonstruktionsphase) hat sich dabei die Anzahl der AktivistInnen stets
vergrößert. Die Struktur des Bündnisses ist hauptsächlich durch die fünf AGs und das Plenum
geprägt. Während die Ausdifferenzierung in Arbeitsgruppen dem hierarchischen
Organisationstypus entspricht, wird diesem durch das Plenum mit seiner Legitimations-,
Kontroll- und Entscheidungsfunktion ein netzwerkartiges Element entgegengesetzt.
26
Entscheidungen wurden in den Arbeitsgruppen vorbereitet, im Plenum vorgestellt, diskutiert
und abschließend dort getroffen. Dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis wird in dem
Schaubild durch die Wechselwirkungspfeile symbolisiert.
Ein weiters wichtiges Element waren die regelmässigen Pressekonferenzen auf den
Aktionskonferenzen. Hierfür wurden durch das Plenum vier Vertreter gewählt, die die Presse
über die Arbeit des Bündnisses informierten. Eine Sonderstellung nimmt dabei der
Pressesprecher ein, der sowohl während der Pressekonferenzen als auch dauerhaft als
Pressesprecher auftrat. Formal waren diese vier Positionen nicht mit zusätzlichen
Entscheidungskompetenzen ausgestattet, weshalb diese - werden informelle Machtstrukturen
beiseite gelassen - einseitig von dem im Plenum und den Arbeitsgruppen getroffenen
Entscheidungen abhängig waren. Die Presse hatte eine intermediäre Funktion zwischen
Bündnis und Öffentlichkeit. Informationen wurden von ihr gesammelt, selektiert, bewertet und
aufbereitet, bevor sie an die Öffentlichkeit weitergeleitet wurden. Hierdurch hatte die Presse
einen großen Einfluss auf die Außenwahrnehmung des Bündnisses, was den großen
organisatorischen Aufwand (Pressekonferenzen, Pressesprecher und AG „Presse und
Öffentlichkeitsarbeit“) des Bündnisses in Bezug auf die Presse erklärt. Im Gegensatz dazu
bildeten die internetbasierten Publikationsorgane des Bündnisses (Webseite und die Social
Media Seiten) eine von der Presse unabhängige Einflussmöglichkeit des Bündnisses auf die
Öffentlichkeit, was auf eine große Bedeutung dieser für das Bündnis schließen lässt. Weitere
Publikationsorgane des Bündnisses wurden hier aufgrund der Konzentration auf Informations-
und Kommunikationstechnologien nicht beachtet.
Hiermit ist die Struktur des Bündnisses auf Basis der Datengrundlage vollständig erfasst.
Hieraus ergab sich auch, ohne das ein Grenzregime im Sinne Laux’ eine bedeutende Rolle
spielte, für das Bündnis eine Außengrenze, auf deren anderer Seite die Öffentlichkeit inklusive
Anti-Gruppe steht.
Insgesamt kann das Bündnis auf der hierarchischen Seite des Kontinuums der
Organisationsformen verortet werden. Durch das netzwerkartige Element des Plenums und
dem Aktualitätsbezug ist es dort aber näher an der Mitte als an dem Hierarchieende des
Kontinuums zu positionieren. In Bezug auf Castells’ These von der Überlegenheit von
Informationsnetzwerken als überlegene Organisationsform kann hier kein Ergebnis geliefert
werden. Denn auch wenn das Bündnis die meisten seiner Ziele, mit Ausnahme der Aktionen
direkt am Schloss, erreichte (vgl. Aktionsbündnis Stop G7 Elmau 2015b) waren es die Erfolge
einer Hierarchie und keines Informationsnetzwerks. Dies schließt aber die Existenz von
27
erfolgreichen Informationsnetzwerken außerhalb des hier betrachteten Gegenstandsbereichs
nicht aus.
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20-21-9-2014/#more-6, zuletzt geprüft am 02.09.2015.
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2014/, zuletzt geprüft am 02.09.2015.
Aktionsbündnis Stop G7 Elmau. 2014d. Link: Mittelbayrische Zeitung. Online verfügbar
unter:
https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=335213393321482&id=3340151167746
43, zuletzt geprüft am 02.09.2015.
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02.09.2015.
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geprüft am 02.09.2015.
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Online verfügbar unter: http://www.stop-g7-elmau.info/2015/01/29/pm-bayerische-behoerden-
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Aktionsbündnis Stop G7 Elmau. 2015b. Bündnis Stop G7 Elmau zieht positives Fazit über
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