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+ Seite A4 DIE WELT Samstag, 15. August 2009 BootsWelt Anzeige Von Matthias J. Müncheberg Z uerst kann man sie nur hö- ren. Ein dumpfes Grollen, welches anschwillt zu ei- nem donnernden Tosen, zerschneidet die Stille auf dem Fluss Shubenacadie in der ostkana- dischen Provinz Nova Scotia. Ein Weißkopfadler verlässt seinen Horst und kreist über unseren Köp- fen. Dann können wir die gut einen Meter hohe, wild sprudelnde Was- ser-Walze sehen, die sich mit bis zu zwanzig Kilometern pro Stunde un- aufhaltsam auf uns zubewegt. „Das ist die erste, große Flutwel- le, die sogenannte Tidal Bore“, er- klärt Skipper Jacob, den wir mit- samt seinem motorbetriebenen, ro- ten Schlauchboot gemietet haben. Wir sollten uns jetzt besser gut fest- halten, und: gleich werde es sehr, sehr nass und ungemütlich werden. Die acht Insassen des Dingis gehor- chen, den Blick unbeirrt und ein wenig ängstlich auf den sich be- drohlich nähernden Berg aus schlammig-braunem Wasser ge- richtet. Die Finger klammern sich unwillkürlich an der Sorgleine fest, die das Boot ringsherum umgibt. Ein letzter Check der Rettungs- westen, die Füße werden zur Si- cherheit auf dem wabbligen Schiffs- boden für einen besseren Stand so gut es geht verkeilt, und unwillkür- lich verlagern alle ihr Gewicht noch ein klein wenig mehr in die Mitte, und rücken – obwohl sich alle bis- her völlig fremd waren – dicht zu- sammen. Team-Building könnte man das auch nennen. Dann bricht krachend das Inferno über das Boot und seine Insassen herein. Von der Bay of Fundy aus, wo die weltweit höchsten Gezeiten mit bis zu 19 Metern betragenden Tiden ge- messen werden, rollt der Flutstrom zweimal am Tag rasend schnell den etwa 30 Kilometer langen Shubena- cadie River hinauf, das Flussbett dabei stark verbreiternd und an manchen Stellen mehrere Meter vertiefend. Dort, wo vor Kurzem noch Möwen auf den hellbraunen Sanddünen entlangstolziert sind, tobt plötzlich gurgelndes Nass. Wer hier bei Ebbe spazieren geht, sollte den Tidenkalender gut ken- nen und die Uhrzeit im Auge behal- ten. „Gegen zwölf Uhr erwarten wir die nächste Tidal Bore“, sagt Heat- her Smith, die in Urbania an der Bundesstraße 215 zusammen mit Partner Jack Robinson einen Raf- ting Park betreibt. Die zweite tägli- che Welle komme nachts, da sei das Raften auf dem Shubenacadie we- gen der Dunkelheit aber viel zu ge- fährlich, sagt die Wassersportlerin. Beim Tidal Bore Rafting (Bore ist indisch und bedeutet Flut) reiten mutige Abenteurer in einem moto- risierten Schlauchboot durch die Täler und über die Kämme der Ge- zeiten-Flutwelle, welche die Fließ- richtung des Gewässers für die nächsten Stunden umkehrt, bevor das Wasser – langsam erst, und dann immer ungestümer – wieder in Richtung Norden abfließt und ei- ne Mondlandschaft aus Sand hin- terlässt. „Die Tidal Bores können bei uns eine Höhe von bis zu zehn Fuß (etwa drei Meter, d. Red.) an- nehmen“, sagt Heather Smith. Be- sonders ungestüm sei die Tidal Bo- re bei Voll- oder Neumond, dann sei wegen der größeren Erdanziehung die Welle am höchsten. Als die Woge krachend über un- seren Köpfen zusammenschlägt, sind alle das erste Mal komplett durchnässt. Der 28-jährige Skipper Jacob, der seit zwei Jahren Rafting- Touren auf dem Shubenacadie an- führt, handelt – der Kraft und damit der Gefahren wegen, welche die großen Wogen in sich bergen – stets umsichtig. Nie verliert er die Art und Höhe der Wellen, die anderen Schlauchboote, den Lauf des Flus- ses und seine Gäste aus den Augen. Nachdem er die Flutwelle ein paar Hundert Meter auf deren Kamm Richtung Süden abreitend verfolgt hat, schwenkt er den Pro- peller seines mit 60 PS gut befeuer- ten Viertakt-Außenborders in die andere Richtung, reißt den Gasgriff auf und stürzt sich nun ein ums an- dere Mal mit seinem plötzlich spiel- zeugklein wirkenden Gummiboot in das wild sprudelnde Getöse von hohen und niedrigeren, sich teil- weise überlagernden und so eine erstaunliche Größe annehmenden Wogen, welche der eigentlichen Ti- dal Bore nachfolgen. Als sich der Großteil der Flut gut eineinhalb Stunden später in das Flussbett des Shubenacadie bei Ur- bania ergossen hat und nur noch kleinere Wellen auf der Wasser- oberfläche tanzen, testen einige der mutigsten Rafter ihre Rettungswes- ten aus – mit einem kühnen Sprung in die schlammig-braunen Fluten. Was soll’s, der salzige Sand ist oh- nehin schon überall, in den Augen, den Ohren und im Mund – und die Klamotten sind sowieso hinüber. Nach zwei Stunden ist der Spuk schließlich vorbei. Stille. Wer jetzt hier am Ufer entlangschlendert, könnte meinen, beim Shubenacadie handele es sich um einen ganz nor- malen, träge seinem Lauf folgenden Fluss. Wir wissen es jedoch besser. Und zollen dem Wasser, das so schnell und für uns so völlig uner- wartet sein Antlitz wechseln kann, Respekt. „Das Schönste daran ist die heiße Dusche danach“, sagt Ja- cob, unser Skipper, lachend, als wir erschöpft, ein wenig frierend und schlammverschmiert nebeneinan- der zu den Blockhütten des Parks wandern. Eine nasse Linie unserer salzwassertriefenden Sachen kenn- zeichnet unsere Spur. Der Weißkopfadler hat sich wie- der in seinem Horst niedergelassen. Alles ringsumher scheint auf ein- mal friedlich. Vogelgezwitscher schallt aus dem nahen Wald, Insek- ten brummen. Nichts deutet mehr darauf hin, an welch außergewöhn- lichem und gefährlichem Ort wir uns bis eben befunden haben – au- ßer vielleicht die grünen Urkun- den, welche uns nun als echte „Raft-Masters“ ausweisen. Warten auf die Dreckwelle Tidal Bore Rafting heißt ein neuer Wassersport. Er ist schlammig und demonstriert die unbändige Gewalt der Gezeiten Das klassische „White-Water Raf- ting“ (gr. Foto) findet im Wildwasser statt, während das Tidal Bore Rafting (kl. Foto) an Fluss- mündungen aus- geübt wird FOTOS: PA/DPA; TIDAL BORE RAFTING PARK

2009 warten auf die dreckwelle

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tidal bore rafting in nova scotia heißt ein neuer freizeitsport - wir haben ihn ausprobiert...

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Page 1: 2009 warten auf die dreckwelle

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Seite A4 DIE WELT Samstag, 15. August 2009B o o t s Welt

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Von Matthias J. Müncheberg

Zuerst kann man sie nur hö-ren. Ein dumpfes Grollen,welches anschwillt zu ei-nem donnernden Tosen,

zerschneidet die Stille auf demFluss Shubenacadie in der ostkana-dischen Provinz Nova Scotia. EinWeißkopfadler verlässt seinenHorst und kreist über unseren Köp-fen. Dann können wir die gut einenMeter hohe, wild sprudelnde Was-ser-Walze sehen, die sich mit bis zuzwanzig Kilometern pro Stunde un-aufhaltsam auf uns zubewegt.

„Das ist die erste, große Flutwel-le, die sogenannte Tidal Bore“, er-klärt Skipper Jacob, den wir mit-samt seinem motorbetriebenen, ro-ten Schlauchboot gemietet haben.Wir sollten uns jetzt besser gut fest-halten, und: gleich werde es sehr,sehr nass und ungemütlich werden.Die acht Insassen des Dingis gehor-chen, den Blick unbeirrt und einwenig ängstlich auf den sich be-drohlich nähernden Berg aus

schlammig-braunem Wasser ge-richtet. Die Finger klammern sichunwillkürlich an der Sorgleine fest,die das Boot ringsherum umgibt.

Ein letzter Check der Rettungs-westen, die Füße werden zur Si-cherheit auf dem wabbligen Schiffs-boden für einen besseren Stand sogut es geht verkeilt, und unwillkür-lich verlagern alle ihr Gewicht nochein klein wenig mehr in die Mitte,und rücken – obwohl sich alle bis-her völlig fremd waren – dicht zu-sammen. Team-Building könnteman das auch nennen. Dann brichtkrachend das Inferno über das Bootund seine Insassen herein.

Von der Bay of Fundy aus, wo dieweltweit höchsten Gezeiten mit biszu 19 Metern betragenden Tiden ge-messen werden, rollt der Flutstromzweimal am Tag rasend schnell denetwa 30 Kilometer langen Shubena-cadie River hinauf, das Flussbettdabei stark verbreiternd und anmanchen Stellen mehrere Metervertiefend. Dort, wo vor Kurzemnoch Möwen auf den hellbraunen

Sanddünen entlangstolziert sind,tobt plötzlich gurgelndes Nass.

Wer hier bei Ebbe spazieren geht,sollte den Tidenkalender gut ken-nen und die Uhrzeit im Auge behal-ten. „Gegen zwölf Uhr erwarten wirdie nächste Tidal Bore“, sagt Heat-her Smith, die in Urbania an derBundesstraße 215 zusammen mitPartner Jack Robinson einen Raf-ting Park betreibt. Die zweite tägli-che Welle komme nachts, da sei das

Raften auf dem Shubenacadie we-gen der Dunkelheit aber viel zu ge-fährlich, sagt die Wassersportlerin.

Beim Tidal Bore Rafting (Bore istindisch und bedeutet Flut) reitenmutige Abenteurer in einem moto-risierten Schlauchboot durch dieTäler und über die Kämme der Ge-zeiten-Flutwelle, welche die Fließ-richtung des Gewässers für dienächsten Stunden umkehrt, bevordas Wasser – langsam erst, und

dann immer ungestümer – wiederin Richtung Norden abfließt und ei-ne Mondlandschaft aus Sand hin-terlässt. „Die Tidal Bores könnenbei uns eine Höhe von bis zu zehnFuß (etwa drei Meter, d. Red.) an-nehmen“, sagt Heather Smith. Be-sonders ungestüm sei die Tidal Bo-re bei Voll- oder Neumond, dann seiwegen der größeren Erdanziehungdie Welle am höchsten.

Als die Woge krachend über un-seren Köpfen zusammenschlägt,sind alle das erste Mal komplettdurchnässt. Der 28-jährige SkipperJacob, der seit zwei Jahren Rafting-Touren auf dem Shubenacadie an-führt, handelt – der Kraft und damitder Gefahren wegen, welche diegroßen Wogen in sich bergen – stetsumsichtig. Nie verliert er die Artund Höhe der Wellen, die anderenSchlauchboote, den Lauf des Flus-ses und seine Gäste aus den Augen.

Nachdem er die Flutwelle einpaar Hundert Meter auf derenKamm Richtung Süden abreitendverfolgt hat, schwenkt er den Pro-

peller seines mit 60 PS gut befeuer-ten Viertakt-Außenborders in dieandere Richtung, reißt den Gasgriffauf und stürzt sich nun ein ums an-dere Mal mit seinem plötzlich spiel-zeugklein wirkenden Gummibootin das wild sprudelnde Getöse vonhohen und niedrigeren, sich teil-weise überlagernden und so eineerstaunliche Größe annehmendenWogen, welche der eigentlichen Ti-dal Bore nachfolgen.

Als sich der Großteil der Flut guteineinhalb Stunden später in dasFlussbett des Shubenacadie bei Ur-bania ergossen hat und nur nochkleinere Wellen auf der Wasser-oberfläche tanzen, testen einige dermutigsten Rafter ihre Rettungswes-ten aus – mit einem kühnen Sprungin die schlammig-braunen Fluten.Was soll’s, der salzige Sand ist oh-nehin schon überall, in den Augen,den Ohren und im Mund – und dieKlamotten sind sowieso hinüber.

Nach zwei Stunden ist der Spukschließlich vorbei. Stille. Wer jetzthier am Ufer entlangschlendert,

könnte meinen, beim Shubenacadiehandele es sich um einen ganz nor-malen, träge seinem Lauf folgendenFluss. Wir wissen es jedoch besser.Und zollen dem Wasser, das soschnell und für uns so völlig uner-wartet sein Antlitz wechseln kann,Respekt. „Das Schönste daran istdie heiße Dusche danach“, sagt Ja-cob, unser Skipper, lachend, als wirerschöpft, ein wenig frierend undschlammverschmiert nebeneinan-der zu den Blockhütten des Parkswandern. Eine nasse Linie unserersalzwassertriefenden Sachen kenn-zeichnet unsere Spur.

Der Weißkopfadler hat sich wie-der in seinem Horst niedergelassen.Alles ringsumher scheint auf ein-mal friedlich. Vogelgezwitscherschallt aus dem nahen Wald, Insek-ten brummen. Nichts deutet mehrdarauf hin, an welch außergewöhn-lichem und gefährlichem Ort wiruns bis eben befunden haben – au-ßer vielleicht die grünen Urkun-den, welche uns nun als echte„Raft-Masters“ ausweisen.

Warten auf die

DreckwelleTidal Bore Rafting heißt ein

neuer Wassersport. Er istschlammig und demonstriert dieunbändige Gewalt der Gezeiten

Das klassische„White-Water Raf-ting“ (gr. Foto)findet im Wildwasserstatt, während dasTidal Bore Rafting(kl. Foto) an Fluss-mündungen aus-geübt wird FOTOS: PA/DPA; TIDAL

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