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Wagner als Histrio Von der Philosophie der Illusion zur Physiologie der décadence von Giuliano Campioni, Pisa 1. Ein Genie der Lüge Sein eigener "dominierender Instinkt", so Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie der Moral , sei der "Grundwille der Erkenntniss" (GM, KSA 5, S. 248). In einem nachgelassenen Fragment aus dem Winter 1887 sagt Nietzsche über Wagner: "... der außerordentliche Schauspieler- und Theater- Instinkt war bisher insgleichen nicht deutsch (- man versteht nichts von Wagner, wenn man nicht in diesem Instinkt seine faculté maîtresse, seinen dominierenden Instinkt begreift)" (11[322], KSA 13, S. 136). 1 In diesem Fragment, in dem Nietzsche Wagner ausdrücklich als seinen Antipoden darstellt, bringt er den Begriff des dominierenden Instinkts, der der Vielheit der Instinkte Ordnung und Form gibt, mit der faculté maîtresse, einem Terminus technicus Taines, in Zusammenhang 2 . In dem bekannten Brief an Malwida von Meysenbug vom 18. Oktober 1888 bezeichnet Nietzsche Wagner als "Genie der Lüge" und sich selbst als dessen Gegenteil, als "Genie der Wahrheit". Innerhalb dieses radikalen Gegensatzes fühlt, analysiert und viviseziert er den Fall Wagner, indem er dem Teil seiner selbst Gewalt antut, der der verlorenen Freudschaft nachtrauert: 1 Vgl. auch WA 8, KSA 6, S. 30 und 23[2], KSA 13, S. 600. 2 Nietzsche verwendet den Terminus "dominierender Instinkt" an mehreren Stellen. Er übersetzt und interpretiert damit den Begriff "faculté maîtresse", seit dem Vorwort zum Essai sur Tite Live (1856) eine zentrale Kategorie bei Taine, die zur Bezeichnung des vorherrschenden Charakterzugs einer Person oder einer Gruppe dient, desjenigen Zuges also, der die Komplexität des Kräftefeldes zu ordnen und zu erklären vermag. Vgl. auch die von Nietzsche zitierte Taine-Stelle über Napoleon, wo der Terminus "faculté maîtresse" auftaucht (5[91], KSA 12, S. 223). Auf diesem und anderen, analogen Begriffen wie "conception maîtresse" beruht die gesamte kritische Produktion Taines, auf die Nietzsche sich bezieht. Zum Begriff der "faculté maîtresse" vgl. J. T. Nordmann: Taine et la critique scientifique, Paris 1992, S. 155ff, und R. Pozzi: Hippolyte Taine. Scienze umane e politica nell'Ottocento, Venedig 1993, S. 56ff. Auch Bourget benutzt diese Kategorie mehrmals (zum Teil unter direkter Bezugnahme auf Taine: vgl. P. Bourget: Essais de psychologie contemporaine, Paris 1883, S. 196). 1

Wagner als Histrio Von der Philosophie der Illusion zur Physiologie der décadence

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Wagner als Histrio Von der Philosophie der Illusion zur Physiologie der décadence

von Giuliano Campioni, Pisa

1. Ein Genie der Lüge

Sein eigener "dominierender Instinkt", so Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie der Moral, sei der "Grundwille der Erkenntniss" (GM, KSA 5, S. 248). In einem nachgelassenen Fragment aus dem Winter 1887 sagt Nietzsche über Wagner: "... der außerordentliche Schauspieler- und Theater-Instinkt war bisher insgleichen nicht deutsch (- man versteht nichts von Wagner, wenn man nicht in diesem Instinkt seine faculté maîtresse, seinen dominierenden Instinkt begreift)" (11[322], KSA 13, S. 136).1 In diesem Fragment, in dem Nietzsche Wagner ausdrücklich als seinen Antipoden darstellt, bringt er den Begriff des dominierenden Instinkts, der der Vielheit der Instinkte Ordnung und Form gibt, mit der faculté maîtresse, einem Terminus technicus Taines, in Zusammenhang2.

In dem bekannten Brief an Malwida von Meysenbug vom 18. Oktober 1888 bezeichnet Nietzsche Wagner als "Genie der Lüge" und sich selbst als dessen Gegenteil, als "Genie der Wahrheit". Innerhalb dieses radikalen Gegensatzes fühlt, analysiert und viviseziert er den Fall Wagner, indem er dem Teil seiner selbst Gewalt antut, der der verlorenen Freudschaft nachtrauert:

1 Vgl. auch WA 8, KSA 6, S. 30 und 23[2], KSA 13, S. 600.2 Nietzsche verwendet den Terminus "dominierender Instinkt" an mehreren Stellen. Er übersetzt und interpretiert damit den Begriff "faculté maîtresse", seit dem Vorwort zum Essai sur Tite Live (1856) eine zentrale Kategorie bei Taine, die zur Bezeichnung des vorherrschenden Charakterzugs einer Person oder einer Gruppe dient, desjenigen Zuges also, der die Komplexität des Kräftefeldes zu ordnen und zu erklären vermag. Vgl. auch die von Nietzsche zitierte Taine-Stelle über Napoleon, wo der Terminus "faculté maîtresse" auftaucht (5[91], KSA 12, S. 223). Auf diesem und anderen, analogen Begriffen wie "conception maîtresse" beruht die gesamte kritische Produktion Taines, auf die Nietzsche sich bezieht. Zum Begriff der "faculté maîtresse" vgl. J. T. Nordmann: Taine et la critique scientifique, Paris 1992, S. 155ff, und R. Pozzi: Hippolyte Taine. Scienze umane e politica nell'Ottocento, Venedig 1993, S. 56ff. Auch Bourget benutzt diese Kategorie mehrmals (zum Teil unter direkter Bezugnahme auf Taine: vgl. P. Bourget: Essais de psychologie contemporaine, Paris 1883, S. 196).

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... durch nichts kann es mir z.B. ausgeglichen werden, daß ich in den letzten Jahren der Sympathie Wagners verlustig gegangen bin. Wie oft träume ich von ihm, und immer im Stile unsres damaligen vertraulichen Zusammenseins! Es ist nie zwischen uns ein böses Wort gesprochen worden, auch in meinen Träumen nicht, aber sehr viele ermuthigende und heitere, und mit niemanden habe ich vielleicht so viel zusammen gelacht. Das ist nun vorbei - und was nützt es, in manchen Stücken gegen ihn Recht zu haben! Als ob damit diese verlorne Sympathie aus dem Gedächtniß gewischt werden könnte! - Und Ähnliches habe ich schon vorher erlebt, und werde es vermuthlich wieder erleben. Es sind die härtesten Opfer, die mein Gang im Leben und Denken von mir verlangt hat ..."1

Die Bedeutung von Nietzsches Bruch mit Wagner kann folglich nicht auf der Ebene der menschlichen oder "persönlichen" Beziehung gesucht werden. Vielmehr zeigt sich bereits in Menschliches, Allzumenschliches der mühevolle Versuch, sich von vorgezeichneten Wegen zu befreien und - gegen die Faszination von Wagners Musik - einen radikal antimythischen Standpunkt zu gewinnen.

Cosimas Tagebücher bezeugen, wieviel Schmerz auch Wagner die Abkehr, der "Verrat" seines jungen Freundes bereitet hat, der ihm sogar noch im Traum erschien; und sie belegen, daß Nietzsches kritische Überwindung von Romantik und unreinem Denken nach einem Ausdruck Schurés als nihilisme écoeurant ((für den Setzer: französisches zusammengeschriebenes oe, bitte beachten)) erscheinen konnte, das heißt als Triumph einer historischen Erkenntnis, die zu Skeptizismus wurde und das Ende jeder "Verehrung" mit sich brachte. Wagner griff diese Themen in Publikum und Popularität wieder auf und warf Nietzsche vor, ein trockener Professor, ja ein Bildungsphilister zu sein. In dieser Schrift verteidigt er das höhere Recht des "Genies" und vertritt damit eine seiner jugendlichen Auffassung genau entgegengesetzte Ansicht. In Griechenland, so hatte er nämlich in Eine Mitteilung an meine Freunde festgestellt, "kannte man das, was wir Genie nennen, ebenfalls nicht: keiner war ein Genie, weil es alle waren."2

Die überzeugte Wagnerianerin Mathilde Maier richtet in einem Brief den Vorwurf des Sokratismus, der Verehrung und lebensnotwendigen Wahn zerstöre, gegen Nietzsche:

1 Brief an Heinrich Köselitz vom 20. August 1880; KGB III/1, S. 36.2 R. Wagner: Eine Mitteilung an meine Freunde, in: Dichtungen und Schriften, hrsg. v. Dieter Borchmeyer, 10 Bde., Frankfurt/Main 1983 (im folgenden abgekürzt DuS), Bd. VI, S. 219.

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Hat man sich mit Mühe und Noth eine gottlose Religion aufgebaut, um, wenn auch der Gott verloren, doch das Göttliche zu retten, - und nun ziehen Sie das Fundament weg, das, so luftig und nebelhaft es auch sein mag, doch stark genug eine ganze Welt zu tragen; die Welt alles dessen, was uns theuer und heilig ist! - Ist die Metaphysik nur ein Wahn; was aber ist das Leben ohne diesen Wahn? [...] Gewinnt doch mit dem Falle der metaphysischen Welt dieses Leben die Alleinherrschaft und somit die tyrannischste Macht! [...] Und nun lösen Sie Alles auf! Alles flüssig, - kein festes Bild mehr, einzig ewige Bewegung!1

In Nietzsches Antwort, welche die Endgültigkeit der Abkehr von jenem Wagner deutlich zum Ausdruck bringt, der "erhöhen" und erlösen wollte und statt dessen vor allem Krankheit war2, spricht sich dagegen das Gefühl der Befreiung als Liebe zu den nächsten Dingen und Ende der "Krankheit des Ideals" aus.

Bereits 1878 haben Wagner und sein Kreis Nietzsches Abkehr einzig unter der Kategorie der Krankheit, als klinischen, psychologischen, pathologischen "Fall" Nietzsche begriffen. So schreibt Wagner am 24. Mai 1878 an Overbeck: "Gewiß sind sehr auffällige Veränderungen mit ihm vorgegangen: wer ihn jedoch schon vor Jahren etwas aufmerksam in seinen psychischen Krämpfen beobachtete, durfte sich fast nur sagen, daß eine längst befürchtete Katastrophe nicht ganz unerwartet bei ihm eingetreten ist."3

Dieses Urteil zieht sich wie eine Beschwörungsformel durch die Literatur der Wagnerianer, bis hin zu den Geschmacklosigkeiten in den Briefen Cosimas, nunmehr eifrige Hüterin Wagnerschen Vermächtnisses und - unternehmerisch bewußt - Priesterin des Bayreuther Tempels. Nach dem Tod des Philosophen wandte sie sich seiner Lebensgeschichte nochmals zu, wobei sie seinen "Verrat" auf sehr beruhigende Weise erklärte: "Bei der Physik ist es zu fassen, einzig und allein und so traurig dies ist, so rettet es einen doch vor dem Grauen, welches einen befallen müßte, wenn man einen Menschen das verleugnen sieht, was er geliebt und woraus er seine eigentliche Bedeutung schöpft."4 Dieses Urteil taucht im Zusammenhang mit 1 Brief von Anfang/Mitte Juli 1878; KGB II 6/2, S. 911 und 913f.2 "Jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft, welcher in Allem und Jedem ein Wunder und Unding sehen will"; Brief vom 15. Juli 1878, KGB II/5, S. 337f.3 Zitiert in: C. P. Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie, München 1981, Bd. 1, S. 824.4 C. Wagner: Das zweite Leben. Briefe und Aufzeichnungen. 1883-1930, hrsg. v. D. Mack, München/Zürich 1980, S. 549 (Brief an Malwida Meysenbug, 8. Oktober

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einem bedeutsamen Zeugnis aus der Tribschener Zeit wieder auf: "Eines Tages kam er zu mir und sagte, heftig abgebrochen, es käme ihm vor, als ob alles, worin er sich jetzt bewege, falsch sei, worauf ich, befreit, ihm erwiderte: Gottlob, Sie sind Hellenist, bleiben Sie dabei, unsere Freundschaft wird mitnichten dadurch verringert, und Sie wandeln einen sicheren Pfad."1

Das frühe Unbehagen, das Nietzsche aufgrund seiner gänzlich antitheatralischen Veranlagung angesichts der Theatralisierung der Existenz empfand, steht im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Musiker als Histrio, und zwar bereits in den unmittelbar auf die Geburt der Tragödie folgenden Fragmenten. Dort macht gerade der auf Wagner angewandte Begriff der Theatrokratie die ersten Risse in seiner Anhängerschaft sichtbar. Nach der eindeutigen Formulierung der letzten Jahre bedeutet Wagner schließlich gar die "Heraufkunft des Schauspielers in der Musik" (WA 11, KSA 6, S. 37).

Auch Thomas Mann hat Wagner, bei aller Bewunderung, die er für ihn hegte, in diesem Licht gesehen. In Mario und der Zauberer nimmt er mit dem Thema der auf Selbstentäußerung basierenden hypnothischen Herrschaft und mit dem Thema der Einheit des Willens im Befehlen und Gehorchen bewußt auf Nietzsche Bezug. (Auch andere Stellen - etwa im Felix Krull die Überlegungen zur Bühnenillusion und zur ernüchternden Wirklichkeit, die sich hinter der Maske des Schauspielers verbirgt - lassen erkennen, daß Thomas Mann sich auf die zahlreichen Äußerungen Nietzsches und Wagners zu diesem Gegenstand bezieht). Wagner als Schauspieler wird in den letzten Schaffensjahren Nietzsches geradezu eine Chiffre zur Kennzeichnung der Epoche. Nietzsche macht aus dem "Histrionismus" eine zentrale Kategorie: Die décadence ist Verlust des Zentrums und Fragmentarisierung der Persönlichkeit in einer chaotischen Unbeständigkeit der sozialen Rollen, die sich als leicht austauschbar erweisen und jedes Gesellschaftsprojekt verhindern: "... dass nämlich der Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem grossen Baue ist: wozu er zuallererst fest sein muß, 'Stein' sein muss ... Vor Allem nicht - Schauspieler! [...] Wir Alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft ..." (FW 356, KSA 3, S. 597).

2. Mimisches Genie und tragische Kunst

1900).1 Ebd., S. 552 (Brief an Arthur Seidl vom 14. November 1900).

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Man würde die Kritik des späten Nietzsche mißverstehen, sähe man in ihr nicht auch die rückhaltlose Selbstkritik, das heißt die bewußte Umkehr der metaphysischen Voraussetzungen der Zeit der Geburt der Tragödie. Nietzsches frühe Äußerungen zur Schauspieler-Thematik müssen im Horizont der vollen Übereinstimmung mit Wagners Anschauungen gelesen werden. In Das griechische Musikdrama etwa wird die Tätigkeit des Schauspielers auf die dionysischen Volksfeste und die mittelalterlichen S. Johann- und S. Veits-Tänzer zurückgeführt. Das zentrale Motiv ist nicht der Wille, bei den anderen die Illusion hervorzurufen, sondern das Sich-Verlieren der Person in der Lebensfülle der dionysischen Ekstase. Die Leistung des mimischen Genies wird also als Zustand des Außer-sich-Seins aufgefaßt: "...wir kehren nicht wieder in uns zurück, sondern gehen in ein anderes Wesen ein, so daß wir uns als Verzauberte geberden [...] der Boden wankt, der Glaube an die Unlöslichkeit und Starrheit des Individuums."1

Und doch hat das Thema in Nietzsches Jugendschriften nicht das gleiche Gewicht wie bei Wagner, der im Mimen, im Schauspieler auf der Bühne das Medium der vollkommenen dramatischen Mitteilung sieht (das in Raum und Zeit sinnlich faßbare Wunder). In dieser Phase steht Nietzsche gedanklich eher Wagners Beethovenschrift nahe. Rückgreifend auf die metaphysischen Strukturen der Schopenhauerschen Philosophie, stellt Wagner hier nicht mehr die Mitteilung durch den Körper, sondern die Musik in den Vordergrund, die den von ihr Ergriffenen in einen somnambulen Zustand versetzt. So bedeutet auch bei Nietzsche die Auflösung des Individuums weniger das Hervortreten des Gattungsmenschen (das immer an eine räumlich-zeitliche Dimension gebunden ist) als vielmehr die Zerstörung jeder zeit- und raumgebundenen Erscheinung (Schopenhauers principium individuationis). Das gesamte Projekt der Geburt der Tragödie zielt auf die Neubegründung einer organischen Kultur (mit betont hierarchischem Charakter) auf ästhetischer Grundlage. Diese Kultur ist auf die Macht der Traumvision angewiesen, die - entsprechend Wagners Thesen in Beethoven - durch das musikalische Genie erzeugt wird.

Dennoch zeigt sich an der Bezugnahme auf den volkstümlich-karnevalesken Charakter der dionysischen Feste und an der starken Betonung des körperlichen Elements, daß Nietzsche mit seinem Begriff des Dionysischen den Gedanken von Oper und Drama verhaftet bleibt. Steht das in Beethoven behandelte Thema des ursprünglichen Zaubers der Musik 1 Das griechische Musikdrama, KSA 1, S. 522.

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somit im Zentrum von Nietzsches Auffassung des Dionysischen - die Allmacht des Musikers liegt in seiner unmittelbaren Identifizierung mit dem einheitlichen Urwillen - so bedenkt er doch auch das allumfassende Naturgefühl, von dem Wagner spricht:

Der Tieferregte, wenn er plötzlich aus seiner inneren Stimmung zu der umgebenden Natur sich wendet, findet, je nach ihrer Kundgebung, entweder eine steigernde Nahrung oder eine umwandelnde Anregung für seine Stimmung in ihr. Von wem er sich auf diese Weise beherrscht oder unterstützt fühlt, dem teilt er ganz in dem Maße eine große Macht zu, als er sich selbst in großer Stimmung befindet. Seinen eigenen empfundenen Zusammenhang mit der Natur fühlt er unwillkürlich auch in einem großen Zusammenhange der gegenwärtigen Naturerscheinungen mit sich, mit seiner Stimmung, ausgedrückt; [...] In dieser von ihm empfundenen großen Wechselwirkung drängen sich vor seinem Gefühle die Erscheinungen der Natur zu einer bestimmten Gestalt zusammen, der er eine individuelle, ihrem Eindrucke auf ihn und seiner eigenen Stimmung entsprechende Empfindung, und endlich auch - ihm verständliche - Organe, diese Empfindung auszusprechen, beilegt. Er spricht dann mit der Natur, und sie antwortet ihm.1

Ähnliche Motive sollten in Nietzsches später Wiederentdeckung der dionysischen Dimension Eingang finden, besonders in Ecce Homo, wo sie eine dithyrambische Betonung erfahren.

Im Rahmen der anfänglichen grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Nietzsche und Wagner läßt sich indessen eine weitere unterschiedliche Akzentsetzung feststellen, und zwar was die dem Mimen zugewiesene Rolle angeht. Betrachten wir zum Vergleich die Schrift Schauspieler und Sänger und einige Äußerungen in Die dionysische Weltanschauung. Bei Wagner wird der "dämonische" Hang zur Selbstentäußerung einzig dadurch erträglich, daß er sich dank der "Heiterkeit" des dichterischen Textes in Spiel verwandelt:

Die hier gemeinte Heiterkeit ist aber zugleich das glückliche Element, welches den wahrhaft begabten Mimen über dem Abgrunde erhält, an den er sich vermöge seines übernatürlichen Hanges zur Selbstentäußerung bei der Ausübung seiner Kunst gedrängt fühlt. Wer sich an diesen Abgrund versetzen kann, wird mit Grausen innewerden, daß es sich hier um ein Spiel mit der eigenen Persönlichkeit handelt, welches im geeigneten Momente in hellen Wahnsinn umzuschlagen drohen kann; und hier ist es eben jenes Bewußtsein des Spieles ...2

1 R. Wagner: Oper und Drama, DuS, Bd. VII, S. 213f.2 R. Wagner: Schauspieler und Sänger, DuS, Bd. IX, S. 251.

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Der Mime identifiziert sich restlos mit dem Urgrund, er ist dessen unmittelbarer Ausdruck, weshalb die "Wahrhaftigkeit" den "Grundzug der mimischen Kunst" darstellt1. Bei Nietzsche unterscheidet sich der Schauspieler vom "natürlichen" dionysischen Menschen: er stellt ihn nur dar. Im Spiel mit dem dionysischen Rausch befreit sich der Schauspieler vom Rausch, dem Wagners Schauspieler hingegen verfallen bleibt: Dieser ähnelt eher dem "wahnsinnigen" Menschen des dionysischen Schwarmzuges. Das Spiel hat folglich eine Schutzfunktion im Verhältnis zum tragischen Urgrund: es enthüllt ihn und entschärft seine lethargisch-nihilistische Wirkung.

Nietzsches Schauspieler gehört zu jenen Vorstellungsmechanismen, die das Ur-Eine aus sich produziert, um die sonst unerträgliche Spannung von Lust und Schmerz zu entladen. Im Gegensatz zu Wagners Auffassung ist der Schauspieler für Nietzsche jedoch nur ein Instrument, ein blinder Maulwurf: nur als solcher besitzt er Wert für die Verwirklichung jener "erhabenen Illusion" (metaphysischer Art), die durch die magische Wirkung der Musik möglich wird: diese depotenziert die Macht der Erscheinung zum Symbol. Gegen die Schicht der Schauspieler selbst hegt Nietzsche im übrigen das übliche Mißtrauen und die landläufigen Vorurteile: "Es ist traurig, aber für die unsäglich dürftige deutsche Geselligkeit charakteristisch, daß Du Vergnügen am Umgange mit Schauspielern hast. Mir ist es auch so gegangen. Der Heiligenschein der freien Kunst fällt auch auf ihre unwürdigsten Diener. Im Übrigen idealisiren wir diese Schicht der Gesellschaft ...".2

Diese Äußerung enthält bereits eine offensichtliche Kritik an Wagner, der die Schauspieler dagegen als "die verlorenen Kinder unserer Gesellschaft" aufwertet:

Und für diese, die ich wie Zigeuner durch das Chaos einer neuen bürgerlichen Weltordnung herumstreichen sah, wollte ich nun meine Fahne aufpflanzen. Auf ihr sollte ungefähr geschrieben stehen: 'Zeiget der Welt, was ihr armen nutzlosen Wesen ihr sein könnet, wenn ihr euch als ihren wahrhaftigen Spiegel ihr vorhaltet!'3

1 Ebd., S. 254.2 Brief an Deussen vom Februar 1870, KGB II/1, S. 100.3 R. Wagner: Epilogischer Bericht ... (1871), DuS, Bd. III, S. 338.

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3. Die Physiologie des Schauspielers und die illusionsschaffenden Mechanismen

Bereits in den Jahren 1870/71 legt Nietzsche Wert darauf, den physiologischen Prozeß der Artisten-Metaphysik aufzudecken.

Der Wille als höchster Schmerz erzeugt aus sich eine Verzückung, die identisch ist mit dem reinen Anschauen und dem Produziren des Kunstwerks. Der physiologische Prozeß ist welcher? Eine Schmerzlosigkeit muß irgendwo erzeugt werden - aber wie? Es erzeugt sich hier die Vorstellung, als Mittel für jene höchste Verzückung. Die Welt ist nun beides zugleich, als Kern der eine schrecklich Wille, als Vorstellung die ausgegossene Welt der Vorstellung, der Verzückung. Die Musik beweist, wie jene ganze Welt in ihrer Vielheit nicht mehr als Dissonanz empfunden wird. (7[117], KSA 7, S. 166)

Nicht zufällig greift Nietzsche daher das Schauspieler-Thema in Menschliches, Allzumenschliches mit antiwagnerscher Stoßrichtung wieder auf und legt die genetischen und physiologischen Mechanismen offen, die dem "Wunder" des Kunstwerks zugrundeliegen. Sieht Nietzsche seine Aufgabe gegen Wagner jetzt darin, den Mechanismus aufzuzeigen, der die Illusion einer "wundergleiche[n] Plötzlichkeit der Entstehung" schafft, so ist ein Mittel dazu zweifellos die Untersuchung der Darstellungskunst:

Nun kann Niemand beim Werke des Künstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist sein Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit. Desshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft. (MA 162, KSA 2, S. 152)

Der Schauspieler erscheint hier als Funktion der Physiologie der Darstellung, als wesentliches Moment des illusionsschaffenden Apparates (Bühnenmaschinerie, Kulissen, Beleuchtung usw.), womit die Abkehr von Wagners Anspruch ganz deutlich wird. Dieser Anspruch wird als metaphysische Vorgehensweise bezeichnet:

Es gehört zu den Eigenheiten des metaphysischen Philosophirens, ein Problem zu verschärfen und als unlösbar hinzustellen, es sei denn dass man ein Wunder als eine Lösung ansieht, z.B. das Wesen des Schauspielers in der Selbstentäusserung und förmlichen Verwandlung zu sehen; während das eigentliche Problem doch ist, durch welche Mittel der Täuschung es der

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Schauspieler dahin bringt, dass es so scheint, als wäre er verwandelt. (23[130], KSA 8, S. 449)

Nietzsche nimmt hier ein Motiv aus Diderots Paradoxe sur le comédien auf. Er kommt immer wieder darauf zu sprechen, zuletzt im Fall Wagner, wo er sich auf Talma1 beruft:

Man ist Schauspieler damit, dass man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. Der Satz ist von Talma formulirt: er enthält die ganze Psychologie des Schauspielers, er enthält - zweifeln wir nicht daran! - auch dessen Moral. (WA, KSA 6, S. 31)

1 Talma, der berühmte französische Schauspieler, berichtet in seinen Memoiren, daß er von seinem anfänglichen unmittelbaren Umgang mit der Darstellung (wodurch er sich einen Kollaps eingehandelt hatte) zum Studium der Atemtechnik und einer vollkommenen Selbstkontrolle bei der Darstellung übergegangen war, wobei er jegliche Identifizierung ablehnte (François-Joseph Talma: Mémoires de J.-F. Talma écrits par lui-même et recueillis et mis en ordre sur les papiers de sa famille par Alexandre Dumas, Paris 1850, Bd. II, S. 28ff). In seinen Überlegungen spürt man sehr stark den Einfluß von Diderots Observations sur Garrick (vielleicht auch in ihrer erweiterten Form Paradoxe sur le Comédien), die in Manuskriptform zirkulierten und unter den Schauspielern der Comédie lebhaft diskutiert wurden. Besonders in den Zeugnissen Audiberts lassen sich Diderots Argumentationsweisen zugunsten der "unbeteiligten" Darstellung finden: "Je me rends compte de mon jeu presque en jouant" (L.-F.-H. Audibert: "Entretiens avec Talma", in Mélanges de littérature et d'histoire, Paris 1839, S. 234). Siehe auch C. Mellinet: "Une conversation avec Talma à Nantes en 1813", in Revue du Breton I (1835), S. 98: "un acteur ne s'oublie jamais en scène: il est toujours comédien; autrement ce serait un fort mauvais comédien". Über Talmas Verhältnis zu Diderot siehe P. Bastier: "A propos du Paradoxe: Talma plagiaire de Diderot", in Revue d'Histoire Littéraire de la France 11 (1904), S. 108f., und A. Freer: "Talma and Diderot's Paradox on Acting", in Diderot Studies 8 (1966). In seiner wichtigsten theoretischen Schrift, Mémoires sur Lekain et sur l'art dramatique (1825), distanziert sich Talma von Diderot und schließt sich der romantischen Auffassung vom mit "genialer" Einfühlsamkeit, visionärer Kraft, Leidenschaft und Inspiration begabten Schauspieler an (was mit dem Bild Talmas übereinstimmt, das uns durch Madame de Staëls leidenschaftliche Bewunderung überliefert ist). Dennoch bleibt in den zahlreichen Bezugnahmen auf ihn bei Kritikern, Memoirenschreibern und Schriftstellern des 19. Jahrhunderts das Bild des bewußten Schauspielers vorherrschend. Stellvertretend sei hier Sainte-Beuves Äußerung angeführt: "Dans sa dernière maladie, qu'il ne croyait pas mortelle, prenant les peaux de son cou amaigri, Talma disait: 'Voilà ce qui ne fera pas mal pour le visage du vieux Tibère'" (Les cahiers de Sainte-Beuve, Paris 1876, S. 117, BN).

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In der Morgenröthe übernimmt Nietzsche den Wagnerschen Ausdruck "idealer Affe" in bezug auf den Schauspieler, wendet ihn jedoch gegen ihn, indem er ihn in völlig anderem Sinn verwendet als Wagner in Deutsche Kunst und deutsche Politik. Der Schauspieler, selbst der virtuose und geniale, kann nur an der Oberfläche bleiben; allein durch die genealogische und historisch-wissenschaftliche Erforschung läßt sich die Tiefe eines Zustandes oder einer Person erkennen.

Das wäre freilich eine schöne Entdeckung, dass es nur des hellseherischen Schauspielers bedürfe, statt aller Denker, Kenner, Fachmänner, um in's Wesen irgend eines Zustandes hinabzuleuchten! Vergessen wir doch nie, sobald derartige Anmaassungen laut werden, dass der Schauspieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, dass er an das 'Wesen' und das 'Wesentliche' gar nicht zu glauben vermag: Alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Coulisse und Publicum. (M 324, KSA 3, S. 231)

Der Schauspieler bietet allein das Bühnenspiel des Scheins einer Empfindung, ohne sich um deren Entstehung und ihre realen Gründe zu kümmern. In den genealogischen Untersuchungen von Menschliches, Allzumenschliches, die sich auf ethnologische Überlegungen stützen, macht Nietzsche das gestisch-mimische Element zur Grundlage der Musik, wodurch er die auf Schopenhauers Vorstellung von der Musik als unmittelbarem Ausdruck des Urgrunds fußende Artisten-Metaphysik radikal umkehrt. Die absolute Musik wird nun als historisches Residuum eines Komplexes von symbolischen Intentionen verstanden, die ihren Ursprung in der gestischen Imitation haben; letztere stellt den Anfang jeder Mitteilung dar. Die absolute Musik erscheint so als das verdichtete Gedächtnis eines Erbes von Gesten und Muskelbewegungen, mit denen in einem - nicht metaphysischen, sondern historischen - Urzustand die Mitteilung der Affekte erfolgte. Jedenfalls steht sie immer am Ende eines Prozesses: sie ist keine ursprüngliche Musik.

Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Symbolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. - Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann von absoluter Musik, dass heisst

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von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird. (MA 216, KSA 2, S. 176f.)

Wie wir sehen werden, bilden eben diese Betrachtungen das Fundament für Nietzsches spätere Ausführungen über den dionysischen Histrio.

Gegen das bürgerliche Theater des Luxus und der Moden, das den Schauspieler zur mechanischen Virtuosität (die Effekthascherei) und zur sklavischen Erniedrigung gebracht hatte, fand Wagner die Grundlagen der Kunst der Selbstentäußerung und des mimischen Instinkts in der ungekünstelten Ausdruckskraft des Volkes. Nicht verdorben durch die Herrschaft der Zivilisation, forderte sie dazu auf, die Modelle der Bühnenkunst eher in den Figuren des Hanswurst, des Kasperltheaters und auf den Bühnen der Jahrmärkte zu suchen: "Den unentstellten, natürlichen Menschen sehen wir nur noch im gemeinsten Leben, ja sogar nur im Leben der niedrigsten Sphären vor uns ...".1 In derselben Schrift erzählt Wagner von seiner entscheidenden Begegnung mit dem wahren und "wundertätigen" Genius des Volkes, wie er ihn bei einem Puppenspieler auf dem Jahrmarkt erlebt hatte: ein ungekünstelter Instinkt, der ganz und gar im Gegensatz zur Herrschaft der Maske, der Konventionen und Rollen steht, die das Leben des verhaßten Frankreich kennzeichnen. Diese antifranzösische Polemik durchzieht die Schrift Deutsche Kunst und deutsche Politik: das reale Leben sei unter dem Impuls des Versailler Hofes, der "ganz nach theatralischen Effektanforderungen konstruiert war"2, zu einer vollendeten theatralischen Konvention geworden, beherrscht vom "Affen", der Maske des heruntergekommenen Mimen. Balzac, den Wagner immer bewundert und gelesen hatte (wie Cosimas Tagebücher bestätigen)3

hat mit realistischer Detailtreue, die in einen Zustand "vollkommene[r] Trostlosigkeit"4 versetzt, die Kehrseite des Theatralischen aufzudecken gewußt, das unter verführerischem Schleier das Grauen der Zivilisation verbarg.

1 R. Wagner: Schauspieler und Sänger, DuS, Bd. IX, S. 209.2 R. Wagner: Über Staat und Religion, DuS, Bd. VIII, S. 294.3 Vgl. z.B. die Eintragung vom 7. Dezember 1878, wo C. Wagner in bezug auf Balzac von "grandiosem Pessimismus" spricht ("Er kommt auf Balzac, auf seinen grandiosen Pessimismus"). C. Wagner, Die Tagebücher, hrsg. und kommentiert von Martin Gregor Dellin und Dietrich Mack, München/Zürich 1977, Bd. II, S. 252.4 R. Wagner: Deutsche Kunst und deutsche Politik, DuS, Bd. VIII, S. 315.

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Nietzsche greift das Motiv der niederen Herkunft des Schauspielers auf und zerstört dabei restlos die sie umgebende Aura des romantischen Volkskults. Der Ursprung des Mitteilungstriebes liegt nicht in der intakten Zusammengehörigkeit der Gemeinschaft, sondern in den Lebensformen, die durch die Auflösung der Gemeinschaft in der Not und im Überlebenskampf entstehen. Die "Lust an der Verstellung", Ausgangspunkt für den Mimen, hat sich als Instinkt beim niederen Volk entwickelt:

Ein solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den 'Künstler' erzeugt (den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown zunächst, auch den klassischen Bedienten, den Gil Blas: denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des 'Genies'). (FW 361, KSA 3, S. 608f.)

Wiederum bestimmt Nietzsche den Instinkt nicht als das Ursprüngliche, sondern als Ergebnis und Kombination historischer Haltungen und wiederholter Erfahrungen; das Genie ist ein Resultat, kein Wunder, es sammelt Energien und gibt ihnen Form. Auch Shakespeares Kunst, die Nietzsche in dieser Zeit nicht sehr schätzt, wird als Resultat einer spezifischen Haltung interpretiert, die zu einer zweiten Natur geworden ist und damit die Eigentümlichkeit des dramatischen Genies geschaffen hat, die darin besteht, daß es jede Bemerkung gemäß dem Charakter einer bestimmten Person, im Verhältnis zu einer bestimmten Situation erfindet. Der Dramatiker hat sich an eine Art hypothetische Rede gewöhnt, hat also die Person vor Augen, der ein bestimmter Satz in den Mund gelegt wird - bis diese Haltung schließlich zu einer zweiten Natur, zu einem Instinkt wird. Auch mit dieser Ansicht wendet Nietzsche sich gegen Wagner, der die zentrale Bedeutung der Improvisation in der Kunst des Mimen betont und Shakespeares Drama als "fixierte mimische Improvisation von allerhöchstem dichterischem Werte"1 bezeichnet hatte.

1 R. Wagner: Über die Bestimmung der Oper, DuS, Bd. IX, S. 168.

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Die Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit, die der dramatischen Kunst eignet - welche zudem mit einem narkotischen Rausch verbunden ist -, führt dazu, daß der Schauspieler-Tyrann Herrschaft ausübt. In Wagner in Bayreuth, dem letzten Versuch, Wagner zu den Griechen, zur tragischen Bejahung hinzuführen, will Nietzsche in Wagners Vereinfachung noch immer die Kraft sehen, heterogene Erfahrungen in einem einzigen Brennpunkt zu vereinigen, das heißt die Vergangenheit im Hinblick auf die Zukunft zu verdichten (Wagner als Gegen-Alexander). Und die Kunst stellt sich ihm noch als Erholung vor dem Kampf, vor dem Wettkampf mit der komplexen Wirklichkeit dar. Die Beschäftigung mit der Figur des Schauspielers bildet den Hintergrund, um die möglichen Gefahren von Wagners Haltung zu erklären.

Bereits in den Fragmenten von 1874 beginnt Nietzsche jedoch mit der Arbeit der Entmythisierung; nachdem er die Vision der Einheit von Musik und Drama aufgegeben hat, sieht er die Einheit des totalen Kunstwerks nun als Unterwerfung des unmittelbaren künstlerischen Ausdrucks unter die gesetzgeberische Gewalt einer Schauspielernatur, die dann in die Theatrokratie mündet.

Die in den Fragmenten hergestellte Verbindung zwischen "Vereinfachung" und Tyrannei zeigt, daß Nietzsche sich des Burckhardtschen "Cäsarismus"-Begriffes bedient (die modernen Cäsaren als "terribles semplificateurs"), um Wagners Durchsetzung als Macht zu erläutern. Die Bezugnahme auf Burckhardt ist auch daran ersichtlich, daß Wagner einige typische Merkmale des "Cäsarismus" zugeschrieben werden, insbesondere das Fehlen von Tradition und die Suche nach Legitimation, einhergehend mit der Unfähigkeit, eine dynastische Kontinuität zu schaffen. Vor allem aber wird der gegen Wagner verwendete Begriff der Theatrokratie - mit seinem Aspekt der Rohheit und Vereinfachung, um die unmittelbaren Gefühle der Massen wachzurufen - nach demselben Schema entfaltet, das die Entstehung des cäsarischen Tyrannen aus der "Demokratie" beschreibt.

Wagner versucht die Erneuerung der Kunst von der einzigen noch vorhandenen Basis aus, vom Theater aus: hier wird doch wirklich noch eine Masse aufgeregt und macht sich nichts vor wie in Museen und Concerten. Freilich ist es eine sehr rohe Masse, und die Theatrokratie wieder zu beherrschen hat sich bis jetzt noch als unmöglich erwiesen. [...] Hier liegt Wagner's Bedeutung: er versucht die Tyrannis mit Hülfe der Theatermassen. (32[59], KSA 7, S. 774)

Und weiter:

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Wagner schätzt das Einfache der dramatischen Anlage, weil es am stärksten wirkt. Er sammelt alle wirksamen Elemente in einer Zeit, die sehr rohe und starke Mittel wegen ihrer Stumpfheit braucht. Das Prächtige Berauschende Verwirrende das Grandiose das Schreckliche Lärmende Hässliche Verzückte Nervöse Alles ist im Recht. Ungeheure Dimensionen, ungeheure Mittel. Das Unregelmässige, der überladene Glanz und Schmuck macht den Eindruck des Reichthums und der Üppigkeit. (32[57], KSA 7, S. 774)

Als Schauspieler wollte er den Menschen nur als den wirksamsten und wirklichsten nachahmen: im höchsten Affect. Denn seine extreme Natur sah in allen andern Zuständen Schwäche und Unwahrheit. Die Gefahr der Affectmalerei ist für den Künstler ausserordentlich. Das Berauschende, das Sinnliche Ekstatische, das Plötzliche, das Bewegtsein um jeden Preis - schreckliche Tendenzen! (32[16], KSA 7, S. 760)

Mit einem kurzen Fragment vom Winter 1879/80 ist die Abkehr von Wagners Positionen endgültig besiegelt: "Eine neue Cultur - die sollte man nicht verschauspielern!" (1[29], KSA 9, S. 13). Die Grundlegung der nachfolgenden Kritik am Theater als Opiumrausch - eine durch künstliche Stimulierungsmittel erreichte starke Aufpeitschung von Menschen, die nur "müde Maulthiere, an denen das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat" 1

sind - findet sich jedoch in den Fragmenten von 1874.

Erneut kehrt Nietzsche die Kritik, die Wagner in seinen Jugendschriften am Theater des Luxus und der Moden geübt hatte, gegen ihn. Ein künstliches Reizmittel, eine willentliche Abstumpfung sei das Theater, eine Ablenkung von der Wirklichkeit, insofern es eine starke Wirkung ohne zureichenden Grund erzeugt, so hatte Wagner gesagt; und in der Fröhlichen Wissenschaft macht Nietzsche dieses Motiv stark: Wer nicht erschöpft ist, wer stark ist, braucht kein "berauschendes Getränk":

Vielmehr blickt er mit einer Art von Ekel auf die Mittel und Mittler hin, welche hier eine Wirkung ohne zureichenden Grund erzeugen sollen, - eine Nachäffung der hohen Seelenfluth! - Wie? Man schenkt dem Maulwurf Flügel und stolze Einbildungen, - vor((m)) Schlafengehen, bevor er in seine Höhle kriecht? Man schickt ihn in's Theater und setzt ihm grosse Gläser vor seine blinden und müden Augen? (FW 86, KSA 3, S. 443f.)

Und mehr noch: Nietzsche übernimmt von Schopenhauer die Auffassung vom Genie, das mit seinem "Theater-Auge" (M 509, KSA 3, S. 297) das Leben als bloße Bühne betrachtet, zu der es einen kritischen Abstand und

1 FW 86, KSA 3, S. 443.

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ein rein kontemplatives Verhältnis bewahrt. So spielt Nietzsche den "Schopenhauer als Voltairianer", der analytisch zergliedert und persönlich jedem Histrionismus des Verzichts fernsteht, gegen den "metaphysischen Schopenhauer" aus, der mit seinem ganzen "geheimnisvollen Apparat" selbst einen Cagliostro in den Bann gezogen hätte. Auch das Theater wird durch ein "Theater-Auge" gesehen:

Wer an sich der Tragödie und Komödie genug hat, bleibt wohl am Liebsten fern vom Theater; oder, zur Ausnahme, der ganze Vorgang - Theater und Publicum und Dichter eingerechnet - wird ihm zum eigentlichen tragischen und komischen Schauspiel, sodass das aufgeführte Stück dagegen ihm nur wenig bedeutet. (FW 86, KSA 3, S. 444)

4. Exkursus: Die Physiologie der Kunst und die Stile der décadence

Die Begriffe des Theatralischen und des Histrionismus werden von Nietzsche immer weiter gefaßt: Das metaphysische Ideal, ja jedes berauschende Ideal, kann sich nur in der theatralischen "Vorstellung" entfalten, indem es sich also "in Szene setzt"; und nur so kann es den Schein von Einheit erwecken. Deshalb waren auch die Philosophen, die Moralisten und Priester bisher Komödianten, und eben aufgrund dieses theatralischen Bedürfnisses wird der Zauberer Wagner in seinen letzten Jahren "ein Orakel, ein Priester [...] [ein] Bauchredner Gottes." (GM, KSA 5, 346) Um Herrschaft und Tyrannei gegenüber den Schwachen ausüben zu können, sind sowohl die Kraft des Ausdrucks, die grellen Farben nötig, mit denen kranke Nerven gewaltsam gereizt werden, als auch die Verführung, die aus der Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit entsteht.

Es liegt im Unlogischen, Halblogischen viel Verführerisches - das hat Wagner gründlich errathen -: namentlich für Deutsche, bei denen Unklarheit als 'Tiefe' empfunden wird. [...] Eine Art Vieldeutigkeit, selbst in der rhythmischen Phrasirung, gehört insgleichen unter seine liebsten Kunstmittel, eine Art Trunkenheit und Traumwandeln, welches nicht mehr zu 'folgern' weiß und einen gefährlichen Willen zum blinden Folgen und Nachgeben entfesselt." (41[2], KSA 11, S. 674)

Dem "Sumpf von Bayreuth" ("Anmaaßung, Unklarheit, Unwissenheit und - Geschmacklosigkeit durcheinander") (26[394], KSA 11, S. 254), der Wagner in die Pose des "alten Oberpriesters" zwingt, setzt Nietzsche noch einmal die analytische Kraft der "Psychologie" Stendhals entgegen: " il faut être sec, clair sans illusion".

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Das Germanentum und der Idealismus von Bayreuth gehören für Nietzsche durch und durch zur Bühne und stellen den Fluchtversuch vor sich selbst und vor einer kranken, modernen Wirklichkeit dar:

Das falsche Germanenthum bei R<ichard> W<agner> (und die gründliche psychologische Falschheit dieser höchst 'modernen' Mischung von Brutalität und Verzärtelung der Sinne) ist mir ebenso zuwider wie das falsche Römerthum bei David, oder das falsche englische Mittelalter Walter Scotts. (26[358], KSA 11, S. 244)

In seiner Auseinandersetzung mit dem Fall Wagner bringt Nietzsche in seiner letzten Schaffensperiode den Musiker in Zusammenhang mit dem "Naturalismus", der französischen Spätromantik, der Tyrannei der Wirkung und der Farben, die das Theatralische verlangt.1 Ohnmacht, Schwäche, 1 Nietzsches Urteil über den Schauspieler und das Theater, im Zusammenhang mit der physiologischen Analyse der Illusion, entwickelt sich in dieser Zeit parallel zur zeitgenössischen Kultur Frankreichs. Hier sei lediglich an die Figur des Nero als Histrio (oder: "funeste histrion impérial") in Renans L'Antechrist erinnert: "un monstre, une créature absurde, mal faite, un produit incongru de la nature; mais ce ne fut pas un monstre vulgaire". In dieser Figur drückt sich die allgemeine Dekadenz der Epoche aus, in der "la gloire du théâtre passait pour la première de toutes" (L'Antechrist, Paris 1873, S. 135 und 130). Auch Bourget stellt die Verbindung zwischen Theater und décadence her: "cette effrénée idolâtrie de l'acteur - trait de moeurs ((für den Setzer: bitte französisches zusammengeschriebenes oe)) bien significatif de notre byzantinisme ..." (Le Parlement, 7. November 1881, Chronique Théâtrale). Siehe auch seine Réflexions sur le théâtre (später gesammelt in `Etudes ((für den Setzer: bitte großes E mit accent aigu)) et Portraits, Bd. 1, Paris 1889). Nietzsche selbst verweist seit den Jahren 1883-84 für seine Charakterisierung des Schauspielers auf Edmond Goncourts Roman La Faustin (Paris 1882): "Der Schauspieler, eine Figur aus sich machend, z.B. la Faustin" (24[3], KSA 10, S. 644). Vgl. jedoch auch 15[6], KSA 13, S. 404: "Die Verfasser der 'Faustine' ["die Gebrüder Goncourt", in Wirklichkeit Edmond Goncourt] würden sicherlich Einiges an Wagner errathen ... aber es fehlte ihnen die Musik im Leibe." Insbesondere ist das letzte Kapitel des Romans anzusehen, wo geschildert wird, wie das hysterische Element quasi physiologisch zur Nachahmung zwingt. Die Faustin wird auf derart despotische Weise von ihren Schauspieler-Gewohnheiten beherrscht, daß sie noch auf dem Totenbett dazu getrieben ist, die agonie sardonique ihres Liebhabers nachzuahmen (Kap. LXIV). Zu den Attacken gegen das Theaterpublikum ("masse d'humanité réunie, une bêtise agglomérée"), die mit ähnlichen Ausdrücken vorgebracht werden wie von Nietzsche, vgl. das Zitat aus Goncourts Journal (KSA 13, S. 120). Die Brüder Goncourt äußern sich auch an anderen Stellen zu diesen Themen. Vgl. z.B. Journal (1862), 1. März (S. 9, BN): "c'est un art si grossier, si abject, le théâtre ..." [Unterstreichung von Nietzsche]. Besonders bedeutsam sind außerdem die (in Nietzsches Exemplar von ihm unterstrichenen) Betrachtungen über den

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Selbstverachtung, Wille zur Flucht, Herrschaft des Milieus (das geformte ego) (25[182], KSA 11, S.63) und die Romantik enttäuschter Naturen kennzeichnen Wagner ebenso wie die modernen Pariser Romanschriftsteller.

Die Malerei an Stelle der Logik, die Einzel-Beobachtung, der Plan, das Überwiegen des Vordergrundes, der tausend Einzelheiten - alles schmeckt nach den Bedürfnissen nervöser Menschen, bei R<ichard> W<agner> wie bei den Goncourts. R<ichard> W<agner> gehört in die französische Bewegung: Helden und Monstra, extreme Passion und dabei lauter Einzelheiten, momentaner Schauder. (25[184], KSA 11, S. 63)

In den Fragmenten vom Winter 1883-Frühjahr 1884 bestimmt Nietzsche, ausgehend von der Lektüre der Essais von Bourget und in engem Zusammenhang mit der zeitgenössischen französischen Literatur und Kritik, die Kategorien seiner physiologischen Interpretation Wagners und der Kunst der décadence.

Deutschland folgt, entsprechend einer Art Gesetz der Nachzügler dem französischen Beispiel: Auch die Maske des Germanentums und des Idealismus ("diesen 'eigentlich deutschen' Wagner giebt es gar nicht") (37[15], KSA 11, S. 591) findet im Grunde ihre Erklärung in Wagners Natur eines Künstlers der décadence und der Großstadt. "Was endlich Richard Wagner angeht: so greift man mit Händen, nicht vielleicht mit Fäusten, dass Paris der eigentliche Boden für Wagner ist", heißt es in Nietzsche gegen Wagner (NW, KSA 6, S. 427f.); und in Der Fall Wagner stellt Nietzsche die enge Verwandtschaft zwischen Wagners Heroinen und Madame Bovary fest, während er Wagner die vollendete Natur eines Großstadt-Künstlers zuschreibt: "... in's Große gerechnet, scheint Wagner sich für keine andern Probleme interessirt zu haben, als die, welche heute die kleinen Pariser décadents interessiren. Immer fünf Schritte weit vom Hospital! Lauter ganz moderne, lauter ganz grossstädtische Probleme!"1

Schauspielerberuf; vgl. dazu insbesondere Journal (1865), S. 291, 294, 296, 301f. und 314f ("remâchement perpetuel").1 WA, KSA 6, S. 34. Vgl. jedoch auch Fragment 15[99]: "Wagner hat lauter Krankheitsgeschichten in Musik gesetzt, lauter interessante Fälle, lauter ganz moderne Typen der Degenerescenz, die uns gerade deshalb verständlich sind. Nichts ist von den jetzigen Ärzten und Physiologen besser studirt als der hysterisch-hypnotische Typus der Wagnerschen Heldin: Wagner ist hier Kenner, er ist naturwahr bis zum Widerlichen darin - seine Musik ist vor allem eine psychologisch-physiologische Analyse kranker Zustände - sie dürfte als solche ihren Werth noch behalten [...] - wir Anderen sind bei W<agners> Musik im Hospital ..." (KSA 13, S. 465). Vgl. zudem Fragment 14[63] und 15[15], ebd., S. 249 und 415.

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Nietzsche verwendet an dieser Stelle Ausdrücke, die auch Louis Deprez in seinem Essay L'évolution naturaliste in bezug auf Flaubert benutzt hatte ("Madame Bovary n'est que l'étude d'un cas pathologique extrèmement fréquent dans notre société avancée"1), und dieser übernimmt seinerseits das Urteil von Sainte-Beuve: "Anatomistes, physiologistes, je vous retrouve partout!"2 Flauberts Buch habe die kalte Undurchdringlichkeit einer medizinischen Abhandlung, Physiologie und Psychologie gingen beständig ineinander über, es werde das Skalpell angesetzt und die Atmosphäre sei die eines Krankenhauses: "l'humanité saignante de Madame Bovary vous prendrait aux entrailles, vous obséderait comme une vision d'hôpital", schrieb Desprez3. Der Krankenhaus-Vergleich wird auch benutzt, um die Arbeit der Brüder Goncourt zu beschreiben: "L'hôpital, c'est le rendez-vous de toutes les douleurs, comme l'oeuvre ((bitte frz. oe!)) des Goncourt est le musée de la souffrance humaine"4. Desgleichen spricht Brunetière in bezug auf Madame Bovary und Germinie Lacerteux von einer "étude désintéressée d'un cas pathologique", vom Versuch, im Roman mit der "clinique médicale" zu wetteifern5, und bei Bourget, dem Psychologen, dem Nietzsche sich vor allen anderen nahe fühlte, finden wir das gleiche Bild: "La Madame Bovary de Gustave Flaubert a comme une odeur d'hôpital"6.

So geben diese Lektüren Nietzsche das Werkzeug für eine Neuinterpretation des "Falls" Wagner an die Hand. Die vorgebliche Objektivität Flauberts und der Naturalisten, die er strikt ablehnt, bewertet er als "modernes Mißverständniß".

Es ist Selbst-Verachtung aber bei den Modernen [...]. Was sie erreichen, ist Wissenschaftlichkeit oder Photographie d.h. Beschreibung ohne Perspektiven, eine Art chinesischer Malerei, lauter Vordergrund und alles überfüllt. - In der That ist sehr viel Unlust in der ganzen modernen historischen und naturhistorischen Wuth - man flüchtet vor sich und auch vor dem Ideal-bilden, dem Besser-machen, dadurch daß man sucht, wie Alles gekommen ist: der Fatalism giebt eine gewisse Ruhe vor dieser Selbst-Verachtung. Die französischen Romanschriftsteller schildern Ausnahmen und zwar theils aus den höchsten Sphären der Gesellschaft, theils aus den niedrigsten - und die Mitte, der bourgeois, ist ihnen allen gleich verhaßt. Zuletzt werden sie Paris nicht los. (25[164], KSA 11, S. 57f.)

1 L. Desprez: L'évolution naturaliste, Paris 1884, S. 29.2 Ebd., S. 22.3 Ebd., S. 42, BN.4 Ebd., S. 106.5 F. Brunetière: Le roman naturaliste. Nouvelle édition, Paris 1884, S. 8, BN.6 Bourget: Nouveaux essais de psychologie contemporaine, Paris 1885, S. 141.

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Durch die Auseinandersetzung mit der französischen "Psychologie" erhalten die Begriffe décadence und Physiologie der Kunst feste Konturen. Nietzsche, auf der Flucht vor den deutschen "Tartuffes", sah in den Pariser Stendhal-Schwärmern (den "rougistes"1), die sich der verbreiteten und fatalen "Krankheit des Willens" widersetzten, die Tradition und Energie der "Freigeister" fortleben. Er ermittelt eine Linie, die, ausgehend von den idéologues, ihren Mittelpunkt in Stendhal, dem Psychologen und Analytiker findet, wie er in jenen Jahren gelesen wurde. Als Erbe dieser Tradition ist - Bourgets Urteil zufolge - Taine der "audacieux briseur des idoles de la métaphysique officielle", und diese Bewertung ist für Nietzsche von großer Bedeutung. Taine erscheint aufgrund einiger Züge seines wissenschaftlichen Nihilismus imstande, der europäischen Krankheit des Willens, wie sie sich in Renans genießerischem Dilettantismus verkörpert, zu begegnen. Zweifellos verdankt Nietzsches Taine-Bild der Darstellung Bourgets sehr viel: Charakterstärke, unbestechliche Strenge in seiner Selbstdisziplin, asketische Wissenschaft und nicht zuletzt radikaler und mutiger Nihilismus. In diesem Zusammenhang ist an die Hinweise in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral zu erinnern sowie an die harte Auseinandersetzung mit Rohde über den Historiker. Nietzsche sieht in Taine einen "tapferen Pessimisten", einen "wohlgerathene[n] und ehrwürdige[n] Typus mehrerer der nobelsten Qualitäten" der modernen Seele: "ihres rücksichtslosen Muthes, ihrer unbedingten Lauterkeit des intellektuellen Gewissens, ihres rührenden und bescheidenen Stoicismus inmitten tiefer Entbehrung und Vereinsamung."2

Doch bringt er auch seine Distanz zu Taine zum Ausdruck; so werden etwa die Haltung eines "Weltmanns und Frauenkenners" im Graindorge (26[458], KSA 11, S. 272) und die farbliche Überfrachtung seines Stils kritisiert3. Insbesondere richtet sich Nietzsches Kritik gegen die tyrannische Milieu-Theorie und die angebliche "Objektivität" Taines, unter der sich in Wirklichkeit die Vorliebe für die "starken expressiven Typen", "für die Genießenden mehr als für die Puritaner" verbirgt (26[348], KSA 11, S. 241). 1 Siehe dazu Nietzsches Brief vom 11. März 1885 an Resa von Schirnhofer, worin er sie auffordert, sich auf die Jagd nach den "Rougistes", den Stendhal-Schwärmern, zu begeben, von denen Bourget, Mitarbeiter der Revue nouvelle, der "lebendste" sei (KGB III/3, S. 18f).2 Brief an Erwin Rohde vom 19. Mai 1887; KGB III/5, S. 76.3 Ebd., 26[447], S. 269. Nietzsche macht sich hier Doudans Urteil im Brief an Piscatory vom 19. Mai 1866 zueigen: "mais que cela est rouge, bleu, vert, orange, noir, nacré, opale, iris et pourpre!... c'est une boutique de marchand de couleurs."

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Auch die von Nietzsche besonders geschätzten Elemente ließen sich analytisch herausstellen: das Gleichgewichtsmodell der perfekten Gesundheit (bei Byron und Goethe), die Aufwertung der griechischen Kultur1, die Bewunderung für die "Kraft-Ungeheuer", von den Kondottieri der Renaissance bis zu Napoleon, der Charakter der Musik als Ausdruck von romantischer Krankheit und "Gegenrenaissance" etc. (14[61], KSA 13, S. 247). Taines Haltung zeichnet sich durch den Willen aus, der décadence entgegenzutreten, die als Ausdruck des Verlusts eines Gleichgewicht spendenden Zentrums gesehen wird.

Bourget liest das Fehlen eines "dominierenden Instinkts", der Ordnung in die Vielheit bringen könnte, die vielen Seelen in einer Brust, die "Krankheit des Willens" und das mal du siècle bei den führenden Intellektuellen Frankreichs als die Bilanz einer gesamten Generation. Es herrscht das verbreitete Empfinden, in einer Zeit der tiefen Krise aller Werte, in einer zum Tode verurteilten Gesellschaft zu leben. Das Fehlen eines kollektiven Credos, das Ende der alten Religionen, der Nihilismus der Wissenschaft, die Herrschaft der Masse, die das Individuum seiner Möglichkeiten beraubt, der Dilettantismus, der Kosmopolitismus, die Ausbreitung des Buddhismus usw. sind Phänomene, die mit der physiologischen Abnutzung, mit einer allgemeinen Unfähigkeit zum Leben zusammenhängen.

Im Fall Wagner wendet Nietzsche den Begriff der décadence, den er in seinen Aufzeichnungen seit dem Winter 1883-84 notiert und - wie er ausdrücklich anmerkt - Bourgets Essay über Baudelaire entnommen hatte, auf den Musiker an. In der décadence lösen sich tierische wie gesellschaftliche Organismen auf, die einzelne Zelle wird dem hierarchischen Zusammenhang entrissen und verliert ihre Funktion in einem übergeordneten Ganzen. Anstelle des gesunden Zusammenwirkens der Teile, das auch den großen Stil kennzeichnet, bricht die Anarchie aus. Und Bourget schloß:

Un style de décadence est celui où l'unité du livre se décompose pour laisser la place à l'indépendance de la page, où la page se décompose pour laisser la place à l'indépendance de la phrase, et la phrase pour laisser la place à l'indépendance du mot.2

Nietzsche siedelt sich mit seinem aphoristischen Stil und dem Willen, durch die Sentenz "eine Form der Ewigkeit" auszudrücken, bewußt am 1 Vgl. H. Taine: Philosophie de l'art, Paris 1885, S. 58.2 Bourget: Essais de psychologie contemporaine, a.a.O., S. 25.

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Gegenpol an: "... mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, - was jeder Andre in einem Buche nicht sagt ... " (GD 51, KSA 6, S. 153). In jedem Fall steht er dem für die französischen Moralisten typischen Ehrgeiz, wie Joubert ihn formuliert, näher: "S'il est un homme tourmenté par la maudite ambition de mettre tout un livre dans une page, toute une page dans une phrase, et cette phrase dans un mot, c'est moi."1

Als genaues Gegenteil des Stils der décadence beschreibt Bourget das Werk von Taine: ein wirklicher und wahrhaftiger Prozeß "d'anatomie psychologique d'un chercheur, qui voit dans la littérature un signe".2 Die Philosophie ist die "passion dominatrice", welche die Bilder in einen Argumentationszusammenhang einfügt und ihnen dadurch Ordnung und Beweiskraft zu geben vermag.

Il n'existe point, dans la littérature actuelle, de style plus systématique, et dont tous les procédés traduisent mieux les partis pris d'une pensée sûre d'elle-même. Chaque période d'une de ces fortes pages est un argument, chaque membre de ces périodes une preuve, à l'appui d'une thèse que le paragraphe tout entier soutient, et ce paragraphe lui-même se lie étroitement au chapitre, lequel se lie à l'ensemble, si bien que, pareil à une pyramide, tout l'ouvrage converge, depuis les plus minces molécules des pierres des assises jusqu'au bloc du rocher de la cime, vers une pointe suprême et qui attire à elle la masse entière ...3

Die strenge Konstruktion, die sich auch die "métaphores visionnaires" unterwirft und sie beherrscht, steht im Gegensatz zum Stil der décadence, wie Bourget ihn im Hinblick auf Baudelaire (aber auch bezogen auf Goncourts Impressionismus) charakterisiert und wie Nietzsche ihn bei Wagner sieht.

In vielen Fragmenten stellt Nietzsche dem schwülstigen, metaphernreichen Stil Balzacs ("Plebejer", weil starker Empfindungen bedürftig, selbst Opfer der Großstadt, die er beschreibt) explizit den trockenen, klaren, mathematischen Stil Stendhals gegenüber. Diese Gegenüberstellung verweist auf Taines Essay: entgegen den grellen Farben Balzacs bleibt Beyle ein Klassiker: "simple élève des idéologues et du sens commun." Der metaphorische Stil ist ungenau, behauptet Taine:

1 J. Joubert: Pensées, Paris 1874, 6. Aufl., S. 8 (BN, mit Unterstreichungen Nietzsches).2 Bourget: Essais de psychologie contemporaine, a.a.O., S. 182.3 Ebd., S. 188.

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Quand votre idée, faute de réflexion, est encore imparfaite et obscure, ne pouvant la montrer elle-même, vous indiquez les objets auxquels elle ressemble; vous sortez de l'expression courte et directe, pour vous jeter à droite e à gauche, dans les comparaisons. C'est donc par impuissance que vous accumulez les images.1

Die aphoristische Schreibweise Nietzsches zielt auf definitorische Schärfe und definitorischen Reichtum und verzichtet (nach der romantischen Periode) bewußt auf jegliche Metaphorik: "... was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck." (EH, KSA 6, S. 340) Die Entscheidung für die Metapher bedeutet dagegen Unbestimmtheit, Suggestion, Schwäche. Oder sie resultiert aus der gleichgültigen Vervielfältigung der kritischen Standpunkte und Interpretationen in der Moderne, was zum Skeptizismus à la Renan, zur vacillation de la volonté, zur Ohnmacht führt.2

1 Taine: Nouveaux essais de critique et d'histoire, a.a.O. ((?)), S. 57.2 Die zentrale Bedeutung von Taines ästhetischen Theorien in ihrer klaren Gegenbewegung zu Wagners "Idealismus" zeigt sich auch an den von Nietzsche unter der Rubrik "Physiologie der Kunst" gesammelten Stellen aus Voyage aux Pyrénées. In dieser Arbeit, die ursprünglich als Gelegenheitsschrift entstanden war (ein Pyrenäen-Reiseführer mit Illustrationen von Gustave Doré, im Auftrag des Verlagshauses Hachette), stellt er das Thema von Energie und Kraft in den verschiedenen Ausdrucksformen in den Mittelpunkt: von der beeindruckenden Gewalt der Felsmassen, im Verhältnis zu denen die menschliche Erfahrung als "excroissance passagère" erscheint ("la substance minérale et ses forces sont les vrais possesseurs et les seuls maîtres du monde ...", S. 338) bis zu den gesunden "bêtes de proie" der Renaissance, die in krassem Gegensatz zur décadence der Modernen stehen ("ils faisaient l'histoire, et nous l'écrivons", S. 76). Taine hat ein ästhetisches Gefallen an der Entfesselung einer von jeder moralischen Zügelung befreiten barbarischen Energie: "L'homme ressemblait à une bête de proie, et personne ne se scandalise quand une bête de proie a mangé un mouton" (S. 53). Eine weitere Art von Glück hängt vom Wohlergehen und vollkommenen physiologischen Gleichgewicht ab: "on trouve dans son être une harmonie qu'on n'y connaissait pas; on ne porte plus le poids de sa pensée ni de sa machine; on ne fait plus que sentir; on devient tout animal, c'est à dire parfaitement heureux" (S. 272). Diese überschäumende Lebensfülle gehört der südlichen Lebensart an, welche die "sérénité inaltérable" für sich hat, die "profusion de clarté" des Himmels, der ganz anders ist als der des Nordens: "nos cieux du Nord ont une expression plus variée et plus profonde; les reflets métalliques de leurs nuages changeantes conviennent à des âmes agitées ..." (S. 259).Die bisher nicht als Quellen Nietzsches ermittelten Taine-Stellen sind im Anhang wiedergegeben.

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Diese Unfähigkeit zum "großen Stil" und zu einer den einzelnen Künsten angemessenen Ausdrucksform bringt die Tendenz mit sich, die Sprachen zu mischen. Auch darin ist Wagner den französischen Spätromantikern verwandt: "Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler". Im Fanatismus "des Ausdrucks 'um jeden Preis'" und darin, "geborene Feinde der Logik und der geraden Linien"1 zu sein, ist "Delacroix eine Art Wagner."2

Nur kurze Zeit hatte Nietzsche Wagners Illusion geteilt, eine dramatische Kunst, die einer höheren Synthese fähig ist, sei denkbar: Wagners Dilettantismus wurde noch in Richard Wagner in Bayreuth als Mitteilungskraft des "dithyrambischen Dramatikers", der zugleich "Schauspieler, Dichter, Musiker" sein könne (WB, KSA 1, S. 467), auf vieldeutige Weise sublimiert. Sehr bald schon sollte der Cagliostro der Moderne sich indes als weit entfernt von der Macht des "großen Stils" erweisen. Er hat es nötig, den Auflösungszustand und das Chaos, das ihn selbst erzeugt hat, lebendig zu erhalten; er kann die Totalität nur ideologisch fingieren, kann die décadence nur mit einer großen theatralischen Phantasmagorie umgeben und sie darin sublimieren. Und dies bedeutet vor allem, daß er die Leere einer verfehlten Wirklichkeit durch den Opiumrausch des Musikdramas überdecken muß.

5. Der demagogische Cagliostro und der dionysische »Histrio«

Wagners Position ist keine freie Wahl, sie ist ein Fatum, eine notwendige Folge der Physiologie eines décadent:

Wagner [...] wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Freiheit, die Achtung verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein.

1 JGB 256, KSA 5, S. 202f.2 25[141], KSA 11, S. 51. Diese Bemerkung folgt auf ein kurzes Exzerpt, das Nietzsche aus dem Roman Manette Salomon genommen hat, worin es heißt: "Bild der décadence dieser Zeit, le gâchis, la confusion, la littérature dans la peinture, la peinture dans la littérature, la prose dans les vers, les vers dans la prose, les passions, les nerfs, les fiblesses de notre temps, le tourment moderne". Siehe auch die Beschreibung, die Baudelaire von Delacroix gibt und die Nietzsche gelesen hat in: G. Dargenty: Eugène Delacroiy par lui-même, Paris 1885, BN ("Delacroix est le seul aujourd'hui dont l'originalité n'ait pas été envahie par le système des lignes droites ...", S. 212), sowie folgende Bemerkung von Desprez: "Il y a du Delacroix dans Baudelaire; plus de dessin, mais les mêmes tons violacés et verdastres ..." (Desprez, a.a.O., S. 265).

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Seine Kunst selbst wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-Betäubens, - es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher 'Unfreier' hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein ... (23[2], KSA 13, S. 601).

In seiner letzten Schaffensperiode vertieft Nietzsche die physiologische Analyse der décadence. Unter beständigem Verweis auf die "Psychologen" und die zeitgenössischen Forschungen in Frankreich geht er ihrem Zusammenhang mit den Auflösungserscheinungen der Moderne und mit der "Großstadt" nach. Er sieht in der "unbewußten Falschheit" das Resultat eines Kampfes der nach Herrschaft strebenden Instinkte; um gutgeheißen und freigesetzt zu werden, präsentieren diese sich im Gewand anerkannter Werte.

Es ist ein Zeichen von gebrochenem Instinkt, wenn der Mensch das Treibende und dessen 'Ausdruck' ('die Maske') getrennt sieht - ein Zeichen von Selbstwiderspruch, und viel weniger siegreich. Die absolute Unschuld in der Gebärde, im Wort, im Affekt, das 'gute Gewissen' in der Falschheit, die Sicherheit, mit der man nach den größten und prachtvollsten Worten und Stellungen faßt - Alles nothwendig zum Siege. (8[1], KSA 12, S. 324)

Der Künstler der décadence schöpft seine Mitteilungskraft und seinen Ausdruck nicht aus einer übergroßen Fülle an Lebenskraft, aus einem Überfluß an Energien, der sich im Spiel mit Formen und Rhythmen, in der Lust am Zerstören und neuerlichen Zusammensetzen ausdrückt. Vielmehr bringt er mitten in der Auflösung der Person in der Moderne atavistische Bereiche der Existenz mit den ihnen entsprechenden Mitteilungs- und Ausdrucksstilen zum Vorschein: "Wenn der Erschöpfte mit der Gebärde der höchsten Aktivität und Energie auftritt: wenn die Entartung einen Exceß der geistigen oder nervösen Entladung bedingt, dann verwechselte man ihn mit dem Reichen ..." (14[68], KSA 13, S. 252).

In der extremen Erregtheit seines Gefühls und seiner Unfähigkeit nicht zu reagieren, die Nietzsche der Hysterie vergleicht, übersieht der dionysische Mensch "kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig." (GD 10, KSA 6, S. 118) Der moderne Künstler wird wegen seines Erschöpfungszustandes strikt unter die anderen Verfallserscheinungen eingereiht, die die Großstadt hervorbringt:

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... die zunehmende Civilisation, die zugleich auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Criminalistischen mit sich bringt ... eine Zwischen-species entsteht, der Artist, von der Criminalität der That durch Willensschwäche und sociale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Füllhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend ...1.

Dem Histrionismus der décadence, den die Erschöpfung und die "Verarmung der Maschine" (14[119], KSA 13, S. 298) ermöglicht haben und der in seiner Physiologie dem Hysterismus eng verwandt ist, setzt Nietzsche den dionysischen Histrionismus als Ausdruck der bejahenden Kunst entgegen. Er ist eine Erscheinung reicher Mitteilung, die hauptsächlich durch den Körper geschieht, wohingegen die Musik, die seit Menschliches, Allzumenschliches jede Ursprünglichkeit verloren hat, "ein bloßes residuum des dionysischen Histrionismus"2 ist. "Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Culturmensch-Vermögen sind subtrahirte aus volleren Vermögen." (14[119], KSA 13, S. 297) Die Halluzination der Gebärden des Histrio Wagner ist nichts anderes als die durch die Auflösung der Person hervorgerufene Mimesis der ursprünglichen dionysischen Mitteilungsfülle, deren Medium der Körper ist und aus der jede bejahende Kunst entspringt.

Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, - er ist die Quelle der Sprachen. [...] Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurück gelesen werden ... (14[119], KSA 13, S. 296f).

Indem Nietzsche einen neuen Zugang zur dionysischen Totalität gewinnt, wertet er in gewissem Maße auch Wagners frühe Positionen wieder auf. Die Entwicklung des späteren Wagner zur absoluten Musik - in theoretischer wie musikphilosophischer Hinsicht - geht mit einer Betonung asketischer Ideale und einer zunehmenden Unterdrückung des körperlichen Elementes einher. Dagegen bleibt Nietzsche in vielerlei Hinsicht dem frühen Wagner treu, der in Das Kunstwerk der Zukunft geschrieben hatte: "Die realste aller Kunstarten ist die Tanzkunst. Ihr künstlerischer Stoff ist der wirkliche leibliche Mensch, und zwar nicht ein Teil desselben, sondern der ganze, von der Fußsohle bis zum Scheitel, wie er dem Auge sich darstellt." 3

Der späte Nietzsche wird wieder zum Schüler des Philosophen Dionysos,

1 14[182], KSA 13, S.366f. Vgl. auch 14[170], S. 356f und 16[89], S. 517f.2 GD 10, KSA 6, S. 118.3 R. Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, DuS, Bd. VI, S. 40.

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indem er den dionysischen Histrionismus als Ausdruck von Lebensfülle und vollkommener Mitteilung wertet. Die Physiologie des Tragischen verteidigt den Wert der Kunst als Stimulans des Lebens und Ausdruck von Macht gegen die décadence und ihre Masken.

Bedeuten der Formenreichtum und die symbolische Macht des Körpers einen Rückgriff auf die "vollkommene Mitteilung", wie Wagner sie in Oper und Drama formuliert hatte, so unterscheiden sie sich jedoch auch von ihr, insofern sie nichts Unmittelbares sind, sondern das Ergebnis einer langwierigen Eroberung durch die Sammlung von Energien. Sie kommen zuletzt, sind nichts Ursprüngliches. Auch die Leichtigkeit des Tanzes muß erlernt werden, notfalls durch die Peitsche. In Ecce homo ist der Körper magisches Theater des Universums, weil er von Kräften durchzogen wird, welche die diffusen Energien der Umwelt konzentrieren: "... das Genie ist bedingt durch trockene Luft, durch reinen Himmel, - das heisst durch rapiden Stoffwechsel, durch die Möglichkeit, grosse, selbst ungeheure Mengen Kraft sich immer wieder zuzuführen." Die extreme physiologische Sensibilität ist Sammlung von Kraft, ein Zustand "animalischen Vigors" (EH, KSA 6, S. 282), der Freiheit bedeutet und eine äußerste Steigerung des Willens zum Ausdruck bringt (dionysisch-göttlicher Zustand), worin es keinen Zufall mehr gibt; alles ist Vollkommenheit und Mitteilungskraft.

"... damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, dass Richard Wagner der mir bei Weitem verwandteste Mann war" (EH, KSA 6, S. 268) - so die überraschende Feststellung in Ecce homo, wo der dionysische Histrio dem Histrio der décadence entgegentritt, und zwar zum letzten Mal vor der geistigen Umnachtung, die auf tragische Weise die Lebensfülle nachahmt:

Es ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon oft unter den Menschen gelebt und kenne Alles, was Menschen erleben können, vom Niedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, - Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich noch Voltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner ... Dies Mal komme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird ... Nicht daß ich viel Zeit hätte ... Die Himmel freuen sich, daß ich da bin ... Ich habe auch am Kreuze gehangen ..."1.

Und noch einmal am selben Tag: "Man erzählt mir, daß ein gewisser göttlicher Hanswurst dieser Tage mit den Dionysos-Dithyramben fertig geworden ist ...".1 Brief an Cosima Wagner vom 3. Januar 1889; KGB III/5, S. 572f.

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(Aus dem Italienischen von Leonie Schröder)

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A n h a n g

Im folgenden werden die Korrespondenzen zwischen Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées, Paris 1858, und Nietzsches nachgelassenem Fragment 7[7] (Ende 1886-Frühjahr 1887), KSA 12, S. 284-290, aufgezeigt.

Nietzsche, S. 286, 1-4::

Physiologie der KunstBeethoven - un pauvre grand homme, sourd, amoureux, méconnu et

philosophe, dont la musique est pleine de rêves gigantesques ou douloureux.

Vgl. Taine, S. 296-297:

- Le second morceau était un andante de Beethoven.- Qu'est-ce que Beethoven?- Un pauvre grand homme, sourde, amoureux, méconnu et philosophe,

dont la musique est pleine de rêves gigantesques ou douloureux.- Quels rêves?- "L'éternité est une grande aire d'où tous les siècles, comme de jeunes

aiglons, se sont envolés tour à tour pour traverser le ciel et disparaître. Le nôtre est arrivé à son tour au bord du nid; mais on lui a coupé les ailes, et il attend la mort en regardant l'espace, dans lequel il ne peut s'élancer."

- Qu'est-ce que vous me récitez là?- Une phrase de Musset qui traduit votre andante.

Nietzsche, S. 286, 5-7:

Mozart - ganz deutsche Gefühle ausdrückend, la candeur naïve, la tendresse mélancholique, contemplative, les vagues sourires, les timidités de l'amour.

Vgl. Taine, S. 297:

- Le troisième morceau, un duo de Mozart, exprime des sentiments tout allemands, la candeur naïve, la tendresse mélancholique, contemplative, les vagues sourires, les timidités de l'amour.

Nietzsche, S. 286, 8-11:

Das Piano exalte et raffine. Mendelsohn les entoure de rêves ardents, délicats, maladifs.

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Les âpres désirs tourmentés, les cris brisés, révoltés, les passions modernes, sortent de tous les accords de Meyerbeer.

Vgl. Taine, S. 300-301:

- Décidément, vous autres gens d'Europe, vous avez une belle logique. Et la huitième fille, celle qui ne devient point orgue de Barbarie?

- Le piano la forme aussi. Il sert à tout, partout. Bienfaisante machine!- Comment cela?- Il exalte et raffine. Mendelsohn les entoure de rêves ardents, délicats,

maladifs. Rossini emplit leurs nerfs d'une joie expansive et voluptueuse. Les âpres désirs tourmentés, les cris brisés, révoltés, les passions modernes, sortent de tous les accords de Meyerbeer. Mozart éveille en elles un essaim de tendresses et de tristesses vagues. Elles vivent dans un nuage d'émotions et de sensations.

Nietzsche, S. 286, 12-27:

In Hinsicht auf die Maler.tous ces modernes sont des poètes, qui ont volu être peintres. L'un a

cherché des drames dans l'histoire, l'autre des scènes de moeurs ((bitte frz. oe!)), celui-ci traduit des religions, celui-là une philosophie. Jener ahmt Raffael nach, ein anderer die ersten ital<ienischen> Meister; die Landschafter verwenden Bäume und Wolken, um Oden und Elegien zu machen. Keiner ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, In-Scene-Setzer irgendwelcher Erinnerung oder Theorie. Sie gefallen sich an unsrer Erudition, an unsrer Philosophie. Sie sind, wie wir, voll und übervoll von allgemeinen Ideen. Sie lieben eine Form nicht um das, was sie ist, sondern um das, was sie ausdrückt. Sie sind die Söhne einer gelehrten, gequälten und reflektirten Generation - Tausend Meilen weit von den alten Meistern, welche nicht lasen, und nur dran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.

Vgl. Taine, S. 345-346:

Tous ces modernes sont des poètes , qui ont volu être peintres. L'un a cherché des drames dans l'histoire, l'autre des scènes de moeurs ((bitte frz. oe!)), celui-ci traduit des religions, celui-là une philosophie. Tel imite Raphaël, un autre les premiers maîtres italiens; les paysagistes emploient les arbres et les nuages pour faire des odes ou des élégies. Nul n'est simplement peintre; tous sont archéologues, psychologues, metteurs en oeuvre ((bitte frz. oe!)) de quelque souvenir ou de quelque théorie. Ils plaisent è notre érudition, à notre philosophie. Ils sont, comme nous, pleins et comblés d'idées générales, Parisiens inquiets et chercheurs. Ils vivent trop par le cerveau et point assez par les sens; ils ont trop d'esprit et pas assez de naïveté. Ils n'aiment point une forme pour elle-même, mais pour ce qu'elle exprime; et si par hasard ils l'aiment, c'est par volonté, avec un goût acquis, par une superstition d'antiquaires. Ils sont les fils d'une génération savante, tourmentée et réfléchie, où les hommes ayant acquis l'égalité et le droit de penser, et se faisant chacun leur religion, leur rang et leur fortune, veulent trouver dans les arts l'expression de leurs anxiétés et de leurs

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méditations. Ils sont à mille lieues des premiers maîtres, ouvriers ou cavaliers, qui vivaient au dehors, qui ne lisaient guère, et ne songeaient qu'à donner une fête à leurs yeux. C'est pour cela que je les aime; je sens comme eux parce que je suis de leur siècle. La sympathie est la meilleure source de l'admiration et du plaisir.

Nietzsche, S. 286, 28-31 und S. 287, 1-7:

Unser Zustand: der Wohlstand macht die Sensibilität wachsen; man leidet an den kleinsten Leiden; unser Körper ist besser geschützt, unsere Seele kränker. Die Gleichheit, das bequeme Leben, die Freiheit des Denkens, - aber zu gleicher Zeit l'envie haineuse, la fureur de parvenir, l'impatience du présent, le besoin du luxe, l'instabilité des gouvernements, les souffrances du doute et de la recherche.

- man verliert ebenso viel als man gewinnt -Ein Bürger von 1850, verglichen mit dem von 1750, glücklicher? moins

opprimé, plus instruit, mieux fourni de bien-être, aber nicht plus gai - - -

Vgl. Taine, S. 175:

Certainement, il y a trop de mal dans le monde. L'homme ôte chaque siècle une ronce et une pierre dans le mauvais chemin où il avance; mais qu'est-ce qu'une ronce et une pierre? Il en reste et il en restera toujours plus qu'il n'en faut pour le déchirer et le meurtrir. D'ailleurs, d'autres cailloux retombent, d'autres épines repoussent. Son bien-être grandit sa sensibilité; il souffre autant pour de moindres maux; son corps est mieux garanti, mais son âme est plus malade. Les bienfaits de la Révolution, les progrès de l'industrie, les découvertes de la science, nous ont donné l'égalité, la vie commode, la liberté de penser, mais en même temps l'envie haineuse, la fureur de parvenir, l'impatience du présent, le besoin du luxe, l'instabilité des gouvernements, les souffrances du doute et de la recherche. Un bourgeois de l'an dix-huit cent cinquante est-il plus heureux qu'un bourgeois de l'an seize cent cinquante? Moins opprimé, plus instruit, mieux fourni de bien-être, cela est certain; mais plus gai, je ne sais. Une seule chose s'accroit, l'expérience, et avec elle la science, l'industrie, la puissance. Dans le reste, on perd autant que l'on gagne et le plus sûr progrès est de s'y résigner.

Nietzsche, S. 287, 8-21:

Im 17ten Jahrhundert war nichts häßlicher als ein Gebirge; man hatte tausend Gedanken ans Unglück dabei. Man war müde der Barbarei, wie wir heute müde der Civilisation sind. Die Straßen heute so reinlich, die Gendarmes in Überfluß, die Sitten so friedlich, die Ereignisse so klein, so vorhergesehen, daß man aime la grandeur et l'imprévu. Die Landschaft wechselt wie die Litteratur; damals bot sie lange zuckersüße Romane und galante Abhandlungen: heute bietet sie la poésie violente et des drames physiologistes.

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Diese Wildniß, die allgemeine unversöhnliche Herrschaft der nackten Felsen ennemi de la vie - nous délasse de nos trottoirs, de nos bureaux et nos boutiques. Nur deshalb lieben wir sie

Vgl. Taine, S. 192-193:

Comprenez donc que notre goût moderne sera aussi passager que l'antique; ce qui veut dire qu'il est justement aussi raisonnable et aussi sot. Nous avons le droit d'admirer les sites sauvages, comme jadis on avait le droit de s'ennuyer dans les sites sauvages. Rien de plus laid qu'une vraie montagne au dix-septième siècle. Elle rappelait mille idées de malheur. Les gens qui sortaient des guerres civiles et de la demi-barbarie pensaient aux famines, aux longues traites à cheval sous la pluie et dans la neige, au mauvais pain noir mêlé de paille, aux hôtelleries boueuses, empestées de vermine. Ils étaient las de la barbarie, comme nous sommes las de la civilisation. Aujourd'hui les rues sont si propres, les gendarmes si abondants, les maisons si bien alignées, les moeurs ((bitte frz. oe!)) si paisibles, les événements si petits et si bien prévus, qu'on aime la grandeur et l'imprévu. Le paysage change comme la littérature: elle fournissait alors de longs romans doucereux et des dissertations galantes; elle fournit aujourd'hui de la poésie violente et des drames physiologistes. Le paysage est une littérature non écrite; il est comme elle une sorte de flatterie adressée à nos passions, ou de nourriture offerte à nos besoins. Ces vieilles montagnes dévastées, ces pointes blessantes, hérissées par myriades, ces formidables fissures dont la paroi perpendiculaire plonge d'un élan jusqu'en des profondeurs invisibles; ce chaos de croupes monstrueuses qui s'entassent et s'écrasent comme un troupeau effaré de léviathans; cette domination universelle et implacable du roc nu, ennemi de la vie, nous délasse de nos trottoirs, de nos bureaux et nos boutiques. Vous ne l'aimez que pour cette cause, et cette cause ôtée, vous y répugneriez autant que Mme de Maintenon.

Nietzsche, S. 288, 23-27:

Was an unsrer Democratie zum Lachen ist: der schwarze Rock ...l'envie, la tristesse, le manque de mesure et de politesse, les héros de

George Sand, de Victor Hugo et de Balzac(et de Wagner)

Vgl. Taine, S. 41-42;

- Nous rionsde ces prétentions et de ces picoteries, de ces mésaventures et de ces

querelles d'aristocratie; notre tour viendra, comptons-y; notre démocratie aussi apprête à rire: notre habit noir est, comme leur habit brodé, chamarré de ridicules; nous avons l'envie, la tristesse, le manque de mesure et de politesse, les héros de George Sand, de Victor Hugo et de Balzac.

Nietzsche, S. 288, 28-30 und S. 289, 1-7:

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le goût de la Renaissanceein Ameublement darin, éclatant et sombre, d'un style tourmenté et

magnifiquecet âge de force et d'effort, d'audace inventive, de plaisirs effrénés et

de labeur terrible, de sensualité et d'héroïsmeJeanne d'Albret, die Mutter Heinrich IV, nach d'Aubigné's Urtheil:"princesse n'ayant de la femme que le sexe, l'âme entière aux choses

viriles, l'esprit puissant aux grandes affaires, le coeur ((bitte frz. oe!)) invincible aux adversités."

Vgl. Taine, S. 65:

Au premier étage, on montre une grande écaille de tortue qui fut le berceau d'Henri IV. Des bahuts sculptés, des dressoirs, des tapisseries, des horloges du temps, le lit et le fauteuil de Jeanne d'Albret, tout un ameublement dans le goût de la Renaissance, éclatant et sombre, d'un style tourmenté et magnifique, reportent d'abord l'esprit vers cet âge de force et d'effort, d'audace inventive, de plaisirs effrénés et de labeur terrible, de sensualité et d'héroïsme. Jeanne d'Albret, mère de Henri IV, traversa la France pour venir, selon sa promesse, accoucher dans ce château, "princesse, dit d'Aubigné, n'ayant de la femme que le sexe, l'âme entière aux choses viriles, l'esprit puissant aux grandes affaires, le coeur ((bitte frz. oe!)) invincible aux adversités."

Nietzsche, S. 289, 8-11:

Agir, oser, jouir, dépenser sa force et sa peine en prodigue, s'abandonner à la sensation présente, être toujours pressé de passions toujours vivantes, supporter et rechercher les excès de tous les contrastes, voilà la vie du seizième siècle.

Vgl. Taine, S. 70-71:

Agir, oser, jouir, dépenser sa force et sa peine en prodigue, s'abandonner à la sensation présente, être toujours pressé de passions toujours vivantes, supporter et rechercher les excès de tous les contrastes, voilà la vie du seizième siècle.

Nietzsche, S. 289, 12-15:

Parmices violences et ces voluptés la dévotion était ardente. Die Religion war

damals nicht eine Tugend, sondern eine Passion. Man gieng zur Kirche wie zur Schlacht oder zum Rendezvous.

Vgl. Taine, S. 74:

Parmi ces violences et ces voluptés, la dévotion était ardente; on allait au prêche ou à l'église, du même air qu'aux champs de bataille ou aux

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rendez-vous. C'est que la religion alors n'était pas une vertu, mais une passion.

Nietzsche, S. 289, 16-19:

die Ritter in der Zeit der Kreuzzüge - enfants robustes. Im Tödten und Heulen ein Raubthier. Ist die Wuth vorüber, dann kommen sie auf Thränen zurück und werfen sich munter an den Hals, zärtlich.

Vgl. Taine, S. 142-143;

Au sortir du carnage dont ils emplirent Jérusalem, les croisés allèrent pieds nus, pleurant, et chantant, jusqu'au saint sepulcre. Plus tard, quand une partie des barons voulut quitter la croisade de Constantinople, les autres allèrent à leur rencontre, et tombant à genoux les supplièrent; tous s'embrassèrent alors, éclatant en sanglots. Enfants robustes: ce mot exprime tout; ils tuaient et hurlaient en bêtes de proie, puis la fougue apaisée ils revenaient aux larmes et aux tendresses d'un enfant qui se jette au cou de son frère, ou qui va faire sa première communion.

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