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Adorno, Theodor Prismen Kulturkritik Und Gesellschaft

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Über dieses Buch

Theodor W. Adorno schrieb die vorliegenden zwölf Essayszwischen 1937 und 1953. Kulturkritik ist dem Autor nichtästhetischer Selbstzweck, sie bezieht sich auf Struktur undFunktion der Gesellschaft. Unter diesem Kennzeichen ge-winnt Adornos Interpretation stets einen erregenden, durchbegriffliche Pointierungskunst gesteigerten Akzent. Ob ersich mit Oswald Spenglers >Untergang des Abendlandes <,mit Thorstein Veblens Angriff auf die Kultur oder mitHuxleys Verhältnis zum Utopischen auseinandersetzt: stetszielt die Kritik auf das denkerische Verhältnis der Schrei-benden zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ab. In der Korre-spondenz zwischen Stefan George und Hugo von Hof manns-thal scheint die Problematik moderner Geisteshaltung ebensofaszinierend auf wie in der Gegenüberstellung von Paul Va-lery und Marcel Proust. Walter Benjamin und Franz Kafkasind weitere Themen-Figuren dieser vielseitigen, in ihrerdialektischen Spannung nicht nur anregenden, sondern auchaufregenden Essaysammlung. Beiträge zu musikalischenFragen unserer Zeit (Arnold Schönbergs Bedeutung für diemoderne Musik; Massenphänomen Jazz; Johann SebastianBachs Werk im Spiegel moderner Interpreten) bereicherndiese kulturkritischen Prismen um interessante Brechungen.

Ungekürzte AusgabeNovember 1963Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,MünchenLizenzausgabe mit freundlicher Genehmigungdes Suhrkamp VerlagesCopyright 1955 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.Alle Rechte vorbehaltenAusstattung: Celestino-FiattiGesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei,NördlingenPrinted in Germany

Theodor W. Adorno:PrismenKulturkritik und Gesellschaft

DeutscherTaschenbuchVerlag

Inhalt

Kulturkritik und Gesellschaft.................................... , 7Das Bewußtsein der Wissenssoziologie........................ 27Spengler nach dem Untergang...................................... 43Veblens Angriff auf die Kultur..................................... 68Aldous Huxley und die Utopie..................................... 92Zeitlose Mode. Zum Jazz.............................................. 118Bach gegen seine Liebhaber verteidigt.......................... 133Arnold Schönberg (1874-1951)..................................... 147Valery Proust Museum.................................................. 176George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel . . . 190Charakteristik Walter Benjamins................................... 232Aufzeichnungen zu Kafka............................................. 248Drucknachweise............................................................. 282

Kulturkritik und Gesellschaft

Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken, der muß amKlang des Wortes Kulturkritik sich ärgern nicht darum bloß,weil es, wie das Automobil, aus Latein und Griechisch zu-sammengestückt ist. Es erinnert an einen flagranten Wider-spruch. Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einziger das Unbehagen an ihr verdankt. Er redet, als verträte ersei's ungeschmälerte Natur, sei's einen höheren geschicht-lichen Zustand, und ist doch notwendig vom gleichenWesenwie das, worüber er erhaben sich dünkt. Die von Hegel, zurApologie von Bestehendem, immer wieder gescholtene In-suffizienz des Subjekts, das in seiner Zufälligkeit und Be-schränktheit über die Gewalt von Seiendem richte, wird un-erträglich dort, wo das Subjekt selber bis in seine innersteZusammensetzung hinein vermittelt ist durch den Begriff,dem es als unabhängiges und souveränes sich entgegensetzt.Aber die Unangemessenheit von Kulturkritik läuft dem In-halt nach nicht sowohl auf Mangel an Respekt vor dem Kri-tisierten hinaus wie insgeheim auf dessen verblendet-hoch-mütige Anerkennung. Der Kulturkritiker kann kaum dieUnterstellung vermeiden, er hätte die Kultur, welche dieserabgeht. Seine Eitelkeit kommt der ihren zu Hilfe: noch inder anklagenden Gebärde hält er die Idee von Kultur iso-liert, unbefragt, dogmatisch fest. Er verschiebt den Angriff.Wo Verzweiflung und unmäßiges Leiden ist, soll darin bloßGeistiges, der Bewußtseinszustand der Menschheit, der Ver-fall der Norm sich anzeigen. Indem die Kritik darauf insi-stiert, gerät sie in Versuchung, das Unsagbare zu vergessen,anstatt wie sehr auch ohnmächtig zu trachten, daß es vonden Menschen abgewandt werde.

Die Haltung des Kulturkritikers erlaubt ihm, kraft derDifferenz vom herrschenden Unwesen theoretisch darüberhinauszugehen, obwohl er oft genug bloß dahinter zurück-fällt. Aber er gliedert die Differenz in den Kulturbetrieb ein,den er unter sich lassen wollte und der selber der Differenzbedarf, um sich als Kultur zu dünken. Es gehört zu derenPrätention auf Vornehmheit, durch welche sie von der Prü-

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er es ist. Sachverständnis war nicht primär, sondern allen-falls Nebenprodukt, und je mehr es daran mangelt, um sobeflissener wird es stets durch Bescheidwissen, Konformis-mus ersetzt. Wenn die Kritiker auf ihrem Tummelplatz, derKunst, am Ende nicht mehr verstehen, was sie beurteilen,und mit Gusto zu Propagandisten oder Zensoren sich er-niedrigen lassen, so erfüllt sich an ihnen die alte Unehrlich-keit des Gewerbes. Das Vorrecht von Information und Stel-lung erlaubt ihnen, ihre Ansicht zu sagen, als wäre sie dieObjektivität. Aber es ist einzig die Objektivität des herr-schenden Geistes. Sie weben mit am Schleier.

Der Begriff der freien Meinungsäußerung, ja der geistigenFreiheit selber in der bürgerlichen Gesellschaft, auf dem dieKulturkritik beruht, hat seine eigene Dialektik. Denn wäh-rend der Geist der theologisch-feudalen Bevormundung sichentwand, ist er kraft der fortschreitenden Vergesellschaftungaller Beziehungen zwischen den Menschen mehr stets eineranonymen Kontrolle durch die bestehenden Verhältnisseverfallen, die ihm nicht nur äußerlich widerfuhr, sondern inseine immanente Beschaffenheit einwanderte. Im autonomenGeist setzen jene so unerbittlich sich durch, wie vordem imgebundenen die heteronomen Ordnungen. Nicht nur richtetder Geist auf seine marktmäßige Verkäuflichkeit sich ein undreproduziert damit die gesellschaftlich vorwaltenden Kate-gorien. Sondern er ähnelt objektiv dem Bestehenden sich an,auch wo er subjektiv nicht zur Ware sich macht. Immer en-ger werden die Maschen des Ganzen nach dem Modell desTauschakts geknüpft. Es läßt dem einzelnen Bewußtseinimmer weniger Ausweichraum, präformiert es immer gründ-licher, schneidet ihm a priori gleichsam die Möglichkeit derDifferenz ab, die zur Nuance im Einerlei des Angebots ver-kommt. Zugleich macht der Schein der Freiheit die Besin-nung auf die eigene Unfreiheit unvergleichlich viel schwerer,als sie im Widerspruch zur offenen Unfreiheit war, und ver-stärkt so die Abhängigkeit. Solche Momente, im Verein mitder gesellschaftlichen Selektion der Träger des Geistes, re-sultieren in dessen Rückbildung. Seine Selbstverantwortungwird, der überwiegenden Tendenz der Gesellschaft nach, zurFiktion. Er entwickelt von seiner Freiheit bloß das negativeMoment, die Erbschaft des planlos-monadologischen Zu-

fung an den materiellen Lebensverhältnissen sich dispen-siert, nie sich vornehm genug zu sein. Die Überspannungdes kulturellen Anspruchs, die doch wieder der Bewegungdes Geistes immanent ist, vergrößert den Abstand von jenenVerhältnissen um so mehr, je zweifelhafter die Würde derSublimierung, sowohl der zum Greifen nahen materiellenErfüllung wie der drohenden Vernichtung ungezählter Men-schen gegenüber, wird. Solche Vornehmheit macht der Kul-turkritiker zu seinem Privileg und verwirkt seine Legitima-tion, indem er als bezahlter und geehrter Plagegeist der Kul-tur an dieser mitwirkt. Das jedoch affiziert den Gehalt derKritik. Noch die unerbittliche Strenge, mit der sie die Wahr-heit übers unwahre Bewußtsein ausspricht, bleibt festgehal-ten im Bannkreis des Bekämpften, auf dessen Manifestatio-nen sie starrt. Wer auf Überlegenheit pocht, fühlt allemalzugleich sich als einer vom Bau. Ginge man aber dem Berufdes Kritikers in der bürgerlichen Gesellschaft nach, derschließlich zum Kulturkritiker avancierte, so stieße manfraglos auf ein usurpatorisches Element im Ursprung, wiees etwa noch Balzac vor Augen stand. Die berufsmäßigenKritiker waren vorab »Berichterstatter«: sie orientiertenüber den Markt geistiger Erzeugnisse. Dabei erlangten siezuweilen Einsicht in die Sache, blieben stets jedoch auchAgenten des Verkehrs, im Einverständnis wo nicht mit des-sen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher.Davon tragen sie die Spur, selbst wenn sie einmal aus derRolle des Agenten herausgesprungen sind. Daß ihnen diedes Sachverständigen und dann des Richters anvertrautwurde, war ökonomisch unvermeidlich, aber zufällig nachdem Maß der Sache. Ihre Agilität, die ihnen in der Konkur-renz bevorzugte Positionen zuspielte - bevorzugt, weil vonihrem Votum weithin das Schicksal des Beurteilten ab-hängt -, bringt den Schein der Zuständigkeit des Urteilsselber hervor. Indem sie geschickt in die Lücken schlüpftenund mit der Ausbreitung der Presse an Einfluß gewannen,erlangten sie eben jene Autorität, die ihr Beruf vorgeblichschon voraussetzt. Ihre Überheblichkeit rührt daher, daß, inden Formen der Konkurrenzgesellschaft, in denen alles Seinbloß eines Für anderes ist, auch der Kritiker selbst nur nachseinem marktmäßigen Erfolg gemessen wird, also daran, daß

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Stands, Unverantwortlichkeit. Sonst aber heftet er sich im-mer dichter als bloßes Ornament an den Unterbau, von demsich abzusetzen er beansprucht. Die Invektiven von KarlKraus gegen die Pressefreiheit sind gewiß nicht buchstäb-lich zu nehmen: im Ernst die Zensur gegen die Skribentenanrufen, hieße den Teufel mit Beelzebub austreiben. Wohlaber sind Verdummung und Lüge, wie sie unterm Schutzder Pressefreiheit gedeihen, nichts dem historischen Gangdes Geistes Akzidentelles, sondern die Schandmale der Skla-verei, in welcher seine Befreiung spielt, der falschen Eman-zipation. Das wird nirgends so eklatant wie dort, wo derGeist an den eigenen Ketten zerrt, in der Kritik. Wenn diedeutschen Faschisten das Wort verfemten und durch denabgeschmackten Begriff der Kunstbetrachtung ersetzten, sohat sie dabei gewiß nur das handfeste Interesse des autori-tären Staates geleitet, der noch in der Schnoddrigkeit desFeuilletonisten das Pathos Marquis Posas fürchtete. Aber dieselbstzufriedene Kulturbarbarei, die nach der Abschaffungder Kritik schrie, der Einbruch der wüsten Horde ins Ge-hege des Geistes, vergalt ahnungslos Gleiches mit Gleichem.In der bestialischen Wut des Braunhemds über den Kriti-kaster lebt nicht bloß Neid auf die Kultur, gegen die erdumpf auf begehrt, weil sie ihn ausschließt; nicht bloß dasRessentiment gegen den, welcher das Negative aussprechendarf, das man selber verdrängen muß. Entscheidend ist, daßdie souveräne Geste des Kritikers den Lesern die Unabhän-gigkeit vorspielt, die er nicht hat, und die Führerschaft sichanmaßt, die unvereinbar ist mit seinem eigenen Prinzip gei-stiger Freiheit. Das innervieren seine Feinde. Ihr Sadismusward idiosynkratisch von der schlau als Kraft drapiertenSchwäche jener angezogen, deren diktatorisches Gebaren esdem der nachfolgenden minder schlauen Machthaber so gernzuvor getan hätte. Nur daß die Faschisten der gleichen Nai-vetät verfielen wie die Kritiker, dem Glauben an Kultur alssolche, der sich nun auf Ostentationen und approbierte Gei-stesriesen zusammenzog. Sie fühlten sich als Ärzte der Kul-tur und entfernten aus ihr den Stachel der Kritik. Damit ha-ben sie sie nicht nur zum Offiziellen erniedrigt, sondern oben-drein verkannt, wie sehr Kritik und Kultur zum Guten undSchlechten verflochten sind. Wahr ist Kultur bloß als impli-

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zit-kritische, und der Geist, der daran vergaß, rächt sich inden Kritikern, die er züchtet, an sich selber. Kritik ist ein un-abdingbares Element der in sich widerspruchsvollen Kultur,bei aller Unwahrheit doch wieder so wahr wie die Kultur un-wahr. Kritik tut unrecht nicht, sofern sie auflöst - das wärenoch das Beste an ihr -, sondern sofern sie durchs Nichtpa-rieren pariert.

Die Komplizität der Kulturkritik mit der Kultur liegtnicht in der bloßen Gesinnung des Kritikers. Vielmehr wirdsie von seiner Beziehung zu dem erzwungen, wovon er han-delt. Indem er Kultur zu seinem Gegenstand macht, verge-genständlicht er sie nochmals. Ihr eigener Sinn aber ist dieSuspension von Vergegenständlichung. Sobald sie selber zu»Kulturgütern« und deren abscheulicher philosophischerRationalisierung, den sogenannten »Kulturwerten« gerinnt,hat sie bereits gegen ihre raison d'etre gefrevelt. In der Ab-destillation solcher Werte, die nicht umsonst an die Sprachedes Güteraustauschs anklingen, ist sie dem Geheiß des Mark-tes zu Willen. Noch in der Begeisterung über fremde Hoch-kulturen zittert sie über das seltene Stück nach, in das manGeld investieren kann. Wenn die Kulturkritik bis hinauf zuValery es mit dem Konservativismus hält, so läßt sie insge-heim von einem Kulturbegriffsich leiten, der auf festen, vonKonjunkturschwankungen unabhängigen Besitz in der Ärades Spätkapitalismus abzielt. Er behauptet sich als diesementzogen, gleichsam um inmitten universaler Dynamik uni-versale Sekurität zu gewähren. Das Modell des Kultur-kritikers ist der abschätzende Sammler kaum weniger als derKunstkritiker. Kulturkritik erinnert allgemein an den Gestusdes Herunterhandelns, etwa wie der Experte einem Bild dieEchtheit bestreitet oder es unter die minderen Werke desMeisters einreiht. Man setzt herab, um mehr zu bekommen.Mit einer von Kulturwerten befleckten Sphäre hat es derKulturkritiker, als Wertender, unweigerlich zu tun, auchwenn er gegen die Verschacherung der Kultur eifert. Inseiner kontemplativen Stellung zu dieser steckt notwendigDurchmustern, Überblicken, Abwägen, Auswählen: diesespaßt ihm, jenes verwirft er. Gerade seine Souveränität, derAnspruch tieferen Wissens dem Objekt gegenüber, die Tren-nung des Begriffs von seiner Sache durch die Unabhängig-

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keit des Urteils, droht der dinghaften Gestalt der Sache zuverfallen, indem Kulturkritik auf eine Kollektion gleichsamausgestellter Ideen sich beruft und isolierte Kategorien wieGeist, Leben, Individuum fetischisiert.

Ihr oberster Fetisch aber ist der Begriff der Kultur alssolcher. Denn kein authentisches Kunstwerk und keinewahre Philosophie hat ihrem Sinn nach je sich in sich selbst,ihrem an sich Sein erschöpft. Stets standen sie in Relation zudem realen Lebensprozeß der Gesellschaft, von dem siesich schieden. Gerade die Absage an den Schuldzusammen-hang des blind und verhärtet sich reproduzierenden Lebens,das Beharren auf Unabhängigkeit und Autonomie, auf derTrennung vom geltenden Reich der Zwecke impliziert, alsbewußtloses Element zumindest, die Anweisung auf einenZustand, in dem Freiheit realisiert wäre. Diese bleibt zwei-deutiges Versprechen der Kultur, solange deren Existenzvon der verhexten Realität, letztlich von der Verfügung überfremde Arbeit abhängt. Daß die europäische Kultur in ihrerBreite, dem, was zum Konsum gelangte und heute von Ma-nagern und Psychotechnikern den Bevölkerungen verord-net wird, zur bloßen Ideologie entartete, rührt vom Wechselihrer Funktion der materiellen Praxis gegenüber, dem Ver-zicht auf den Eingriff, her. Dieser Wechsel freilich war keinSündenfall, sondern historisch erzwungen. Denn nur ge-brochen, in der Zurücknahme auf sich selbst geht der bür-gerlichen Kultur die Idee der Reinheit von den entstellendenSpuren des zur Totalität über alle Bezirke des Daseins aus-gebreiteten Unwesens auf. Nur soweit sie der zum Gegenteilihrer selbst verkommenen Praxis, der immer neuen Herstel-lung des Immergleichen, dem Dienst am Kunden im Dienstder Verfügenden sich entzieht und damit den Menschen,hält sie den Menschen die Treue. Aber solche Konzentra-tion auf die absolut eigene Substanz, wie sie in der Dichtungund Theorie von Paul Valery den großartigsten Nieder-schlag gefunden hat, arbeitet zugleich an der Aushöhlungjener Substanz. Sobald die gegen die Realität gekehrteSpitze des Geistes von jener abgezogen wird, verändert sichsein Sinn trotz strengster Erhaltung des Sinnes. Durch Re-signation gegenüber der Fatalität des Lebensprozesses, undum wieviel mehr noch durch Abdichtung als ein Sonder-

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bereich unter anderen, steht er dem bloß Seienden bei undwird selbst zu einem bloß Seienden. Die Emaskulierung derKultur, über welche die Philosophen seit RousseauschenZeiten und dem Räuberwort vom tintenklecksenden Säcu-lum über Nietzsche bis zu den Predigern des engagementum seiner selbst willen sich entrüsten, ist bewirkt vom sichselber zur Kultur Werden der Kultur, damit aber ihrer kräf-tigen und folgerechten Opposition zur anwachsenden Bar-barei der Vorherrschaft von Ökonomie. Was an Kultur Ver-fall dünkt, ist ihr reines zu sich selber Kommen. Nur alsneutralisierte und verdinglichte läßt sie sich vergötzen. DerFetischismus gravitiert zur Mythologie. Meist berauschensich die Kulturkritiker an Idolen, von der Frühgeschichtebis zur dubiosen, mittlerweile evaporierten Wärme des libe-ralistischen Zeitalters, die im Untergang an den Ursprungmahnte. Weil die Kulturkritik gegen die fortschreitende Inte-gration allen Bewußtseins im materiellen Produktionsapparatsich auflehnt, ohne diesen zu durchschauen, wendet sie sichnach rückwärts, verlockt vom Versprechen der Unmittelbar-keit. Dazu wird sie durch die eigene Schwerkraft genötigt,nicht bloß von einer Ordnung angehalten, die jeden Fort-schritt in der Entmenschlichung, die sie herbeiführt, mitGezeter über Entmenschlichung und Fortschritt übertönenmuß. Die Isolierung des Geistes von der materiellen Pro-duktion steigert zwar seine Schätzung, macht ihn aber auchim allgemeinen Bewußtsein zum Sündenbock für das, wasdie Praxis verübt. Aufklärung als solche, nicht als Instru-ment realer Herrschaft soll schuld sein: daher der Irrationa-lismus der Kulturkritik. Hat diese einmal den Geist aus seinerDialektik mit den materiellen Bedingungen herausgebro-chen, so faßt sie ihn einstimmig, geradlinig als Prinzip derFatalität, und seine eigene Resistenz wird unterschlagen.Versperrt ist dem Kulturkritiker die Einsicht, daß die Ver-dingUchung des Lebens selbst nicht auf einem Zuviel, son-dern einem Zuwenig anAufklärung beruhe und daß die Ver-stümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärti-gen partikularistischen Rationalität angetan werden, Schand-male der totalen Irrationalität sind. Deren Abschaffung,die mit der der Trennung körperlicher und geistiger Arbeitzusammenfiele, erscheint der kulturkritischen Verblendung

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als Chaos: wer Ordnung und Gestalt, welchen Schlages auchimmer, glorifiziert, dem wird die versteinerte Trennung zumUrbild des Ewigen. Daß die tödliche Spaltung der Gesell-schaft aufhören könnte, setzen sie dem tödlichen Verhängnisgleich: lieber soll das Ende aller Dinge kommen, als daß dieMenschheit der Verdinglichung ein Ende machte. Die Angstdavor harmoniert mit dem Interesse der Interessenten amFortbestand der materiellen Versagung. Wann immer Kultur-kritik über Materialismus klagt, befördert sie den Glauben,die Sünde sei der Wunsch der Menschen nach Konsumgüternund nicht die Einrichtung des Ganzen, die sie ihnen vor-enthält: Sattheit und nicht Hunger. Wäre die Menschheit derFülle der Güter mächtig, so schüttelte sie die Fesseln jenerzivilisierten Barbarei ab, welche die Kulturkritiker dem fort-geschrittenen Stand des Geistes anstatt dem zurückgeblie-benen der Verhältnisse aufs Konto schreiben. Die ewigenWerte, auf welche die Kulturkritik deutet, spiegeln das per-ennierende Unheil. Der Kulturkritiker nährt sich von dermythischen Verstocktheit der Kultur.

Weil die Existenz der Kulturkritik, gleichgültig welchenInhaltes, vom ökonomischen System abhängt, ist sie in dessenSchicksal verflochten. Je vollkommener die gegenwärtigengesellschaftlichenOrdnungen, voran die östliche,denLebens-prozeß, die »Muße« inbegriffen, einfangen, um so mehr wirdallen Phänomenen des Geistes die Marke der Ordnung auf-geprägt. Entweder sie tragen als Unterhaltung oder Erbau-ung unmittelbar zu deren Fortbestand bei und werden alsihre Exponenten, nämlich gerade um ihrer gesellschaftlichenPräformiertheit willen, genossen. Als allbekannt, gestempelt,angetastet, schmeicheln sie beim regredierten Bewußtseinsich ein, empfehlen sich als natürlich und erlauben die Identi-fikation mit den Mächten, deren Übergewicht keine Wahlläßt als die falsche Liebe. Oder sie werden durch Abweichungzur Rarität und abermals verkäuflich. Durch die liberalisti-sche Ära hindurch fiel Kultur in die Zirkulationssphäre, undderen allmähliches Absterben geht ihr selber an den Lebens-nerv. Mit der Beseitigung des Handels und seiner irrationalenSchlupfwinkel durch den kalkulierten Verteilungsapparatder Industrie vollendet sich die Kommerzialisierung derKultur zum Aberwitz. Als ganz gebändigte, verwaltete,

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gewissermaßen durchkultivierte stirbt sie ab. Spenglers de-nunziatorischer Satz, Geist und Geld gehörten zusammen,trifft zu. Aber seiner Sympathie mit der unmittelbaren Herr-schaft zuliebe redete er einer der ökonomischen wie der gei-stigen Vermittlungen entäußerten Verfassung des Daseinsdas Wort und warf den Geist mit einem in der Tat überholtenökonomischen Typus hämisch zusammen, anstatt zu erken-nen, daß Geist, wie sehr auch das Produkt jenes Typus, zu-gleich doch die objektive Möglichkeit impliziert, ihn zu über-winden. - Wie Kultur, als ein von der unmittelbaren, je eige-nen Selbsterhaltung sich Absetzendes, im Verkehr, der Mit-teilung und Verständigung, dem Markt entsprang; wie sieim Hochkapitalismus dem Handel verschwistert war, wieihre Träger zu den »dritten Personen« zählten, als Mittels-männer sich am Leben erhielten, so ist am Ende die nach denklassischen Spielregeln »gesellschaftlich notwendige«, näm-lich ökonomisch sich selbst reproduzierende Kultur wiederauf das zusammengeschrumpft, als was sie begann, auf diebloße Kommunikation. Ihre Entfremdung vom Mensch-lichen terminiert in der absoluten Fügsamkeit gegenüber dervon den Lieferanten in Kundenschaft verzauberten Mensch-heit. Im Namen der Konsumenten unterdrücken die Ver-fügenden an Kultur, womit sie über die totale Immanenz inder bestehenden Gesellschaft hinausgeht, und lassen übrignur, was dort seinen eindeutigen Zweck erfüllt. Die Kon-sumentenkultur kann sich daher dessen rühmen, kein Luxus,sondern die einfache Verlängerung der Produktion zu sein.Einträchtig stigmatisieren denn auch die auf Massenmanipu-lation berechneten politischen Tickets als Luxus, Snobismus,highbrow alles Kulturelle, das den Kommissaren mißfällt. Nurwenn die je etablierte Ordnung als Maß aller Dinge akzep-tiert ist, wird zur Wahrheit, was sich bei deren bloßer Repro-duktion im Bewußtsein bescheidet. Darauf deutet Kultur-kritik und empört sich über Flachheit und Substanzverlust.Indem sie jedoch bei der Verfilzung von Kultur mit demKommerz stehenbleibt, hat sie an der Flachheit teil. Sie ver-fährt nach dem Schema der reaktionären Sozialkritiker, diedas schaffende gegen das raffende Kapital ausspielen. Wäh-rend aber in der Tat alle Kultur am Schuldzusammenhangder Gesellschaft teilhat, fristet sie ihr Dasein doch nur, wie,

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der >Dialektik der Aufklärung < zufolge, der Kommerz,vondem in der Produktionssphäre bereits verübten Unrecht.Darum verlagert die Kulturkritik die Schuld: sie ist soweitIdeologie, wie sie bloß Kritik der Ideologie bleibt. Die tota-litären Regimes beider Spielarten, die das Bestehende nochvor der letzten Unbotmäßigkeit behüten wollen, welche sieder Kultur selbst im Lakaienstande zutrauen, können dieseund ihre Selbstbesinnung zwingend des Lakaientums über-führen. Sie rücken dem an sich schon unerträglich gewordenenGeist zuleibe und fühlen sich dabei auch noch als Reinigerund Revolutionäre. Die ideologische Funktion der Kultur-kritik spannt deren eigene Wahrheit, den Widerstand gegendie Ideologie ein. Der Kampf gegen die Lüge kommt demnackten Grauen zugute. »Wenn ich Kultur höre, entsichereich meinen Revolver«, sagte der Sprecher der HitlerischenReichs kulturkammer.

Kulturkritik kann aber nur darum so eindringlich derKultur ihren Verfall als Verletzung der reinen Autonomiedes Geistes, als Prostitution vorwerfen, weil eben Kulturselber in der radikalen Trennung geistiger und körperlicherArbeit entspringt und aus dieser Trennung, der Erbsündegleichsam, ihre Kräfte zieht. Wenn Kultur die Trennung bloßverleugnet und unmittelbare Verbundenheit mimt, fällt siehinter ihren Begriff zurück. Erst der Geist, der im Wahnseiner Absolutheit vom bloß Daseienden ganz sich entfernt,bestimmt in Wahrheit das bloß Daseiende in seiner Negativi-tät: solange nur ein Geringes vomGeiste noch im Zusammen-hang der Reproduktion des Lebens verbleibt, wird er aufdiesen auch vereidigt. Die athenische Antibanausie war bei-des : der dreiste Hochmut dessen, der sich die Hände nichtschmutzig macht, gegen den, von dessen Arbeit er lebt, unddie Bewahrung des Bildes einer Existenz, die hinausweistüber den Zwang, der hinter aller Arbeit steht. Indem dieAntibanausie das schlechte Gewissen zum Ausdruck bringtund auf die Opfer als deren Niedrigkeit projiziert, verklagtsie zugleich, was ihnen widerfährt: die Unterwerfung derMenschen unter die je geltende Form der Reproduktion ihresLebens. Alle »reine Kultur« ist den Wortführern der Machtunbehaglich gewesen. Piaton und Aristoteles haben wohl ge-wußt, warum sie deren Vorstellung nicht aufkommen ließen,

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sondern in Fragen der Beurteilung von Kunst einem Pragma-tismus das Wort redeten, der zum Pathos der beiden großenMetaphysiken im wunderlichen Gegensatz steht. Die neuerebürgerliche Kulturkritik freilich ist zu vorsichtig geworden,darin offen ihnen zu folgen, obwohl sie insgeheim bei derScheidung von hoher und populärer Kultur, von Kunst undUnterhaltung, von Erkenntnis und unverbindlicher Welt-anschauung sich beruhigt. Sie ist um so viel antibanausischerals die athenische Oberklasse, wie das Proletariat gefährlicherals die Sklaven. Der moderne Begriff der reinen, autonomenKultur bezeugt den ins Unversöhnliche angewachsenen Ant-agonismus durch Kompromißlosigkeit gegenüber dem füranderes Seienden sowohl wie durch die Hybris der Ideologie,die sich als an sich Seiendes inthronisiert.

Kulturkritik teilt mit ihrem Objekt dessen Verblendung.Sie ist außerstande, die Erkenntnis ihrer Hinfälligkeit, die inder Spaltung gesetzt ist, aufkommen zu lassen. Keine Gesell-schaft, die ihrem eigenen Begriff, dem der Menschheit, wider-spricht, kann das volle Bewußtsein von sich selber haben. Eszu hintertreiben, bedarf es nicht erst der subjektiven ideolo-gischen Veranstaltung, obwohl diese in Zeiten des histori-schen Umschlags die objektive Verblendung zu verstärkenpflegt. Aber daß jegliche Form der Repression, je nach demStand der Technik, zur Erhaltung der Gesamtgesellschaft er-fordert war und daß die Gesellschaft, so wie sie ist, trotz allerAbsurdität doch ihr Leben unter den bestehenden Verhält-nissen reproduziert, bringt objektiv den Schein ihrer Legiti-mation hervor. Kultur, als der Inbegriff des Selbstbewußt-seins einer antagonistischen Gesellschaft, kann solchen Schei-nes so wenig sich entäußern wie jene Kulturkritik, welche dieKultur an deren eigenem Ideal mißt. Der Schein ist total ge-worden in einer Phase, in der Irrationalität und objektiveFalschheit hinter Rationalität und objektiver Notwendigkeitsich verstecken. Dennoch setzen die Antagonismen um ihrerrealen Gewalt willen auch im Bewußtsein sich durch. Geradeweil Kultur das Prinzip von Harmonie in der antagonisti-schen Gesellschaft zu deren Verklärung als geltend behaup-tet, kann sie die Konfrontation der Gesellschaft mit ihremeigenen Harmoniebegriff nicht vermeiden und stößt dabeiauf Disharmonie. Die Ideologie, welche das Leben bestätigt,

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tritt durch die immanente Triebkraft des Ideals zum Leben inGegensatz. Der Geist, der sieht, daß die Realität nicht in allemihm gleicht, sondern einer bewußtlosen und fatalen Dynamikunterliegt, wird selbst gegen seinen Willen über die Apologiehinausgedrängt. Daß die Theorie zur realen Gewalt werde,wenn sie die Menschen ergreift, gründet in der Objektivitätdes Geistes selber, der kraft der Erfüllung seiner ideologi-schen Funktion an der Ideologie irre werden muß. Wenn derGeist Verblendung ausdrückt, so drückt er zugleich, von derUnvereinbarkeit der Ideologie mit dem Dasein bewogen, denVersuch aus, ihr sich zu entwinden. Enttäuscht erblickt erdas bloße Dasein in seiner Blöße und überantwortet es derKritik. Entweder er verdammt, nach dem wie immer frag-würdigen Maß seines reinen Prinzips, die materielle Basis,oder er wird an seiner Unvereinbarkeit mit jener der eigenenFragwürdigkeit inne. Kraft der gesellschaftlichen Dynamikgeht Kultur in Kulturkritik über, welche den Begriff Kulturfesthält, deren gegenwärtige Erscheinungen aber als bloßeWaren und Verdummungsmittel demoliert. Solches kritischeBewußtsein bleibt der Kultur hörig insofern, als es durch dieBefassung mit dieser von dem Grauen ablenkt, aber es be-stimmt sie auch als Komplement des Grauens. - Es folgt dar-aus die doppelschlächtige Stellung der gesellschaftlichenTheorie zur Kulturkritik. Das kulturkritische Verfahren stehtselber zur permanenten Kritik sowohl in seinen allgemeinenVoraussetzungen, seiner Immanenz in der bestehenden Ge-sellschaft, wie in den konkreten Urteilen, die es vollzieht.Denn die Hörigkeit der Kulturkritik verrät sich je an ihremspezifischen Inhalt und ist nur an diesem verbindlich zu grei-fen. Zugleich aber hat die dialektische Theorie, will sie nichtdem Ökonomismus verfallen und einer Gesinnung, welcheglaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Stei-gerung der Produktion, die Verpflichtung, die Kulturkritikin sich aufzunehmen, die wahr ist, indem sie die Unwahrheitzum Bewußtsein ihrer selbst bringt. Zeigt die dialektischeTheorie an der Kultur als bloßem Epiphänomen sich des-interessiert, so trägt sie dazu bei, daß das kulturelle Unwesenfortwuchert, und wirkt mit an der Reproduktion des Schlech-ten. Der kulturelle Traditionalismus und der Terror derneuen russischen Gewaltherrscher sind eines Sinnes. Daß sie

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Kultur als ganze unbesehen bejahen und 2ugleich alle nichteingeschliffenen Bewußtseinsformen verfemen, ist nichtweniger ideologisch, als wenn die Kritik sich dabei beschei-det, die losgelöste Kultur vor ihr Forum zu rufen, oder garderen vorgebliche Negativität für das Unheil verantwortlichmacht. Wird Kultur einmal als ganze akzeptiert, so ist ihr be-reits das Ferment der eigenen Wahrheit entzogen, die Ver-neinung. Kulturfreudigkeit stimmt zum Klima von Schlach-tenmalerei und -musik. Die Schwelle der dialektischen gegen-über der Kulturkritik aber ist, daß sie diese bis zur Auf hebungdes Begriffs der Kultur selber steigert.

Gegen die immanente Kritik der Kultur läßt sich vorbrin-gen, daß sie das Entscheidende, die jeweilige Rolle der Ideo-logie in den gesellschaftlichen Konflikten unterschlage. In-dem man überhaupt etwas wie eine eigenständige Logik derKultur, sei's auch bloß methodisch, supponiere, mache mansich zum Mitschuldigen an der Abspaltung der Kultur, demideologischen denn ihr Gehalt liege nicht reinin ihr selbst, sondern in ihrem Verhältnis zu einem ihr Aus-wendigen, dem materiellen Lebensprozeß. Sie sei, wie Marxvon den Rechtsverhältnissen und Staatsformen lehrte, ins-gesamt »weder aus sich selbst zu begreifen . . ., noch aus dersogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichenGeistes«. Davon absehen, hieße kaum weniger, als die Ideo-logie zur Sache selbst machen und damit zu befestigen. In derTat darf die dialektische Wendung der Kulturkritik nicht dieMaßstäbe derKultur hypostasieren. Sie hält sich dieser gegen-über beweglich, indem sie ihre Stellung im Ganzen einsieht.Ohne solche Freiheit, ohne Hinausgehen des Bewußtseinsüber die Immanenz der Kultur wäre immanente Kritik selbernicht denkbar: der Selbstbewegung des Objekts vermag nurzu folgen, wer dieser nicht durchaus angehört. Aber die tradi-tionelle Forderung von Ideologienkritik unterliegt selbereiner historischen Dynamik. Sie war konzipiert gegen denIdealismus als die philosophische Form, in welcher die Feti-schisierung der Kultur sich spiegelt. Heute aber ist die Be-stimmung von Bewußtsein durch Sein zu einem Mittel ge-worden, alles nicht mit dem Dasein einverstandene Bewußt-sein zu eskamotieren. Das Moment der Objektivität vonWahrheit, ohne das Dialektik nicht vorgestellt werden kann,

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wird stillschweigend durch vulgären Positivismus und Prag-matismus - in letzter Instanz: bürgerlichen Subjektivismus -ersetzt. Im bürgerlichen Zeitalter war die vorherrschendeTheorie die Ideologie, und die oppositionelle Praxis standunmittelbar dagegen. Heute gibt es eigentlich kaum mehrTheorie, und die Ideologie tönt gleichsam aus dem Räder-werk der unausweichlichen Praxis. Kein Satz mehr wird zudenken gewagt, dem nicht explizit, in allen Lagern, eben derHinweis, für wen er gut sei, fröhlich beigegeben wäre, deneinmal die Polemik herauszuschälen suchte. Unideologischist aber der Gedanke, der sich nicht auf operational terms brin-gen läßt, sondern versucht, rein der Sache selbst zu jenerSprache zu verhelfen, welche ihr die herrschende sonst ab-schneidet. Seitdem jedes avancierte wirtschaftspolitischeGremium es für selbstverständlich hält, daß es darauf an-komme, die Welt zu verändern, und es für Allotria erachtet,sie zu interpretieren, fällt es schwer, die Thesen gegen Feuer-bach schlicht zu unterstellen. Dialektik schließt auch das Ver-hältnis von Aktion und Kontemplation ein. In einer Epoche,in der die bürgerliche Sozialwissenschaft, nach Schelers Wort,den marxistischen Ideologienbegriff »geplündert« und in all-gemeinen Relativismus verwässert hat, ist die Gefahr, dieFunktion von Ideologien zu verkennen, schon geringer alsdie, subsumierend, sachfremd und administrativ über geistigeGebilde zu befinden und sie blank in jene geltenden Macht-konstellationen einzugliedern, die zu durchschauen demGeist obläge. Gleich manchen anderen Elementen des dia-lektischen Materialismus ist auch die Ideologienlehre auseinem Mittel der Erkenntnis zu einem von deren Gängelunggeworden. Im Namen der Abhängigkeit des Überbaus vomUnterbau wird der Einsatz der Ideologien überwacht, an-statt daß diese kritisiert wären. Man kümmert sich nicht umihren objektiven Gehalt, wofern sie nur zweckmäßig sind.

Aber die Funktion der Ideologien wird offenbar selbstimmer abstrakter. Gerechtfertigt ist der Verdacht frühererKulturkritiker, daß es in einer Welt, in der Bildungsprivilegund Fesselung des Bewußtseins die eigentliche Erfahrunggeistiger Gebilde sowieso den Massen vorenthält, nicht mehrso sehr auf die spezifischen ideologischen Inhalte ankommewie darauf, daß überhaupt irgend etwas da sei, was das Va-

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kuum des expropriiertenBewußtseins ausfüllt und vom offen-baren Geheimnis ablenkt. Für den gesellschaftlichen Wir-kungszusammenhang ist es vermutlich weit weniger wichtig,welche besonderen ideologischen Lehren ein Film seinen Be-trachtern einflößt, als daß die nach Hause Gehenden an denNamen der Schauspieler und ihren Ehehändeln interessiertsind. Vulgäre Begriffe wie der der Zerstreuung sind angemes-sener als hochtrabende Erklärungen darüber, daß der eineSchriftsteller Vertreter des Klein- und der andere des Groß-bürgertums sei. Kultur ist ideologisch geworden nicht nurals Inbegriff der subjektiv ausgeheckten Manifestationen desobjektiven Geistes, sondern im weitesten Maße auch alsSphäre des Privatlebens. Diese verdeckt mit dem Schein vonWichtigkeit und Autonomie, daß sie nur noch als Anhängseldes Sozialprozesses sich fortschleppt. Leben verwandelt sichin die Ideologie der Verdinglichung, eigentlich die Maskedes Toten. Darum hat die Kritik oftmals weniger nach denbestimmten Interessenlagen zu fahnden, denen kulturellePhänomene zugeordnet sein sollen, als zu entziffern, was vonder Tendenz der Gesamtgesellschaft in ihnen zutage kommt,durch die hindurch die mächtigsten Interessen sich realisie-ren. Kulturkritik wird zur gesellschaftlichen Physiognomik.Je mehr das Ganze der naturwüchsigen Elemente entäußert,gesellschaftlich vermittelt, filtriert, »Bewußtsein« ist, um somehr wird das Ganze »Kultur«. Der materielle Produktions-prozeß als solcher offenbart sich am Ende als das, was er inseinem Ursprung im Tauschverhältnis, als einem falschen Be-wußtsein der Kontrahenten voneinander, neben dem Mittelzur Erhaltung des Lebens zugleich immer schon war: Ideo-logie. Umgekehrt aber wird zugleich das Bewußtsein mehrstets zu einem bloßen Durchgangsmoment in der Schaltungdes Ganzen. Ideologie heißt heute: die Gesellschaft als Er-scheinung. Sie ist vermittelt durch die Totalität, hinter derdie Herrschaft des Partialen steht, nicht jedoch umstandslosreduktibel auf ein Partialinteresse, und darum gewissermaßenin all ihren Stücken gleich nah dem Mittelpunkt.

Die Alternative, Kultur insgesamt von außen, unter demOberbegriff der Ideologie in Frage zu stellen, oder sie mit denNormen zu konfrontieren, die sie selbst auskristallisierte,kann die kritische Theorie nicht anerkennen. Auf der Ent-

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Scheidung: immanent oder transzendent zu bestehen, ist einRückfall in die traditionelle Logik, der Hegels Polemik gegenKant galt: daß jegliche Methode, welche Grenzen bestimmtund in den Grenzen ihres Gegenstandes sich hält, eben da-durch über die Grenzen hinausgehe. Die kulturtranszendentePosition ist von der Dialektik in gewissem Sinn vorausgesetztals das Bewußtsein, welches vorweg der Fetischisierung derSphäre Geist sich nicht unterwirft. Dialektik heißt Intran-sigenz gegenüber jeglicher Verdinglichung. Die transzen-dente Methode, die aufs Ganze geht, scheint radikaler als dieimmanente, welche das fragwürdige Ganze zunächst sichvorgibt. Sie bezieht einen der Kultur und dem gesellschaft-lichen Verblendungszusammenhang enthobenen Standort,einen archimedischen gleichsam, von dem aus das Bewußt-sein die Totalität, wie sehr sie auch laste, in Fluß zu bringenvermag. Der Angriff aufs Ganze hat seine Kraft darin, daßum so mehr Schein von Einheit und Ganzheit in der Welt ist,wie gelungene Verdinglichung, also Trennung. Aber diesummarische Abfertigung der Ideologie, wie sie heute schonin der Sowjetsphäre als Ächtung des »Objektivismus« zumVorwand zynischen Terrors wurde, tut jener Ganzheit wie-derum zuviel Ehre an. Sie kauft der Gesellschaft ihre Kulturen bloc ab, gleichgültig wie sie nun darüber verfügt. DieIdeologie, der gesellschaftlich notwendige Schein, ist heutedie reale Gesellschaft selber, insofern deren integrale Machtund Unausweichlichkeit, ihr überwältigendes Dasein an sich,den Sinn surrogiert, welchen jenes Dasein ausgerottet hat.Die Wahl eines ihrem Bann entzogenen Standpunkts ist sofiktiv wie nur je die Konstruktion abstrakter Utopien. Dahersieht sich die transzendente Kritik der Kultur, ganz ähnlichder bürgerlichen Kulturkritik, zum Rückgriff verhalten undbeschwört jenes Ideal des Natürlichen, das selber ein Kern-stück der bürgerlichen Ideologie bildet. Der transzendenteAngriff auf die Kultur spricht regelmäßig die Sprache des fal-schen Ausbruchs, die des Naturburschen. Er verachtet denGeist: die geistigen Gebilde, die ja doch nur gemacht sein,nur das natürliche Leben überdecken sollen, lassen um solchervorgeblichen Nichtigkeit willen beliebig sich hantieren undfür Herrschaftszwecke verwerten. Das erklärt die Unzuläng-lichkeit der meisten sozialistischen Beiträge zur Kulturkritik:

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sie entraten der Erfahrung dessen, womit sie sich befassen.Indem sie das Ganze wie mit einem Schwamm wegwischenwollen, entwickeln sie Affinität zur Barbarei, und ihre Sym-pathien sind unweigerlich mit dem Primitiveren, Undifferen-zierteren, wie sehr es auch im Widerspruch zum Stand dergeistigen Produktivkraft selber stehen mag. Die bündige Ver-leugnung der Kultur wird zum Vorwand, das Gröbste, Ge-sündeste, selber Repressive zu befördern, zumal den peren-nierenden Konflikt von Gesellschaft und Individuum, diedochbeidegleichermaßen gezeichnet sind, stur zugunsten derGesellschaft zu entscheiden nach dem Maß der Administra-toren, die ihrer sich bemächtigt haben. Von da ist dann nurein Schritt zur offiziellen Wiedereinführung der Kultur. Da-gegen sträubt sich das immanente Verfahren als das wesent-licher dialektische. Es nimmt das Prinzip ernst,nicht die Ideo-logie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit derWirklichkeit übereinzustimmen. Immanente Kritik geisti-ger Gebilde heißt, in der Analyse ihrer Gestalt und ihres Sin-nes den Widerspruch zwischen ihrer objektiven Idee undjener Prätention zu begreifen, und zu benennen, was die Kon-sistenz und Inkonsistenz der Gebilde an sich von der Verfas-sung des Daseins ausdrückt. Solche Kritik bescheidet sichnicht bei dem allgemeinen Wissen von der Knechtschaft desobjektiven Geistes, sondern sucht dies Wissen in die Kraftder Betrachtung der Sache selbst umzusetzen. Einsicht in dieNegativität der Kultur ist verbindlich bloß dann, wenn siesich ausweist im triftigen Befund der Wahrheit oder Unwahr-heit einer Erkenntnis, der Konsequenz oder Lahmheit einesGedankens, der Stimmigkeit oder Brüchigkeit eines Gebil-des, der Substantialität oder Nichtigkeit einer Sprachfigur.Wo sie aufs Unzulängliche stößt, schreibt sie es nicht eilfertigdem Individuum und seiner Psychologie, dem bloßen Deck-bild des Mißlingens zu, sondern sucht es aus der Unversöhn-lichkeit der Momente des Objekts abzuleiten. Sie geht derLogik seiner Aporien, der in der Aufgabe selber gelegenenUnlösbarkeit, nach. In solchen Antinomien wird sie der ge-sellschaftlichen inne. Gelungen aber heißt der immanentenKritik nicht sowohl das Gebilde, das die objektiven Wider-sprüche zum Trug der Harmonie versöhnt, wie vielmehrjenes, das die Idee von Harmonie negativ ausdrückt, indem es

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die Widersprüche rein, unnachgiebig, in seiner innerstenStruktur prägt. Vor ihm verliert das Verdikt »bloße Ideo-logie« seinen Sinn. Zugleich jedoch hältdie immanente Kritikin Evidenz, daß aller Geist bis heute unter einem Bann steht.Er ist nicht von sich aus der Aufhebung der Widersprüchemächtig, an denen er laboriert. Selbst der radikalsten Refle-xion aufs eigene Versagen ist die Grenze gesetzt, daß sie nurReflexion bleibt, ohne das Dasein zu verändern, von dem dasVersagen des Geistes zeugt. Darum vermag die immanenteKritik bei ihrem Begriff sich nicht zu beruhigen. Weder ist sieeitel genug, die Versenkung in den Geist unmittelbar demAusbruch aus seiner Gefangenschaft gleichzusetzen, nochauch nur naiv genug, zu glauben, der unbeirrten Versenkungin den Gegenstand fiele kraft der Logik der Sache die Wahr-heit zu, wenn nicht das subjektive Wissen ums schlechteGanze, von außen gleichsam, jeden Augenblick in die Be-stimmung des Gegenstandes mit eingeht. Je weniger die dia-lektische Methode heute die Hegeische Identität von Subjektund Objekt sich vorgeben kann, um so mehr ist sie verpflich-tet, der Doppelheit der Momente eingedenk zu sein: das Wis-sen von der Gesellschaft als Totalität, und von der Verfloch-tenheit des Geistes in jene, zu beziehen auf den Anspruch desObjekts, als solches, seinem spezifischenGehalt nach, erkanntzu werden. Dialektik läßt daher von keiner Forderung logi-scher Sauberkeit das Recht sich verkümmern, von einemGenus zum anderen überzugehen, die in sich verschlosseneSache durch den Blick auf die Gesellschaft aufleuchten zumachen, der Gesellschaft die Rechnung zu präsentieren,welche die Sache nicht einlöst. Am Ende wird der dialek-tischen Methode der Gegensatz der von außen und von inneneindringenden Erkenntnis selber als Symptom jener Verding-lichung suspekt, die anzuklagen ihr obliegt: der abstraktenZurechnung dort, dem gleichsam verwaltenden Denken, ent-spricht hier der Fetischismus des gegen seine Genesis abge-blendeten Objekts, die Prärogative des Fachmanns. Wie aberdie stur immanente Betrachtung in den Idealismus zurück-zuschlagen droht, die Illusion selbstgenügsamen, über sichund die Realität gebietenden Geistes, so droht die transzen-dente, die Arbeit des Begriffs zu vergessen, und mit der vor-schriftsmäßigen Etikettierung, dem gefrorenen Schimpfwort

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— meist lautet es »kleinbürgerlich« —, dem von oben her ab-fertigenden Ukas sich zu begnügen. Topologisches Denken,das von jedem Phänomen weiß, wo es hingehört, und vonkeinem, was es ist, ist insgeheim verwandt dem paranoischenWahnsystem, dem die Erfahrung des Objekts abgeschnittenward. Die Welt wird mit leerlaufenden Kategorien in Schwarzund Weiß aufgeteilt und zu eben der Herrschaft zugerichtet,gegen welche einmal die Begriffe konzipiert waren. KeineTheorie, und auch die wahre nicht, ist vor der Perversion inden Wahn sicher, wenn sie einmal der spontanen Beziehungauf das Obj ekt sich entäußert hat. Davor muß Dialektik nichtweniger sich hüten als vor der Befangenheit im Kulturobjekt.Sie darf weder dem Geistkult sich verschreiben noch derGeistfeindschaft. Der dialektische Kritiker an der Kulturmuß an dieser teilhaben und nicht teilhaben. Nur dann läßt erder Sache und sich selber Gerechtigkeit widerfahren.

Die herkömmliche transzendente Kritik der Ideologie istveraltet. Prinzipiell macht durch ungebrochene Transposi-tion des Kausalbegriffs aus dem Bereich der physischen Naturin die Gesellschaft die Methode eben jene Verdinglichungsich zu eigen, die sie zum kritischen Thema hat, und fällthinter ihren eigenen Gegenstand zurück. Immerhin kann dietranszendente Methode darauf sich berufen, daß sie nur soweit Begriffe verdinglichten Wesens benutzt, wie die Gesell-schaft selber verdinglicht ist; daß sie dieser durch die Roheitund Härte des Kausalbegriffes gleichsam den Spiegel vorhält,der sie der eigenen Roheit und Härte wie der Entwürdigungdes Geistes in ihr überführt. Aber die finstere Einheitsgesell-schaft duldet nicht einmal mehr jene relativ selbständigen,abgesetzten Momente, welche einst die Theorie der kausalenAbhängigkeit von Überbau und Unterbau meinte. In demFreiluftgefängnis, zu dem die Welt wird, kommt es schon garnicht mehr darauf an, was wovon abhängt, so sehr ist alleseins. Alle Phänomene starren wie Hoheitszeichen absoluterHerrschaft dessen was ist. Gerade weil es im eigentlichenSinn von falschem Bewußtsein keine Ideologien mehr gibt,sondern bloß noch die Reklame für die Welt durch derenVerdopplung, und die provokatorische Lüge, die nicht ge-glaubt werden will, sondern Schweigen gebietet, nimmt dieFrage nach der kausalen Abhängigkeit der Kultur, die un-

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mittelbar als Stimme dessen ertönt, wovon sie bloß abhängigsein soll, etwas Hinterwäldlerisches an. Allerdings wird da-von am Ende auch die immanente Methode ereilt. Sie wirdvon ihrem Gegenstand in den Abgrund gerissen. Die mate-rialistisch durchsichtige Kultur ist nicht materialistisch auf-richtiger, nur niedriger geworden. Mit der eigenen Partiku-larität hat sie auch das Salz der Wahrheit eingebüßt, das ein-mal in ihrem Gegensatz zu anderen Partikularitäten bestand.Zieht man sie zu jener Verantwortung vor sich, welche sieverleugnet, so bestätigt man nur die kulturelle Wichtig-macherei. Als neutralisierte und zugerichtete aber wird heutedie gesamte traditionelle Kultur nichtig: durch einen irre-vokablen Prozeß ist ihre von den Russen scheinheilig rekla-mierte Erbschaft in weitestem Maße entbehrlich, überflüssig,Schund geworden, worauf dann wieder die Geschäftemacherder Massenkultur grinsend hinweisen können, die sie als sol-chen Schund behandeln. Je totaler die Gesellschaft, um soverdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Be-ginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden.Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zumGeschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letztenStufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber:nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch,und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, war-um es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der ab-soluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes alseines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänz-lich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nichtgewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamerKontemplation.

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Das Bewußtsein der Wissenssoziologie

Die von Karl Mannheim vertretene Wissenssoziologie be-ginnt abermals in Deutschland zu wirken. Das verdankt siedem Gestus der harmlosen Skepsis. Sie stellt, gleich ihrenexistenzphilosophischen Gegenspielern, alles in Frage undgreift nichts an. Intellektuelle, die sich vom wirklichen odervermeintlichen »Dogma« abgestoßen fühlen, sind angehei-melt vom Klima einer Vorurteilslosigkeit und Vorausset-zungslosigkeit, die ihnen obendrein etwas vom Pathos derselbstbewußt-einsam ausharrenden Rationalität Max Webersals Wegzehrung fürs schwankende Bewußtsein ihrer Auto-nomie spendet. Bei Mannheim so gut wie bei seinem Anti-poden Jaspers kommen manche Impulse der WeberschenSchule zutage, die einstmals dem polyhistorischen Bau ein-gemauert waren. Deren wichtigster ist der zur Abwehr derIdeologienlehre in ihrer authentischen Gestalt. All das magrechtfertigen, auf ein älteres Buch Mannheims wie >Menschund Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus < zurückzukom-men. Es wendet sich an eine breitere Leserschicht als dasIdeologiebuch. Es ist nicht auf jegliche seiner Formulierun-gen festzulegen. Um so mehr trägt es zur Einsicht in die Wir-kung bei.

Die Gesinnung ist »positivistisch«: gesellschaftliche Phä-nomene werden »als solche« hingenommen und dann klassi-fikatorisch nach Allgemeinbegriffen aufgeteilt. Damit sinddie sozialen Antagonismen tendenziell nivelliert:sie erschei-nen bloß noch als subtile Modifikationen eines Begriffsappa-rates, dessen abdestillierte »Prinzipien« sich selbstherrlichinstallieren und sich schattenhafte Kämpfe liefern: »Die letzteWurzel aller Konflikte im gegenwärtigen Zeitalter des Um-baus läßt sich in eine einfache Formel fassen. Es geht auf derganzen Linie um Spannungen, die aus dem unbewältigtenNebeneinanderwirken des >laisser-faire-Prinzips < und desneuen Prinzips der Regulierung entstehen.« Als ob nichtalles davon abhinge, wer wen reguliert. Oder es wird für dieNöte des Zeitalters »das Irrationale« anstelle bestimmterMenschengruppen oder einer bestimmten Beschaffenheit der

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Gesellschaft verantwortlich gemacht; das Anwachsen derAntagonismen heißt nobel »disproportionale Entwicklungder menschlichen Fähigkeiten«, wie wenn es sich um Persön-lichkeiten handelte und nicht um die anonyme Maschinerie,welche das Individuum abschafft. Die Nivellierung trifft Ge-rechte und Ungerechte gleichermaßen; aus ihnen wird der»Durchschnittsmensch« ausabstrahiert und diesem, als »vonje vorhanden«, »Engstirnigkeit« zugeschrieben. Mannheimgesteht von der »experimentierenden Selbstbeobachtung«,deren Namen er exakteren Wissenschaften entlehnt, frank zu:»Alle diese Formen der Selbstbeobachtung haben eine Ten-denz zur Nivellierung und verzichten auf individuelle Diffe-renzen, weil sie am Generellen des Menschen und seiner Wan-delbarkeit interessiert sind.« Nicht aber an seinen besonderenVerhältnissen und seiner realen Verwandlung. Die generali-sierende Ordnung von Mannheims Begriffswelt ist in ihrerNeutralität der realen wohlgesinnt: sie bedient sich der sozial-kritischen Termini und nimmt ihnen zugleich den Stachel.

Nivelliert wird vorab der Begriff der Gesellschaft als sol-cher, vermöge einer Redeweise, die den aufs äußerste kom-promittierten Terminus »Integration« beschwört. Er trittnicht zufällig auf. Der Rekurs auf die gesellschaftliche Totali-tät hat bei Mannheim weniger die Funktion, die verstrickteAbhängigkeit der Menschen im Ganzen hervorzuheben, alsden gesellschaftlichen Prozeß selber im Sinne eines mittlerenAusgleichs der Widersprüche im Ganzen zu verklären, durchwelchen theoretisch die Widersprüche verschwinden, indenen doch gerade der Lebensprozeß »der« Gesellschaft be-steht. »So sieht man es einer sich durchsetzenden Meinung inder Gesellschaft nicht ohne weiteres an, daß sie das Ergebniseines Selektionsprozesses ist, der viele in dieselbe Richtungstrebende Lebensäußerungen integriert«: in solchem Begriffder Selektion verschwindet die Tatsache, daß Lebensnotunter immerwährender katastrophischer Bedrohung undaberwitzigen Opfern den Mechanismus stöhnend im Gangeerhält. Die prekäre und irrationale Selbsterhaltung der Ge-sellschaft wird umgefälscht zu einer Leistung ihrer immanen-ten Gerechtigkeit oder »Vernünftigkeit«.

Wo integriert wird, sind auch die Eliten nicht weit. Die»Kulturkrise«, zu welcher bei Mannheim Terror und Grauen

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eilends sich sublimieren, wird ihm zum »Problem der Eliten-bildung«. Er weiß vier »Prozesse« herauszupräparieren, indenen dies Problem sich kristallisieren soll: die wachsendeZahl der Eliten und die daraus entstehende Schwächung ihrerStoßkraft; die Zerstörung der Geschlossenheit der Elite-gruppen; der Wandel im Selektionsprozeß der Eliten; derWandel in ihrer Zusammensetzung. Es stehen dabei zunächstdie benutzten Kategorien in Frage. Der Positivist, der sineira et Studio die Tatsachen registriert, ist bereit, mit ihnen diePhrasen hinzunehmen, welche die Tatsachen verschleiern.Eine solche Phrase ist der Elitebegriff selber. Seine Unwahr-haftigkeit besteht darin, daß die Privilegien bestimmterGruppen teleologisch für das Resultat eines wie immer gearte-ten objektiven Ausleseprozesses ausgegeben werden, wäh-rend niemand die Eliten ausgelesen hat als etwa diese sichselber. Mannheim aber sieht bei der Verwendung des Elite-begriffs von der gesellschaftlichen Macht ab. Er gebrauchtihn lediglich formalsoziologisch »deskriptiv«.Das erlaubt esihm, auf die je Privilegierten alles erwünschte Licht fallen zulassen. Zugleich aber ist der Elitebegriff so gewandt, daß diegegenwärtige Not durch irgendwelche gleichfalls »neutrale«Störungen des Elitemechanismus ohneRücksicht auf die poli-tische Ökonomie von oben her deduzierbar wird. Dabei ge-rät Mannheim in offenen Konflikt mit den Fakten. Wenn erbehauptet, es sei in der »massendemokratischen« Gesell-schaft für jedermann stets leichter geworden, in alle gesell-schaftlichen Wirkungssphären Zutritt zu finden, und eswerde damit den Eliten »ihre zur Ausformung der geistig-seelischen Impulse nötige Exklusivität genommen«,so wider-spricht dem die bescheidenste vorwissenschaftliche Erfah-rung.Die mangelnde Homogenität der Eliten ist eine Fiktion,verwandt der marktgängigen vom Chaos der Wertewelt undder Zersetzung aller festen Ordnungen. Wer nicht hereinpaßt,wird draußengehalten. Noch diejenigen Differenzen derÜberzeugung, in denen sich solche der realen Interessen aus-prägen, taugen dazu, über die Einigkeit im Entscheidendenzu täuschen. Nichts ist dabei dienlicher als das Gerede von derKulturkrise, in das Mannheim ohne Zögern einstimmt. Esverzaubert das reale Leiden in die Schuld des Geistes, denun-ziert die Kultur und kommt meist der Barbarei zugute. Kul-

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turkritik hat ihre Funktion gewechselt. Längst ist der Bil-dungsphilister nicht mehr der Fortschrittsmann, die Figur,als welche Nietzsche David Friedrich Strauß identifizierte.Sondern er hat Tiefsinn und Pessimismus gelernt, verleugnetin deren Namen die Humanität, die mit seinen gegenwärtigenInteressen unvereinbar ward, und sein altehrwürdiger Zer-störungsdrang kehrt sich gegen die gleichen Güter, derenUntergang er sentimental bejammert. Den Bildungssoziolo-gen der Kulturkrise ficht das wenig an. Seine heroische ratiohat nicht einmal Bedenken, die abgeleierte These vom Er-löschen der stilbildenden Kraft der europäischen Kunst seitdem Ende des Biedermeiers romantisch-reaktionär gegen dieModerne zu wenden.

Hingenommen wird mit der Elitetheorie auch deren spezi-fische Färbung. Zu den konventionellen Begriffen schicktsich der naive Respekt vor dem, wofür sie einstehen. Mann-heim nennt als Selektionsprinzipien der Eliten »Blut, Besitzund Leistung«, ohne daß die Leidenschaft zur Destruktionvon Ideologien ihn etwa dazu bewöge, diesen Prinzipienselber die Legitimation abzuverlangen; ja er weiß zu HitlersLebzeiten von einem »echten Blutprinzip« zu erzählen, dasfrüher »die Reinheit edler Zuchtminoritäten und deren Tra-ditionen« garantiert habe. Von da ist zum Neuadel aus Blutund Boden nur ein Schritt. Ihn zu vollziehen, wird Mannheimdurch allgemeinen Kulturpessimismus abgehalten. Für ihngibt es noch zu wenig Blut. Seine Angst ist eine »Massen-demokratie«, in der Blut und Besitz als Selektionsprinzipienwegfielen: durch den allzu raschen Wechsel der Eliten sei dieKontinuität bedroht. Besonders aber liegt ihm am Herzen,daß es mit der Esoterik des »echten Blutprinzips« nicht mehrrecht stimme: man sei »in dieser Beziehung demokratischgeworden und möchte den offenen Gruppen der großen Mas-sen plötzlich das Privileg des leistungslosen Emporkommensgewährleisten«. So wenig die Edlen je edler waren als dieanderen, so wenig sind sie objektiv in der Lage oder subjek-tiv gewillt, vom Prinzip des Privilegs im Ernst etwas nach-zulassen. - Vereint die invariantenfrohe Elitetheorie histo-risch verschiedene Stufen dessen, was die Soziologen heutesoziale Differenzierung nennen, wie die feudale und die kapi-talistische, als »Blut- und Besitzprinzip«, so reißt sie dafür

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ebenso gutwillig auseinander, was zusammengehört: Besitzund Leistung. Max Weber hatte dargetan, daß der Geist desFrühkapitalismus beide identifiziert: daß die Leistungsfähig-keit im rational konstituierten Arbeitsprozeß meßbar wird anihrem materiellen Erfolg. Die Gleichsetzung von Leistungund materiellem Erfolg hat ihren psychologischen Nieder-schlag in der Bereitschaft gefunden, den Erfolg als solchenzum Fetisch zu machen. Mannheim erhebt das zum »Gel-tungstrieb«. In der Ideologie treten Besitz und Leistung erstauseinander, wenn offenkundig der »Leistung« als der öko-nomischen ratio des Einzelnen nicht mehr der »Besitz« als ihrmöglicher Erfolg entspricht. Dann erst werden die Bürgerwahrhaft zu Edelmännern. - Mannheims »Selektionsmecha-nismen« sind danach Erfindungen: willkürlich gewählte Be-zugssysteme, distanziert vom Lebensprozeß der tatsächlichenGesellschaft.

Sie müssen zu Konsequenzen herhalten, die den verdros-senen Vorstellungen der Sombart und Ortega y Gasset fatalähnlich sehen. Mannheim redet von einer »Proletarisierungder Intelligenz«. Richtig wird zunächst die Überfüllung deskulturellen Marktes konstatiert: es seien mehr »kulturell«,nämlich bildungsmäßig Qualifizierte vorhanden als ihnen an-gemessene Positionen. Dadurch aber soll der soziale Wertder Kultur fallen, denn es sei »ein soziologisches Gesetz, daßder soziale Wert des Geistes sich nach der sozialen Geltungderer richtet, die ihn produzieren«. Zugleich nehme der»soziale Wert« der Kultur zwangsläufig darum ab, weil dieRekrutierung des intellektuellen Nachwuchses mehr undmehr auf niedrige Schichten, zumal des kleinenBeamtentums,sich erstrecke. - Der Begriff des Proletarischen ist dabei for-malisiert: er erscheint als bloße Bewußtseinsstruktur, etwaso, wie die obere Bourgeoisie den, der die Spielregeln nichtkennt, einen Proleten schimpft. Die Genesis bleibt außer Be-tracht. Das resultiert in ihrer Verfälschung. Indem eine »struk-turelle« Angleichung des Bewußtseins an das der unterenSchichten festgestellt wird, ist die Schuld stillschweigenddiesen und ihrer angeblichen massendemokratischen Eman-zipation zugeschrieben. Verdummung wird aber nicht durchdie Unterdrückten bewirkt, sondern Unterdrückung machtdumm: die Unterdrückten und - worauf Mannheim wenig

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Wert legt - wesentlich auch die Unterdrücker. Die Überfül-lung der intellektuellen Berufe ist durch die Überfüllung derwirtschaftlichen, im Grunde durch die technologische Ar-beitslosigkeit bedingt. Mit der von Mannheim behauptetenDemokratisierung der Eliten hat sie nichts zu tun; die intel-lektuelle Reservearmee übt auf diese am letzten Einfluß aus.Im übrigen bietet das soziologische Gesetz von der Abhän-gigkeit der sogenannten Geltung einer Kultur von der ihrerTräger den Schulfall einer falschen Generalisierung. Sei nuran die Musik des achtzehnten Jahrhunderts erinnert, derenkulturelle Relevanz im damaligen Deutschland außer Zweifelsteht. Während die Musiker, außer den den Höfen besondersattachierten Maestri, Primadonnen und Kastraten, gering ge-schätzt waren; währendBach als subalterner Kirchenbeamter,der junge Haydn als Bedienter existierte, gewannen die Musi-ker soziale Geltung erst, als ihre Produkte der unmittelbarenGebrauchsfähigkeit sich entäußerten, der Komponist derGesellschaft als selbstherrliches Individuum sich entgegen-setzte : mit Beethoven. Der Grund für den Fehlschluß liegtim Psychologismus der Methode. Die individualistische Fas-sade der Gesellschaft verdeckt für Mannheim, daß sie ihrWesen gerade darin hat, Formen zu entwickeln, die sich sedi-mentieren und die Individuen zu bloßen Agenten der objek-tiven Tendenz herabsetzen. Der desillusionierten Attitüdezum Trotz gehört die Wissenssoziologie auf einen vor-Hege-lischen Standpunkt. Ihr Rekurs auf die eine Gruppe bilden-den Menschen - im Falle jenes »Gesetzes«: die Kulturträger-setzt eine Übereinstimmung von gesellschaftlichem und in-dividuellem Sein gewissermaßen transzendental voraus,deren Nichtexistenz einen der vordringlichsten Gegenständeder kritischen Theorie bildet. Sie ist nur insoweit die Lehrevon den Beziehungen der Menschen, wie sie auch die Lehrevon der Unmenschlichkeit ihrer Beziehungen ist.

Die wissenssoziologischen Verzerrungen gründen in derMethode. Diese übersetzt die dialektischen Begriffe in klassi-fikatorische. Indem in die einzelnen logischen Klassen jeweilsdas gesellschaftlich Widerspruchsvolle eingeht, verschwin-den die gesellschaftlichen, und das Bild des Ganzen gerät har-monistisch. Wenn etwa im dritten Abschnitt der Schrift dreiStufen des Bewußtseins: Finden, Erfinden und Planen er-

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dacht werden, so ist damit nichts anderes versucht, als dasdialektische Schema der Epochen als das fließend wechseln-der Verhaltensweisen des vergesellschafteten Menschenschlechthin zu interpretieren, in denen die bestimmendenGegensätze verschwinden: »Es ist klar, daß der Übergangvom erfindenden, unmittelbare Ziele rational verwirklichen-den Denken zum planenden Denken flüssig ist. Niemandwird angeben können, bei welcher Art der Voraussicht undbei welcher Verlängerung der Reichweite der bewußtenFernregelung der Übergang von der Stufe des erfindenden zuder des planenden Denkens beginnt.« Der Vorstellung einesbruchlosen Überganges von der liberalen zu der »planenden«Gesellschaft entspricht die Auffassung jenes Überganges alseines zwischen verschiedenen Weisen von »Denken«. Er-weckt wird der Glaube, der geschichtliche Prozeß sei voneinem in sich einstimmigen gesellschaftlichen Gesamtsubjektgesteuert. Die Übersetzung der dialektischen in klassifikato-rische Begriffe abstrahiert von den Bedingungen der realengesellschaftlichen Macht, von denen allein jene Stufen desDenkens abhängen. »Das Neue der soziologischen Betrach-tung von Vergangenheit und Gegenwart ist es, die Ge-schichte als ein Experimentierfeld für regulierendes Eingrei-fen anzusehen«: als ob die Möglichkeit solchen Eingreifensjeweils mit der Stufe der Einsicht zusammenfiele. SolcheNivellierung der gesellschaftlichen Kämpfe auf formal de-finierbare und vorweg spiritualisierte Verhaltensweisen er-laubt erbauliche Aussagen über die Zukunft: »Nun bliebenoch ein anderer Weg offen, daß nämlich die einheitlichePlanung auf Grund von Einverständnishaltung und Kom-promiß zustandekommt, d. h. daß jene Mentalität auch an derGesellschaftsspitze sich durchsetzt, die eigentlich vorher nurinnerhalb der Gesellschaft in den befriedeten Enklaven mög-lich war.« Durch die Idee des Kompromisses werden diegleichen Widersprüche weitergeschleppt, die durch die Pla-nung aufgehoben werden sollten: der abstrakte Begriff desPlanens verdeckt sie vorweg und ist selber Kompromiß zwi-schen dem konservierten Laisser faire und der Einsicht indessen Insuffizienz.

Dialektische Begriffe sind nicht in formalsoziologische»übersetzbar«, ohne an ihrer Wahrheit Schaden zunehmen.

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Mannheim kokettiert mit dem Positivismus insofern, als ermeint, auf objektiv vorgegebene, aber, nach seiner einiger-maßen laxen Redeweise, »unartikulierte« Tatsachen sichstützen zu können, diedurch den soziologischen Denkmecha-nismus »verarbeitet« und zu allgemeinen Begriffen erhobenwerden können. Er bequemt sich darin der gängigen Wissen-schaftslogik an. Die Klassifikation nach Ordnungsbegriffenwäre aber ein zureichendes Verfahren der Erkenntnis nur,wenn die vermeintlich unmittelbar gegebenen Tatsachen ab-straktiv so leicht von ihrem Grunde sich ablösen ließen, wiesie einem naiven »ersten Zugriff« sich darbieten. Nicht aberwenn die gesellschaftliche Realität eine jeglichem theoreti-schen »Zugriff« vorgeordnete und höchst »artikulierte« Be-schaffenheit hat, von der das szientifische Subjekt samt denGegebenheiten seiner Erfahrung selber abhängt. Je wenigerdieAusgangs»tatsachen« als deskriptive Selbstgegebenheitenvor der fortschreitenden Analyse bestehen, um so wenigerhat Soziologie die Freiheit, klassifizierend über sie je nachBedarf zu verfügen. Die notwendige Korrektur der »Tat-sachen« im Fortgang der theoretischen Erkenntnis der Ge-sellschaft bedeutet nicht bloß, daß andere subjektive Ord-nungsschemata gewählt werden müssen, als es der naivenErfahrung scheint, sondern daß die vermeintlichen Gegeben-heiten selber mehr als bloßes Material zur begrifflichen Ver-arbeitung darstellen, nämlich daß sie vom Ganzen geprägtund dadurch an sich »strukturiert« sind. Der Idealismus wäredann erst verlassen, wenn die Freiheit der abstrahierendenBegriffsbildung preisgegeben wäre. Die These vom Primatdes Seins übers Bewußtsein schließt die methodische Forde-rung ein, Begriffe nicht nach dem Maßstab denkpraktisch-zweckmäßiger Merkmaleinheiten zu bilden und zu verifizie-ren, sondern in ihrer Bildung und Bewegung die Bewegungs-tendenzen der Wirklichkeit auszudrücken. Das Bewußtseinder Wissenssoziologie hat dieser Forderung sich gesperrt. DieAbstraktionsschnitte sind ihm willkürlich, solange sie nur inÜbereinstimmung mit einer differenzierenden und korrigie-renden Erfahrung bleiben. Mannheim verbietet sich die Kon-sequenz, daß die »vorurteilslose« Registrierung der Tat-sachen fiktiv ist; daß der Sozialforscher nicht ein unqualifi-ziertes, chaotisches Erfahrungsmaterial zu ordnen hat, son-

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dem daß das Material seiner Erfahrung die soziale Ordnungist, ein »System« im härteren Sinne, als je die Philosophieeines erfand; und daß über Recht und Unrecht seiner Begriffenicht sowohl deren Allgemeinheit und andererseits deren An-näherung an »reine« Fakten entscheidet als vielmehr, ob siedie realen Bewegungsgesetze der Gesellschaft zureichendfassen und die widerspenstigen Fakten auf jene transparentmachen. Auf einem durch Begriffe wie Integration, Elite,Artikulation definierten Koordinatensystem erscheinen jenebestimmenden Gesetze samt allem, was sie fürs Dasein derMenschen bedeuten, als kontingent oder akzidentell, alsbloße soziologische »Differenzierungen«; darum wirkt diegeneralisierende und differenzierende Soziologie wie Hohnauf die Realität. Sie schreckt vor Formulierungen wie »abge-sehen von der Konzentration und Zentralisation des Kapi-tals« nicht zurück. Solche Abstraktionsschnitte sind nicht»neutral«. Wovon bei einer Theorie abgesehen und nicht ab-gesehen wird, das macht ihre Qualität aus. Man könnte, wärees mit dem Absehen getan, eine Analyse etwa der »Eliten«auch durch Betrachtung von Gruppen wie der Vegetarianeroder der Mazdaznan-Anhänger vollziehen und diese Analysedann durch begriffliche Verfeinerung so korrigieren, daßihre offene Absurdität verschwände. Aber keine Korrekturkönnte darüber hinweghelfen, daß die Wahl der Grundkate-gorien falsch: daß die Welt nicht nach jenen Kategorien ein-gerichtet ist. Diese Falschheit verschöbe noch in aller Korrek-tur die Akzente so gründlich, daß die Wirklichkeit aus denBegriffen herausfiele: die Eliten blieben immer noch »Grup-pen von der Form Mazdaznan« mit der zusätzlichen Qualität»gesellschaftliche Macht«. Wenn Mannheim einmal sagt,»daß es im Kulturellen (eigentlich auch im Wirtschaftlichen)niemals einen absoluten Liberalismus gab in jenem Sinne, daßneben den freiwaltenden gesellschaftlichen Kräften nichtauch Regulierung etwa im Bildungswesen bestanden hätte«,so ist er offensichtlich bemüht um eine differenzierende Kor-rektur des Glaubens, das längst als Ideologie durchschauteLaisser-faire-Prinzip habe je ungeschmälert geherrscht. Eswird aber, eben durch die Wahl jenes erst nachträglich diffe-renzierten Ausgangsbegriffes, das Eigentliche entstellt: dieEinsicht, daß das Laisser-faire-Prinzip auch unter dem Libe-

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ralismus bloß die wirtschaftliche Verfügung verdeckte unddaß demgemäß die Selektion der »Kulturgüter« wesentlichnach dem Maß von deren Konformität mit den herrschendengesellschaftlichen Interessen erfolgte. Die Einsicht in einenGrundtatbestand der Ideologie verflüchtigt sich zur bloßenFinesse: die Methode will konziliant zeigen, daß sie auch dasKonkrete nicht vergesse, anstatt vorab, und ohne die unver-meidlichen Allgemeinbegriffe zu verselbständigen, aufs Kon-krete sich zu richten.

Die Unzulänglichkeit der Methode wird an ihren Polenmanifest: beim Gesetz und beim »Beispiel«. Wenn die wider-spenstigen Fakten, als bloße Differenzierungen, von derWissenssoziologie unter die obersten generellen Einheitensubsumiert werden, so wird dafür eben diesen willkürlichenAllgemeinheiten, als sozialen »Gesetzen«, vom Typus etwajener Relation von Kulturgut und sozialer Geltung der kul-turell Produzierenden, selbständige Macht über die Faktenzugeschrieben. Sie werden hypostasiert. Zuweilen nehmensie ausschweifenden Charakter an: »Nun gibt es aber ein ent-scheidendes Gesetz, in dessen Zeichen wir gerade im gegen-wärtigen Augenblick stehen. Ungeplante, durch natürlicheSelektion regulierte Felder einerseits, zielbewußt erfundeneund bedachtsam eingefügte Gebilde andererseits, können nurso lange reibungslos nebeneinander bestehen, als die Felderdes Ungeplanten überwiegen.« Quantifizierte Sätze von die-ser Gestalt sind um nichts evidenter als solche der Baader-schen Metaphysik, vor denen sie lediglich den Mangel anPhantasiekraft voraus haben. - Die Hypostasierung der All-gemeinbegriffe wird präzis als Fehler faßbar an den vonMannheim zwischengeschalteten »principia media«, zu wel-chen er die dialektischen Bewegungsgesetze erniedrigt. Daheißt es denn: »So stark man freilich die >principia media<und die in ihnen verwendeten Begriffe (>Hochkapitalismus<,strukturelle Arbeitslosigkeit«, >Angestelltenideologie<) hi-storisieren und differenzieren muß, so darf man doch niemalsübersehen, daß sich in ihnen dennoch abstrakte und gene-relle Bestimmungen (allgemeine Wirkkräfte) differenzierenund individualisieren. Sie sind in einem bestimmten Sinnenichts anderes als zeitweilig verfestigte Bündel von Ursachen-reihen, die dann in ihrer Geschlossenheit wie ein einziger Ur-

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sachenkomplex wirken. Daß es sich in ihnen im wesentlichenum historisierte und individualisierte generelle Wirkkräftehandelt, läßt sich an unseren Beispielen erweisen. Hinter derersten Beobachtung steht das allgemeine Prinzip des Funk-tionierens einer Gesellschaftsordnung mit frei kontrahieren-den Rechtspersonen: hinter der zweiten die allgemeinenpsychologischen Wirkungen der >Arbeitslosigkeit< über-haupt und hinter der letzteren das allgemeine Gesetz, wonachbestehende Aufstiegshoffnungen auf Gruppen und Indivi-duen im Sinne der Verdeckung ihrer kollektiven Lage zu wir-ken tendieren.« Es sei kein geringerer Fehler, als wenn manmit Vorstellungen vom Menschen überhaupt auskommen zukönnen glaube, wenn »man in den konkreten Verhaltungs-weisen dieser historischen Typen die allgemeinen Prinzipienmenschlicher Psyche vernachlässigt und überspringt«. Da-nach scheint das historische Ereignis teilweise von »all-gemeinen« und teilweise von »besonderen« Ursachen deter-miniert, die irgendwelche »Bündel« zusammen bilden. Dasimpliziert aber die Verwechslung von Abstraktionsgradenmit Ursachen. In der Verkennung der »generellen Kräfte«sieht Mannheim die entscheidende Schwäche dialektischenDenkens - als ob nicht die Warenform für alle bei ihm behan-delten Fragen »generell« genug wäre. Jedoch solche »gene-rellen Kräfte« sind überhaupt nicht selbständig im Gegensatzzu irgendwelchen »besonderen«, so als ob etwa ein konkretesEreignis einmal durch den Kausalsatz »verursacht« würdeund dann durch die spezifische »historische Situation«. KeinEreignis wird durch generelle Kräfte oder gar Gesetze ver-ursacht: Kausalität ist nicht die »Ursache« von Ereignissen,sondern die oberste begriffliche Allgemeinheit, unter welcherkonkrete Verursachungen zusammengefaßt werden können.Auch die Newtonsche Beobachtung am fallenden Apfel hatnicht den Sinn, daß dabei die allgemeine Gesetzmäßigkeit derKausalität in einer Komplexion mit Faktoren von niedrige-rem Abstraktionsgrad »wirkte«. Nur im Besonderen undnicht zusätzlich zu diesem setzt Kausalität sich durch.Einzigsoweit kann der fallende Apfel überhaupt »Ausdruck desFallgesetzes« genannt werden: das Fallgesetz ist vom Fallendieses Apfels so gut abhängig wie umgekehrt. Das konkreteKräftespiel läßt sich auf Schemata verschiedener Allgemein-

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heitsstufen reduzieren, aber es gibt nicht verschränkte »all-gemeine« und »besondere« Kräfte. Der Mannheimsche Plu-ralismus freilich, bei dem das Eine und Entscheidende alsbloß eine Perspektive unter vielen möglichen erscheint, magder Addition allgemeiner und besonderer Wirkkräfte nichtgerne entraten.

Dafür wird das Faktum, vorweg »Einmaligkeitssituation«getauft, zum bloßen Beispiel - während die dialektischeTheorie den Begriff des Beispiels so wenig wie schon Kantgelten lassen könnte. Die Beispiele fungieren als beliebigeauswechselbare Illustrationen; deshalb sind sie oft aus be-quemer Distanz von den wahren Nöten der gegenwärtigenMenschheit gewählt oder aus den Fingern gesaugt. Dafürereilt sie rasch die Strafe. Mannheim meint etwa: »Ein klä-rendes Beispiel für Störungen, die aus der substantiellen Irra-tionalität kommen, liegt vor, wenn z. B. die Diplomateneines Landes eine Aktionsreihe sorgfältig durchgedacht undauf andere geplante Handlungsreihen abgestimmt haben,und wenn dann einer von ihnen durch einen plötzlichenNervenzusammenbruch gegen den Plan handelt und ihn zer-stört.« Müßig, solche privaten Begebenheiten als »Wirk-kräfte« auszumalen: nicht bloß ist der »Aktionsradius« deseinzelnen Diplomaten romantisch überschätzt; jede solcheFehlhandlung ließe mit einem Telefonat in fünf Minuten sichbeheben, es sei denn, daß sie selber im Zuge politischer Ent-wicklungen liegt, die stärker sind als die Erwägungen derDiplomaten. - Oder, mit der Anschaulichkeit der Kinder-bücher : »Ich werde meine Triebregungen und Wünsche alsSoldat in ganz anderem Maße zu kontrollieren haben, alswenn ich ein freier Jäger bin, der nur ab und zu fluktuierendzielgerichtet handelt und sich nur gelegentlich in der Gewalthaben muß - im Augenblick etwa, wenn er auf das Wildschießen muß.« Anstelle des Jägerberufs ist bekanntlich inneuerer Zeit der Jagdsport getreten, aber selbst ein Sport-jäger, der sich nur in der Gewalt hat »im Augenblick, wo erauf das Wild schießen muß«, offenbar, um nicht über denKnall der eigenen Flinte zu erschrecken, wird schwerlichetwas zur Strecke bringen; wahrscheinlich das Wild ver-scheuchen; vielleicht es nicht einmal bloß aufspüren. DieNichtigkeit solcher Beispiele steht mit der Wirkung der

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Wissenssoziologie im engsten Zusammenhang. Subjektivmöglichst »neutral« gewählt und darum vorweg unwesent-lich, lenken sie ab. Soziologie meinte an ihrem UrsprungKritik der Prinzipien der Gesellschaft, der sie sich gegen-überfand. Wissens Soziologie begnügt sich mit Reflexionenüber den Jägersmann im grünen oder den Diplomaten imschwarzen Frack.

Worauf der Formalismus solcher Begriffsbildung inhalt-lich hinausläuft, zeigt sich, sobald programmatische Forde-rungen lautwerden. Für die Durchorganisation der Gesell-schaft wird ein »Optimum« verlangt, ohne daß des Bruchsgedacht wäre, der von diesem Optimum trennt. Wenn mansich nur vernünftig zusammensetzt, soll alles in Ordnungkommen. Dem entspricht Mannheims Ideal einer »erwünsch-ten Linie« zwischen »unbewußtem Konservatismus« und»schlechter Utopie«: »Von hier aus wird aber zugleich einemögliche Lösung der gegenwärtigen Spannungen in ihrenUmrissen sichtbar, nämlich eine Art autoritärer Demokratiemit Planung, die aus den heutigen gegeneinander-laufendenPrinzipien ein ausbalanciertes System schafft.« Dazu paßt dieHinaufstilisierung der»Krise«zum»Problem des Menschen«,in der Mannheim trotz seiner Erklärung gegen die neu-deutsche Anthropologie mit ihr und den Existentialphilo-sophen einig geht. Zwei Züge aber sind es vor anderen, dieden Konformismus der Mannheimschen Wissenssoziologiemarkieren. Einmal: sie bleibt Symptomdenken. Sie ist durch-weg geneigt, die Bedeutung der Ideologien zu überschätzengegenüber dem, wofür sie einstehen. Friedlich teilt sie mitihnen jene äquivoke Auffassung »des« Irrationalen, an dergerade der kritische Hebel anzusetzen wäre: »Ferner mußman einsehen, daß das Irrationale nicht unter allen Umstän-den etwas Schädliches ist, im Gegenteil, es ist vielleicht dasWertvollste im Vermögen des Menschen, wenn es etwa alsmächtiger Antrieb zur Erreichung rationaler objektiver Zielewirkt oder in Gestalt von Sublimierungen und KultivationKulturwerte schafft, oder aber auch als pure Vitalität dieLebensfreude steigert, ohne das Gesellschaftsleben planloszu zerstören.« Man erfährt nicht näher, was das Irrationalesei, das da durch Kultivation Kulturwerte schaffe, die dochex definitione das Produkt von Kultivation sind, oder eine

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Lebensfreude »steigere«, die ohnehin schon irrational ist.Jedenfalls aber wirkt unheilvoll die Gleichsetzung der Trieb-macht mit dem »Irrationalen«. Denn der Begriff deckt dieLibido und die Figur ihrer Verdrängung gleichermaßen und»wertfrei«. Das Irrationale scheint bei Mannheim den Ideolo-gien eine Substantialität zu verleihen, die zwar väterlichenTadel erfährt, aber nicht durch Hinweis aufs Verhüllte selberzerstört wird. Dem positivistischen Hinnehmen der Sym-ptome, der leisen Achtung vorm Anspruch der Ideologienaber ist verschwistert der Vulgärmaterialismus herrschenderPraxis: während die Fassade intakt bleibt im Glanze der willi-gen Betrachtungsweise, ist es die letzte Weisheit dieser Sozio-logie, daß im Innern des Hauses keine Regung gedeihenkönne, die über dessen abgesteckten Umkreis ernsthaft hin-ausdrängte : »Faktisch überschreitet der vorgegebene Ideen-schatz (darin dem Wortschatz durchaus ähnlich) den Horizontund den Aktionsradius der existierenden sozialen Gemein-schaft niemals.« Dann freilich vermag, was immer »über-schreitet«, leicht als »Ausrichtung auf Stimmungserweckungseelischer Werte usw.« zu erscheinen. Dieser Materialismus,verwandt dem eines Familienoberhauptes, das es von vorn-herein für ausgeschlossen hält, daß sein Sprößling je einenneuen Gedanken denken könne, da ohnehin alles schon ge-dacht sei, und das diesem daher empfiehlt, lieber ordentlichGeld zu verdienen - dieser wohlerfahrene und demütigendeMaterialismus ist das Reversbild eines Idealismus der Ge-schichtsbetrachtung, dem Mannheim in der Konstruktioninsbesondere von »Rationalität« und Fortschritt sonst ver-schworen bleibt, und demzufolge Änderungen des Bewußt-seins es gar vermögen sollen, »das Aufbauprinzip der Gesell-schaft sozusagen von innen heraus aus ihren Angeln« zuheben.

Die eigentliche Attraktionskraft der Wissenssoziologie darfnun darin gesucht werden, daß jene Änderungen des Bewußt-seins, als Leistungen von »planender Vernunft«, zur Ver-nunft der heute Planenden in unmittelbare Beziehung gesetztwerden: »Die Tatsache, daß das Durchdenken der Hand-lungsreihen in der funktioneil durchrationalisierten Gesell-schaft sichnurindenKöpfenwenigerOrganisatoren vollzieht,sichert diesen eine Schlüsselstellung in der Gesellschaft.« Es

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verrät sich hier ein Motiv, das weiter reicht als das Bewußt-sein der Wissenssoziologie: der objektive Geist als der jener»wenigen Organisatoren« spricht aus ihr. Während die Wis-senssoziologie von neuen akademischen Arbeitsgebietenträumt, dient sie ahnungslos denen, die keinen Augenblickgezögert haben, die Arbeitsgebiete zu kassieren. Mannheimsvom altliberalen common sense genährte Überlegungenlaufen schließlich alle darauf hinaus, gesellschaftliches »Pla-nen« zu empfehlen, ohne zum gesellschaftlichen Grunddurchzudringen. Es sollen die Folgen des offenbar geworde-nen Widersinns, von Mannheim bloß an der Oberfläche undals »Kulturkrise« gewahrt, von oben her, nämlich durch dieVerfügenden beschwichtigt werden. Das bedeutet aber nichtsanderes, als daß der Liberale, der keinen Ausweg sieht, zumSprecher einer diktatorialen Einrichtung der Gesellschaftsich macht, noch während er ihr zu opponieren denkt. Wohlwird der Wissenssoziologe entgegnen, die Instanz seiner Pla-nung sei nicht Macht, sondern Vernunft, und zu ihr gelte esdie Mächtigen zu bekehren. Indessen sollte man seit den Pla-tonischen Philosophiekönigen gelernt haben, was es mit sol-cher Bekehrung auf sich hat. Wenn Mannheim die Intelligenzfrüher als die freischwebende bestaunte, so wäre dem nichtsowohl mit dem reaktionären Postulat ihrer »Seinsverwurze-lung« zu widersprechen als mit der Erinnerung daran, daßeben die Intelligenz, die frei zu schweben vorgibt, in demgleichen Sein gründlich verwurzelt ist, das es zu veränderngilt und dessen Kritik sie bloß fingiert. Vernünftig heißt ihrdas optimale, nämlich die Katastrophe aufschiebende Funk-tionieren des Getriebes, gleichgültig dagegen, ob es nichtetwa in seiner Totalität die optimale Unvernunft sei. Planendes am Leben zu erhalten, führt in den totalitären Systemenjeglicher Gestalt dazu, die Widersprüche, die es zwangsläufigproduziert, mit barbarischem Druck unter die Oberfläche desgesellschaftlichen Seins zu drängen. Die Advokaten solcherPlanung sprechen die Macht im Namen der Vernunft denenzu, denen sie im Namen der Verblendung ohnehin gehört.Die Macht der Vernunft des Heutigen ist die blinde Vernunftder heute Mächtigen. Wie sie aber der Katastrophe zusteuert,verführt sie den Geist, der sie mit Maß verneint, dazu, vor ihrzu abdizieren. Er nennt sich noch liberal, aber schon ist für

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ihn Freiheit »soziologisch gesehen nichts anderes als eine Dis-proportionalität zwischen dem Wachstum des Wirkradiusder zentral organisierbaren Beeinflussungsmechanismeneinerseits und dem Wachstum des Umfanges der zu beein-flussenden Gruppeneinheit andererseits«. Die Wissenssozio-logie richtet der obdachlosen Intelligenz Schulungslager ein,in denen sie lernen soll, sich selber zu vergessen.

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Spengler nach dem Untergang

Wenn die Geschichte der Philosophie nicht so sehr in derLösung ihrer Probleme besteht als darin, daß die Bewegungdes Geistes jene Probleme wieder und wieder vergessenmacht, um die sie sich kristallisiert, dann ist Oswald Spenglervergessen worden mit der Geschwindigkeit der Katastrophe,in die, seiner eigenen Lehre zufolge, die Weltgeschichte über-zugehen im Begriff ist. Nach einem populären Anfangserfolghat sich die öffentliche Meinung in Deutschland sehr raschgegen den >Untergang des Abendlandes < gekehrt. Die offi-ziellen Philosophen warfen ihm Flachheit vor, die offiziellenEinzelwissenschaften Inkompetenz und Scharlatanerie, undim Betrieb der deutschen Inflations- und Stabilisierungs-periode wollte niemand etwas mit der Untergangsthese zuschaffen haben. Spengler hatte sich mittlerweile durch eineReihe kleinerer Schriften anmaßenden Tones und wohlfeilerAntithetik so exponiert, daß die Ablehnung dem gesundenLebenswillen leicht genug wurde.

Als 1922 der zweite Band des Hauptwerks erschien, fander nicht entfernt mehr die Beachtung des ersten, obwohl ei-gentlich erst in ihm die Untergangsthese konkret entwickeltwurde. Die Laien, die Spengler lasen wie vordem Nietzscheund Schopenhauer, hatten sich mittlerweile der Philosophieentfremdet; die zünftigen Philosophen hielten sich an Hei-degger, der ihrer Verdrossenheit gediegeneren und gehobe-neren Ausdruck verlieh. Er veredelte den von Spengler ohneAnsehen der Person dekretierten Tod und versprach, den Ge-danken daran in ein akademisches Betriebsgeheimnis zu ver-wandeln. Spengler hatte das Nachsehen: seine Broschüre über>Mensch und Technik < war gegenüber den gleichzeitigensmartenphilosophischen Anthropologien nichtmehr konkur-renzfähig. Kaum daß man noch von seinen Beziehungen zuden Nationalsozialisten, seinem Streit mit Hitler und endlichseinem Tod Notiz nahm. In Deutschland war er als Schwarzse-her und Reaktionär, so wie eben die zeitgenössischen Herrensolche Worte brauchten, verfemt, im Ausland galt er als einerder ideologischen Mitschuldigen am Rückfall in die Barbarei.

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All dem gegenüber ist guter Grund, die Frage nach derWahrheit und Unwahrheit Spenglers noch einmal zu stellen.Es hieße ihm zuviel vorgeben, wollte man in der Welt-geschichte, die über ihn hinweg zur neuen Ordnung ihresTages schritt, das Weltgericht erblicken, das über den Wertseiner Gedanken zu entscheiden hat. Dazu ist aber um soweniger Anlaß, als der Gang der Weltgeschichte selber seinenunmittelbaren Prognosen in einem Maße recht gab, das er-staunen müßte, wenn man sich an die Prognosen noch er-innerte. Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht,recht zu behalten. Sein Vergessensein inmitten der Bestäti-gung leiht der Drohung blinder Fatalität, die von seiner Kon-zeption ausgeht, ein objektives Moment. Als einmal die siebendeutschen Fachgelehrten sich zusammentaten, um in derZeitschrift Logos den Outsider zu erledigen, hat ihr phili-ströser Eifer Spott provoziert. Heute gewinnt er einen weni-ger harmlosen Aspekt. Er zeugt von einer intellektuellenOhnmacht, vergleichbar der politischen der Weimarer Re-publik im Angesicht Hitlers. Spengler hat kaum einen Geg-ner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Ver-gessen wirkt als Ausflucht.

Man braucht nur das Buch Manfred Schröters >Der Streitum Spengler < zu lesen, das einen vollständigen Überblick derKritiken bis 1922 bietet, um dessen innezuwerden, wie sehrder deutsche Geist versagte einem Widersacher gegenüber,an den die historische Gewalt der eigenen Vergangenheitgänzlich übergegangen schien. Pedantische Kleinlichkeit imKonkreten, phrasenhaft konformistischer Optimismus in derIdee, dazu oft genug das unfreiwillige Zugeständnis derSchwäche in der Versicherung, so schlimm sei es denn dochnoch nicht um unsere Kultur bestellt, oder in dem sophisti-schen Trick, durch Überspannung des Relativismus Speng-lers relativistische Position selber aufzulösen - das ist alles,was die deutsche Wissenschaft und Philosophie aufbrachtegegen einen Mann, der sie abkanzelte wie der Feldwebel denEinjährig-Freiwilligen. Fast könnte man in der wichtigtueri-schen Hilflosigkeit den geheimen Drang vermuten, demFeld-webel doch endlich zu parieren. Je mehr aber die Welt nachseinem Rhythmus marschierte, um so dringlicher wäre es,dem Sinn jener Sätze sich zu stellen, die ein Schicksal der

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Menschheit proklamiert haben, das mit dem Mord an Millio-nen noch die düstere Prophezeiung seiner selbst überbotenhat. Die Gewalt Spenglers wird sichtbar durch Konfronta-tion einiger seiner Thesen mit den späteren Entwicklungen.Weiter wäre den Kraftquellen nachzuforschen, die einerPhilosophie, deren theoretische und empirische Unzuläng-lichkeiten so offen zutage liegen, trotz allem jene Gewalt ver-liehen. Endlich wäre mit gründlichem Mißtrauen gegen dasThema probandum zu fragen, welche Überlegungen es etwavermöchten, den Spenglerschen ins Auge zu schauen, ohnedie Pose der Kraft und ohne das schlechte Gewissen des offi-ziellen Optimismus.

Um die Gewalt Spenglers zu zeigen, seien zunächst nichtdie allgemeinen geschichtsphilosophischen Grundgedankenvom pflanzenhaften Wachsen und Absterben der Kulturendiskutiert, sondern die Zuspitzung dieser Geschichtsphilo-sophie auf die Spengler zufolge bevorstehende Phase, die ernach Analogie mit der Römischen Kaiserzeit »Cäsarismus«nennt. Die bezeichnendsten Vorhersagen beziehen sich aufFragen der Massenbeherrschung, auf Propaganda, Massen-kunst, dann auf politische Herrschaftsformen, insbesondereauf gewisse Tendenzen der Demokratie; aus sich heraus inDiktatur umzuschlagen. In Übereinstimmung mit SpenglersGesamtauffassung, welche die Wirtschaft nicht als tragendegesellschaftliche Realität, sondern vielmehr als »Ausdruck«eines bestimmt gearteten »Seelentums« visiert, treten dem-gegenüber eigentlich wirtschaftliche Prognosen zurück. DieFrage nach der Vertrustung wird nicht gestellt, so scharf-sichtig auch Spengler die kulturellen Konsequenzen der zu-nehmenden Zentralisierung der Macht sieht. Doch trägt seineEinsicht weit genug, um gewisse triftige ökonomische Kon-sequenzen, zumal in Hinsicht auf das Absterben der Geld-wirtschaft, zu erlauben.

Gedankengänge des zweiten Bandes gelten der Zivilisationim Cäsarismus. Zum Beginn einige Sätze zur »Physiognomikder Weltstädte«.Von ihren Häusern heißt es: »Sie sind über-haupt nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, diePenaten und Laren irgendeine Stätte besitzen, sondern bloßeBehausungen, welche nicht das Blut, sondern der Zweck,nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unterneh-

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mungsgeist geschaffen hat.Solange der Herd dem frommenSinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familieist, solange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht ge-schwunden. Erst wenn auch das verlorengeht und die Masseder Mieter und Schlafgäste in diesem Häusermeer ein irren-des Dasein von Obdach zu Obdach führt, wie die Jäger undHirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig aus-gebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist die Welt. Sie hat nur alsGanzes die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. DieHäuser sind nur die Atome, welche sie zusammensetzen.«Sehr verwandte Gedankengänge waren zu Beginn des Jahr-hunderts ausgeführt in Werner Sombarts Broschüre > Warumgibt es in Amerika keinen Sozialismus ?<.

Die Vorstellung vom späten Städtebewohner als zweitemNomaden verdient, besonders hervorgehoben zu werden.Sie drückt nicht bloß Angst und Entfremdung aus sondernauch die dämmernde Geschichtslosigkeit eines Zustandes, indem die Menschen sich bloß noch als Objekte undurchsichti-ger Prozesse erfahren und, zwischen jähem Schock und jähemVergessen, zur kontinuierlichen Zeiterfahrung nicht mehrfähig sind. Spengler sieht den Zusammenhang von Atomi-sierung und regressivem Menschentypus, wie er im Zeichender totalitären Ausbrüche erst ganz sich enthüllt hat: »Eingrauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohn-heiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, inKellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten,hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte.«

In den »Lagern« jeden Typus, die das Haus nicht mehrkennen, ist jene Regression offenbar geworden. Spenglerweiß wenig von den Bedingungen der Produktion zu sagen,die es dahin gebracht haben. Um so genauer aber sieht er dafürden Bewußtseinszustand, der die Massen außerhalb deseigentlichen Produktionsprozesses, in den sie eingespanntsind, ergreift: jene Phänomene, die man als solche der »Frei-zeit« zu bezeichnen sich gewöhnt hat. »Die intellektuelleSpannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtischeForm der Erholung: die Entspannung, die >Zerstreuung<.Das echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sindaus dem kosmischen Takte geboren und werden in ihremWesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensiv-

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ster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mitBewußtsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigenAnspannung durch die körperliche des Sports, der körper-lichen durch die sinnliche des >Vergnügens < und die geistigeder >Aufregung< des Spiels und der Wette, der Ersatz derreinen Logik der täglichen Arbeit durch mit Bewußtsein ge-nossene Mystik - das kehrt in allen Weltstädten aller Zivili-sationen wieder.«

Spengler steigert den Gedanken zu der These, die Kunstselber werde zum Sport. Er hat weder vom Jazz etwas gewußtnoch vom Quiz. Aber wollte man die wichtigsten Tendenzender gegenwärtigen Massenkunst auf die Formel bringen,keine prägnantere ließe sich angeben als die des Sports, desNehmens rhythmischer Hindernisse, des Wettbewerbs, seies unter den Ausführenden, sei es zwischen Produktion undPublikum. Die Opfer des Zivilisationsbetriebs der Reklame-kultur, nicht die Manipulierenden, trifft Spenglers ganzeVerachtung. »Es entsteht der Typus des Fellachen.«

Dies Fellachentum wird von ihm näher bestimmt als Ent-eignung des Bewußtseins der Menschen durch die zentrali-sierten Mittel der öffentlichen Kommunikation. Er sieht diesenoch im Zeichen der Geldmacht, obwohl er das Ende derGeldwirtschaft ahnt: Geist im Sinne schrankenloser Autono-mie kann es Spengler zufolge nur im Zusammenhang mit derabstrakten Einheit des Geldes geben. Wie immer es sich damitverhalte, seine Beschreibung trifft genau auf die Zuständeunter dem totalitären Regime zu, das ideologisch Geld undGeist gleichermaßen den Krieg erklärt. Es ließe sich sagen,daß er an der Presse Züge gewahrte, die erst das Radio völligausgebildet hat - so wie er gegen die Demokratie Vorwürfeerhebt, die ihr ganzes Gewicht erst gegenüber der Diktaturgewinnen. »Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistes-leben der Volksmassen vollständig durch die Zeitung ver-drängt. Die Bücherwelt mit ihrem Reichtum an Gesichts-punkten, die das Denken zur Auswahl und Kritik nötigte, istnur noch für enge Kreise ein wirklicher Besitz. Das Volk liestdie eine, >seine < Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglichin alle Häuser dringt, die Geister vom frühen Morgen an inihren Bann zieht, durch ihre Anlage die Bücher in Vergessen-heit bringt und, wenn eins oder das andere doch einmal in den

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Gesichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine vorweggenom-mene Kritik ausschaltet.«

Spengler sieht etwas vom Doppelcharakter der Aufklä-rung im Zeitalter universaler Herrschaft. »Mit der politischenPresse hängt das Bedürfnis nach allgemeiner Schulbildungzusammen, das der Antike durchaus fehlt. Es ist ein ganz un-bewußter Drang darin, die Massen als Objekte der Parteipoli-tik dem Machtmittel der Zeitung zuzuführen. Dem Idealistender frühen Demokratie erschien das als Aufklärung ohne Hin-tergedanken, und heute noch gibt es hier und da Schwach-köpfe, die sich am Gedanken der Pressefreiheit begeistern,aber gerade damit haben die kommenden Cäsaren der Welt-presse freie Bahn. Wer lesen gelernt hat, verfällt ihrer Macht,und aus der erträumten Selbstbestimmung wird die späteDemokratie zu einem radikalen Bestimmtwerden der Völkerdurch die Gewalten, denen das gedruckte Wort gehorcht.«

Was Spengler den bescheidenen Pressemagnaten des erstenWeltkrieges zuschreibt, ist ausgereift in der Technik dermanipulierten Pogrome und spontanen Volks kundgebun-gen. »Ohne daß der Leser es merkt, wechselt die Zeitung unddamit er selbst den Gebieter« — das ist im Dritten Reich buch-stäblich in Erfüllung gegangen. Spengler nennt es den »Stildes zwanzigsten Jahrhunderts«. »Ein Demokrat vom altenSchlage würde heute nicht Freiheit für die Presse, sondernvon der Presse fordern, aber inzwischen haben die Führersich in >Angekommene < verwandelt, die ihre Stellung gegen-über der Masse sichern müssen.«

Spengler hat Goebbels prophezeit: »Kein Tierbändigerhat seine Meute besser in der Gewalt. Man läßt das Volk alsLesermasse los, und es stürmt durch die Straßen, wirft sichauf das bezeichnete Ziel, droht und schlägt Fenster ein. EinWink an den Pressestab, und es wird still und geht nachHause. Die Presse ist heute eine Armee mit sorgfältig organi-sierten Waffengattungen, mit Journalisten als Offizieren,Lesern als Soldaten. Aber es ist hier wie in jeder Armee: derSoldat gehorcht blind, und die Wechsel in Kriegsziel undOperationsplan vollziehen sich ohne seine Kenntnis. DerLeser weiß nichts von dem, was man mit ihm vorhat, und solles auch nicht, und er soll auch nicht wissen, welch eine Rolleer damit spielt. Eine furchtbarere Satire auf die Gedankenfrei-

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heit gibt es nicht. Einst durfte man nicht wagen, frei zu den-ken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man willnur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfin-det man als seine Freiheit.«

Nicht minder erstaunlich sind die spezifischen Prognosen.Zunächst die militärische, die im übrigen nicht unbeeinflußtsein mag von gewissen Erfahrungen der deutschen Heeres-leitung während des ersten Weltkriegs, die unterdessen in diePraxis umgesetzt wurden. Spengler hält das »demokratische«Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht samt den aus ihr ent-wickelten taktischen Mitteln für überwunden.

»An Stelle der stehenden Heere werden von nun an allmäh-lich Berufsheere freiwilliger und kriegsbegeisterter Soldatentreten, an Stelle der Millionen wieder die Hunderttausende,aber eben damit wird dieses zweite Jahrhundert« (nach denNapoleonischen Kriegen) »wirklich das der kämpfendenStaaten sein. Das bloße Dasein dieser Heere ist kein Ersatzdes Krieges« (wie es Spengler zufolge im neunzehnten Jahr-hundert der Fall war), »sie sind für den Krieg da, und sie wol-len ihn. In zwei Generationen werden sie es sein, deren Willestärker ist als der aller Ruhebedürftigen. In diesen Kriegenum das Erbe der ganzen Welt werden Kontinente eingesetzt,Indien, China, Südafrika, Rußland, der Islam aufgeboten,neue Techniken und Taktiken gegeneinander ausgespieltwerden. Die großen weltstädtischen Machtmittelpunkte wer-den über die kleineren Staaten, ihr Gebiet, ihre Wirtschaft undMenschen nach Gutdünken verfügen; das alles ist nur nochProvinz, Objekt, Mittel zum Zweck; sein Schicksal ist ohneBedeutung für den großen Gang der Dinge. Wir haben inwenigen Jahren gelernt, Ereignisse kaum noch zu beachten,die vor dem Kriege die Welt hätten erstarren lassen.«

Unterdessen gilt bereits an Auschwitz zu erinnern für lang-weiliges Ressentiment. Keiner gibt mehr etwas fürs Ver-gangene. Was auf das von Spengler so genannte Zeitalter derkämpfenden Staaten folgt, ist seiner Konstruktion zufolgeeine im dämonischen Sinne geschichtslose Zeit: die Tendenzder gegenwärtigen Wirtschaft, unter Eliminierung desMark-tes und der Dynamik der Konkurrenz einen statischen undim eigentlich ökonomischen Sinn »krisenlosen« Zustand un-mittelbarer Verfügung herbeizuführen, kommt mit Speng-

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lers Prognose deutlich genug überein. Mehr und sinnfälligernoch erfüllt sie sich in der Statik der »Kultur«, deren avancier-ten Versuchen seit dem neunzehnten Jahrhundert schon dieGesellschaft Verständnis und eigentliche Rezeption verwei-gert, die unablässige und tödliche Wiederholung des einmalAkzeptierten erzwingend, während die standardisierteMassenkunst vermöge ihrer »gefrorenen« Modelle Ge-schichte ausschließt. Man könnte wohl alle spezifisch mo-derne Kunst als den Versuch betrachten, die Dynamik derGeschichte beschwörend am Leben zu erhalten oder dasGrauen über die Erstarrung zum Schock zu steigern, zurKatastrophe, in der das Geschichtslose jäh den Ausdruck deslang Gewesenen annimmt. Was Spengler den kleineren Staa-ten prophezeit, beginnt sich an den Menschen selber, auchdenen der großen Staaten, und gerade der mächtigsten, zuerfüllen. Darum scheint Geschichte erloschen. Alles Ge-schehende geschieht ihnen, nicht durch sie. Noch den größ-ten strategischen Unternehmungen und Triumphzügen haf-tet ein Zug des Illusionären, nicht ganz Realen an. Seine Er-fahrung hat das amerikanische Wort phony ein für alle Malefestgehalten. Die Ereignisse spielen sich zwischen den Olig-archen und ihren Mordspezialisten ab: sie entspringen nichtaus der Dynamik der Gesellschaft, sondern unterwerfen dieseeiner zur Vernichtung gesteigerten Verwaltung.

Als Objekte der politischen Gewalt begeben sich die Men-schen ihrer Spontaneität: »Seit dem Anbruch der Kaiserzeitgibt es keine politischen Probleme mehr. Man findet sich abmit den Lagen und Gewalten, die vorhanden sind. Strömevon Blut hatten zur Zeit der kämpfenden Staaten dasPflasteraller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten derDemokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu er-kämpfen, ohne die das Leben nicht wert schien, gelebt zuwerden. Jetzt sind diese Rechte erobert, aber die Enkel sindselbst durch Strafen nicht mehr zu bewegen, von ihnen Ge-brauch zu machen.«

Spenglers Prognose der Wesensveränderung der Partei istim Nationalsozialismus radikal bestätigt worden: die Par-teien werden zu »Gefolgschaften«. Seine Charakteristik derPartei, vermutlich von Robert Michels inspiriert, ist von jenerHellsichtigkeit, die der Faschismus so satanisch auszunutzen

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verstand, indem er das Unwahre an einer Humanität, die sichzum Maß der Welt erklärt, ohne verwirklicht zu sein, zurRechtfertigung absoluter Unwahrheit und Inhumanität er-hebt. Er sieht die Zugehörigkeit des Parteiwesens zum bür-gerlichen Liberalismus. »Das Auftreten einer Adelspartei ineinem Parlament ist innerlich ebenso unecht wie das einerproletarischen. Nur das Bürgertum ist hier zu Hause.« Er in-sistiert bei den Mechanismen, die das Parteiwesen in Diktaturumschlagen lassen.

Solche Erwägungen sind der zyklischen Geschichtsphilo-sophie seit der Stoa vertraut. Machiavelli entwickelte den Ge-danken, daß die Verderbtheit demokratischer Institutionenauf die Dauer wieder Diktaturen notwendig mache. AberSpengler, der am Ende der Epoche in gewissem Sinne die Po-sition wiederherstellt, die Machiavelli zu ihrem Beginn ein-genommen hatte, zeigt sich dem frühbürgerlichen Staats-philosphen überlegen durch die Erfahrung der historischenDialektik, deren Namen er an keiner Stelle ausspricht. Ihmentfaltet sich das Prinzip der Demokratie selber vermöge derParteiherrschaft zu seinem Gegenteil.

»Das Zeitalter der echten Parteiherrschaft umfaßt kaumzwei Jahrhunderte und ist für uns seit dem Weltkrieg bereitsin vollem Niedergang begriffen. Daß die gesamte Masse derWählerschaft aus einem gemeinsamen Antrieb heraus Männerentsendet, die ihre Sache führen sollen, wie es in allen Verfas-sungen ganz naiv gemeint ist, war nur im ersten Anlauf mög-lich und setzt voraus, daß nicht einmal die Ansätze zur Orga-nisation bestimmter Gruppen vorhanden sind. So war es1789 in Frankreich, 1848 in Deutschland. Mit dem Daseineiner Versammlung ist aber sofort die Bildung taktischerEinheiten verbunden, deren Zusammenhalt auf dem Willenberuht, die einmal errungene herrschende Stellung zu be-haupten, und die sich nicht im geringsten mehr als Sprachrohrihrer Wähler betrachten, sondern umgekehrt diese mit allenMitteln der Agitation sich gefügig machen, um sie für ihreZwecke einzusetzen. Eine Richtung im Volk, die sich organi-siert hat, ist damit bereits das Werkzeug der Organisation ge-worden, und sie schreitet unaufhaltsam auf ihrem Wege wei-ter, bis auch die Organisation das Werkzeug der Führer ge-worden ist. Der Wille zur Macht ist stärker als alle Theorien.

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Am Anfang entsteht die Führung und der Apparat des Pro-gramms wegen; dann werden sie von den Inhabern um derMacht und Beute willen verteidigt, wie es heute schon ganzallgemein der Fall ist, wo in allen Ländern Tausende von derPartei und den von ihr vergebenen Ämtern und Geschäftenleben, und endlich verschwindet das Programm aus der Er-innerung, und die Organisation arbeitet für sich allein.«

Zugespitzt auf Deutschland, in Voraussicht der Jahre derMinderheitsregierungen, die Hitler in den Sattel halfen: »Diedeutsche Verfassung von 1919, also schon an der Schwelleder absteigenden Demokratie entstanden, enthält in allerNaivität eine Diktatur der Parteimaschinen, die sich selbstalle Rechte übertragen haben und niemand ernsthaft verant-wortlich sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und dieReichsliste sichern ihnen die Selbstergänzung. Statt derRechte des >Volkes<, wie sie die Verfassung von 1848 derIdee nach enthielt, gibt es nur solche der Parteien, was harm-los klingt, aber den Cäsarismus der Organisation in sichschließt. In diesem Sinne ist sie allerdings die fortgeschritten-ste Verfassung des Zeitalters; sie läßt das Ende bereits er-kennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie verleiht ein-zelnen die unumschränkte Gewalt.«

Spengler fühlt vor, wie der Gang der Geschichte die Men-schen Idee und Wirklichkeit der eigenen Freiheit vergessenmacht. »Diese abstrakten Ideale besitzen eine Macht, die sichkaum über zwei Jahrhunderte - die der Parteipolitik - er-streckt. Sie werden zuletzt nicht etwa widerlegt, sondern lang-weilig. Rousseau ist es längst, und Marx wird es in kurzemsein. Man gibt endlich nicht diese oder jene Theorie auf, son-dern den Glauben an Theorien überhaupt und damit denschwärmerischen Optimismus des achtzehnten Jahrhunderts,unzulängliche Tatsachen durch Anwendung von Begriffen ver-bessern zu können.« - »Niemand sollte sich darüber täuschen,daß das Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht.«

Die Prognose vom Absterben der Denkkraft kulminiert imDenkverbot, das sich mit der Unausweichlichkeit des Ge-schichtsverlaufs zu legitimieren trachtet.

Damit ist aber zugleich der archimedische Punkt desSpenglerschen Entwurfs erreicht. Seine geschichtsphiloso-phische Behauptung vom Absterben des Geistes und die

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denkfeindlichen Konsequenzen, die daraus folgen, beziehensich nicht bloß auf die Phase der »Zivilisation«, sondern sindGrundbestände der Spenglerschen Ansicht vom Menschenschlechthin. »Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachengibt es nur in bezug auf das Leben. Historische Betrachtung,in meiner Ausdrucksweise physiognomischer Takt: das istdie Entscheidung des Blutes, die auf Vergangenheit und Zu-kunft erweiterte Menschenkenntnis, der angeborene Blickfür Personen und Lagen, für das, was Ereignis, was notwen-dig war, was dagewesen sein muß, und nicht die bloße wissen-schaftliche Kritik und Kenntnis von Daten.«

Entscheidend dabei ist der Begriff der Menschenkenntnisund seine Verkopplung mit der unterdessen zu sich selbst,dem verkündeten Grauen gekommenen Ideologie des Blutes.Dahinter steht implizit die Machiavellische Annahme von derUnveränderlichkeit der Menschennatur, die man nur einfür allemal, nämlich in ihrer Nichtswürdigkeit, zu kennenbrauchte, um ein für allemal, in der Erwartung des Immer-gleichen, über sie verfügen zu können. Menschenkenntnis imprägnanten Sinn heißt Menschenverachtung: so sind sie nuneinmal. Das leitende Interesse der Betrachtung ist das der Be-herrschung. Auf sie sind sämtliche Kategorien zugeschnitten.Bei den Herrschern liegt alle Sympathie, und der Geschichts-philosoph der Desillusion kann schwärmen wie nur einer dervon ihm hartnäckig verhöhnten Pazifisten, wenn er auf dievermeintlich ungeheure Intelligenz und den stahlharten Wil-len moderner Wirtschaftsführer zu sprechen kommt. Das ge-samte Bild der Geschichte wird am Ideal der Herrschaft ge-messen. Die Wahlverwandtschaft mit ihr verleiht Spenglerden tiefsten Blick, wann immer es sich um Potentialitäten vonHerrschaft handelt, und verblendet ihn mit Haß, sobald erRegungen begegnet, die über die bisherige Geschichte alsGeschichte von Herrschaftsverhältnissen hinausgehen. DieTendenz der idealistischen deutschen Systeme, die großenAllgemeinbegriffe zu Fetischen zu erheben und ihnen unge-rührt das Opfer der einzelmenschlichen Existenz in der Theo-rie zu bringen — jene Tendenz, der Schopenhauer, Kierke-gaard und Marx an Hegel widersprachen -, ist bei Spenglerzur unverhohlenen Freude an den tatsächlichen Menschen-opfern gesteigert. Wo Hegels Geschichtsphilosophie in star-

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rer Trauer von der Schlachtbank der Geschichte redet, siehtSpengler nichts als Tatsachen, die man zwar, nach Tempera-ment und Anlage, bedauern könne, um die sich aber besser dernicht bekümmere, der sich in Komplizität mit der historischenNotwendigkeit befindet und dessen Physiognomik es mitden stärkeren Bataillonen hält. In seiner unbefangenen Kritiksagt James Shotwell in den >Essays in Intellectual History <:«Spenglers Interesse richtet sich auf das große und tragischeDrama, das er schildert, und er verschwendet nicht viel mü-ßige Sympathie auf die Opfer der wiederkehrenden Nacht.«Im grandios verfügenden Gestus der Spenglerschen Be-griffswahl, die mit Kulturen umspringt wie mit bunten Stei-nen und Schicksal, Kosmos, Blut, Geist in vollendeter Gleich-gültigkeit, wie das Naziwort hieß, »einsetzt« - darin sprichtselber das Motiv der Herrschaft sich aus. Wer alles Erschei-nende blank auf die Formel »alles schon dagewesen« abzieht,übt eben dadurch ein Gewaltregime der Kategorien aus, nurallzu nahe verwandt dem politischen, dem Spenglers Enthu-siasmus gilt. Er siedelt die Geschichte in den Sparten seinesGroßplans an, wie Hitler die Minderheiten von einem Landeins andere verschob. Am Ende geht die Rechnung auf. Allesist eingeordnet, und liquidiert sind die Widerstände, die alle-mal nur beim Unerfaßten liegen. So unzulänglich die einzel-wissenschaftliche Kritik an Spengler gewesen sein mag, hierhat sie ihre Wahrheit. Der Fata Morgana der historischenGroßraumwirtschaft entzieht sich bloß das Einzelne, an des-sen Starrsinn die befehlshaberische Subsumtion ihre Grenzeerreicht. Zeigt Spengler einer detaillistischen Einzelwissen-schaft sich überlegen durch Perspektive und Großzügigkeitder Kategorien, so ist er unterlegen zugleich durch eben dieseGroßzügigkeit, die erreicht wird, indem er die Dialektik vonBegriff und Einzelheit niemals ehrlich austrägt, sondern um-geht durch einen Schematismus, der sich der »Tatsache« ge-nerell und ideologisch zur Niederschmetterung des Gedan-kens bedient, ohne ihr jemals mehr als den ersten zuordnen-den Blick zu widmen. In Spenglers welthistorischer Perspek-tive steckt ein Element von Ostentation und Aufgeblasen-heit, nicht unähnlich dem Geist der Wilhelminischen Sieges-allee : nur wenn die Welt sich in eine Siegesallee verwandelt,nimmt sie die Gestalt an, die er ihr wünscht. Der Aberglaube,

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daß die Größe einer Philosophie an ihren grandiosen Aspek-ten haftet, ist schlechtes idealistisches Erbe; etwa wie wenndie Qualität eines Bildes von der Erhabenheit seines Sujetsabhinge. Große Themen sagen nichts über die Größe der Er-kenntnis. Wenn das Wahre, wie Hegel es will, das Ganze ist,so ist es doch das Wahre nur, wenn die Kraft des Ganzen völ-lig in die Erkenntnis des Besonderen eingeht.

Nichts davon bei Spengler. Nirgendwo offenbart ihm dasBesondere, wessen die tabellarische Übersicht seiner verglei-chenden Kulturmorphologie ihn nicht vorher schon ver-sichert hätte. Seine Methode nennt sich stolz Physiognomik.In Wahrheit ist sein physiognomisches Denken an den tota-len Charakter der Kategorien gebunden. Alles Einzelne undnoch das Entlegene wird zur Chiffre des Großen, der »Kul-tur«, weil die Welt so lückenlos gedacht ist, daß für nichtsRaum bleibt, was nicht seinem Wesen nach spannungslos mitjenem Großen identisch wäre. Es liegt darin ein Element vonWahrheit, insofern als die herrschaftlich organisierte Gesell-schaft je und je in der Tat zu Totalitäten zusammenschießt,die dem Einzelnen keine Freiheit lassen: Totalität ist ihre lo-gische Form. Spenglers Physiognomik hat das Verdienst,den Blick aufs »System« im einzelnen auch dort noch freizu-legen, wo es mit einer Freiheit sich gibt, hinter der doch bloßdie universale Abhängigkeit sich verbirgt. Aber dies Ver-dienst wird wettgemacht dadurch, daß die Insistenz auf deruniversalen Abhängigkeit der einzelnen Momente vom Gan-zen, als eine Abhängigkeit der Ausdruckscharaktere von derTotalität der Kultur, in ihrer abstrakten Weite die konkretenund scharf differenzierten Abhängigkeiten verschwindenmacht, die über das Leben der Menschen entscheiden. Darumspielt Spengler die Physiognomik gegen die Kausalität aus.Wenn der Typus des passiv reagierenden Massenmenschen,den Spengler beschreibt, kausalitätslos auf der gleichenEbeneerscheint wie die Konzentration der Macht, die doch alsSchlüsselkategorie des »Systems« und durchs System hin-durch den Massenmenschen erst produziert und reproduziert,dann wird es möglich, gesellschaftliche Abhängigkeitsver-hältnisse aufs Schicksal und den Stundenschlag der Kultur-phasen zu nivellieren und wohl gar dem ohnmächtigen Mas-senmenschen metaphysisch die Schmach aufzubürden, die

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ihm historisch von den Cäsaren angetan wird. Der physio-gnomische Blick verliert sich, indem er die Phänomene denwenigen Schlagzeilen der Invarianten zurechnet. Anstatt sichin die Ausdruckscharaktere der Phänomene zu versenken,beeilt sich Spengler, die lieblos zusammengerafften mit grellerReklameschrift loszuschlagen.

Die Einzelwissenschaften werden von oben herab durch-mustert zum Zweck des Ausverkaufs. Wollte man Spenglerselbst in der Formensprache der von ihm denunzierten Zivi-lisation und in seiner Manier benennen, so müßte man den»Untergang des Abendlandes« einem Warenhaus vergleichen,wo die getrockneten Lesefrüchte feilgeboten werden, die derintellektuelle Disponent von der Konkursmasse der Kulturbillig zusammengerafft hat. Darin steckt der erbitterte, res-sentimenterfüllte Drang des mittelständlerischen deutschenGelehrten, den Schatz seines Wissens endlich in Kapital zuverwandeln und in den meistversprechenden Zweigen derWirtschaft - damals der Schwerindustrie - zu investieren.Die Erkenntnis von der Hilflosigkeit der liberalen Intellektu-ellen unterm Schatten der heraufziehenden totalitären Machtläßt ihn zum Überläufer werden. Durch Selbstdenunziationmacht der Geist sich tauglich, anti-ideologische Ideologienzu liefern. Hinter der Spenglerschen Proklamation des Un-tergangs der Kultur steht der Wunsch als Vater des Gedan-kens. Der Geist, der sich verneint und auf die Seite der Ge-walt stellt, hofft auf Pardon. Lessings Diktum vom Klugen,der klug genug war, nicht klug zu sein, erfüllt sich an Speng-ler.Die Einleitung zum Untergang des Abendlandes enthälteinen Satz, der berühmt werden sollte: »Wenn unter dem Ein-druck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation derTechnik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Poli-tik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ichwünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.«

Man mag sich nach dem Satz die Persönlichkeiten vorstel-len, zu denen er respektvoll blinzelnd gesprochen ist. Speng-ler weiß sich mit ihnen einig in der Überzeugung, daß es Zeitist, den jungen Leuten die Mucken endgültig auszutreiben.Es sind die gleichen Persönlichkeiten, die sich später auf Real-politik beriefen. In der Wut auf Bilder, Gedichte und Philo-sophie meldet sich die tiefe Angst, daß in jenem von Spengler

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mit schauderndem Entzücken geschilderten »geschichtslo-sen« Zustand, wo es keine »politischen Probleme« und viel-leicht selbst keine Ökonomie mehr gibt, die Kultur, wenn sienicht rechtzeitig untergeht, aufhören könnte, die harmloseFassade zu sein, die Spengler herunterschlagen möchte: daßsie die Widersprüche denunziert, die im reglementierten Un-terbau keine Stätte mehr haben. Die offiziell in den faschisti-schen Ländern gelieferte Kultur bewirkte Gelächter und Un-glauben bei den von ihr Betroffenen, und viel Oppositionfand ihre Zuflucht bei Büchern, in Kirchen und in den Thea-terstücken der Klassiker, die man tolerierte, weil sie so klas-sisch sind, und die als tolerierte aufhörten, es zu sein. Speng-lers Verdikt trifft unterschiedslos die offizielle Kultur und ihrGegenteil: Expressionismus und Kino stehen im gleichenSatz. Die Undifferenziertheit des Verdikts stimmt genau zurVerfassung der Machthaber in den Diktaturstaaten, die dieeigenen Lügen verachten, die Wahrheit hassen und erst ruhigschlafen können, wenn keiner mehr zu träumen wagt.

Dem einzelwissenschaftlichen Widerstand steht Spenglergemeinhin, und zumal in den angelsächsischen Ländern, vorAugen als ein Metaphysiker, der mit der Willkür seiner Be-griffskonstruktion die Realität vergewaltigt. Nächst den Idea-listen, die von ihm den Fortschritt im Bewußtsein der Frei-heit verleugnet fühlen, fand er kaum gereiztere Gegner alsdie Positivisten. Kein Zweifel, daß seine Philosophie derWelt Gewalt antut. Aber es ist dieselbe Gewalt, die ihr täg-lich in Wirklichkeit angetan wird. Geschichte, so quicken Le-bens voll, daß ihr der Fortschritt zu mechanistisch war,scheint dafür um so williger nach dem Spenglerschen Be-griffsschema zu erfrieren. Ob eine Philosophie metaphysischoder positivistisch ist, läßt sich ihr nicht auf den ersten Blickansehen. Zuweilen sind die Metaphysiker bloß weiterblik-kende oder weniger verängstigte Positivisten. Ist Spenglerüberhaupt der Metaphysiker, als den er und seine Feinde ihnbetrachteten? Bleibt man formal beim Übergewicht der Be-griffsbildung über den empirischen Inhalt, der Schwierigkeitoder Unmöglichkeit der Verifikation und den grob irrationa-listischen Hilfsbegriffen seiner Erkenntnistheorie stehen, soist er es gewiß. Geht man aber der Substanz dieser Begriffenach, so führen sie allemal auf positivistische Desiderate; ins-

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besondere auf den Kult der »Tatsache«. Spengler läßt keineGelegenheit vorübergehen, ohne die Wahrheit, welchen Sin-nes auch immer, zu verlästern und das, was nun einmal so undnicht anders ist, was registriert und akzeptiert werden muß,zu glorifizieren. ». . . Aber in der geschichtlichen Wirklich-keit gibt es keine Ideale; es gibt nur Tatsachen. Es gibt keineGründe, keine Gerechtigkeit, keinen Ausgleich, kein End-ziel; es gibt nur Tatsachen - wer das nicht begreift, derschreibe Bücher über Politik, aber er mache keine Politik.«

Die essentiell kritische Einsicht von der Ohnmacht derWahrheit in der bisherigen Geschichte, von der Übermachtdes bloß Seienden über alle Versuche, durch Bewußtsein ausdessen Kreis auszubrechen, wird unvermerkt für Spenglerzur Rechtfertigung des bloß Seienden selber. Daß was ist,was Macht hat und was sich durchsetzt, doch unrecht habenkönnte, ist ein Gedanke, der ihm nicht beikommt oder viel-mehr einer, den er sich und anderen krampfhaft verbietet.Wut ergreift ihn, wann immer die Stimme der Ohnmacht lautwird, und doch hat er dieser nichts zu entgegnen, als daß sieeben ein für allemal ohnmächtig sei. Hegels Lehre von derVernünftigkeit des Wirklichen entartet zur Karikatur. DasHegeische Pathos des sinnvollen Wirklichen und der Spottgegen den Weltverbesserer wird festgehalten, während zu-gleich das nackte Herrschaftsdenken der Wirklichkeit denAnspruch auf Sinn und Vernunft raubt, in dem das HegelschePathos allein gründet. Vernunft und Unvernunft der Ge-schichte sind für Spengler das gleiche, reine Herrschaft, undTatsache ist, worin diese sich manifestiert.

Nietzsche, dessen herrischen Ton Spengler unablässignachahmt, ohne auch nur einmal wie Nietzsche vom Einver-ständnis mit der Welt sich loszusagen, sagt an einer Stelle,Kant habe die Vorurteile des gemeinen Mannes gegen dieWissenschaft mit deren Mitteln verteidigt. Etwas Ähnlichesgilt für Spengler. Er hat den Tatsachenglauben und die Füg-samkeit des Positivismus gegen die kritischen Widerständeder Metaphysik mit deren eigenen Waffen verfochten; er hat,ein zweiter Comte, aus dem Positivismus eine Metaphysik ge-macht, aus der Unterordnung unter das Seiende die Liebezum Schicksal, aus dem Mit-dem-Strom-Schwimmen denkosmischen Takt, aus der Sinnlosigkeit das Geheimnis, aus

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der Verleugnung der Wahrheit die Wahrheit. Daher seineGewalt.

Spengler zählt zu jenen Theoretikern der extremen Reak-tion, deren Kritik des Liberalismus der progressiven sich invielen Stücken überlegen zeigte. Es lohnte die Mühe zu un-tersuchen, warum. Entscheidend sind die Differenzen im Ver-hältnis zur Ideologie. Die liberale erschien der historisch-dia-lektischen Kritik weithin als falsche Versprechung. Ihre Spre-cher haben nicht die Ideen der Menschlichkeit, Freiheit, Ge-rechtigkeit in Frage gestellt, sondern den Anspruch der bür-gerlichen Gesellschaft, die Verwirklichung dieser Ideen dar-zustellen. Ihnen waren die Ideologien Schein, aber doch derSchein der Wahrheit. Versöhnender Abglanz fiel damit wennnicht aufs Bestehende, so zumindest auf dessen »objektiveTendenzen«. Die Rede vom Anwachsen der Antagonismenund das Zugeständnis der aktuellen Möglichkeit des Rückfallsin die Barbarei wurden kaum so ernst genommen, daß mandie Ideologien als Schlimmeres denn apologetische Verhül-lungen, nämlich als den objektiven Widersinn, erkannt hätte,der dazu hilft, die Gesellschaft der liberalen Konkurrenz in dieder unmittelbaren Unterdrückung zu verwandeln. Die Frageetwa, wie gerade jene das Bestehende verändern sollten, diedessen ganze Last zu tragen haben, ist kaum gestellt worden.Begriffe wie die der Masse und der Kultur blieben positiv hin-genommen, ohne daß man auch bloß ihrer Dialektik innege-worden wäre oder gar des Produziert-Werdens der spezifi-schen Kategorie Masse im gegenwärtigen Stadium der Ge-sellschaft und der gleichzeitigen Verwandlung der Kulturin ein Kontrollsystem. Daß vollends sogar die »Ideen« inihrer abstrakten Gestalt nicht bloß die regulative Wahrheitdarstellen, sondern selber an dem Unrecht kranken, unterdessen Bann sie gedacht sind, kam nicht zum Bewußtsein.

Man hatte es rechts um so viel leichter, die Ideologien zudurchschauen, als man sich an der Wahrheit desinteressierte,die in falscher Form in den Ideologien enthalten ist. WemFreiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit nichts als einSchwindel sind, den sich die Schwachen zum Schutz vor denStarken ausgedacht haben - und darin folgten die Theore-tiker der deutschen Reaktion meist Nietzsche -, der vermages recht wohl, als Anwalt der Starken auf den Widerspruch zu

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deuten, der zwischen jenen vorweg schon verkümmertenIdeen und der Realität gilt. Die Kritik an den Ideologienüberschlägt sich. Sie lebt von der Verschiebung der Einsichtin die schlechte Wirklichkeit auf die Schlechtigkeit der Ideen,die damit bewiesen sein soll, daß sie nicht verwirklicht sind.Was dieser eingängigen Kritik gleichwohl ihre Erkenntnis-kraft verleiht, ist ihr tiefes Einverständnis mit den Mächten,die sich durchsetzen. Spengler und seinesgleichen sind weni-ger die Propheten des Zuges, den der Weltgeist nimmt, alsseine beflissenen Agenten.

In der Form der Prognose bereits steckt das Verfügen überdie Menschen als Außer-Kraft-Setzen ihrer selbst. Die Theo-rie, die alles von den Menschen und ihrer Aktion erwartet,die nicht mehr mit politischen »Kräfteverhältnissen« rechnet,sondern dem »Kräftespiel« ein Ende bereiten will, prophezeitnicht. Spengler sagt, es käme darauf an, in der Geschichte inweitestem Maße mit Unbekannten zu rechnen. Die Unbe-kannten der Menschheit sind aber gerade das, womit sichnicht rechnen läßt. Die Geschichte ist keine Gleichung, keinanalytisches Urteil. Die Auffassung, sie sei das, schließt vor-weg die Möglichkeit des Anderen aus. Die Spenglersche Vor-hersage der Geschichte mahnt an die Mythen von Tantalusund Sisyphus und an die Sprüche des Orakels, die von altersher Böses verkünden. Er ist mehr ein Wahrsager als ein Pro-phet. In der gigantischen und destruktiven Wahrsagerei tri-umphiert der Kleinbürger.

Die Morphologie der Weltgeschichte dient dem gleichenZweck wie die Graphologie bei Klages. Im Wunsch desKleinbürgers, aus der Handschrift, dem Vergangenen undden Karten sein Schicksal sich vorhersagen zu lassen, steckteben, was Spengler den Opfern hämisch ankreidet: der Ver-zicht auf bewußte Selbstbestimmung. Er identifiziert sich mitder Macht, aber seine Theorie verrät durch ihre wahrsage-rische Gestalt zugleich die Ohnmacht der Identifikation. Erist seiner Sache so sicher wie ein Henker, nachdem die Richterihren Urteilsspruch gefällt haben. In der geschichtsphiloso-phischen Weltformel verewigt sich nicht bloß die fremde,sondern auch die eigene Schwäche.

Vielleicht erlaubt solche Charakteristik von SpenglersDenkweise einige prinzipiellere Überlegungen zu seiner Kri-

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tik. Positivistisch ist seine Metaphysik im sich Bescheiden beidem, was nun einmal so und nicht anders ist; im Abschneidender Möglichkeit, im Haß gegen ein Denken, dem es mit demMöglichen gegen das Wirkliche ernst sein könnte. Dieser Po-sitivismus ist nun an einer entscheidenden Stelle von Speng-ler durchbrochen - so sehr, daß einige seiner theologischenRezensenten ihn schließlich geradezu als Bundesgenossenglaubten reklamieren zu dürfen. Das ist Spenglers Auffas-sung von der bewegenden Kraft der Geschichte, vom »See-lentum«: von der rätselhaften, durchaus innerlichen, uner-klärlich jeweils in die Geschichte eintretenden Beschaffen-heit eines besonderen Typus Mensch oder, wie Spengler esgelegentlich nennt, einer »Rasse«.

Allem Tatsachenglauben, aller relativistischen Skepsiszum Trotz wird ein metaphysisches Prinzip zur letzten Er-klärung der historischen Dynamik herangezogen; ein Prin-zip, das, wie Spengler oft versichert, dem EntelechiebegriffLeibnizens und damit Goethes nächstverwandt sei, »ge-prägte Form, die lebend sich entwickelt«. Diese Metaphysikder pflanzenhaft sich entfaltenden und absterbenden Kollek-tivseele hat Spengler in die Nachbarschaft der Lebensphilo-sophen, außer Nietzsches Simmels und des von ihm ver-ketzerten Bergson, gerückt. Dem Taktiker Spengler ist dieRede von Seele und Leben ein willkommenes Hilfsmittel,einen Materialismus flach zu schelten, dem er doch in Wahr-heit nur darum grollt, weil er ihm nicht positivistisch genugist und die Welt anders haben möchte, als sie ist.

Aber die Metaphysik des Seelentums hat weiterreichendeKonsequenzen als die taktische. Man möchte von einer laten-ten Identitätsphilosophie reden. Weltgeschichte, so ließeübertreibend sich sagen, wird zur Stilgeschichte: die histo-rischen Schicksale der Menschheit sind so sehr das Produktihrer Innerlichkeit wie die Kunstwerke. Der Mann der Tat-sachen verkennt den Anteil der Lebensnot an der Geschichte.Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, wiesie die Tendenz der Naturbeherrschung hervorbringt, diesich dann in der Beherrschung von Menschen durch andereMenschen fortsetzt, tritt im Untergang des Abendlandesnicht ins Blickfeld. Spengler sieht nicht, wie sehr die histo-rische Fatalität, auf die alles Licht der Betrachtung fällt, aus

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dem Zwang der Auseinandersetzung mit der Natur hervor-geht. Er ästhetisiert das Bild der Geschichte. Die Wirtschaftwird ihm eine »Formenwelt« ganz wie die Kunst; eineSphäre reinen Ausdrucks der so und nicht anders geartetenSeele, die im wesentlichen unabhängig von der Forderungnach der Reproduktion des Lebens sich konstituiere.

Kein Zufall, daß Spenglers Verständnis ökonomischerVorgänge hilflos dilettantisch bleibt. Er spricht von der All-macht des Geldes im gleichen Tone, in dem ein kleinbürger-licher Agitator gegen die Weltverschwörung der Börse los-zieht. Er verkennt, daß für die Wirtschaft stets die Produk-tion maßgebend ist und nicht das Tauschmittel. Er ist so fas-ziniert von der Geldfassade, von der »Symbolkraft« des Gel-des, daß er darüber das Symbol zur Sache selbst macht. Ersagt selbst den Arbeiterparteien in eklatantem Widerspruchzu allen Programmen nach, sie wollten die Geldwerte nichtüberwinden, sondern besitzen. Sklavenwirtschaft, Industrie-proletariat, Maschinenwirtschaft sind bei ihm als Kategoriennicht prinzipiell verschieden von der Plastik, der musikali-schen Polyphonie oder der Infinitesimalrechnung. Sie ver-flüchtigen sich zu Zeichen eines bloß Inwendigen. Währenddie Querverbindungen zwischen den heterogenen Katego-rien von Realität und Bild oftmals die Einheit historischerEpochen überraschend ins Licht setzen, entfällt dafür alles,was nicht frei und autonom dem menschlichen Ausdrucks-vermögen angehört. Nur in vagen Reden von kosmischenZusammenhängen überlebt bei Spengler, was sich nicht alsSymbol auf die von ihm trotz allem Fatalismus mit Souverä-nität ausgestattete Menschennatur reduzieren läßt.

So verstellt die schicksalsverfallene Welt der Spengler-schen Geschichtskonzeption sich in ein Reich der Freiheit.Aber sie scheint es bloß. Es bildet sich eine höchst paradoxeKonstellation. Gerade dadurch, daß ihm alles Auswendigezum Bild des Inwendigen wird, und daß es bei ihm zu einemeigentlichen Prozeß zwischen Subjekt und Objekt überhauptnicht mehr kommt, scheint die Welt organisch aus der See-lensubstanz zu erwachsen wie die Pflanze aus dem Samen.Die Geschichte nimmt durch ihre Reduktion auf das WesenSeele einen bruchlos gestalthaften, in sich geschlossenen, da-mit aber erst recht deterministischen Charakter an. Karl Joel

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erklärt es in seiner Kritik im Spengler-Sonderheft des >Lo-gos< für »die ganze Krankheit dieses bedeutsamen Buches,daß es den Menschen vergessen hat mit seinem Schaffen undseiner Freiheit. Bei aller Verinnerlichung entmenschlicht esdie Geschichte zu einem Ablauf typischer Naturprozesse, beialler Durchseelung verleiblicht es die Geschichte, indem esihre >Morphologie< oder >Physiognomik< liefern will, alsoihre äußeren Gestalten, ihre Ausdrucksformen, die Sonder-züge ihrer Erscheinungen vergleichen will«.

Nicht bei aller Verinnerlichung jedoch wird die Geschichteentmenschlicht, sondern gerade vermöge ihrer Verinnerli-chung. Natur, mit der die Menschen in der Geschichte sichauseinanderzusetzen haben, wird von Spenglers Philosophiesouverän beiseite geschoben. Dafür verwandelt sich Ge-schichte selber in zweite Natur, blind, auswegslos und ver-hängnisvoll wie nur je das vegetabilische Leben. Was manFreiheit des Menschen nennen mag, konstituiert sich bloß inden menschlichen Versuchen, den Naturzwang zu brechen.Wird dieser ignoriert, wird die Welt zu einem bloßen Ge-bilde des reinen Menschenwesens gemacht, so geht in solcherAllmenschlichkeit der Geschichte Freiheit verloren. Sie ent-faltet sich bloß am Widerstand des Seienden: wird sie absolutgesetzt und das Seelentum zum herrschenden Prinzip erhöht,so verfällt es selber dem bloßen Dasein.

Die Hybris des Spenglerschen Geschichtsbildes und dieErniedrigung des Menschen, die er betreibt, sind in Wahr-heit identisch. Kultur heißt nicht, wie bei Spengler, das Le-ben sich entfaltender Kollektivseelen, sondern entspringt imKampf der Menschen um die Bedingungen ihrer Reproduk-tion.Damit enthält die Kultur ein Element des Widerspruchsgegen die blinde Notwendigkeit: den Willen, sich selbst zubestimmen aus Erkenntnis. Spengler reißt die Kultur los vonjenem Drang der Menschheit zu überleben. Sie wird ihm zueinem Spiel der Seele mit sich selber. Das Phantasma der Kul-tur aus bloßer Innerlichkeit aber setzt er gleich mit den re-alen historischen Kräften - ja mit den naturwüchsigen Kräf-ten, weil die anderen ausgelassen sind, samt der Realität, ander sie erst sich erproben könnten.

Damit aber tritt gerade der Spenglersche Idealismus in denDienst der Machtphilosophie. Die Kultur wird der Herr-

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schaft ganz immanent; der Prozeß, der aus bloßer Innerlich-keit entspringt und in bloße Innerlichkeit notwendig sich zu-rücknimmt, zum Schicksal, und Geschichte zersetzt sich zujener Zeitlosigkeit im ziellosen Auf und Nieder der Kulturen,die Spengler den späten Zivilisationen nachsagt und die denGrund seines eigenen Weltplans ausmacht. Das Element anKultur, das der Naturbefangenheit widersteht, wird eskamo-tiert. Reines Seelentum und reine Herrschaft sind das gleiche,so wie bei Spengler die Seele gewalttätig und unerbittlichihre eigenen Träger beherrscht. Die reale Geschichte ver-klärt sich ideologisch zur Seelengeschichte, nur damit dasAntithetische, sich Auflehnende am Menschen, sein Bewußt-sein, der blinden Notwendigkeit um so vollkommener ver-fällt. Spengler hat die Affinität von absolutem Idealismus -die Lehre vom Seelentum ist Schellingsches Erbe — und dä-monischer Mythologie ein letztes Mal unter Beweis gestellt.An manchen exzentrischen Punkten läßt seine mythische Be-fangenheit sich mit Händen greifen. Die regelhafte Periodizi-tät gewisser Ereignisse, heißt es in einer Fußnote des zweitenBandes, »deutet wieder daraufhin, daß die kosmischen Flu-tungen in Gestalt des menschlichen Lebens an der Ober-fläche eines kleinen Gestirns nichts irgendwie für sich Be-stehendes sind, sondern mit dem unendlichen Bewegtsein desAlls in tiefem Einklang stehen. In einem kleinen, merkwür-digen Buch: R. Mewes, >Die Kriegs-und Geistesperioden imVölkerleben und Verkündigung des nächsten Weltkrieges <(1896), ist die Verwandtschaft dieser Kriegsperioden mitPerioden der Witterung, der Sonnenflecken und gewisserPlanetenkonstellationen festgestellt und daraufhin ein großerKrieg für 1910-1920 angesetzt worden. Aber diese und zahl-lose ähnliche Zusammenhänge, die in den Bereich unsererSinne treten, bergen ein Geheimnis, das wir zu ehren haben.«

Spengler, bei all seinem Hohn für zivilisatorische Mystik,kommt in solchen Formulierungen dem astrologischen Aber-glauben überaus nahe. So endet die Verherrlichung der Seele.

Die Wiederkehr des Immergleichen, in der solche Schick-salslehre terminiert, ist aber nichts anderes als die immer-währende Reproduktion der Schuld von Menschen gegenMenschen. Im Begriff des Schicksals, der den Menschen sel-ber blinder Herrschaft unterstellt, reflektiert sich die Herr-

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schaft, die Menschen ausüben. Sooft Spengler von Schicksalredet, handelt es sich um die Unterwerfung einer Gruppe vonMenschen durch andere. Die Seelenmetaphysik tritt zum Po-sitivismus hinzu, um das Prinzip der unablässig sich reprodu-zierenden Herrschaft als ewig und unausweichlich zu hypo-stasieren. Die Unausweichlichkeit des Schicksals ist in Wahr-heit definiert durch Herrschaft und Ungerechtigkeit selber,und das vertuscht Spenglers Weltordnung. Gerechtigkeit trittbei ihm als verpönter Gegenbegriff zu dem des Schicksals auf.An einer der brutalsten Stellen, einer unfreiwilligen Parodieauf Nietzsche, beklagt er, »daß das Weltgefühl des Rassemäßi-gen, der politische und deshalb nationaleTatsachensinn-rightor wrong, my country! -, der Entschluß, Subjekt und nichtObjekt der historischen Entwicklung zu sein —denn etwasDrittes gibt es nicht -, kurz, der Wille zur Macht durch eineNeigung überwältigt wird, deren Führer sehr oft Menschenohne ursprüngliche Triebe, aber desto mehr auf Logik verses-sen sind, in einer Welt der Wahrheiten, Ideale und Utopien zuHause, Büchermenschen, welche das Wirkliche durch das Lo-gische, die Gewalt derTatsachen durch eine abstrakte Gerech-tigkeit, das Schicksal durch die Vernunft ersetzen zu könnenglauben. Es fängt an mit den Menschen der ewigen Angst,die sich aus der Wirklichkeit in Klöster, Denkerstuben undgeistige Gemeinschaften zurückziehen und die Weltgeschich-te für gleichgültig erklären, und endet in jeder Kultur bei denAposteln des Weltfriedens. Jedes Volk bringt solchen - ge-schichtlich betrachtet-Abfall hervor. Schon die Köpfe bildenphysiognomisch eine Gruppe für sich. Sie nehmen in der>Geschichte des Geistes < einen hohen Rang ein-eine langeReihe berühmter Namen ist darunter -, vom Standpunkt derwirklichen Geschichte aus betrachtet sind sie minderwertig.«Spengler standhalten hieße demnach, den »Standpunkt derwirklichen Geschichte«, die keine Geschichte, sondernschlechte Natur ist, geschichtlich aufzuheben und das ge-schichtlich Mögliche zu verwirklichen, das Spengler unmög-lich nennt weil es noch nicht verwirklicht ist. In diese Zu-sammenhänge ist James Shotwells Kritik unbestechlich ein-gedrungen : »Dem Herbst ist bisher stets der Winter gefolgt,weil das Leben sich im Kreislauf wiederholte und auf dem be-grenzten Raum einer autarken Wirtschaft abspielte. Der Ver-

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kehr zwischen den einzelnen Gesellschaften trug eher räube-rischen als stimulativen Charakter, weil von der Menschheitnoch kein Mittel zur Erhaltung der Kultur gefunden wordenwar, das sie nicht in unverhältnismäßigem Maße von denenabhängig gemacht hätte, die keinen Anteil an ihren materiel-len Segnungen hatten. Von den ersten wilden Raubzügenund der Sklaverei bis zu den industriellen Problemen unsererTage sind alle Kulturen auf falschen wirtschaftlichen Grund-lagen aufgebaut gewesen und von ebenso falschen morali-schen und religiösen Spitzfindigkeiten gestützt worden. Eshat ihnen an innerem Gleichgewicht gefehlt, weil sie von derUngerechtigkeit der Ausbeutung ausgingen. Es gibt keinenGrund zu der Annahme, daß die moderne Kultur diesen um-wälzenden Rhythmus zwangsläufig wiederholen müsse.«

Diese Einsicht vermag es, die ganze Spenglersche Ge-schichtskonzeption aufzurollen. Ist der Untergang der An-tike gesetzt durch autonome Notwendigkeit im Leben undAusdruck ihres Seelentums, dann gewinnt er in der Tat denAspekt des Schicksals, und leicht lassen die Züge der Fatali-tät auf die gegenwärtige Situation sich übertragen. Ist aber,wie es im Sinn von Shotwells Sätzen liegt, der Untergang derAntike zu verstehen aus dem unproduktiven Latifundien-system und der damit zusammenhängenden Sklavenwirt-schaft, so ist das Schicksal zu meistern, wenn es gelingt, solcheund ähnliche Herrschaftsformen zu überwinden, und die uni-versale Struktur enthüllt sich als falscher Analogieschluß aufeine schlechte Einmaligkeit.

Das involviert freilich mehr als den Glauben an stetigenFortschritt und ans Überleben der Kultur. Spengler hat dieNaturwüchsigkeit der Kultur mit einem Nachdruck hervor-gehoben, der ein für allemal das Vertrauen in ihre versöh-nende Kraft erschüttern sollte. Schlagender als fast jeder an-dere hat er demonstriert, wie die Naturwüchsigkeit der Kul-tur stets wieder zum Untergang treibt, und wie Kultur selberals Form und Ordnung verschworen ist der blinden Herr-schaft, die in permanenter Krise sich und ihren Opfern glei-chermaßen das Schicksal bereitet. Was Kultur ist, trägt dieSpur des Todes - das zu verleugnen, bliebe ohnmächtig vorSpengler, der von den Geheimnissen der Kultur kaum we-niger ausgeplaudert hat als Hitler von denen der Propaganda.

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Um dem Zauberkreis der Spenglerschen Morphologie zuentrinnen, genügt es nicht, die Barbarei zu diffamieren und auf die Gesundheit der Kultur sich zu verlassen - eine Ver-trauensseligkeit, in deren Angesicht Spengler hohnlachenkönnte. Vielmehr ist das Element der Barbarei an der Kulturselber zu durchdringen. Nur solche Gedanken haben eineChance, das Spenglersche Verdikt zu überleben, welche dieIdee der Kultur nicht weniger herausfordern als die Wirk-lichkeit der Barbarei. Die pflanzenhafte Kulturseele Speng-lers, das vitale »In-Form-Sein«, die unbewußte archaischeSymbolwelt, an deren Ausdruckskraft er sich berauscht - alldiese Zeugnisse selbstherrlichen Lebens sind Sendboten desVerhängnisses, wo sie wirklich in Erscheinung treten. Dennsie alle zeugen von Zwang und Opfer, die Kultur den Men-schen auferlegt. Auf sie sich verlassen und den Untergangverleugnen, heißt nur ihrer tödlichen Verstrickung um sotiefer verfallen, Es heißt zugleich wiederherstellen wollen,worüber bereits Geschichte jenes Verdikt aussprach, das fürSpengler das letzte bleibt, während Weltgeschichte, indemsie ihr Urteil vollstreckt, das mit Recht Verurteilte gerade inseiner Unwiederbringlichkeit ins Recht setzt.

Eines ist Spenglers spähendem Jägerblick, der erbar-mungslos die Städte der Menschheit durchstreift, als wärensie die Wildnis, die sie sind - eines ist diesem Jägerblick ver-borgen: die Kräfte, die im Verfall frei werden. »Wie scheintdoch alles Werdende so krank« - der Satz des Dichters GeorgTrakl transzendiert die Spenglersche Landschaft. In der Weltdes gewalttätigen und unterdrückten Lebens ist Dekadenz,die diesem Leben, seiner Kultur, seiner Roheit und Erhaben-heit die Gefolgschaft aufsagt, das Refugium des Besseren. Dieohnmächtig, nach Spenglers Gebot, von Geschichte beiseitegeworfen und vernichtet werden, verkörpern negativ in derNegativität dieser Kultur, was deren Diktat zu brechen unddem Grauen der Vorgeschichte sein Ende zu bereiten wieschwach auch immer verheißt. In ihrem Einspruch liegt dieeinzige Hoffnung, es möchten Schicksal und Macht nicht dasletzte Wort behalten. Gegen den Untergang des Abendlandessteht nicht die auferstandene Kultur sondern die Utopie,die im Bilde der untergehenden wortlos fragend beschlossenliegt.

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Veblens Angriff auf die Kultur

Veblens >Theory of the Leisure Class < ist berühmt gewordendurch die Lehre von der conspicuous consumption. Ihr zu-folge soll der Güterkonsum von einem sehr frühen Stadiumder Geschichte an, das durch das Prinzip des Beutemachensbezeichnet ist, bis heute in weitem Maße nicht der Befriedi-gung der wahren Bedürfnisse der Menschen dienen oder dem,was Veblen mit Vorliebe die Fülle des Lebens nennt, sondernder Aufrechterhaltung von gesellschaftlichem Prestige, von»Status«. Aus der Kritik des Güterverbrauchs als bloßerOstentation hat er Folgerungen abgeleitet, die ästhetisch mitdenen der neuen Sachlichkeit - wie sie gleichzeitig etwa vonAdolf Loos formuliert wurden -, praktisch mit denen derTechnokratie aufs engste sich berühren. Die historisch wirk-samen Elemente von Veblens Soziologie umschreiben abernicht zureichend die sachlichen Impulse seines Denkens. Sierichten sich gegen den barbarischen Charakter der Kultur.Der Ausdruck barbarian culture wird wie eine Opfermaskestarr durch Veblens Hauptwerk hindurch immer wieder prä-sentiert. Schon im ersten Satz tritt er auf. Während er sichprägnant nur auf eine freilich ungemein weit gespanntePhase bezieht, die vom archaischen Jäger und Krieger biszum Feudalherrn und absoluten Monarchen reicht und derenSchwelle gegen das kapitalistische Zeitalter absichtsvoll un-deutlich gehalten wird, ist an zahllosen Stellen unverkennbardie Intention, die Moderne gerade dort, wo sie den Anspruchauf Kultur am nachdrücklichsten erhebt, als barbarisch zudenunzieren. Eben jene Züge nämlich, in welchen sie als dernackten Utilität entronnene und menschenwürdige sich gibt,sollen Relikte längst vergangener Geschichtsepochen dar-stellen. Die Emanzipation vom Reich der Zwecke ist ihmnichts anderes als der Index einer Zwecklosigkeit, die daherrührt, daß kulturelle »institutions« - die deutsche philoso-phische Sprache müßte den Veblenschen Begriff der institu-tion etwa mit Bewußtseinsform, nicht mit »Einrichtung«übersetzen; er definiert einmal institutions als habits ofthought - und anthropologische Beschaffenheiten sich nicht

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gleichzeitig und nicht übereinstimmend mit den wirtschaft-lichen Produktionsweisen verändern, sondern hinter diesenzurückbleiben und in bestimmten Perioden in offenen Wi-derspruch zu ihnen treten. Die Charakteristiken der Kultur,in denen Sucht nach Vorteil, Gier und Beschränkung auf diebloße Unmittelbarkeit überwunden scheinen, sind, wennman dem Zug von Veblens Gedanken lieber als seinen zwi-schen Haß und Vorsicht schwankenden Formulierungenfolgt, der bloße Rückstand objektiv überwundener Gestal-ten von Gier, Sucht nach Vorteil und schlechter Unmittel-barkeit. Sie entspringen dem Bedürfnis, den Menschen zubeweisen, daß man der Rücksicht aufs krude praktische Le-ben enthoben sei; insbesondere, daß man seine Zeit an Un-nützes wenden könne, um eben damit seinen Standort in dersozialen Hierarchie und das Maß seiner sozialen Ehre zu er-höhen und schließlich seine Macht über andere Menschen zubefestigen. Die Wendung der Kultur gegen die Utilität ge-schieht um der mittelbaren Utilität willen. Kultur ist von derLebenslüge gezeichnet. In der Verfolgung von deren Spurerweist Veblen eine Insistenz, nicht unähnlich der seinesZeitgenossen Freud in der Erforschung des »Abhubs der Er-scheinungswelt«. Spazierstock und Rasen, der Schiedsrichterim Sport und die Charaktere der Haustiere werden unterVeblens trübsinnigem Blick zu verräterischen Allegorien desBarbarischen der Kultur.

Um dieser Methode nicht minder als der ganzen Lehrewillen ist Veblen als destruktiv, als närrisch und als Outsiderdiffamiert worden und hat es als Dozent in Chicago zu einemakademischen Skandal gebracht, der mit seiner Entlassungendete. Zugleich jedoch hat man seine Lehre adaptiert. Siefindet heute vielfach offizielle Anerkennung, und seine schla-gende Terminologie ist wie die Freuds bis in die Tages-schriftstellerei gedrungen. Man mag darin die objektive Ten-denz erkennen, einen lästigen Opponenten durch Rezeptionzu entgiften. Veblens Denken widerspricht aber nicht durch-aus solcher Rezeption. Es hat weniger vom Outsider, als sichihm auf den ersten Blick anmerken läßt. Wollte man seinergeistigen Ahnenreihe nachgehen, so wären drei Quellen zunennen. Die erste und wichtigste ist der amerikanische Prag-matismus. Veblen gehört ganz und gar dessen älterer, darwi-

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nistisch gefärbter Tradition an. »The life of man in society«,beginnt das zentrale Kapitel des Hauptwerks, »just like thelife of other species, is a struggle for existence, and thereforeit is a process of selective adaptation. The evolution of socialstructure has been a process of natural selection of institu-tions. The progress which has been and is being made in hu-man institutions and in human character may be set down,broadly, to a natural selection of the fittest habits of thoughtand to a process of enforced adaptation of individuals to anenvironment which has progressively changed with thegrowth of the Community and with the changing institutionsunder which men have lived.« Der Begriff der adaptationoder des adjustment steht im Mittelpunkt. Der Mensch istdem Leben gleichwie der Versuchsanordnung eines unbe-kannten Laboratoriumsleiters unterworfen, und es wird vonihm die Leistung erwartet, den ihm auferlegten Bedingun-gen, den natürlichen und den historischen, sich so anzupas-sen, daß ihm die Chance des Überlebens bleibt. Die Wahrheitvon Gedanken wird daran ermessen, ob sie dieser Anpassungdienen und zum Überleben der Gattung beitragen. VeblensKritik setzt stets dort an, wo die Anpassung unvollkommengeleistet sei. Er sieht die Schwierigkeit, auf welche die An-passungslehre im gesellschaftlichen Bereich stößt, recht wohlEr weiß, daß die Bedingungen, denen die Menschen sich an-passen müssen, zu weitem Maß selber gesellschaftlich produ-ziert sind: daß zwischen Innen und Außen Wechselwirkungobwaltet und daß Anpassung verdinglichten Verhältnissenzugute kommen mag. Diese Einsicht treibt ihn zur ständigenVerfeinerung und Modifikation der Anpassungslehre. Abersie erreicht kaum je den Punkt, an dem die absolute Notwen-digkeit der Anpassung als solche in Frage gestellt würde.Fortschritt ist Anpassung, nichts anderes. Daß die innere Zu-sammensetzung dieses Begriffs und dessen Dignität bei be-wußten Wesen qualitativ anders sein könnten als im blindenNaturzusammenhang, wird von ihm trotzig ignoriert. DieÜbereinstimmung dieser Grundposition Veblens mit demgeistigen Klima, das ihn umgab, hat die Rezeption seinerKetzereien erleichtert.

Der spezifische Inhalt aber seiner Anpassungslehre weistauf eine zweite Quelle des älteren Positivismus zurück, auf

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die Schule von St. Simon, Comte und Spencer. Die Welt,welcher die Menschen Veblen zufolge sich anpassen sollen,ist die Welt der industriellen Technik. Mit St. Simon undComte vertritt er deren Suprematie. Fortschritt heißt bei ihmkonkret, die Formen des Bewußtseins und des »Lebens«, alsKonsumsphäre, denen der industriellen Technik angleichen.Das Mittel dazu ist das wissenschaftliche Denken. Es wirdvon Veblen als universale Durchführung des Kausalprinzipsgegenüber animistischen Rückständen betrachtet. Kausal-denken bedeutet für ihn das Übergewicht sachlicher, regel-hafter Relationen, deren Begriff am industriellen Arbeitsbe-griff gewonnen ist, über personalistische und anthropomor-phistische Anschauungsweisen. Insbesondere soll jeglicherTeleologiebegriff strikt ausgeschlossen bleiben. Der Vorstel-lung vom Geschichtsverlauf als einem langsamen und un-gleichmäßigen, in sich aber ungebrochenen Fortschritt in derAnpassung an die Welt und in deren Entzauberung ent-spricht eine klassifikatorische Stadienlehre, nicht unähnlichder Comteschen. In deren Zusammenhang läßt Veblen zu-weilen durchblicken, daß er für die kommende Phase mit derAbschaffung des Privateigentums rechnet. Damit ist aufMarx als auf die dritte Quelle verwiesen. Veblens Stellungzum Marxismus ist kontrovers. Seine Kritik ist keine Kritikder politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft inihren Voraussetzungen sondern eine ihres unökonomischenLebens. Der ständige Rekurs auf Psychologie und habits ofthought zur Erklärung ökonomischer Tatbestände ist mitder Marxischen objektiven Wertlehre unvereinbar. Dennochhat Veblen von den sekundären Theorien des Marxismusseiner pragmatistischen Grundansicht soviel einverleibt, wieihm nur erreichbar war. Dabei ist auch an den Ursprung spe-zifischer Prägungen, wie conspicuous waste und reversion,zu denken. Die Vorstellung eines Verbrauchs, der nicht umseiner selbst willen, sondern auf Grund als objektiv zurück-gespiegelter gesellschaftlicher Qualitäten der Tauschobjekteerfolgt, ist verwandt der Marxischen Lehre vom Fetischcha-rakter der Ware; die These von der reversion, vomzwangs-haften Rückgriff auf veraltete Bewußtseinsformen unter demDruck ökonomischer Verhältnisse Marx zumindest ver-pflichtet. Der Versuch, die Antagonismen des von ihm prag-

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matistisch aufgefaßten Anpassungsprozesses der Menschenzu begreifen, treibt bei Veblen wie bei Dewey dialektischeMotive hervor. Sein Denken ist ein Amalgam aus Positivis-mus und historischem Materialismus.

Mit einer solchen Formel ist nun aber zur Einsicht in denKern seiner Theorie wenig genug geleistet. Es kommt aufdie Kraft an, die j ene Motive in ihr zusammenzwingt. VeblensGrunderfahrung läßt als die der falschen Einmaligkeit sichcharakterisieren. Je weiter die industrielle Massenproduktionvon Gütern, die sich untereinander gleichen, und deren zen-tral gelenkte Verteilung getrieben wird, je weniger die tech-nisch-ökonomische Ordnung des Lebens die an der hand-werklichen Produktionsweise gebildete Individuation deshie et nunc zuläßt, um so mehr wird die Erscheinung des hieet nunc, des nicht durch unzählige andere Gegenständeseinesgleichen Substituierbaren, zur Lüge. Es ist, als ver-höhne der unabdingbare und im Interesse des Absatzes un-ablässig verstärkte Anspruch der Dinge, jedes für sich einBesonderes zu sein, einen Zustand der Menschheit, in demalle der Immergleichheit unterworfen sind. Diesen Hohnkann Veblen nicht ertragen. Verbissen insistiert er darauf, dieWelt möge sich in jener abstrakten Gleichheit ihrer Objektepräsentieren, die von den Verhältnissen vorgezeichnet wird.Während Veblen einer rationalen Gestaltung des Konsum-lebens das Wort redet, verlangt er eigentlich nichts anderes,als daß die Massenproduktion, die den Käufer vorweg als ihrObjekt kalkuliert, in der Konsumsphäre endlich Farbe be-kenne. Seitdem »deliciously different« und »quaint« selberlängst zu Standardformeln der Reklame erstarrt sind, liegtVeblens Erfahrung auf der Straße. Er als erster hat sie spon-tan vollzogen. Er hat die falsche Individualität der Dinge er-kannt, längst ehe die technische Verfahrungsweise der Indivi-dualität ihr Ende bereitete. Er hat die Lüge des Besonderenan der Unstimmigkeit der Gegenstände selber abgelesen: amWiderspruch ihrer Gestalt und ihrer Funktion. Übertreibendkönnte man sagen, daß der Kitsch des neunzehnten Jahr-hunderts in Gestalt des Protzentums1 ihm als Bild zukünftiger

1 Dessen ökonomischer Grund wäre zu bestimmen. Es drängt sich auf, jene Art Repräsen-tation aus der Notwendigkeit abzuleiten, als kreditwürdig sich darzustellen. Diese Notwendig-keit konnte auf die Kapitalknappheit während expansiver Phasen zurückweisen.

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Gewaltherrschaft aufgegangen ist. Er hat am Kitsch eineSeite gewahrt, die den ästhetischen Kritikern sich entzog, dieaber wohl dazu beitragen mag, den Ausdruck des schockhaftKatastrophischen zu erklären, den so viele Architekturen undInterieurs des neunzehnten Jahrhunderts heute angenommenhaben: den der Unterdrückung. Unter Veblens Blick werdendie Ornamente zu Drohungen, indem sie alten Modellen vonRepression sich anähneln. Nirgendwo hat er das sinnfälligerangezeigt als an einer Stelle, die der Diskussion von Wohltä-tigkeitsbauten gewidmet ist. »Certain funds, for instance, mayhave been set apart as a foundation for a foundling asylumora retreat for invalids.The diversion of expenditure to hon-orific waste in such cases is not uncommon enough to causesurprise or even to raise a smile. An appreciable share of thefunds is spent in the construction of an edifice facedwith someaesthetically objectionable but expensive stone, covered withgrotesque and incongruous details, and designed, in its battle-mented walls and turrets and its massive portals and Strategieapproaches, to suggest certain barbaric methods of warfare.«Die Hervorhebung des drohenden Aspekts von Prunk undOrnamentierung steht im Dienst von Veblens Geschichts-philosophie. Die Bilder aggressiver Barbarei, die er am Kitschdes neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere an den dekora-tiven Veranstaltungen der Gründerjahre gewahrte, galtenseinem Fortschrittsglauben als Relikte vergangener Epochenoder als Züge der Regression der nicht selber Produzierenden,der vom industriellen Arbeitsprozeß Ausgenommenen. Zu-gleich aber sind die von ihm archaisch genannten Züge dieheraufdämmernden Grauens. Seine triste Innervation desa-vouiert seine fortschrittsfrohe Gesinnung. Ihm hat die Ge-schichte der Menschheit in der Antizipation von deren furcht-barster Phase sich geformt. Der Schock, den seinem Senso-rium das ritterburgähnliche Findlingsheim bereitet, ist imColumbushaus, der neusachlichen Folterstätte der National-sozialisten, zur geschichtlichen Macht geworden. Veblenhypostasiert die totale Herrschaft. Alle Kultur der Mensch-heit wird ihm zur Fratze nackten Entsetzens. Es ist die Faszi-nation durchs Unheil, welche die Ungerechtigkeit erklärt undrechtfertigt, die Veblen der Kultur widerfahren läßt. Hatheute die Kultur den Charakter der Reklame, des bloßen Kitts

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angenommen, so ist sie bei Veblen nie etwas anderes gewesenals Reklame, als Ausstellung von Macht, Beute, Profit. Ingroßartiger Misanthropie schiebt er alles beiseite, was darüberhinausgeht. Der Splitter in seinem Auge wird ihm zum Mit-tel, die Blutspuren des Unrechts noch an den Bildern desGlücks zu gewahren. Die Metropolen des neunzehnten Jahr-hunderts haben die Säulen des attischen Tempels, die goti-schen Kathedralen und die trotzigen Paläste der italienischenStadtstaaten im Namen grenzenlosen Disponierens über dieMenschengeschichte trugvoll versammelt. Veblen aber zahltihnen heim: die echten Tempel, Kathedralen und Paläste sindihm schon so falsch wie die Imitationen. Die Weltgeschichteist die Weltausstellung. Er erklärt die Kultur aus dem Kitsch,nicht umgekehrt. Man könnte Veblens Verallgemeinerungdes Zustands, in welchem die Kultur von der Reklame ver-zehrt wird, nicht einfacher formulieren als Stuart Class:»People above the line of bare subsistence, in this age and allearlier ages, do not use surplus, which society has given them,primarily for useful purposes.« Für »all earlier ages« wirdunterschlagen, was nicht der business culture des letztengleicht: der Glaube an die reale Macht ritualer Veranstaltun-gen, das Motiv der Sexualität und ihrer Symbolik — der Sexu-alität geschieht in der ganzen Theory of the Leisure Classkeine Erwähnung -, der künstlerische Ausdruckszwang, alleSehnsucht, der Sklaverei der Zwecke zu entfliehen. Der prag-matistische Todfeind teleologischer Betrachtung verfährtwider Willen nach dem Schema einer satanischen Teleologie.Gröbster Rationalismus ist seinem Scharfsinn gerade gut ge-nug, um die Allherrschaft von Fetischen übers vorgeblicheReich der Freiheit ins Licht zu rücken. Die Konkretion,welche dem Einerlei der Naturverfallenheit Einheit gebietet,pervertiert sich seiner Anklage zum Massenprodukt, das denbetrügerischen Anspruch erhebt, konkret zu sein.

Der böse Blick ist fruchtbar. Er trifft Phänomene, welcheman verfehlt und verharmlost, solange man sie als bloße Fas-sade der Gesellschaft von obenher abtut, ohne bei ihnen zuverweilen. Dahin gehört der Sport. Veblen hat bündig jeg-liche Art von Sport, von den Kampfspielen der Kinder undden Leibesübungen der Universitäten bis zu den großensportlichen Ostentationen, die später in den Diktaturstaaten

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beider Spielarten blühten, als Ausbruch von Gewalt, Unter-drückung und Beutegeist charakterisiert. »These manifesta-tions of the predatory temperament are all to be classedunder the head of exploit. They are partly simple and un-reflected expressions of an attitude of emulative ferocity,partly activities deliberately entered upon with a view to gain-ing repute for prowess. Sports of all kinds are of the samegeneral character.« Die Sportleidenschaft ist Veblen zufolgeregressiver Natur: »The ground of an addiction to sports isan archaic Spiritual constitution.« Nichts aber ist modernerals diese Archaik: die sportlichen Veranstaltungen waren dieModelle der totalitären Massenversammlungen. Als tole-rierte Exzesse verbinden sie das Moment der Grausamkeitund Aggression mit dem autoritären, dem diszipliniertenInnehalten von Spielregeln: legal wie die neudeutschen undvolksdemokratischen Pogrome. Veblen erspürt die Affinitätdes sportlichen Exzesses und der manipulierenden Führer-schicht : »If a person so endowed with a proclivity for exploitsis in a position to guide the development of habits in the ado-lescent members of the Community, the influence which heexerts in the direction of conservation and reversion toprowess may be very considerable. This is the significance,for instance, of the fostering care latterly bestowed by manyclergymen and other pillars of society upon >boys brigades <and similar pseudo-military organisations.« Seine Einsichtreicht darüber noch hinaus. Er erkennt den Sport als Pseudo-Aktivität: als Kanalisierung von Energien, die anderwärtsgefährlich werden könnten; als Investition sinnloser Tätig-keit mit den trugvollen Zeichen des Ernstes und der Bedeu-tung. Je weniger man selber mehr erwerben muß, um so mehrsieht man sich veranlaßt, den Schein seriöser, gesellschaftlichbestätigter, doch desinteressierter Tätigkeit zu erwecken. Zu-gleich aber entspricht der Sport dem aggressiven, praktischenBeutegeist. Er bringt die antagonistischen Desiderate vonzweckmäßigem Tun und Zeitvergeudung auf die gemeinsameFormel. So wird er zum Element des Schwindels, zum makebelieve. Veblens Analyse wäre freilich zu ergänzen. Dennzum Sport gehört nicht bloß der Drang, Gewalt anzutun,sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden. EinzigVeblens rationalistische Psychologie verstellt ihm das maso-

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chistische Moment im Sport. Es prägt den Sportgeist nichtbloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondernmehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die dro-hende neue - im Gegensatz zu Veblens Klagen, daß die »in-stitutions« hinter dem freilich von ihm auf die Technologiebeschränkten Geist der Industrie zurückgeblieben seien. Dermoderne Sport, so ließe sich sagen, sucht dem Leib einen Teilder Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschineentzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Be-dienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschulen. Erähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an. Darumgehört er ins Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auchorganisiert.

Minder zeitgemäß dünkt ein anderer Komplex von Veb-lens Kulturkritik: die sogenannte Frauenfrage. Den soziali-stischen Programmen war die endliche Emanzipation derFrau so selbstverständlich, daß man seit geraumer Zeit vomDurchdenken der konkreten Stellung der Frau sich dispen-sierte. In der bürgerlichen Literatur vollends gilt die Frauen-frage seit Shaw für komisch. Strindberg hat sie in die Männer-frage pervertiert, so wie Hitler die Emanzipation der Judenin die Emanzipation von den Juden. Die Unmöglichkeit derBefreiung der Frau unter den herrschenden Bedingungenwird nicht diesen, sondern den Advokaten der Freiheit zurLast geschrieben und die Hinfälligkeit der emanzipatorischenIdeale, die sie der Neurose annähert, mit deren Verwirk-lichung verwechselt. Die vorurteilsfreie Angestellte, der dieWelt recht ist, solange sie mit dem Freund ins Kino gehenkann, hat Nora und Hedda verdrängt, und wenn sie vonihnen wüßte, so würde sie ihnen in kessen Redewendungenihre mangelnde Realitätsgerechtigkeit vorwerfen. Ihr ent-spricht der Mann, der von der erotischen Freiheit Gebrauchmacht nur, um die Partnerin in ihrer beschränkten Willfährig-keit kalt und glücklos mitzunehmen und sie zum Dank wo-möglich desto zynischer zu verachten. Veblen, der vieles mitIbsen gemein hat, ist vielleicht der letzte Denker von Rang,der sich die Frauenfrage nicht ausreden läßt. Als später Apo-loget der Frauenbewegung hat er die Strindbergschen Er-fahrungen in sich aufgenommen. Ihm wird die Frau gesell-schaftlich zu dem, was sie psychologisch sich selbst ist, zum

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Wundmal. Er weiß von ihrer patriarchalen Erniedrigung.Ihre Stellung, die er zu den Relikten aus dem Stadium desJägers und Kriegers rechnet, gleicht der des Dieners. Freizeitund Luxus, die ihr gelassen werden, sollen nur den Statusihres Meisters bekräftigen. Das involviert zwei einanderwidersprechende Konsequenzen. In einiger Unabhängigkeitvon Veblens Text ließen sie etwa so sich wiedergeben: auf dereinen Seite ist die Frau gerade vermöge ihrer wie sehr auchentwürdigenden Situation als »Sklavin« und Gegenstand derOstentation dem »praktischen Leben« in gewissem Sinn ent-zogen. Sie ist - oder war noch zu Veblens Zeit - der wirt-schaftlichen Konkurrenz nicht in gleichem Maße ausgesetztwie der Mann. In manchen sozialen Schichten und zu man-chen Epochen war sie davor geschützt, jene Qualitäten zuentwickeln, die Veblen unter die oberste Kategorie des Beute-geistesbringt.Vermöge ihrer Distanz zum Produktionsprozeßhält sie Züge fest, in denen der noch nicht ganz erfaßte, nochnicht ganz vergesellschaftete Mensch überlebt. So scheintgerade die Angehörige der Oberschicht am ehesten bestimmt,dieser den Rücken zu kehren. Dem jedoch steht eine Gegen-tendenz gegenüber, als deren vorwaltendes Symptom Veblenden Konservatismus der Frau designiert. Sie hat als Subjektan der geschichtlichen Entwicklung kaum wesentlichen An-teil. Die Abhängigkeit, in der sie gehalten wird, verstümmeltsie. Das kompensiert die Chance, die das Ausgeschlossenseinvom ökonomischen Wettkampf ihr gewährt. Gemessen ander geistigen Interessensphäre des Mannes, selbst noch des-sen, der in der Barbarei des Erwerbs aufgeht, befinden sich,Veblen zufolge, die meisten Frauen in einem Bewußtseins-zustand, den er nicht zögert, Schwachsinn zu nennen. Mankönnte seinen Gedanken dahin treiben, daß die Frau der Pro-duktionssphäre nur entronnen ist, um von der Sphäre derKonsumtion um so vollkommener aufgesaugt zu werden,gebannt in der Unmittelbarkeit der Warenwelt, so wie dieMänner fixiert sind an die Unmittelbarkeit des Profits. DasUnrecht, das die männliche Gesellschaft den Frauen angetanhat, wird ihr von diesen zurückgespiegelt: sie gleichen denWaren sich an. Veblens Einsicht indiziert eine Veränderungin der Utopie der Emanzipation. Hoffnung zielt nicht darauf,daß die verstümmelten Sozialcharaktere der Frauen den ver-

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stümmelten Sozialcharakteren der Männer gleich werden,sondern daß einmal mit dem Antlitz der leidenden Fraudas des tatenfrohen, tüchtigen Mannes verschwindet; daßvon der Schmach der Differenz nichts überlebt als derenGlück.

Solche Gedanken freilich liegen Veblen fern. Sein Bild derGesellschaft ist jener undeutlichen Rede von der Fülle desLebens zum Trotz nicht am Glück gemessen, sondern an derArbeit. Nur als Erfüllung des »Arbeitsinstinktes«, seinerobersten anthropologischen Kategorie tritt Glück in seinBlickfeld. Er ist ein Puritaner malgre lui-meme. Während erunermüdlich Tabus attackiert, macht seine Kritik vor der Hei-ligkeit der Arbeit halt. Seine Kritik hat etwas von der väter-lichen Weisheit, daß die Kultur ihre eigene Arbeit nicht genugehre, sondern vielmehr ihre vermessene Ehre am Ausgenom-mensein von der Arbeit, an der Muße habe. Als deren schlech-tes Gewissen konfrontiert er die Gesellschaft mit ihremeigenen Utilitätsprinzip. Er rechnet ihr vor, daß diesem zu-folge Kultur Verschwendung sei und Schwindel, so irratio-nal, daß sie Zweifel weckt an der Rationalität des Systems.Er hat etwas von dem Bürger, der die Forderung der Spar-samkeit grimmig ernst nimmt. Darüber wird ihm die ganzeKultur zum sinnlosen, protzenhaften Aufwand, wie Bankrot-teure ihn betreiben.Gerade vermöge der starren Insistenz aufdem einen Motiv deckt er den Widersinn eines gesellschaft-lichen Prozesses auf, der sich am Leben erhalten kann nur,indem er auf Schritt und Tritt »falsch kalkuliert« und ein Sof-fittenwerk von Schein und Betrug aufbaut. Aber Veblen hatselbst den Preis seiner Methode zu entrichten. Er vergötztdie Sphäre der Produktion. Es gibt bei ihm implizit etwas wieraffend und schaffend. Er unterscheidet zwei Kategorien vonmodernen ökonomischen »institutions: pecuniary and in-dustrial«. Danach teilt er die Beschäftigung der Menschenein und dann die Verhaltensweisen, die diesen Beschäftigun-gen entsprechen sollen. »So far as men's habits of thought areshaped by the competitive process of acquisition and tenure;so far as their economic functions are comprised within theränge of ownership of wealth as conceived in terms of ex-change value, and its management and financiering througha permutation of values; so far their experience in economic

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life favours the survival and accentuation of the predatorytemperament and habits of thought.« Indem er verfehlt, dengesellschaftlichen Prozeß als Gesamtprozeß zu verstehen,gelangt er innerhalb dieses Prozesses zu einer Scheidung pro-duktiver und nicht produktiver Funktionen, die vorab gegendie unrationellen Verteilungsmechanismen sich kehrt. Dasverrät etwa seine Rede von »that class of persons and thatränge of duties in the economic process which have to do withthe ownership of enterprises engaged in competitive in-dustry; especially those fundamental lines of economic man-agement which are classed as financiering operations. Tothese may be added the greater part of mercantile occupa-tions«. Erst im Licht dieser Distinktion wird ganz deutlich,was Veblen eigentlich gegen die leisure class einzuwendenhat. Es ist nicht so sehr der Druck, den sie ausübt, als daß, imSinn seines eigenen puritanischen Arbeitsethos, nicht genugDruck auf ihr lastet. Er mißgönnt ihr die wie sehr auch selberverzerrte Chance des Entrinnens. Daß die wirtschaftlich Un-abhängigen noch nicht ganz von den Notwendigkeiten desLebens erfaßt sind, dünkt ihm archaisch: »An archaic habitof mind persists because no effectual economic pressure con-strains this class to an adaptation of its habits of thougt to thechanging Situation«: jener adaptation, wohlverstanden, derVeblen das Wort redet. Gewiß ist ihm das Gegenmotiv, dasder Muße als der Voraussetzung von Humanität, nicht fremd.Aber hier setzt sich ein atheoretisches, pluralistisches Denk-schema durch. Die Muße soll ihr Recht haben und die Ver-schwendung, aber nur »ästhetisch«. Als Ökonom will er daraufnicht sich einlassen. Man braucht den Hohn nicht zu überhö-ren, der gerade durch solche Aufteilung aufs isoliert Ästheti-sche fällt. Um so eindringlicher aber wird man zu fragen ha-ben, was bei Veblen ökonomisch eigentlich bedeutet. Es gehtdabei nicht darum, wieweit seine Schriften der ökonomischenSchuldisziplin zuzurechnen sind, sondern um seinen Begriffdes Ökonomischen selber. Der bleibt aber bei Veblen impli-ziert definiert als »profitable«. Seine Rede von ökonomischkommt überein mit der des Geschäftsmanns, der eine unnützeAusgabe als unökonomisch ablehnt. Der vorausgesetzte Be-griff des Nützlichen und Unnützen wird nicht analysiert. Erweist nach, daß die Gesellschaft nach ihrem eigenen Maß un-

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ökonomisch verfährt. Das ist viel und wenig zugleich. Viel:weil er die Unvernunft der Vernunft grell ins Licht rückt.Wenig: weil er vor der Verschränkung des Nützlichen undUnnützen versagt. Er überläßt die Frage nach dem Unnützenheteronomen, durch die Arbeitsteilung der Wissenschaftenvorgegebenen Kategorien und macht sich zu einem Spar-kommissar der Kultur, dessen Votum vom ästhetischen Kol-legen vetiert werden könnte, anstatt den Gegensatz der Res-sorts selber als Ausdruck der fetischistischen Arbeitsteilungzu erkennen. Während er als Ökonom mit der Kultur zu sou-verän umspringt und sie als Verschwendung vom Budgetstreicht, resigniert er insgeheim vor ihrem bloßen Daseinaußerhalb des Budgetbereichs. Er verkennt, daß über ihrRecht oder Unrecht nicht nach der ressortmäßigen Einstel-lung des Fragenden, sondern nach der Erkenntnis des Zu-sammenhanges der Gesellschaft zu urteilen ist. Daher in-häriert seiner Kulturkritik ein Moment der Clownerie.

Er möchte tabula rasa machen, den Schutt der Kultur fort-räumen, das Urgestein bloßlegen. Aber die Suche nach »Re-siduen« verfällt regelmäßig der Verblendung. Schein ist dia-lektisch als Widerschein der Wahrheit; was keinen Scheingelten läßt, wird erst recht dessen Opfer, indem es mit demSchutt die Wahrheit drangibt, die anders als in diesem nichterscheint. Veblen aber sperrt sich gegen die Motive alles des-sen, wogegen seine Grunderfahrung sich kehrt. Im NachlaßFrank Wedekinds findet sich die Bemerkung, Kitsch sei dieGotik oder der Barock unserer Zeit. Mit der darin visiertenhistorischen Notwendigkeit des Kitsches hat Veblen es sichzu leicht gemacht. Ihm ist die falsche Ritterburg nichts alsanachronistisch. Er weiß nichts von der Moderne der Regres-sion. Ihm sind die trugvollen Bilder der Einmaligkeit in derÄra der Massenproduktion bloße Rückstände, nicht aberRepliken auf die hochindustrielle Mechanisierung, die überdiese selber etwas aussagen. Die Welt jener Bilder, die Veblenals conspicuous consumption demaskiert, ist eine synthe-tische Bilderwelt. Sie stellt den gescheiterten, doch zwangs-läufigen Versuch dar, dem Erfahrungsverlust, wie ihn diemoderne Produktionsweise involviert, zu entrinnen unddurch selbstgemachte Konkretion der Herrschaft des ab-strakt Gleichen sich zu entziehen. Lieber wollen die Men-

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sehen das Konkrete sich selber vorspiegeln als die Hoffnungvon sich werfen, die daran haftet. Die Warenfetische sindnicht bloß die Projektion undurchsichtiger menschlicher Be-ziehungen auf die Dingwelt. Sie sind zugleich die schimä-rischen Gottheiten, welche das nicht im Tausch Aufgehenderepräsentieren, während sie doch selber dessen Primat ent-sprungen sind. Von dieser Antinomie ist Veblens Denkenzurückgeprallt. Sie aber gerade macht den Kitsch zum Stil.Kitsch bezeichnet nicht einfach Fehlleitung von Arbeit. Daßdie synthetischen Bilder Regressionen aufs längstVergangenedarstellen, bezeugt einzig seine Unmöglichkeit.Bilder, welcheden Stand des technisch Möglichen und den menschlichenAnspruch aufs Konkrete zusammendächten, hat die avan-cierte Kunst entworfen. Ihr blieb die gesellschaftliche Re-zeption versagt. Vielleicht ist es erlaubt, das Verhältnis vonFortschritt - »Moderne« - und Regression - »Archaik« —thesenhaft zu formulieren. In einer Gesellschaft, in der dieEntwicklung und die Stauung der Kräfte aus dem gleichenPrinzip unabdingbar hervorgehen, bedeutet jeglicher tech-nische Fortschritt zugleich auch eine Regression2. VeblensRede vom barbarian normal verrät davon die Ahnung. Nor-mal ist die Barbarei, weil sie nicht in bloßen Rudimenten be-steht, sondern in gleichem Maße wie die Naturbeherrschungimmerfort reproduziert wird. Diese Äquivalenz hat Veblenzu harmlos genommen. Er hat die Ungleichzeitigkeit derRitterburg und des Bahnhofs gewahrt, nicht aber diese Un-gleichzeitigkeit als geschichtsphilosophisches Gesetz. DerBahnhof maskiert sich als Ritterburg, aber die Maske ist seineWahrheit. Erst wenn die technische Dingwelt unmittelbarder Beherrschung dient, vermag sie es, solche Masken ab-zuwerfen. Erst in den totalitären Schreckensstaaten gleichtsie sich selber.

2 In der psychologischen Theorie Freuds, welche die Regression zum Produkt einer vomIch - dem Subjekt allen »Fortschritts« - ausgeübten Zensur macht, ist objektiv etwas davonangelegt. Nur wird es nicht am »Menschen« und seiner Seele, dem Objekt der bisherigen Ge-schichte, bestimmbar sein, sondern am realen gesellschaftlichen Prozeß, dem bewußtlosen Sub-jekt, dessen Naturwüchsigkeit eben daran zutage kommt, daß es für jegliche Schöpfung denPreis der Vernichtung einsetzt. Die Doppeldeutigkeit der »Sublimierung« ist die psycholo-gische Chiffre für die Doppeldeutigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, so wie das Freud-sche Ökonomieprinzip, das die konstante Gleichheit von Credit und Debet im psychologischenHaushalt formuliert, nicht sowohl einen anthropologischen Ursachverhalt bezeichnet wie dieImmergleichheit dessen, was bis heute sich ereignete.

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Wenn Veblen den Zwang in der modernen Archaik ver-kennt und die synthetischen Bilder als bloße Lebenslügeglaubt ausmerzen zu können, dann versagt er zugleich vorder gesellschaftlichen quaestio iuris von Luxus und Ver-schwendung, die der Weltverbesserer wie einen Auswuchsabschaffen möchte. Man könnte vom Doppelcharakter desLuxus reden. Dessen eine Seite ist die, auf welche Veblenseine Scheinwerferbatterien konzentriert: jener Teil desSozialprodukts, der nicht menschlichen Bedürfnissen undmenschlichem Glück zugute kommt, sondern vergeudetwird, um veraltete Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Die an-dere Seite des Luxus ist die Verwendung von Teilen desSozialprodukts, die weder mittelbar noch unmittelbar derWiederherstellung verausgabter Arbeitskräfte dient, sondernden Menschen, soweit sie vom Prinzip des Nutzens nichtvöllig erfaßt sind. Während Veblen diese beiden Momentedes Luxus nicht explizit unterscheidet, ist es fraglos seine In-tention, die erste als conspicuous consumption zu beseitigenund die zweite im Namen der fullness of life zu retten. Aber inder Blankheit dieser Intention liegt die Schwäche der Theorie.Am Luxus heute lassen faux frais und Glück nicht sich isolie-ren. Sie machen die in sich selber vermittelte Identität desLuxus aus. Während Glück nur dort existiert, wo Menschenintermittierend der schlechten Vergesellschaftung sich ent-ziehen, enthält die konkrete Gestalt ihres Glücks allemal denStand der Gesamtgesellschaft, das Negative in sich3. Mankönnte Prousts Romanwerk als den Versuch deuten, diesenWiderspruch zu entfalten. So bezieht das erotische Glücksich nie auf den Menschen an sich, sondern auf den Menschenin seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit und in seinem ge-sellschaftlichen Erscheinen. Benjamin hat einmal ausgespro-

3 Veblens Unfähigkeit, die Dialektik des Luxus zu artikulieren, kommt am schlagendsten inseiner Vorstellung vom Schönen zum Ausdruck. Er sucht das Schöne vom Aufwand, derOstentation zu feinigen. Damit aber bringt er es um jede konkrete gesellschaftliche Bestimmt-heit und fallt auf den vor-Hegelschen Standpunkt eines bloß formalen, an Naturkategorienmeßbaren Schönheitsbegriffs zurück. Veblens Rede von der Schönheit ist so abstrakt, weil ankeiner Schönheit das immanente Moment des Unrechts getilgt werden kann. Konsequentmüßte er die Abschaffung der Kunst verlangen. Sein Pluralismus, der ein ökonomisches Prin-zip der Sparsamkeit durch ein ästhetisches der Scheinlosigkeit ergänzt, entspringt dem Unver-mögen zu solcher Konsequenz. Die auseinander tretenden Momente aber nähern sich in ihrerIsolierung beide der Absurdität. Wie die vollendete Zweckmäßigkeit des Schönen in unver-söhnlichen Widerspruch tritt zu dessen Zwecklosigkeit, so tritt Veblens Fassung des Ökono-mischen in Widerspruch zu seiner Idee einer richtigen Gesellschaft.

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chen, es sei erotisch nicht minder wichtig für den Mann, obdie Geliebte mit ihm sich zeige, als ob sie ihm sich hingebe.Veblen hätte in den Bürgerspott darüber eingestimmt undvon conspicuous consumption geredet. Aber das Glück, dasder Mann real findet, ist von der conspicuous consumptionnicht zu trennen. Kein Glück, das nicht dem gesellschaftlichkonstituierten Wunsch Erfüllung verhieße, aber auch keines,das nicht in dieser Erfüllung das Andere verspräche. Die ab-strakte Utopie, die darüber sich täuscht, wird zur Sabotageam Glück und spielt dem in die Hände, was sie negiert. Dennwährend sie vom Glück die gesellschaftlichen Male zu tilgenunternimmt, muß sie zur Leugnung jeglichen konkretenGlücksanspruchs schreiten und den Menschen zur bloßenFunktion seiner eigenen Arbeit reduzieren. Noch der Waren-fetischist, der der conspicuous consumption bis zur Obses-sion verfallen ist, hat an dem Wahrheitsgehalt des Glücksseinen Anteil. Während er das eigene lebendige Glück ver-leugnet und durch das Prestige der Dinge - Veblen sprichtvon social confirmation - surrogiert, offenbart er wider Wil-len das Geheimnis, das in allem Aufwand und aller Ostenta-tion beschlossen liegt: daß kein individuelles Glück möglichsei, das nicht virtuell das der Gesamtgesellschaft in sich be-schließt. Noch die Bosheit, die Hervorkehrung des Statusund der Drang zu imponieren, in welchem unterm Prinzipder Konkurrenz das gesellschaftliche Moment am Glück un-ausweichlich sich durchsetzt, enthält die Anerkennung derGesellschaft, des Ganzen als des wahren Subjekts von Glück.Die von Veblen als invidious bezeichneten Züge des Luxus,der böse Wille, reproduzieren nicht nur die Ungerechtigkeit,sondern enthalten verzerrt den Appell an Gerechtigkeit. DieMenschen sind nicht schlechter als die Gesellschaft, in der sieleben: darin liegt das Korrektiv für Veblens Menschenfeind-schaft. Aber auch diese ist ein Korrektiv. Sie diffamiert denbösen Willen in seinen sublimsten Regungen, weil sie demguten starrsinnig die Treue hält.

Es ist aber die tiefste Ironie, daß diese Treue zwangshaftbei Veblen jene Gestalt annimmt, die er an der bürgerlichenGesellschaft am unerbittlichsten verfemt: die der Regression.Ihm liegt Hoffnung nur bei der Urgeschichte der Menschheit.Alles Glück, das ihm vom Anspruch traumloser Realitäts-

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gerechtigkeit, fügsamer Anpassung an die Bedingungen derindustriellen Arbeitswelt versperrt ist, wird reflektiert imBild eines paradiesischen Urzustands. »The conditions underwhich men lived in the most primitive stages of associatedlife that can properly be called human, seem to have been of apeaceful kind; and the character - the temperament and spir-itual attitude - of men under these early conditions of environ-ment and institutions seems to have been of a peaceful andunaggressive, not to say an indolent cast. For the immediatepurpose this peaceable cultural stage may be taken to markthe initial phase of social development. So far as concerns thepresent argument, the dominant spiritual feature of this pre-sumptive initial phase of cujture seems to have been an un-reflecting, unformulated sense of group solidarity, largelyexpressing itself in a complacent, but by no means strenuous,sympathy with all facility of human life, and an uneasy revul-sion against apprehended inhibition or futility of life.« DieZüge von Entmythologisierung und Humanität, welche dieMenschheit im bürgerlichen Zeitalter aufweist, heißen beiVeblen nicht das Ihrer-selbst-Innewerden der Menschheit,sondern vielmehr der Rekurs auf diesen Urzustand. »Underthe circumstances of the sheltered Situation in which the lei-sure class is placed there seems, therefore, to be something ofa reversion to the ränge of non-invidious impulses that char-acterize the ante-predatory savage culture. The reversioncomprises both the sense of workmanship and the proclivityto indolence and good-fellowship.« Von Karl Kraus, demKritiker des sprachlichen Ornaments, stammt der Vers: »Ur-sprung ist das Ziel.« So geht die Sehnsucht des TechnokratenVeblen auf die Wiederherstellung des Ältesten: die Frauen-bewegung ist ihm die blinde und brüchige Anstrengung »torehabilitate the women's pre-glacial Standing«. Solche pro-vokanten Formulierungen scheinen dem Tatsachensinn desPositivisten ins Gesicht zu schlagen. Aber hier eröffnet sicheiner der merkwürdigsten Zusammenhänge in VeblensTheorie: der zwischen der Rousseauistischen Lehre vomIdeal des Urzustands und dem Positivismus. Als Positivist,der keine andere Norm als Anpassung gelten läßt, sieht er vordie Frage sich gestellt, warum man nicht auch nach der Ge-gebenheit der principles of waste, futility and ferocity sich zu

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richten, ihnen sich anzupassen habe, die seiner Anschauungzufolge den canon of pecuniary decency ausmachten. »Butwhy are apologies needed? If there prevails a body of popularsentiment in favour of Sports,why is not the fact a sufficientlegitimation? The protracted discipline of prowess to whichthe race had been subjected under the predatory and quasipea-ceable culture has transmitted to the man of to-day a temper-ament that finds gratification in these expressions of ferocityand cunning. So, why not accept these sports as legitimateexpressions of a normal and wholesome human nature? Whatother norm is there that is to be lived up to than that given inthe aggregate ränge of propensities that express themselvesin the sentiments of this generation, including the hereditarystrain of prowess?« Hier stößt Veblens Konsequenz, miteinem Grinsen, das Ibsen nicht fremd war, bis zu jenem Punktvor, wo sie in Gefahr steht, vorm bloß Daseienden, vor dernormalen Barbarei zu kapitulieren. Die Antwort ist über-raschend : »The ulterior norm to which appeal is taken is theinstinct of workmanship, which is an instinct more funda-mental, of more ancient prescription, than the propensity topredatory emulation.« Das ist der Schlüssel für die Theoriedes Urzustandes. Der Positivist erlaubt sich die Möglichkeitdes Menschen nur zu denken, indem er sie in eine Gegeben-heit verzaubert. Mit anderen Worten: in die Vergangenheit.Es gibt für ihn keine Rechtfertigung versöhnten Lebens, alsdaß es noch gegebener, noch positiver, noch daseiender seials die Hölle des Daseins. Das Paradies ist die Aporie des Posi-tivisten. Den Arbeitsinstinkt erfindet er nebenher, um Para-dies und industrielles Zeitalter doch noch auf den gleichenanthropologischen Nenner zu bringen. Schon vor der Erb-sünde wollten ihm zufolge die Menschen im Schweiße ihresAngesichts ihr Brot essen.

Mit Theorien solcher Art, ohnmächtigen und leise sichselbst karikierenden Hilfskonstruktionen, in denen der Ge-danke des Anderen mit der Anpassung ans Immergleiche zupaktieren trachtet, hat Veblen am meisten sich exponiert. Esist leicht, den Positivisten, der ausbrechen möchte, einenNarren zu schelten. Veblens ganzes Werk ist vom Motiv desspieen durchsetzt. Es ist ein einziger Hohn auf jenen sense ofproportions, den die positivistischen Spielregeln seiner Um-

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weit erheischen. Er kann sich nicht genugtun in ausgeführtenAnalogien zwischen Gebräuchen und Einrichtungen desSports und der Religion, oder zwischen dem aggressivenEhrenkodex des gentleman und des Verbrechers. Er kann essich nicht einmal versagen, die Verschwendung zeremonialerParaphernalien ökonomisch zubeklagen, die in den religiösenKulten erfolgt. Den Lebensreformern steht er nicht fern. Oftgenug verkehrt sich ihm die Utopie der Urzeit zum billigenGlauben ans Natürliche, und er eifert gegen sogenannteModetorheiten wie lange Röcke und Korsett - meist Attri-bute des neunzehnten Jahrhunderts, welche der Fortschrittdes zwanzigsten weggefegt hat, ohne damit der Barbarei derKultur Abbruch zu tun. Die conspicuous consumption wirdzur fixen Idee. Um den Widerspruch zwischen dieser und demScharfsinn von Veblens gesellschaftlichen Analysen zu ver-stehen, ist von der Erkenntnisfunktion des spleen selberRechenschaft zu geben. Gleich dem Bild des friedlichen Ur-zustands ist der spleen bei Veblen - und nicht bloß bei ihm -eine Zufluchtsstätte der Möglichkeit. Der Betrachter, dervom spleen sich leiten läßt, macht den Versuch, die über-mächtige Negativität der Gesellschaft seiner eigenen Erfah-rung kommensurabel zu machen. Undurchdringlichkeit undFremdheit des Ganzen sollen gleichsam mit den Organen er-griffen werden, während sie gerade es ist, die dem Zugriff un-mittelbarer und lebendiger Erfahrung sich entzieht. Die fixeIdee ersetzt den abstrakten Allgemeinbegriff, indem sie be-stimmte und begrenzte Erfahrung verhärtet und patzig fest-hält. Der spieen möchte dieUnverbindlichkeitundUnevidenzeiner bloß vermittelten und abgeleiteten Erkenntnis des Aller-nächsten, nämlich des realen Leidens, korrigieren. Aber diesLeiden entspringt im umfassenden Unwesen und kann darumnur abstrakt und »vermittelt« zur Erkenntnis erhoben wer-den. Dagegen rebelliert der spieen. Er entwirft gleichsamSchemata des Gesprächs mit Herrn Kannitverstan. Sie ver-sagen, weil die gesellschaftliche Entfremdung eben darin be-steht, daß sie die Gegenstände der Erkenntnis dem Umkreisder unmittelbaren Erfahrung entrückt. Der Erfahrungs-verlust des Subjekts in der Welt des Immergleichen, Voraus-setzung der gesamten Veblenschen Theorie, bezeichnet dieanthropologische Seite des seit Hegel in objektiven Katego-

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rien bestimmten Entfremdungsvorgangs. Der spleen ist eineAbwehrreaktion. Stets und überall, auch schon bei Baude-laire, ist sein Gestus anklagend. Aber er denunziert die Gesell-schaft in Formen der Nähe und Unmittelbarkeit, rechnet ihreSchuld den Phänomenen zu. Für die Kommensurabilität derErkenntnis mit dem Erfahrbaren wird durch die Insuffizienzder Erkenntnis bezahlt. Darin nähert sich der spleen derkleinbürgerlichen Sekte, die das Unheil der Welt Verschwö-rungen von Mächten zuschreibt, während er freilich denWidersinn dessen, worauf er sich kapriziert, selber einbe-kennt. Wenn Veblen einem Fassadenphänomen wie dembarbarischen Aufwand wesentlich die Schuld aufbürdet, sowird gerade die Disproportionalität der These zum Elementihrer Wahrheit. Sie zielt auf einen Schock ab. Er bringt dieUnangemessenheit dieser Welt und ihrer möglichen Erfahr-barkeit zum Ausdruck. Die Erkenntnis begleitet sich selbermit dem sardonischen Gelächter darüber, daß ihr eigentlicherGegenstand ihr entschlüpft, solange siemenschlicheErkennt-nis bleibt, und daß sie erst als unmenschliche der unmensch-lichen Welt gewachsen wäre. Die einzige geistige Kommuni-kation zwischen dem objektiven System und der subjektivenErfahrung ist die Explosion, welche beide voneinander reißt,um mit ihrer Stichflamme sekundenweise die Figur zu be-leuchten, die sie mitsammen bilden. Indem diese Art Kritikdie Barbarei an der nächsten Straßenecke dingfest macht, an-statt sich im allgemeinbegrifflichen Bereich zu vertrösten,hältsie gegenüber der unnaiven Theorie, vor der sie sich lächer-lich macht, ein Memento fest, dessen Vernachlässigung in derKonzeption des wissenschaftlichen Sozialismus beginnt undin dem endet, was Karl Kraus Moskauderwelsch genannt hat.Die Borniertheit ist das Komplement nicht nur, sondern zu-weilen die heilsame Brille, die dem allzu umfassenden weitenBlick Einhalt gebietet. Als solche bewährt sie sich bei Veblen.Sein spieen rührt her vom degoüt gegenüber dem offiziellenOptimismus eines Fortschrittsgeistes, dessen Partei er selbernimmt, soweit er mit dem common sense schwimmt.

Der spleen diktiert die besondere Art seiner Kritik. Es istdie Desillusionierung, das »debunking«. Mit Vorliebe folgter einem traditionellen Schema der Aufklärung: dem von derReligion als Pfaffenbetrug. »It is feit that the divinity must be

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of a peculiarly serene and leisurely habit of life. And when-ever his local habitation is pictured in poetic imagery, for edi-fication or in appeal to the devout fancy, the devout word-painter, as a matter of course, brings out before his auditors'imagination a throne with a profusion of the insignia of opu-lence and power, and surrounded by a great number of servi-tors. In the common run of such presentations of the celestialabodes, the office of this corps of servants is a vicariousleisure, their time and efforts being in great measure taken upwith an industrially unproductive rehearsal of the meritoriuscharacteristics and exploits of the divinity.« Die Art, mit derhier den Engeln die Unproduktivität ihrer Arbeit vorgewor-fen wird, hat etwas von säkularisierten Flüchen, aber auchvom Witz, derverpufft. Ein abgebrühter Mann läßt sich nichtsvormachen von den Fehlleistungen, Träumen und Neurosender Gesellschaft. Sein Humor gleicht dem des Ehemanns, derdie hysterische Frau zur Hausarbeit anhält, um ihrdieMuckenauszutreiben. Heftet sich der spieen eigensinnig an die ent-fremdete Dingwelt und macht die Tücke des Objekts für dieUntat der Subjekte verantwortlich, so ist die Haltung desdebunking die dessen, der auf die Tücke des Objekts nichthineinfällt. Er reißt den Objekten die ideologischen Fetzenherunter, um jene ungestörter manipulieren zu können. SeineWut gilt dem verdammten Schwindel eher als dem schlechtenZustand. Nicht zufällig kehrt der Haß des debunking sich sogern gegen Vermittlungsfunktionen: Schwindel und Ver-mittlung gehören zusammen. Aber auch Denken und Ver-mittlung. Auf dem Grunde des debunking wohnt der Haßgegens Denken4. Die wahre Kritik der barbarischen Kulturaber könnte sich nicht damit begnügen, barbarisch die Kulturzu denunzieren. Sie müßte die offene, kulturlose Barbarei als

4 Von diesem Haß ist Veblen dem Bewußtsein nach ganz frei gewesen. Aber in seinem Kampfgegen die gesellschaftlichen Vermittlungsfunktionen ebenso wie in seiner Denunziation des»higher learning« ist der Anti-Intellektualismus objektiv angelegt. In einem debunker wie AI-dous Huxley schlägt er durch. Dessen Werk ist weithin Selbstdenunziation des Intellektuellenals Schwindlers im Namen einer Ehrlichkeit, die auf die Verherrlichung der Natur hinaus-läuft. - Es ist wohl möglich, daß die Beschranktheit von Veblens Theorie in letzter Instanzdurch die Unfähigkeit sich erklärt, die Frage der Vermittlung zu durchdenken. In seiner Phy-siognomie schickt sich das Zelotentum des skandinavischen Lutheraners, das keinen Vermittlerzwischen der Gottheit und der Innerlichkeit zulaßt, verblendet an, in den Dienst einer Ordnungzu treten, welche die Vermittlungen zwischen der kommandierten Produktion und den Zwangs-konsumenten kassiert. Beiden Haltungen, der radikal protestantischen und der staatskapita-listischen, ist der Anti-Intellektualismus gemein.

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Telos jener Kultur bestimmen und verwerfen, nicht aberkrud der Barbarei den Vorrang über die Kultur zusprechen,nur weil sie nicht mehr lügt. Ehrlichkeit als Sieg des Grauenshallt wider in Formulierungen Veblens wie der von der indu-striellen Unproduktivität der himmlischen Heerscharen.Solche Witze appellieren an den Konformismus. Das Geläch-ter übers Bild der Seligkeit steht der Macht näher als jenesBild, mag dieses auch selber noch entstellt sein von Machtund Herrlichkeit.

Dennoch ist in Veblens Insistenz auf den Fakten, in derTabuierung aller Bilder ein Gutes und Heilsames gelegen.Der Widerstand gegen das barbarische Leben ist bei ihm ein-gewandert in die Kraft der Anpassung an dessen unbarm-herzige Notwendigkeit. Für den Pragmatisten seiner Artgibt es nicht das Ganze: keine Identität von Denken und Sein,nicht einmal den Begriff einer solchen Identität. Immer wie-der kommt er darauf zurück, daß die Bewußtseinsformen unddie Anforderungen der konkreten Situation für ewig unver-söhnbar seien: »Institutions are products of the past process,are adapted to past circumstances, and are therefore never infüll accord with the requirements of the present. In the natureof the case, this process of selective adaptation can nevercatch up with the progressively changing Situation in whichthe Community finds itself at any given time; for the environ-ment, the Situation, the exigencies of life which enforce theadaptation and exercise the selection, change from day to day;and each successive Situation of the Community in its turntends to obsolescence as soon as it has been established. Whena Step in the development has been taken, this step itself con-stitutes a change of Situation which requires a new adaptation;it becomes the point of departure for a new Step in the adjust-ment, and so on interminably.« Unversöhnbarkeit verbietetdas abstrakte Ideal oder läßt es als kindliche Phrase erschei-nen. Die Wahrheit reduziert sich auf den kleinsten Schritt.Wahr ist das Nächste, nicht das Fernste. Gegen die Forde-rung, das Interesse des »Ganzen« gegenüber dem wie immerverstandenen Partialinteresse zu vertreten und damit die utili-täre Befangenheit der Wahrheit zu transzendieren, kann derPragmatist mit Grund einwenden, daß das Ganze nicht ab-schlußhaft gegeben, daß nur das Nächste erfahrbar, daß dar-

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um das Ideal zum Fragmentarischen und zur Ungewißheitverurteilt sei. Demgegenüber reicht die Berufung auf denUnterschied des Totalinteresses einer richtigen Gesellschaftvom beschränkten Nutzeffekt nicht aus. Die bestehende unddie andere Gesellschaft haben nicht zweierlei Wahrheit, son-dern die Wahrheit in dieser ist untrennbar von der realenBewegung innerhalb des Bestehenden und jedem einzelnenihrer Momente. Daher reduziert sich der Gegensatz von Dia-lektik und Pragmatismus, gleich jedem echt philosophischen,auf die Nuance. Nämlich auf die Auffassung jenes nächstenSchritts. Er wird aber vom Pragmatisten als Anpassung be-stimmt. Sie verewigt die Herrschaft des Immergleichen. Dia-lektik gäbe mit deren Sanktionierung sich selber, die Idee derMöglichkeit auf. Wie aber wäre diese zu denken, wenn sienicht abstrakt und willkürlich sein soll, vom Schlage jenerUtopie, welche die dialektischen Philosophen verfemt haben?Umgekehrt, wie vermag der nächste Schritt Richtung undZiel zu erlangen, ohne daß das Subjekt mehr weiß als bloß dasVorgegebene? Wollte man die Kantische Frage umformu-lieren, sie könnte heute wohl lauten: wie ist ein Neues überhauptmöglich ? In der Zuspitzung der Frage liegt der Ernst des Prag-matisten, dem des Arztes vergleichbar, dessen Hilfsbereit-schaft an der Tierähnlichkeit des Menschen ihren Kanon hat.Es ist der Ernst des Todes. Der Dialektiker aber sollte dersein, der davor nicht resigniert. Seiner Bestimmung zergehtdas Entweder-Oder der diskursiven Logik. Wo dem Prag-matisten die sturen Fakten als »opaque items«, als undurch-sichtiges Dies da zurückbleiben; wo sie sich nur noch klassi-fizieren, aber nicht erkennen lassen, sieht der Dialektiker erstseiner Erkenntnisaufgabe sich gegenüber; der, noch die phä-nomenalen Residuen, die »Atome« durch den Begriff auf-zulösen. Nichts aber ist undurchsichtiger als die Anpassungselber, welche die Nachahmung bloßen Daseins als Maß derWahrheit installiert. Wenn der Pragmatist den geschicht-lichen Index jeglicher Wahrheit fordert, so hat seine Idee vonder Anpassung selbst einen solchen Index. Es ist der, welchenFreud die Lebensnot genannt hat. Nur soweit ist der nächsteSchritt einer der Anpassung, wie Mangel und Armut in derWelt herrschen. Anpassung ist die Verhaltensweise, welcheder Situation des Zuwenig entspricht. Der Pragmatismus ist

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darum befangen und eng, weil er diese Situation als ewighypostasiert. Nichts anderes besagen seine Begriffe vonNatur und Leben. Was er den Menschen wünscht, ist die»Identifikation mit dem Lebensprozeß«, ein Verhalten, dasjenes perpetuiert, das die Lebewesen in der Natur führen, so-lange diese ihnen nicht Lebensmittel genug gewährt. VeblensAusfälle gegen die »Geschützten«, denen es ihre bevorzugteStellung gestatte, der Anpassung an die veränderte Situationmehr oder minder sich zu entziehen, kommt auf eine Verherr-lichung des Darwinistischen Kampfes ums Dasein hinaus. Esist aber gerade die Hypostasis der Lebensnot, die heute inihrer gesellschaftlichen Gestalt als überholt durchsichtig wird,und zwar eben kraft jener Entwicklung der Technik, derenStand nach Veblens Doktrin die Menschen sich anpassen sol-len. So wird der Pragmatist zum Opfer der Dialektik. Dergegenwärtigen technischen Situation gerecht werden, welcheden Menschen Fülle und Überfluß verspricht, heißt, sie nachdem Bedürfnis einer Menschheit einrichten, die der Gewaltnicht mehr bedarf, weil sie ihrer selbst mächtig ist. Veblen hatan einer der schönsten Stellen seines Werks den Zusammen-hang zwischen der Armut und der Beharrung des Schlechtenerkannt: »The abjectly poor, and all those persons whoseenergies are entirely absorbed by the struggle for daily suste-nance, are conservative because they cannot afford the effortof taking thought for the day after to-morrow; just as thehighly prosperous are conservative because they have smalloccasion to be discontented with the Situation as it Stands to-day.« Der Pragmatist aber hält, selber regressiv, am Stand-punkt dessen fest, der nicht bis übermorgen - über den näch-sten Schritt hinaus - denken kann, weil er nicht weiß, wovoner morgen leben soll. Er vertritt die Armut. Das ist seineWahrheit, weil die Menschen noch zur Armut verhalten sind,und seine Unwahrheit, weil der Widersinn der Armut offen-bar geworden ist. Dem heute Möglichen sich anpassen, heißt,nicht länger sich anpassen, sondern das Mögliche verwirk-lichen.

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Aldous Huxley und die Utopie

Die europäische Katastrophe, die ihren langen Schatten vor-auswarf, hat zum ersten Male in Amerika den Typus der in-tellektuellen Emigration hervorgebracht. Wer im neunzehn-ten Jahrhundert in die neue Welt ging, den lockten die unbe-grenzten Möglichkeiten; er wanderte aus, um sein Glück zumachen oder wenigstens das Auskommen zu finden, dasübervölkerte europäische Länder ihm versagten. Das In-teresse der Selbsterhaltung war stärker als das der Erhaltungdes Selbst, und der wirtschaftliche Aufschwung der Vereinig-ten Staaten stand im Zeichen des gleichen Prinzips, das denAuswanderer über den Ozean trieb. Er bemühte sich um er-folgreiche Anpassung, nicht um Kritik, welche den Rechts-anspruch und die Aussicht der eigenen Anstrengung ange-kränkelt hätte. Beherrscht vom Kampf um die Reproduktiondes Lebens, waren die Ankömmlinge weder ihrer Bildungund Vergangenheit noch ihrer Stellung im gesellschaftlichenProzeß nach dazu angetan, von der Übergewalt des tobendenDaseins sich zu distanzieren. Soweit sie an die Umsiedlungutopische Hoffnungen knüpften, gingen diese selber auf imHorizont eines noch nicht durchmessenen Daseins, dem Mär-chen des Aufstiegs, der Aussicht, vom Tellerwäscher zumMillionär es zu bringen. Die Skepsis eines Besuchers wie Toc-queville, der vor hundert Jahren bereits den Aspekt der Un-freiheit an der hemmungslosen Egalität wahrnahm, blieb dieAusnahme; Auflehnung gegen das, was man im Jargon derdeutschen Kulturkonservativen Amerikanismus nannte, gabes eher bei Amerikanern wie Poe, Emerson und Thoreau alsbei den Neuankömmlingen. Hundert Jahre später emigrier-ten nicht mehr einzelne Intellektuelle, sondern die europäi-sche intelligentsia als Schicht, keineswegs bloß die Juden. Siewollten nicht besser leben, sondern überleben; die Möglich-keiten waren nicht länger unbegrenzt und darum das Diktatvon Anpassung unerbittlich von der wirtschaftlichen Kon-kurrenz auf sie übertragen. Anstelle der Wildnis, die der Pio-nier, auch geistig, zu erschließen und an der er sich selber zuregenerieren gedenkt, ist eine Zivilisation getreten, die als

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System das ganze Leben einfängt, ohne dem unreglementier-ten Bewußtsein auch nur jene Schlupflöcher zu gewähren,welche die europäische Schlamperei bis ins Zeitalter dergroßen Konzerne hinein offenhielt. Dem Intellektuellen vondrüben wird unmißverständlich bedeutet, daß er sich als au-tonomes Wesen auszumerzen habe, wenn er etwas erreichen -unter die Angestellten des zum Supertrust zusammenge-schlossenen Lebens aufgenommen werden will. Der Reni-tente, der nicht kapituliert und mit Haut und Haaren sichgleichschaltet, ist preisgegeben den Schocks, welche die zuRiesenblöcken aufgetürmte Dingwelt all dem erteilt, wasnicht sich selber zum Ding macht. Die Verhaltensweise aber,mit der der Intellektuelle, ohnmächtig in der Maschinerie desallseitig entwickelten und allein anerkannten Warenverhält-nisses, auf den Schock reagiert, ist die Panik.

Huxleys >Brave New World < ist deren Niederschlag, odervielmehr ihre Rationalisierung. Der Roman, eine Zukunfts-phantasie mit rudimentärer Handlung, versucht, die Schocksaus dem Prinzip der Entzauberung der Welt zu begreifen, esins Aberwitzige zu steigern und die Idee von Menschenwürdeder durchschauten Unmenschlichkeit abzutrotzen. Ausgangs-motiv scheint die Wahrnehmung der universalen Ähnlich-keit alles Massenproduzierten, von Dingen wie von Men-schen. Die Schopenhauersche Metapher von der Fabrikwareder Natur wird beim Wort genommen. Wimmelnde Zwil-lingsherden werden in der Retorte bereitet, ein Alptraumendlosen Doppelgängertums, wie er vom genormten Lä-cheln, der von der charm school gelieferten Anmut bis zumstandardisierten, in den Bahnen der communication industryverlaufenden Bewußtsein Ungezählter mit der jüngsten Phasedes Kapitalismus in den wachen Alltag einbricht. Das Jetztund Hier spontaner Erfahrung, längst angefressen, wird ent-mächtigt: die Menschen sind nicht mehr bloß Abnehmer dervon den Konzernen gelieferten Serienprodukte, sondernscheinen selber von deren Allherrschaft hervorgebracht undder Individuation verlustig. Der panische Blick, dem unassi-milierbare Beobachtungen zu Allegorien der Katastropheversteinern, durchschlägt die Illusion des harmlos Alltäg-lichen. Ihm wird das Verkaufslächeln der Modelle zu dem,was es ist, dem verzerrten Grinsen des Opfers. Die mehr als

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dreißig Jahre seit dem Erscheinen des Buches haben mehr alsgenug verifiziert: kleine Greuel, wie daß Eignungsprüfun-gen für den Beruf des Liftjungen die Dümmsten ermitteln,und Schreckensvisionen wie die rationelle Verwertung derLeichen. Die Brave New World ist ein einziges Konzentra-tionslager, das, seines Gegensatzes ledig, sich fürs Paradieshält. Wenn, einer Lehre aus Freuds Massenpsychologie zu-folge, Panik der Zustand ist, in welchem mächtige kollektiveIdentifikationen zerfallen und die freigesetzte Triebenergiesich in jähe Angst verwandelt, dann vermag der von PanikErgriffene das Finstere zu innervieren, das auf dem Grundeder kollektiven Identifikation selber liegt, das falsche Be-wußtsein der Einzelnen, die ohne durchsichtige Solidarität,in blinder Gebundenheit an Bilder der Macht, sich eines Sin-nes mit einem Ganzen meinen, dessen Ubiquität sie erstickt.Huxley ist frei von der törichten Besonnenheit, die nochdem Ärgsten ihr gemäßigtes »Alles nicht so schlimm« abge-winnt. Er macht dem Kinderglauben, daß angebliche Aus-wüchse der technischen Zivilisation im unaufhaltsamen Fort-schritt von selbst ausgeglichen würden, keine Zugeständnisseund verschmäht den Zuspruch, nach dem Exilierte so gerngreifen: daß die beängstigenden Aspekte der amerikanischenKultur ephemere Reste ihrer Primitivität oder kraftvolle Bür-gen ihrer Jugend seien. Kein Zweifel daran wird geduldet,daß jene nicht sowohl hinter dem großen Zug der europäi-schen zurückblieb als vielmehr dieser vorauseilte; daß dieAlte Welt beflissen der Neuen es nachtut. Wie der Weltstaatder Brave New World zwischen den Golfplätzen und biolo-gischen Versuchsanstalten von Mombaza, London und demNordpol keine anderen Unterschiede mehr kennt als künst-lich aufrechterhaltene, so ist der parodierte Amerikanismusdie Welt. Sie soll, im Sinn des vorangestellten Mottos vonBerdiajew, der Utopie gleichen, deren Verwirklichung nachdem Stand der Technik absehbar ward. Zur Hölle wird siedurch Linienverlängerung: Beobachtungen am gegenwärti-gen Zustand der Zivilisation sind aus ihrer eigenen Teleolo-gie vorgetrieben bis zur unmittelbaren Evidenz ihres Unwe-sens. Der Nachdruck dabei liegt weniger auf gegenständlich-technischen und institutionellen Elementen als auf dem, wasaus den Menschen werde, die Not nicht mehr kennen. Die

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ökonomisch-politische Sphäre als solche tritt dem Gewichtnach zurück. Ausgemacht nur, daß es sich um ein durchratio-nalisiertes Klassensystem planetarischen Maßstabs, um lük-kenlos geplanten Staatskapitalismus handelt; daß der totalenKollektivierung totale Herrschaft entspricht; daß Geldwirt-schaft und Profitmotiv fortdauern.

Anstelle der drei Parolen der Französischen Revolutionheißt es: Community, Identity und Stability. Community de-finiert einen Stand der Gemeinschaft, in dem jedes Einzelwe-sen unbedingt dem Funktionieren des Ganzen untergeordnetist, nach dessen Sinn in der Neuen Welt keine Frage mehr er-laubt oder auch bloß möglich sein soll; Identity die Auslö-schung individueller Differenzen, Standardisierung bis in denbiologischen Grund hinein; Stability das Ende jeglicher ge-sellschaftlichen Dynamik. Der abgefeimt ausgewogene Zu-stand wird extrapoliert aus gewissen Symptomen eines Weg-falls des ökonomischen »Kräftespiels« unterm Spätkapitalis-mus: Perversion des Millenniums. Die Panazee, welche diegesellschaftliche Statik garantiert, ist das conditioning, einschwer übersetzbarer Ausdruck, der von der Biologie undbehavioristischen Psychologie - wo er das Hervorrufen be-stimmter Reflexe oder Verhaltensweisen durch willkürlicheVeränderungen der Umwelt, durch Kontrolle von »Bedin-gungen« bedeutet - in die amerikanische Alltagsspra chedrang als Kennwort für jegliche Art wissenschaftlicher Kon-trolle über Lebensbedingungen; etwa air conditioning fürden maschinellen Temperaturausgleich in geschlossenenRäumen. Bei Huxley meint conditioning vollkommene Prä-formation des Menschen durch gesellschaftlichen Eingriff,von künstlicher Zeugung und technifizierter Bewußtseins-und Unbewußtseinslenkung im frühesten Stadium bis zumdeath conditioning, einem Training, das Kindern das Grauenvor dem Tod austreibt, indem ihnen Sterbende vorgeführtund sie gleichzeitig mit Süßigkeiten gefüttert werden, mitdenen sie den Tod für alle Zukunft assoziieren. Der Endeffektdes conditioning, der zu sich selbst gekommenen Anpassung,ist Verinnerlichung und Zueignung von gesellschaftlichemDruck und Zwang weit über alles protestantische Maß hin-aus : die Menschen resignieren dazu, das zu lieben, was sie tunmüssen, ohne auch nur noch zu wissen, daß sie resignieren.

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So wird ihr Glück subjektiv befestigt und die Ordnung zu-sammengehalten. Alle Vorstellungen einer bloß äußerlichenund durch Agenturen wie Familie und Psychologie vermit-telten Einwirkung der Gesellschaft auf die Einzelnen sind alsüberholt durchschaut. Was heute schon aus der Familie ward,wird ihr in der Brave New World nochmals von oben heran-getan.Als Kinder der Gesellschaft im wörtlichen Sinn befin-den sich die Menschen prinzipiell nicht mehr in dialektischerAuseinandersetzung mit dieser, sondern fallen der Substanznach mit ihr zusammen. Willfährige Exponenten der kollek-tiven Totalität, zu der jede Antithese eingezogen ist, sind sieim unmetaphorischen Sinne »gesellschaftlich bedingt« undnicht erst nachträglich, durch »Entwicklung«, dem herr-schenden System angeglichen.

Das verewigte Klassenverhältnis wird in die Biologie ver-legt, indem die Zuchtdirektoren über die Zugehörigkeit zuden mit griechischen Buchstaben registrierten Kasten schonbei den Embryos entscheiden. Das niedere Volk rekrutiertsich, durch eine ingeniöse Spaltung von Zellen, aus eineiigenZwillingen, deren physisches und geistiges Wachstum durchkünstlichen Zusatz von Alkohol ins Blut unterbunden wird.Gemeint ist, daß die Reproduktion der Dummheit, wie sievordem bewußtlos, unterm Diktat der bloßen Lebensnotsich vollzog, weil diese abgeschafft werden könnte, von dertriumphalen Massenkultur in die Hand genommen wird. Inder rationalen Fixierung des irrationalen Klassenverhältnis-ses meldet Huxley dessen Überflüssigkeit an: daß die Klas-sengrenze heute bereits den Charakter der »Naturwüchsig-keit« verloren habe, dessen Illusion sie in der ungesteuertenGeschichte der Menschheit hervorbrachte, daß nur nochwillkürliche Selektion und Kooption, nur noch administra-tive Differenzierung in der Verteilung des Sozialprodukts dieFortexistenz von Klassen gewährleistet. Wenn man gar dieEmbryos und Kleinkinder der Unterkasten in den Brut-anstalten der Brave New World knapp an Sauerstoff hält, sobereiten die Lenker eine artifizielle slum-Atmosphäre. Sieveranstalten Entwürdigung und Regression inmitten derschrankenlosen Möglichkeit. Solche vom totalitären Systemsowohl selbsttätig herbeigeführte wie schließlich ausgeklü-gelte Regression ist aber wahrhaft total. Huxley, der sich

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auskennt, bezeichnet die Male der Verstümmelung auch ander Oberklasse: »Even alphas have been conditioned.« Nochdas Bewußtsein derer, die sich etwas darauf zugute tun, indi-viduiert zu sein, ist im Bann der Standardisierung kraftihrer eigenen Identifikation mit der »in-group«. Automa-tisch geben sie unablässig die Urteile von sich, zu denen sieconditioned sind, etwa so wie ein Großbürger heute un-gereizt davon plappert, daß es nicht auf die materiellen Ver-hältnisse, sondern auf die religiöse Wiedergeburt ankomme,oder daß er die moderne Kunst nicht verstünde. Nichtver-stehen wird zur Tugend. Ein Liebespaar aus der Oberkastefliegt bei stürmischem Wetter über den Kanal, und der Mannwünscht den Flug zu verzögern, um nicht in einer Menge,länger mit der Geliebten allein, ihr näher und mehr er selbstzu sein. Ob sie ihn denn nicht verstünde. »I don't under-stand anything, she said with decision, determined to preserveher incomprehension intact.« Huxleys Beobachtung nageltnicht bloß die Rancune fest, die das Aussprechen der be-scheidensten Wahrheit bei dem erregt, der sie sich nicht ge-statten darf, um nicht im Gleichgewicht gestört zu werden,sondern gibt die Diagnose eines mächtigen neuen Tabus. Jemeh rdas gesellschaftliche Dasein, kraft seiner Allgewalt undGeschlossenheit, den Desillusionierten zur Ideologie seinerselbst wird, um so mehr brandmarkt es den als Sünder, des-sen Gedanken dagegen freveln, daß was ist, eben darumauch recht hat. Sie leben in Flugmaschinen, aber parierendem gleich allen echten Tabus unausdrücklichen Gebot: Dusollst nicht fliegen. Den werden die Götter der Erde strafen,der über die Erde sich erhebt. Die antimythologische Ver-eidigung aufs Existierende stellt den mythischen Bann wie-der her. Huxley demonstriert das am Sprechen. Die Idiotiedes obligatorischen small talk, die Konversation als Gewäsch,wird mit Diskretion ins Äußerste verfolgt. Längst handelt essich nicht mehr bloß um jene Spielregel, die das Gesprächals beschränkte Fachsimpelei oder unverschämte Zumutungverwehrt. Sondern der Verfall des Sprechens liegt in der ob-jektiven Tendenz. Die virtuelle Verwandlung der Welt in Wa-ren, die Vorentschiedenheit dessen, was gedacht und getanwird, durch die gesellschaftliche Maschinerie macht Sprechenillusorisch: es verkommt, unterm Fluch des Immergleichen,

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zu einer Folge analytischer Urteile. Die Damen der Brave NewWorld - und dazu bedarf es kaum einer Linienverlängerung -unterhalten sich eigentlich nur noch als Konsumentinnen.Prinzipiell betrifft die Unterhaltung nichts anderes mehr, alswas im Katalog der allgegenwärtigen Industrie ohnehin ver-zeichnet steht, Informationen über Angebotenes, sachlichüberflüssig, leere Hülse des Dialogs, dessen Idee es war zufinden, was man nicht schon wußte. Bar dieser Idee wäre erreif zu verschwinden. Die vollendet Kollektivierten undunablässig Kommunizierenden müßten zugleich aller Kom-munikation sich begeben und als die stummen Monadensich bekennen, die sie insgeheim seit der bürgerlichenFrühzeit waren. Sie versinken in archaischer Unmündigkeit.Abgeschnitten sind sie vom Geist, den Huxley einiger-maßen handfest den überlieferten Kulturgütern gleichsetztund an Shakespeare exemplifiziert, und von der Natur alsLandschaft, dem Bild unbesetzter Schöpfung jenseits derGesellschaft. Der Gegensatz von Geist und Natur machtedas Thema der bürgerlichen Philosophie auf ihrer Höhe aus.In der Brave New World verbinden sie sich gegen die Zivili-sation, die alles antastet, nichts erträgt, was ihr nicht gliche.War die Einheit von Geist und Natur von der idealistischenSpekulation als die oberste Versöhnung konzipiert, so ist sienun als der absolute Gegensatz zur absoluten Verding-lichung intendiert. Nur so viel Geist, spontane und auto-nome Synthesis des Bewußtseins, ist möglich, wie er Un-erfaßtes, nicht vorweg schon kategorial Umklammertes,»Natur«, sich gegenüber hat; nur so viel Natur wie Geist,der sich als Gegensatz zur Verdinglichung weiß und diesetranszendiert, anstatt sie selber in Natur zu verzaubern. Bei-des verschwindet: Huxley kennt den Normalbürger jüng-sten Stils, der die Meeresbucht als Sehenswürdigkeit be-trachtet, während er im Auto sitzen bleibt und den Reklame-weisen des Radios lauscht. Dem gesellt ist Feindschaft gegenalles Vergangene: Geist selber erscheint vergangen, läp-pische Zutat zu den glorifizierten Tatsachen, dem je Ge-gebenen, und was nicht mehr da ist, wird vollends bric-ä-brac und Gerumpel. Ein Ford zugeschriebenes Wort, »his-tory is bunk«, wirft alles nicht den jüngsten industriellenProduktionsmethoden Entsprechende, schließlich jegliche

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Kontinuität des Lebens auf den Schutthaufen. Durch solcheReduktion verkrüppeln die Menschen. Ihre Unfähigkeit,wahrzunehmen und zu denken, was nicht wie sie selber ist,die ausweglose Selbstgenügsamkeit ihres Daseins, das Dik-tat der reinen subjektiven Zweckmäßigkeit resultiert in derreinen Entsubjektivierung. Die wissenschaftlich hergestell-ten, von allem Mythos gesäuberten Subjekt-Objekte des rea-lisierten Welt-Ungeistes sind infantil. Die halb unwillkür-lichen, halb veranstalteten Rückbildungen von heutzutagewerden schließlich, im Sinne der Massenkultur, zu bewußtoktroyierten Geboten für die Freizeit, zum »proper Standardof infantile decorum«, zum Gelächter der Hölle über daschristliche »So ihr nicht werdet wie die Kindlein«. Schulddaran trägt der Ersatz aller Zwecke durch Mittel. Der Kultdes Werkzeugs, abgespalten von jeglichem objektivenWozu - in der Brave New World herrscht buchstäblich dieeinstweilen erst implizite Autoreligion, mit Ford für Lordund dem Zeichen des Modells T für das des Kreuzes; diefetischistische Liebe zur Equipierung, jene unverkennbarenZüge des Irreseins, die gerade jenen eingezeichnet sind, dieauf ihren praktischen und realitätsgerechten Sinn sich etwaszugute tun, werden zur Norm des Lebens erhoben. Das giltaber auch, wo in der Brave New World Freiheit angebrochenscheint. Huxley hat den Widerspruch visiert, daß in einerGesellschaft, in der die sexuellen Tabus ihre innere Kraftverloren und entweder der Erlaubnis des Unerlaubten wei-chen oder durch hohlen Zwang fixiert werden, Lust selberverfällt zum armseligen fun und zur Gelegenheit für dienarzißtische Befriedigung darüber, daß man diese oder jenen»gehabt« habe. Der Sexus wird gleichgültig durch die In-stitutionalisierung der Promiskuität, und noch der Ausbruchaus der Gesellschaft wird in dieser angesiedelt. Die physio-logische Auslösung ist, als ein Stück Hygiene, erwünscht;der Affekt dabei, als Energievergeudung ohne gesellschaft-lichen Nutzen, kassiert. Um keinen Preis darf man ergriffensein. Die urbürgerliche Ataraxie hat sich über alles Reagierenschlechthin ausgebreitet. Indem sie den Eros ereilt, kehrt siesich unmittelbar gegen jenes ehemals höchste Gut, subjektiveEudämonie, um dessentwillendieReinigung von den Affektenverlangt war. Sie greift in der Ekstase zugleich den Kern jeg-

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licher Beziehung zwischen Menschen, das Hinausgehen überdie monadologische Existenz an. Huxley erkennt das komple-mentäre Verhältnis von Kollektivierung und Atomisierung.Seine Darstellung der organisierten Orgiastik jedoch hateinen Unterton, der Zweifel weckt an der satirischen These.Indem diese der Unbürgerlichkeit das Bürgerliche attestiert,verfängt sie selber sich in der Bürgerlichkeit. Huxley ent-setzt sich über die Nüchternen, aber ist im Innern demRausch feind und keineswegs bloß dem narkotischen, in des-sen Verdammung er früher mit der herrschenden Ansichtübereinstimmte. Gleich dem vieler emanzipierter Engländerist sein Bewußtsein vom selben Puritanismus präformiert,den er abschwört. Ungeschieden sind bei ihm Freigabe undErniedrigung des Geschlechts. In seinen früheren Romanenschon erscheint die Libertinage als gleichsam lokalisierterReiz, ohne Aura, etwa wie in sogenannten männlichen Kul-turen die Herren unter sich von den Frauen und der Liebezu reden pflegen, mit jenem Gestus, der in den Stolz über dieerrungene Souveränität, die Sache zu erwähnen, unweiger-lich deren Geringschätzung mischt. Bei Huxley geht es sub-limierter zu als bei dem Lawrence der four letter words, aberdafür ist auch gründlicher verdrängt. Seine Empörung überdas falsche Glück opfert mit diesem auch die Idee des wah-ren. Längst ehe er zu buddhistischen Sympathien sich be-kannte, verriet seine Ironie, zumal in der Selbstdenunziationdes Intellektuellen, etwas vom wütenden Büßer, einem Sek-tierertum, wogegen sein Niveau sonst gefeit ist. Die Welt-fluchtführt in dieNudistenkolonie, wo jaauch der Sexus durchseine Enthüllung ausgerottet wird. Trotz der Vorkehrungen,die Huxley trifft, um die hinter der absoluten Massenkulturzurückgebliebene Welt des »Wilden«, der als Relikt desMenschlichen in die Brave New World verschlagen wird,ebenfalls als entstellt, abstoßend und wahnhaft auszumalen,dringen reaktionäre Impulse durch. Unter den Figuren derModerne, über welche das Anathema ergeht, befindet sichauch Freud, der an einer Stelle mit Ford gleichgesetzt ist. Erwird zum bloßen efficiency expert des Innenlebens. Allzugemütlicher Spott kreidet ihm an, er habe als erster »theappalling dangers of family life« aufgedeckt. Aber er hat esin der Tat, und die historische Gerechtigkeit ist auf seiner

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Seite: die Kritik der Familie als Agentur der Unterdrückung,wie sie gerade in der englischen Opposition seit Samuel But-ler längst vertraut war, ist im gleichen Augenblick hervor-

getreten, in dem die Familie mit ihrer ökonomischen Basisauch den letzten Rechtsausweis verloren hat, über die Ent-wicklung von Menschen zu bestimmen, und sich in dasgleiche neutralisierte Unwesen verwandelte, das Huxley imBereich der offiziellen Religion schneidend beim Namen ruft.Gegenüber der Ermunterung der infantilen Sexualität, dieer der Zukunftswelt, übrigens in vollkommenem Miß-verständnis des am Erziehungsziel des Triebverzichts nurallzu orthodox festhaltenden Freud, zuschreibt, schlägtHuxley sich auf die Seite derer, die gegen das Industriezeit-alter weniger die Entmenschlichung als den Verfall der Sitteneinzuwenden haben. Die abgründige dialektische Fragestel-lung, ob am Ende nur so viel Glück möglich sei, wie Verbotezu brechen sind, wird von der Gesinnung des Romans insAffirmative verdorben, zur Ausrede für den Fortbestandhinfälliger Verbote mißbraucht, so als ob je das Glück, dasaus der Tabuverletzung hervorgeht, das Tabu legitimierenkönnte, das nicht um des Glücks, sondern um dessen Hinter-treibung willen in der Welt ist. Wohl werden die regelmäßigstattfindenden Gemeinde-Orgien des Romans, der anbefoh-lene kurzfristige Wechsel der Partner folgerecht aus demstumpfsinnig-offiziellen Sexualbetrieb abgeleitet, der ausder Lust einen Spaß macht und sie durch Gewährung ver-weigert. Aber eben darin, in der Unmöglichkeit, der Lust insAuge zu sehen, kraft der Reflexion ihr sich ganz zu über-lassen, wirkt das uralte Verbot fort, dem Huxley voreilignachtrauert. Wäre es durchbrochen, wäre die Lust denZügel des Institutionellen los, der auch in der orgy-porgysie bändigt, so löste mit ihrer Totenstarre sich die BraveNew World. Deren oberster Moralgrundsatz soll sein, daßjeder jedem gehört, die absolute Fungibilität, die den Men-schen als Einzelwesen auslöscht, sein letztes An sich alsMythologie liquidiert und ihn als bloßes Für anderes unddamit, im Sinne Huxleys, als nichtig bestimmt. In dem nachdem Kriege hinzugefügten Vorwort zur amerikanischenAusgabe hat Huxley die Verwandtschaft jenes Prinzips mitder Sadeschen Enunziation entdeckt, daß zu den Menschen-

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rechten die absolute sexuelle Verfügung aller über alle ge-höre. Darin erblickt er die Vollendung der Narrheit folge-rechter Vernunft. Aber er verkennt die Unvereinbarkeit derverketzerten Maxime mit seinem Zukunftsweltstaat. AlleDiktaturen haben die Libertinage verfemt, und Himmlersvielberufene SS-Gestüte waren ihr staatsfrommes Wider-spiel. Herrschaft wäre geradezu definierbar als Verfügungder einen über die anderen, nicht als totale Verfügung allerüber alle. Diese wäre mit keiner totalitären Ordnung zu-sammenzudenken. Das bezöge sich weit mehr noch als aufden Zustand sexueller Anarchie aufs Arbeitsverhältnis. Dienur noch Für anderes seienden Menschen, das absolute

wären zwar ihres Selbst entäußert, aber auch demBann der Selbsterhaltung entronnen, der die Brave NewWorld wie die alte zusammenhält. Reine Fungibilität zersetzteden Kern von Herrschaft und verspräche die Freiheit. Es istdie Schwäche der gesamten Konzeption Huxleys, daß sie zwarall ihre Begriffe rücksichtslos dynamisiert, zugleich jedochängstlich vorm Übergang in ihr eigenes Gegenteil behütet.Die scène à faire des Romans ist der erotische Zusammen-stoß der beiden »Welten«; der Versuch der Heldin Lenina,des Typus der gepflegten und wohlgeratenen amerikani-schen »career woman«, den »Wilden«, der sie liebt, nachden Spielregeln pflichtgemäßer Promiskuität zu verführen.Ihr Gegenspieler entspricht dem scheuen, ästhetischen Jüng-ling, an die Mutter gebunden und triebgehemmt, der seinGefühl lieber betrachtend genießt als ausdrückt und an derlyrischen Verklärung der Geliebten sein Genügen findet;ein Charakter übrigens, der in Oxford und Cambridge kaumweniger gezüchtet wird als die Epsilons in der Retorte, undder denn auch zu den sentimentalen Requisiten des neuerenenglischen Romans gehört. Der Konflikt entsteht dadurch,daß John die sachliche Selbstpreisgabe des schönen Mäd-chens als Herabwürdigung seines sublimen Gefühls für sieempfindet und davonläuft. Die Überzeugungskraft derSzene kehrt sich gegen ihr thema probandum. Die künst-liche Anmut und zellophanhafte Schamlosigkeit Leninasmacht keineswegs den unerotischen Effekt, der ihr zugewie-sen wird, sondern einen überaus verlockenden, dem selbstder entrüstete Kulturwilde am Ende des Romans erliegt.

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Wäre sie die imago der Brave New World, so verlöre diesedas Grauen. Wohl ist jede ihrer Gebärden gesellschaftlichpräformiert, Teil eines konventionellen Rituals. Aber indemsie bis zum Kern mit der Konvention eins ist, zergeht dieSpannung des Konventionellen und der Natur, und damitdie Gewalt, welche das Unrecht der Konvention ausmacht:psychologisch ist das schlecht Konventionelle immer Maleiner mißlungenen Identifikation. Wie sein Gegensatzwürde der Begriff der Konvention selbst hinfällig. Durchdie totale gesellschaftliche Vermittlung stellte gleichsam vonaußen nach innen zweite Unmittelbarkeit, Humanität sichher. Es fehlt nicht an solchen Ansätzen in der amerikanischenZivilisation. Huxley aber konstruiert Humanität und Ver-dinglichung in starrem Gegensatz, einig mit der gesamtenRomantradition, die den Konflikt des lebendigen Menschenmit versteinerten Verhältnissen zum Gegenstand hat. Erverkennt das humane Versprechen der Zivilisation, weil ervergißt, daß Humanität wie den Gegensatz zur Verding-lichung auch diese selber in sich einschloß, nicht bloß alsantithetische Bedingung des Ausbruchs, sondern positiv, alsdie wie immer brüchige und unzulängliche Form, welche diesubjektive Regung verwirklicht einzig, indem sie sie objek-tiviert. Alle die Kategorien, aufweiche das Licht des Romansfällt, Familie, Elternschaft, der Einzelne samt seinem Besitz,sind bereits Produkte der Verdinglichung. Huxley verhängtdiese als Fluch über die Zukunft, ohne am Segen des Ver-gangenen, den er anruft, des gleichen Wesens innezuwerden.So wird er zum unfreiwilligen Sprecher jener nostalgia,deren Affinität zur Massenkultur sein physiognomischerBlick so durchdringend wahrnimmt in dem Song über dieRetorte: »Bottle ofmine, it's you I've always wanted! Bottleof mine, why was I decanted? . . . There ain't no Bottle inall the world Like that dear Bottle of mine.«

Der Ausbruch des »Wilden« gegen die Geliebte ist dennauch nicht sowohl, wie vielleicht intendiert, der Protestreiner Menschennatur gegen die kalte Frechheit der Mode,sondern die poetische Gerechtigkeit gestaltet ihn als Aggres-sion eines Neurotikers, dem der von Huxley schlecht behan-delte Freud leicht verdrängte Homosexualität als Motiv derkrampfhaften Reinheit vorhalten könnte. Er schimpft auf

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die Dirne wie der Hypokrit, der bebt vor Wut gegen das,was er sich selber verbieten muß. Indem Huxley ihn ins Un-recht setzt, distanziert er sich von der Gesellschaftskritik.Ihr eigentlicher Träger im Roman ist der »Alpha plus« Ber-nard Marx, der gegen das eigene conditioning rebelliert, eineskeptisch mitfühlende Judenkarikatur. Daß die Juden alsnicht ganz Angepaßte verfolgt werden und daß eben darumihr Bewußtsein zuweilen übers Gesellschaftssystem hinaus-reicht, ist Huxley vertraut. Er verdächtigt nicht die Authen-tizität von Bernards kritischer Einsicht. Aber diese wirdselber bloß einer Art von Organminderwertigkeit, dem un-vermeidlichen inferiority complex zugeschrieben, und zu-gleich wird der radikale jüdische Intellektuelle, nach bewähr-ten Mustern, des vulgären Snobismus, schließlich derschmählichen moralischen Feigheit bezichtigt. Seit IbsensErfindung von Gregers Werle und Stockmann, eigentlichseit Hegels Geschichtsphilosophie, hat die bürgerliche Kul-turpolitik im Namen einer die Totalität überschauenden, ab-wägenden Gesinnung den, der es anders möchte, als dasechte Kind und zugleich die Mißgeburt des Ganzen, dem erwiderstrebt, entblößt, und darauf bestanden, daß, sei's gegenihn, sei's durch ihn hindurch, die Wahrheit doch allemal mitdem Ganzen sei. Damit solidarisiert sich der RomancierHuxley, während der Kulturprophet die Totalität verab-scheut. Wohl richtet Gregers Werle die zugrunde, die erretten will, und von der Eitelkeit Bernard Marxens ist keinerfrei, der, indem er über die Dummheit sich erhebt, zugleichklüger sich vorkommt. Aber der von außen die Phänomeneunbeteiligt, frei, überlegen abschätzende Blick, der über dieBeschränktheit der Negation, den Austrag der Dialektiksich zu erheben meint, ist eben darum weder der von Wahr-heit noch von Gerechtigkeit. Diese sollte nicht sowohl dieUnzulänglichkeit des Besseren auskosten, um es vormSchlechten zu kompromittieren, als aus jener Unzulänglich-keit zusätzliche Kraft für die Empörung ziehen. Zu der Ge-ringschätzung der Kräfte der Negativität um ihrer Ohn-macht willen schickt sich die Kraftlosigkeit des Positiven,das als absolut gegen die Dialektik zitiert wird. Wenn der»Wilde«, in dem entscheidenden Gespräch mit dem worldController Mond, erklärt, »what you need is something with

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tears for a change«, so ist die absichtlich schnoddrig vor-gebrachte Exaltation des Leidens keine bloße Charakteristikdes verrannten Individualisten, sondern beschwört diechristliche Metaphysik, die Erlösung in der Nachfolge einzigkraft des Leidens verheißt. Da jene jedoch im trotz allemdurch und durch aufgeklärten Bewußtsein des Romans nichtmehr sich hervortraut, so wird der Kultus des Leidens zumabsurden Selbstzweck, dem Gehabe eines Ästhetizismus,dessen Bündnis mit den finsteren Mächten Huxley kaumverborgen sein kann; das Nietzschesche »Lebe gefährlich«,das der »Wilde« gegen den resigniert hedonistischen Welt-kontrolleur anmeldet, war als Parole dem totalitären Musso-lini, selber so einem Weltkontrolleur, gerade recht.

An einer Stelle, in der Erörterung einer vom Weltkontrol-leur unterdrückten biologischen Schrift, tritt der allzu posi-tive Kern des Romans unbefangen ans Licht. Es ist »the sortof idea that might easily de-condition the more unsettledminds among the higher castes - make them lose their faithin happiness as the Sovereign Good and take to believinginstead, that the goal was somewhere beyond, somewhereoutside the present human sphere; that the purpose of lifewas not the maintenance of well-being, but some intensi-fication and refining of consciousness, some enlargement ofknowledge.« So blaß und verdünnt, auch gewitzigt vor-sichtig das Ideal formuliert wird, es entgeht darum dochnicht der Widersprüchlichkeit. »Intensification and refiningof consciousness« oder »enlargement of knowledge« hypo-stasiert umstandslos den Geist gegenüber der Praxis und derErfüllung materieller Bedürfnisse. Wie jedoch aller Geistseinem Sinn nach den gesellschaftlichen Lebensprozeß undzumal die Arbeitsteilung voraussetzt; wie alles Geistige alsauf seine »Erfüllung« auf Daseiendes bezogen, implizit aucheine Anweisung auf Praxis ist, so heißt es den arbeitsteiligenund gespaltenen Zustand ideologisch verewigen, wenn derGeist zu den materiellen Bedürfnissen in unbedingten, zeit-losen Gegensatz gerückt wird. Nichts Geistiges, nicht derweltflüchtigste Traum ward je konzipiert, dessen Gehaltnicht auch die Veränderung der materiellen Realität objek-tiv in sich begriffe. Kein Affekt, kein Inwendiges, das nichtendlich Auswendiges meinte und, bar solcher wie sehr auch

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sublimierten Intention, zum bloßen Schein, zur Unwahrheitverdürbe. Noch die selbstvergessene Leidenschaft vonRomeo und Julia, aus der Huxley etwas wie einen »Wert«macht, ist kein autarkisches An sich, sondern wird geistig,mehr als bloßes Schauspiel der Seele, indem sie über denGeist hinausweist auf die körperliche Vereinigung. Huxleyverrät diese an die Sehnsucht, welche sie bedeutet. Dennuntrennbar ist die Schönheit von »Es war die Nachtigallund nicht die Lerche« von der Symbolik des Geschlechts.Das Tagelied um seiner Transzendenz willen verherrlichen,ohne dieser anzuhören, daß sie gerade als Transzendenznicht in sich ruht, sondern gestillt werden will, wäre so leerwie die physiologisch abgezirkelte Sexualität der Brave NewWorld, die den Zauber tötet, der sich nicht um seiner selbstwillen konservieren läßt. Die Schmach heute ist nicht dasÜberwiegen der sogenannten materiellen Kultur über diegeistige: in der Klage darüber fände Huxley unwillkommeneGenossen, die Arch-Community-Songsters aller neutrali-sierten Denominationen und Weltanschauungen. Anzu-greifen wäre die gesellschaftlich diktierte Trennung desBewußtseins von seiner gesellschaftlichen Verwirklichung,an der es doch sein Wesen hätte. Gerade der Chorismoszwischen Geistigem und Materiellem, den Huxleys philo-sophia perennis aufrichtet, der Ersatz des »faith in happi-ness« durch ein unbestimmbar abstraktes »goal somewherebeyond« bekräftigt den verdinglichten Zustand, dessenSymptome ihm unerträglich sind, die Neutralisierung dervom materiellen Produktionsprozeß abgespaltenen Kultur.»Wenn zwischen materiellen und ideellen Bedürfnissenschon einmal ein Unterschied gemacht wird«, formulierteeinmal Horkheimer, »so muß man zweifellos auf der Erfül-lung der materiellen bestehen, denn in dieser Erfüllung ist. . . die gesellschaftliche Änderung mitgesetzt. Sie schließtsozusagen die richtige Gesellschaft ein, die allen Menschenmöglichst gute Lebensbedingungen gewährt. Das ist mitder schließlichen Ausschaltung der schlechten Herrschaftidentisch. Die Betonung der isolierten, ideellen Forderungaber führt zu wirklichem Unsinn. Man kann nicht das Rechtauf Sehnsucht, auf das transzendente Wissen, auf das gefähr-liche Leben geltend machen. Der Kampf gegen die Massen-

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kultur kann einzig im Nachweis des Zusammenhangs zwi-schen ihr und dem Fortgang des sozialen Unrechts bestehen.Es ist lächerlich, dem Kaugummi vorzuhalten, daß er denHang zur Metaphysik beeinträchtige, aber es ließe sich wahr-scheinlich zeigen, daß die Gewinne Wrigleys und sein Palastin Chicago in der gesellschaftlichen Funktion begründetwaren, die Menschen mit den schlechten Verhältnissen zuversöhnen, sie von ihrer Kritik abzubringen. Nicht daß derKaugummi der Metaphysik schadet, sondern daß er imGegenteil selbst Metaphysik ist, gilt es klarzumachen. Wirkritisieren die Massenkultur nicht deshalb, weil sie den Men-schen zuviel gibt oder ihr Leben zu sicher macht - das über-lassen wir der lutherischen Theologie -, sondern weil sie da-zu hilft, daß die Menschen zu wenig und zu Schlechtes be-kommen, daß ganze Schichten drinnen und draußen infurchtbarem Elend leben, daß die Menschen sich mit demUnrecht abfinden, daß sie die Welt in einem Zustand fest-hält, bei dem man einerseits gigantische Katastrophen,andererseits die Verschwörung abgefeimter Eliten zu einemdubiosen Friedenszustand zu gewärtigen hat.« Huxley setztder Sphäre der Bedürfnisbefriedigung korrektiv eine andereentgegen, die jener verdächtig ähnlich sieht, welche dasBürgertum die höhere zu nennen pflegt. Dabei geht er voneinem invarianten, gleichsam biologischen Begriff von Be-dürfnis aus. Aber jegliches menschliche Bedürfnis ist inseiner konkreten Gestalt historisch vermittelt. Die Statik,welche die Bedürfnisse heute scheinbar angenommen haben,ihre Fixierung auf die Reproduktion des Immergleichen, istselber bloß der Reflex auf die materielle Produktion, die mitder Eliminierung von Markt und Konkurrenz bei gleich-zeitigem Fortbestand der Eigentumsverhältnisse stationärenCharakter annimmt. Mit dem Ende dieser Statik wird dasBedürfnis völlig anders aussehen. Wenn die Produktion un-bedingt, schrankenlos sogleich auf die Befriedigung derBedürfnisse, auch und gerade der vom bislang herrschendenSystem produzierten, umgestellt wird, werden sich ebendamit die Bedürfnisse selbst entscheidend verändern. DieUndurchdringlichkeit von echtem und falschem Bedürfnisgehört wesentlich zur gegenwärtigen Phase. In ihr bildendie Reproduktion des Lebens und dessen Unterdrückung

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eine Einheit, die zwar als Gesetz des Ganzen, doch nicht imeinzelnen durchschaubar ist. Einmal wird sich rasch genugzeigen, daß die Menschen den Schund, den die Kultur-industrie, und die jämmerliche Erstklassigkeit, die ihnen diehandfestere liefert, nicht brauchen. Der Gedanke etwa, dasKino sei neben Wohnung und Nahrung zur Reproduktionder Arbeitskraft notwendig, ist »wahr« nur in einer Welt,welche die Menschen auf die Reproduktion der Arbeitskraftzurichtet und ihre Bedürfnisse zur Harmonie mit dem Inter-esse von Angebot und gesellschaftlicher Kontrolle zwingt.Die Vorstellung, daß eine emanzipierte Gesellschaft nachder schlechten Schauspielerei von Lametta oder den schlech-ten Suppen von Devory schreie, ist absurd. Je besser dieSuppe, um so lustvoller der Verzicht auf Lametta. Ist derMangel verschwunden, so wird die Relation von Bedürfnisund Befriedigung sich verändern. Heute ist der Zwang, fürsBedürfnis in seiner durch den Markt vermittelten und danneingefrorenen Form zu produzieren, eines der Hauptmittel,alle bei der Stange zu halten. Es darf nichts gedacht, ge-schrieben, getan und gemacht werden, was über einen Zu-stand hinausginge, der sich weitgehend durch die Bedürf-nisse der ihr Ausgelieferten hindurch an der Macht hält. Un-vorstellbar, daß der Zwang zur Bedürfnisbefriedigung ineiner veränderten Gesellschaft als Fessel fortwirkte. Diegegenwärtige Gesellschaft hat den ihr immanenten Bedürf-nissen weithin die Befriedigung versagt, dafür aber die Pro-duktion durch den Verweis eben auf die Bedürfnisse in ihremBannkreis festgehalten. Sie war so praktisch wie irrational.Eine Ordnung, welche die Irrationalität abschafft, in welchedie Warenproduktion verwickelt war, aber die Bedürfnissebefriedigt, wird ebenso den praktischen Geist abschaffen,der noch in der Zweckferne des bürgerlichen l'art pour l'artsich spiegelt. Sie hebt nicht nur den hergebrachten Anta-gonismus von Produktion und Konsum auf, sondern auchderen jüngste staatskapitalistische Einheit und konvergiertmit der Idee, daß, nach den Worten von Karl Kraus, »Gottden Menschen nicht als Konsumenten oder Produzenten er-schaffen hat, sondern als Mensch«. Daß etwas unnütz sei, istdann keine Schande mehr. Anpassung verliert ihren Sinn.Die Produktivität wird nun erst im eigentlichen, nicht ent-

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stellten Sinn aufs Bedürfnis wirken: nicht indem sie das un-befriedigte mit Unnützem sich stillen läßt, sondern indemdas Gestillte vermag, zur Welt sich zu verhalten, ohne sichdurch universale Nützlichkeit zuzurichten.

In der Kritik am falschen Bedürfnis bewährt Huxley dieIdee von der Objektivität des Glücks. Die sture Wieder-holung des Satzes »everybody's happy now« wird zuräußersten Anklage. Insofern die Menschen von einer aufVersagung und Betrug gegründeten Ordnung hervor-gebracht, ihre Bedürfnisse von dieser ihnen eingebildet wer-den, ist Glück, das mit der Befriedigung solcher Bedürfnissezusammenfällt, wahrhaft schlecht, das letzte Anhängsel andie Maschinerie. Während in der integralen Welt, welcheTrauer nicht duldet, das Gebot des Römerbriefs »Weinetmit den Weinenden« mehr gilt als je, ist das »Freuet euchmit den Fröhlichen« zum blutigen Hohn geworden: was dieOrdnung den Geordneten an Freude läßt, zehrt von der Ver-ewigung des Jammers. Daher wirkt die bloße Absage ansfalsche Glück heute bereits subversiv. Die Reaktion Leninasauf ihren »Wilden«, der einen idiotischen Film widerlichfindet, »why did he go out of his way to spoil things ?«, istdie typische Manifestation eines dichten Verblendungs-zusammenhangs. Daß man es den Leuten nicht nehmen darf,hat von je zum Sprichwörterschatz derer gehört, welche esden Leuten nehmen. Aber zugleich enthält die Beschreibungvon Leninas Gereiztheit das Element der Kritik an Huxleyseigener Ansicht. Ihm ist der Aufweis der Nichtigkeit dessubjektiven Glücks, nach Maßstäben der traditionellenKultur, gleichbedeutend mit dem der Nichtigkeit von Glückan sich. An seine Stelle soll eine aus der Religion und Philo-sophie von ehedem destillierte Ontologie treten, Glück undobjektiv höchstes Gut seien unversöhnlich. Eine Gesell-schaft, die auf nichts anderes aus sei als auf Glück, gehe un-weigerlich in die »insanity«, in maschinelle Vertierung über.Aber Leninas übereifrige Defensive verrät Unsicherheit,den Verdacht, daß ihre Art Glück vom Widerspruch ver-unstaltet, daß es dem eigenen Begriff nach kein Glück sei.Um des Schwachsinns jenes Films - und damit der »objek-tiven Verzweiflung« des genießenden Betrachters - inne-zuwerden, bedarf es keiner pharisäischen Erinnerung an

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Shakespeare. Sondern das Wesen des Films als bloßer Ver-dopplung und Verstärkung dessen, was ohnehin ist; seineeklatante Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit sogar in der zumInfantilismus verhaltenen Freizeit; die Unvereinbarkeit desVerdopplungsrealismus und des Anspruchs, Bild zu sein -all das tritt in der Sache selbst hervor, ohne Rekurs auf dog-matisch zitierte verites eternelles. Daß der von Huxley sosorgfältig gezogene circulus vitiosus seine Lücken hat, liegtnicht an Mängeln seiner Phantasiekonstruktion, sondern ander Vorstellung eines subjektiv vollkommenen, aber objek-tiv widersinnigen Glücks. Gilt seine Kritik des bloß subjek-tiven, dann verfällt die Idee eines bloß objektiven, vommenschlichen Anspruch getrennten hypostasierten Glücksnicht weniger der Ideologie. Grund des Unwahren ist diezur starren Alternative verdinglichte Trennung. MustaphaMond, der raisonneur und advocatus diaboli des Buches,der das exponierteste Bewußtsein der Brave New World vonsich selber verkörpert, bringt jene Alternative auf die For-mel. Auf den Einwand des »Wilden«, es werde der Menschdurch die totale Zivilisation degradiert, antwortet er: »De-grade him from what position? As a happy, hard-working,goods-consuming Citizen he's perfect. Of course, if youchoose some other Standard than ours, then perhaps youmight say he was degraded. But you've got to stick to oneset of postulates.« In den beiden sets of postulates, die gleichFertigfabrikaten zur Auswahl gestellt werden, scheint Rela-tivismus durch: die Frage nach Wahrheit löst sich in eineWenn-dann-Relation auf. So wird denn auch die von Huxleyisolierte Wertewelt von Tiefe und Innerlichkeit Beute derPragmatisierung. Der »Wilde« berichtet, daß er einmal ineiner seiner asketischen Anwandlungen mit ausgespanntenArmen bei glühender Hitze an einem Felsen gestanden habe,um zu verspüren, wie es einem Gekreuzigten zumute sei.Um Erklärung gebeten, erteilt er die kuriose Antwort: »Be-cause I feit I ought to. If Jesus could stand it. And then, ifone has done something wrong . . . Besides. I was unhappy,that was another reason.« Wenn der »Wilde« schon selberfür seine religiösen Abenteuer, die Wahl des Leidens, keinenanderen Rechtsgrund zu finden vermag, als daß er gelittenhabe, kann er kaum seinem Interviewer widersprechen, der

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meint, es sei denn doch vernünftiger, die euphorische Allheil-droge Soma zu nehmen, um sich von Depressionen zu kurie-ren. Irrational hypostasiert, selber gleichsam zu bloßem Da-seingemacht, verlangt die Ideenwelt immerzu nach Rechtfer-tigung durchs bloß Daseiende: sie wird um jenes empirischenGlücks willen verordnet, das durch sie verneint werden soll.Die krude Alternative von objektivem Sinn und subjekti-vem Glück, die These der Ausschließlichkeit, ist der philo-sophische Grund für das reaktionäre Fazit des Romans. Manhabe sich zu entscheiden zwischen der Barbarei des Glücksund Kultur als dem objektiv höheren Zustand, der Unglückin sich einbegreift. »Fortschreitende Naturbeherrschung undGesellschaftsbeherrschung« - so interpretierte Herbert Mar-cuse — »beseitigt alle Transzendenz, physische sowohl als psy-chische. Kultur, als der zusammenfassende Titel für die eineSeite des Gegensatzes, lebt von Unerfülltem, Sehnsucht,Glauben, Schmerz, Hoffnung, kurz, von dem, was nicht ist,sich aber in der Wirklichkeit anmeldet. Das bedeutet aber,Kultur lebtvom Unglück.« Der Kern der Kontroverse ist diebündige Disjunktion: daß man nicht das eine ohne das anderehaben kann, nicht die Technik ohne death conditioning,nicht den Fortschritt ohne die angedrehte infantile Regres-sion. An der Disjunktion selber aber ist die Unbestechlich-keit des Gedankens vom ideologischen Gewissenszwangabzuheben. Nur der Konformismus könnte mit dem objek-tiven Wahnsinn heute als bloßem Unfall der Entwicklungsich abfinden. Die Rückbildung ist der folgerechten Entwick-lung von Herrschaft wesentlich. Theorie kann nicht in gut-mütiger Freiheit der Wahl akzeptieren, was ihr an der ge-schichtlichen Tendenz paßt, und das andere fortlassen. Welt-anschauliche Versuche, zur Technik eine »positive Haltung«einzunehmen, aber zu advozieren, daß ihr ein Sinn gegebenwerden müsse, vertrösten kunstgewerblich und kommenbloß der fragwürdigsten Arbeitsfreude zugute. Aber derDruck, den die Brave New World universal ausübt, ist demBegriff nach mit jener totenhaften Statik unvereinbar, diesie zum Angsttraum macht. Nicht umsonst tragen alleHauptfiguren, selbst Lenina, Züge von subjektiver Ver-störtheit. Das Entweder-Oder ist falsch. Der mit grimmi-gem Behagen ausgemalte Zustand vollkommener Imma-

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nenz transzendiert sich selber, nicht vermöge einer vonaußen herangebrachten, ohnmächtigen Selektion desWünschbaren und Verwerflichen sondern vermöge seinerobjektiven Beschaffenheit. Huxley weiß von der über denKopf der Menschen hinweg sich durchsetzenden histori-schen Tendenz. Sie ist ihm die Selbstentfremdung und voll-kommene Entäußerung des Subjekts, das sich zum bloßenMittel macht, ohne daß ein Zweck überhaupt noch wäre.Aber er fetischisiert den Fetischismus der Ware. Ihm wirdder Warencharakter zu einem Ontischen, an sich Seienden,vor dem er kapituliert, anstatt den ganzen Hexenspuk alsbloße Reflexionsform, als das falsche Bewußtsein des Men-schen von sich selber zu durchschauen, das mit seinem öko-nomischen Grunde zergehen müßte. Er gesteht nicht zu, daßdie phantasmagorische Unmenschlichkeit der Brave NewWorld eine ihrer selbst vergessene Beziehung zwischen Men-schen, gesellschaftliche Arbeit; daß der total verdinglichteder gegen sich selbst verblendete Mensch ist. Statt dessenhetzt er unanalysierte Fassadenphänomene aufeinander nachArt des »Konflikts zwischen Mensch und Maschine«. Wes-sen er die Technik bezichtigt, das liegt nicht, wie er es denromantischen Philistern glaubt, in ihrem eigenen Sinne, derAbschaffung der Arbeit, sondern folgt, wie es übrigens imRoman durchschimmert, aus ihrer Verfilzung mit den gesell-schaftlichen Verhältnissen der Produktion. Selbst die Un-vereinbarkeit von Kunst und Massenreproduktion heuterührt nicht von der Technik als solcher her, sondern davon,daß diese, unterm Diktat jener sinnwidrig fortbestehendenVerhältnisse, den Anspruch von Individuation, nach Benja-mins Wort die »Aura«, festhalten muß, den sie nicht ein-lösen kann. Noch die Verselbständigung des Mittels, dieHuxley an der Technik rügt, entzieht nicht notwendig denZwecken das Ihre. Auf dem bewußtlosen Weg des Bewußt-seins, gerade in der Kunst1, vermag das blinde Spiel mit

1 Schumann schreibt einmal, in seiner Jugend habe er seinem Instrument, dem Klavier -dem Mittel -, etwas Besonderes bieten wollen, in seiner Reife aber rein an der Musik - demZweck - sich interessiert. Aber die fraglose Überlegenheit seiner frühen Werke über die spätenist nicht zu trennen von dem unablässig produktiven Phantasiereichtum des Klaviersatzes, derdas Helldunkel, die gebrochene harmonische Farbe, ja die Dichte des kompositorischen Ge-füges erst hervorbringt. Künstler realisieren nicht von sich aus die »Idee«. Diese fällt vielmehrtechnologischen Leistungen zu, oft der unerhellten Spielerei.

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Mitteln Zwecke zu setzen und zu entfalten. Das Verhältnisvon Mittel und Zweck, von Humanität und Technik läßt sichnicht nach ontologischen Prioritäten regeln. Die Alternativeläuft darauf hinaus, daß die Menschheit nicht aus dem Un-heil sich herausarbeiten soll. Sie wird vor die Wahl gestelltzwischen dem Rückfall in eine selbst bei Huxley fragwürdigeMythologie und dem Fortschritt zur lückenlosen Unfreiheitdes Bewußtseins. Kein Raum bleibt einem Begriff vom Men-schen, der weder im kollektiven Systemzwang noch im kon-tingenten Einzelnen aufginge. Die Konstruktion, die den to-talitären Weltstaat denunziert und den Individualismus, deres dahin brachte, retrospektiv verklärt, ist selber totalitär.Der Gedanke, der keinen Ausweg läßt, impliziert bereits dieLiquidation alles nicht Aufgehenden, vor der Huxley mitGrund schaudert. Die praktische Konsequenz des bürger-lichen »Man kann nichts machen«, wie es als Echo des Ro-mans nachhallt, ist genau das perfide »Du mußt dich fügen«in totalitären Brave New World. Die Eindeutigkeit der Ten-denz, die Geradlinigkeit des Fortschrittsbegriffs, wie er imRoman gehandhabt wird, leitet von der beschränkten Formder Entfaltung der Produktivkräfte in der »Vorgeschichte«sich her. Unausweichlichkeit kommt in der negativen Utopiedadurch zustande, daß jene Beschränktheit der Produktions-verhältnisse, die profitbedingte Inthronisierung des Produk-tionsapparats als Eigenschaft der technischen und mensch-lichen Produktivkräfte an sich zurückgespiegelt wird. In sei-ner Prophezeiung der Entropie der Geschichte folgt Huxleydem Schein, den die Gesellschaft notwendig verbreitet, ge-gen die er eifert.

Er kritisiert den Geist des Positivismus. Aber weil auchseine Kritik bei Schocks stehenbleibt, bei der erlebten Un-mittelbarkeit, und den gesellschaftlichen Schein unbefragtals Tatsache registriert, wird er selber zum Positivisten. Trotzdes ungemütlichen Tons stimmt er zusammen mit der de-skriptiv gesinnten Kulturkritik, welche durch die Klage überden unausweichlichen Untergang der Kultur der Verfesti-gung der verklagten Herrschaft Vorwände lieferte. Zivilisa-tion zieht im Namen von Kultur in die Barbarei ein. Er vi-siert anstelle der Antagonismen etwas wie ein in sich wider-spruchsloses Gesamtsubjekt der technologischen ratio, und

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demgemäß eine simple Totalentwicklung. Solche Vorstel-lungen gehören zur Fassade, den kurrenten Ideen von Uni-versalgeschichte und Lebensstil. Er verfehlt, die Symptomeder Unifizierung selber, deren eindringliche Physiognomiker liefert, als Äußerungen des antagonistischen Wesens zuentziffern, des Drucks der Herrschaft, der Totalität teleolo-gisch ist. Bei allem Hohn über das »everybody's happy now-adays« wohnt seinem Geschichtsbild der Form nach, diemehr vom Wesen freilegt als der Stoff der Begebenheiten,ein tief Harmonistisches inne. Die Konzeption undurchbro-chenen Fortschritts unterscheidet sich von derliberalistischendurch die Akzente, nicht durch den Blick auf die Sache. Wieein Bentham-Liberaler prognostiziert Huxley eine Entwick-lung zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl:nur daß sie ihm nicht behagt. Er verurteilt die Brave NewWorld mit dem gleichen gesunden Menschenverstand, des-sen Walten in der Brave New World verhöhnt ist. Alleror-ten treten daher im Roman unanalysierte Momente eben je-ner Art ausgelaugter Weltanschauung zutage, der Huxley sowenig hold ist. Das Vergängliche als das Nichtige, Geschichteals Unheilsgeschichte wird den Invarianten kontrastiert, derphilosophia perennis, dem ewigen Sonnenschein des Ideen-himmels. Demgemäß rücken Äußerlichkeit und Innerlich-keit in primitive Antithese: den Menschen wird das Übel,von der künstlichen Zeugung bis zur galoppierenden Ver-greisung, bloß angetan, die Kategorie des Einzelnen aber er-scheint in unbeftagter Würde. Unreflektierter Individualis-mus behauptet sich, als wäre nicht das Grauen, auf das derRoman hinstarrt, selber die Ausgeburt der individualistischenGesellschaft. Aus dem historischen Prozeß wird die einzel-menschliche Spontaneität eliminiert, dafür aber der Begriffdes Individuums von der Geschichte abgespalten, seinerseitszu einem Stück philosophia perennis gemacht. Individua-tion, ein wesentlich Gesellschaftliches, wird nochmals zurunabänderlichen Natur. Anstelle der Einsicht in ihre Ver-stricktheit in den Schuldzusammenhang, deren die bürger-liche Philosophie auf ihrer Höhe mächtig war, tritt die em-pirische Nivellieiung des Individuums durch den Psycholo-gismus. Im Gefolge einer Tradition, deren Übermacht eherzum Widerstand als zum Respekt herausfordert, wird das In-

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dividuum als Idee ins Ungemessene erhöht, andererseits aberjeder einzelne Mensch vom Nachzügler der Desillusionsro-mantik des moralischen Bankrotts überführt. Die Erkennt-nis von der Nichtigkeit des Individuums, gesellschaftlichwahr, wird auf das privat überforderte Individuum abge-wälzt. Daß es fungibel, in Wahrheit nicht es selber, sonderndie »Charaktermaske« der Gesellschaft ist, rechnet HuxleysBuch, wie sein gesamtes oeuvre, dem verabsolutierten Indi-viduum als seine Schuld, als Unechtheit, Verlogenheit, be-schränkten Egoismus, als all das an, worauf subtil beschrei-bende Ichpsychologie pochen kann. Im authentischen bür-gerlichen Geiste ist der Einzelne für Huxley zugleich alles —weil er nämlich einmal das Prinzip der Eigentumsordnungabgab - und nichts, absolut ersetzbar als bloßer Träger desEigentums. Das ist der Preis, den die Ideologie des Indivi-dualismus für die eigene Unwahrheit zu entrichten hat. Dasfabula docet des Romans ist nihilistischer, als es der Humani-tät recht sein kann, die er proklamiert.

Damit aber widerfährt Unrecht gerade dem Tatsächlichen,auf dem der positivistische Nachdruck liegt. Mit allen aus-geführten Utopien teilt die Huxleysche den Aspekt von Ei-telkeit. Es ist anders gegangen und wird weiter anders gehen.Nicht die exakte Phantasie versagt, sondern der Blick in dieferne Zukunft als solcher, das Erraten der Faktizität desNichtseienden, ist mit der Ohnmacht von Vermessenheitgeschlagen. Das antithetische Moment der Dialektik läßtsich nicht konsequenzlogisch, etwa durch den Oberbegriffder Aufklärung, eskamotieren. Wer das versucht, scheidetdas nicht Subjekteigene, nicht selber »Geistige«, sich selbstDurchsichtige aus, das den Triebstoff der dialektischen Be-wegung liefert. Die ausgepinselte Utopie, wie sehr auch mitmaterialistisch-technologischen Elementen versetzt und na-turwissenschaftlich korrekt, ist dem Ansatz nach ein Rück-fall in die Identitätsphilosophie, den Idealismus. Darum miß-rät ihr die ironische »Richtigkeit«, um die Huxleys Verlän-gerungen sich bemühen. So gewiß der seiner selbst unbe-wußte Begriff totaler Aufklärung dem Umschlag in Irratio-nalität zutreibt, so wenig läßt aus ihm sich deduzieren, ob essich ereignen und ob es dabei sein Bewenden haben wird.Die heraufdämmernden politischen Katastrophen können

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die Fluchtbahn der technischen Zivilisation nicht unberührtlassen. >Ape and Essence< ist der einigermaßen hastige Ver-such, einen Fehler zu korrigieren, der nicht von mangelnderKenntnis der Atomphysik, sondern von der linearen Ge-schichtskonzeption herrührt und darum durch Korrekturen,die Verarbeitung zusätzlicher Stoffe, nicht sich überwindenläßt. War die Plausibilität der Prognosen von Brave NewWorld allzu simpej, so tragen die des zweiten Zukunfts-buches, etwa die Teufelsreligion, ein Stigma der Unwahr-scheinlichkeit, das inmitten der realistischen Romantechnikdurch den Hinweis auf die philosophische Allegorik kaumzu verteidigen ist. Im unvermeidlichen Denkfehler aber rächtsich die ideologische Befangenheit der Konzeption. Die Hal-tung bleibt unwillentlich jener großbürgerlichen verwandt,die souverän versichert, keineswegs aus eigenem Interesseden Fortbestand der Profitwirtschaft zu befürworten, son-dern um der Menschen willen. Diese seien noch nicht reiffür den Sozialismus. Hätten sie nichts mehr zu arbeiten, sowüßten sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Derlei Weis-heiten sind nicht bloß durch ihren Gebrauch kompromittiert,sondern ohne Erkenntnisgehalt, weil sie ebenso »die Men-schen« als Gegebenheiten verdinglichen, wie den Betrachterals freischwebende Instanz verhimmeln. Solche Kälte wohntim Innersten von Huxleys Gefüge. Voll fiktiver Sorge umdas Unheil, das die verwirklichte Utopie der Menschheit an-tun könnte, schiebt er das weit dringlichere und realere Un-heil von sich, das die Utopie hintertreibt. Müßig, darüber zuklagen, was aus den Menschen wird, wenn Hunger undSorge aus der Welt verschwunden sein werden. Denn sie istderen Beute kraft der Logik eben jener Zivilisation, der derRoman nichts Schlimmeres nachzusagen weiß als die Lange-weile des ihr prinzipiell nicht zu erreichenden Schlaraffen-landes. Zugrunde liegt, trotz aller Empörung über das Un-wesen, eine Konstruktion der Geschichte, die Zeit hat. Die-ser wird zugeschoben, was an den Menschen wäre. Das Ver-hältnis zu ihr ist parasitär. Der Roman überträgt die Schuldder Gegenwart gleichsam auf die Ungeborenen. Darin re-flektiert sich das unselige »Es soll nicht anders werden«,Endprodukt der urprotestantischen Verquickung von Ein-kehr und Repression. Weil der Mensch erbsündig und auf

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Erden des Besseren nicht fähig sei, wird die Verbesserur?der Welt selber in die Sünde umgebogen. Das Blut der Un-geborenen aber schlägt dem Roman nicht an. Er versagt ausder Schwäche eines mit oft sehr großartigen Erfindungenausgeschmückten Leerschemas. Weil die Veränderung derMenschen nicht kalkuliert werden kann und der vorgreifen-den Imagination sich entzieht, wird sie ersetzt durch dieKarikatur der Menschen von heute, nach dem uralten undvernutzten Verfahren der »Satire«. Die Fiktion der Zukunftverbeugt sich vor der Allmacht des Gegenwärtigen: wasnoch nicht war, wird komisch durch den minderen Effekt,daß es bloß dem gleicht, was ohnehin ist, wie Götter in Of-fenbachschen Operetten. Fürs Bild des Fernsten wird dieAnsicht unterschoben, die das umgekehrte Opernglas vomNächsten bietet. Der Formtrick, von Zukünftigem als vonVergangenem zu berichten, verleiht dem Gehalt ein ab-stoßend Einverstandenes. Die Groteske, die das Gegenwär-tige durch Konfrontation mit seiner eigenen Verlängerungin die Zukunft ereilt, hat dieselben Lacher auf ihrer Seite wienaturgetreue Darstellungen mit vergrößerten Köpfen. Derpathetische Begriff des ewigen Menschen bescheidet sich zummenschenunwürdigen des Normalen von gestern, heute undmorgen. Nicht das kontemplative Moment als solches, dasder Roman mit aller Philosophie und Darstellung teilt, istihm vorzuwerfen, sondern daß er nicht selber in die Re-flexion das Moment einer Praxis hineinnimmt, welche dasverruchte Kontinuum sprengte. Die Menschheit hat nichtzwischen totalitärem Weltstaat und Individualismus zu wäh-len. Ist die große historische Perspektive überhaupt mehr alsdie Fata Morgana des verfügenden Blicks, so geht sie aufdie Frage, ob die Gesellschaft schließlich sich selbst be-stimmen oder die tellurische Katastrophe herbeiführen wird.

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Zeitlose Mode

Zum Jazz

Über bald fünfzig Jahre, seit 1914 in Amerika die anstek-kende Begeisterung für den Jazz ausbrach, hat dieser alsMassenphänomen sich behauptet. Die Prozedur, deren Vor-geschichte bis auf gewisse Liedchen wie >Turkey in theStraw< und >Old Zip Coon< aus der ersten Hälfte des neun-zehnten Jahrhunderts zurückdatiert, blieb im wesentlichen,allen Erklärungen propagandistischer Historiker zum Trotz,unverändert. Jazz ist Musik, die bei simpelster melodischer,harmonischer, metrischer und formaler Struktur prinzipiellden musikalischen Verlauf aus gleichsam störenden Synko-pen zusammenfügt, ohne daß je an die sture Einheit desGrundrhythmus, die identisch durchgehaltenen Zählzeiten,die Viertel gerührt würde. Das will nicht heißen, es sei imJazz nichts geschehen. So wurde das einfarbige Klavier ausder Vorherrschaft, die es im Ragtime innehatte, von kleinenEnsembles, meist Bläsern, verdrängt; so haben die wild sichgebärdenden Praktiken der frühen Jazzbands aus dem Sü-den, vor allem New Orleans, und aus Chicago sich mit zu-nehmender Kommerzialisierung und breiterer Rezeption ge-mildert, um stets in fachmännischen Versuchen wieder be-lebt zu werden, die dann aber regelmäßig, mochten sie Swingoder Bebop heißen, abermals dem Geschäft verfielen undrasch ihre Schärfe verloren. Vollends ist das Prinzip selbst,das sich zu Anfang übertreibend hervorheben mußte, mitt-lerweile so selbstverständlich geworden, daß es jener Ak-zente auf den schlechten Taktteilen entraten kann, deren manfrüher bedurfte. Wer heute noch mit solchen Akzenten mu-sizierte, würde als corny verspottet, altmodisch wie Abend-kleider von 1927. Widerspenstigkeit hat sich in Glätte zwei-ten Grades verwandelt, die Reaktionsform des Jazz derartsich niedergeschlagen, daß eine ganze Jugend primär inSynkopen hört und den ursprünglichen Konflikt zwischen

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diesen und dem Grundmetron kaum mehr austrägt. All dasändert aber nichts an einer Immergleichheit, die das Rätselaufgibt, wieso Millionen von Menschen des monotonen Rei-zes immer noch nicht überdrüssig sind. Der heute als Kunst-redakteur des Magazins >Life< weltbekannte Winthrop Sar-geant, dem das beste, zuverlässigste und besonnenste Buchüber den Gegenstand zu danken ist, schrieb vor fünfund-zwanzig Jahren, daß der Jazz keineswegs ein neues musi-kalisches Idiom, sondern »noch in seinen komplexesten Er-scheinungen eine sehr einfache Angelegenheit unablässigwiederholter Formeln« sei. So unbefangen läßt sich das wohlnur in Amerika wahrnehmen: in Europa, wo der Jazz nochnicht zur alltäglichen Einrichtung wurde, neigen zumal jeneGläubigen, die ihn weltanschaulich betreiben, dazu, ihn alsDurchbruch ursprünglicher und ungebändigter Natur, alsTriumph über die musealen Kulturgüter mißzuverstehen.So wenig aber Zweifel an den afrikanischen Elementen desJazz sein kann, so wenig auch daran, daß alles Ungebärdigein ihm von Anfang an in ein striktes Schema eingepaßt warund daß dem Gestus der Rebellion die Bereitschaft zu blin-dem Parieren derart sich gesellte und immer noch gesellt,wie es die analytische Psychologie vom sadomasochistischenTypus lehrt, der gegen die Vaterfigur aufmuckt und dennochinsgeheim sie bewundert, ihr es gleichtun möchte und dieverhaßte Unterordnung wiederum genießt. Eben diese Ten-denz leistete der Standardisierung, kommerziellen Aus-schlachtung und Erstarrung des Mediums Vorschub. Nichtetwa haben erst böse Geschäftsleute von außen der Stimmeder Natur ein Leids getan, sondern der Jazz besorgt es selberund zieht durch die eigenen Gebräuche den Mißbrauch her-bei, über den dann die Puristen des unverwässerten reinenJazz sich entrüsten. Schon die Negro Spirituals, Vorformendes Blues, mögen als Sklavenmusik die Klage über die Un-freiheit mit deren unterwürfiger Bestätigung verbunden ha-ben. Übrigens fällt es schwer, die authentischen Negerele-mente des Jazz zu isolieren. Das weiße Lumpenproletariathatte offenbar ebenfalls an seiner Vorgeschichte teil, ehe erins Scheinwerferlicht einer Gesellschaft gerückt ward, dieauf ihn zu warten schien, mit seinen Impulsen durch Cake-walk und Steptänze längst vertraut.

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Gerade der schmale Vorrat an Verfahrungsweisen undEigentümlichkeiten jedoch, der rigorose Ausschluß jegli-chen unreglementierten Ansatzes, macht die Beharrlichkeiteiner nur notdürftig und meist zu Reklamezwecken mit Än-derungen ausstaffierten Spezialität so schwer verständlich.Während der Jazz inmitten einer sonst nicht eben statischenPhase sich für eine kleine Ewigkeit eingerichtet hat und nichtdie mindeste Bereitschaft zeigt, von seinem Monopol etwasnachzulassen, sondern einzig die, sich je nachdem hochtrai-nierten oder undifferenziert rückständigen Hörern anzupas-sen, hat er doch vom Charakter der Mode nichts eingebüßt.Was da fast fünfzig Jahre lang veranstaltet wird, ist so ephe-mer, als währte es eine Saison. Jazz ist eine Manier der Inter-pretation. Wie bei Moden geht es um Aufmachung undnicht um die Sache; leichte Musik, die ödesten Produkte derSchlagerindustrie werden frisiert, nicht etwa Jazz als solcherkomponiert. Die Fanatiker - amerikanisch nennen sie sichabgekürzt fans -, die das wohl spüren, berufen sich deshalbmit Vorliebe auf die improvisatorischen Züge der Darbie-tung. Aber das sind Flausen. Jeder gewitzigte Halbwüchsigein Amerika weiß, daß die Routine heutzutage der Improvi-sation kaum mehr Raum läßt und daß, was auftritt, als wärees spontan, sorgfältig, mit maschineller Präzision einstudiertist. Selbst dort aber, wo einmal wirklich improvisiert ward,und in den oppositionellen Ensembles, die vielleicht heutenoch auf dergleichen zu ihrem Vergnügen sich einlassen,bleiben die Schlager das einzige Material. Daher reduzierensich die sogenannten Improvisationen auf mehr oder minderschwächliche Umschreibungen der Grundformeln, unter de-ren Hülle das Schema in jedem Augenblick hervorlugt.Noch die Improvisationen sind in weitem Maß genormt undkehren stets wieder. Was im Jazz überhaupt vorkommendarf, ist so beschränkt wie irgendein besonderer Schnitt vonKleidern. Angesichts der Fülle der Möglichkeiten, musikali-sches Material selbst in der Unterhaltungssphäre, falls esderen durchaus bedarf, zu erfinden und zu behandeln, zeigtder Jazz sich völlig verarmt. Was er von den verfügbarenmusikalischen Techniken anwendet, ist ganz willkürlich. Al-lein das Verbot, die Grundzählzeit mit dem Fortgang einesStückes lebendig abzuwandeln, engt das Musizieren derart

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ein, daß ihm eifrig zu willfahren eher psychologische Regres-sion als ästhetisches Stilbewußtsein erheischt. Nicht minderfesseln die Restriktionen metrischer, harmonischer, forma-ler Art. Die Immergleichheit des Jazz besteht insgesamtnicht in einer tragenden Organisation des Materials, in derwie in einer artikulierten Sprache Phantasie frei und unge-hemmt sich regen könnte, sondern in der Erhebung einigerdefinierter Tricks, Formeln und Cliches zur Ausschließlich-keit. Es ist, als klammere man sich krampfhaft an den Reizdes en vogue und verleugne den Ausdruck des Bildes einerJahreszahl, indem man das Kalenderblatt abzureißen sichweigert. Mode selbst inthronisiert sich als Bleibendes undbüßt eben darüber die Würde der Mode ein, die ihrer Ver-gänglichkeit.

Um zu verstehen, warum ein paar Rezepte eine ganze Sphäreumschreiben, als ob es nichts anderes gäbe, wird man vonall den Phrasen über Vitalität und Rhythmus der Zeit sichfreimachen müssen, welche die Reklame, ihrjournalistischerAnhang und schließlich auch die Opfer herbeten. Geraderhythmisch ist, womit der Jazz aufwartet, äußerst beschei-den. Die ernste Musik seit Brahms hatte alles, was am Jazzetwa auffällt, längst aus sich heraus hervorgebracht, ohnedabei zu verweilen. Vollends fragwürdig ist es um die Vi-talität eines noch in den Abweichungen standardisiertenFließbandverfahrens bestellt. Die Jazzideologen zumal inEuropa begehen den Fehler, eine Summe psychotechnischkalkulierter und ausprobierter Effekte für den Ausdruck je-ner Seelenlage zu halten, deren Trugbild von dem Betriebim Hörer erweckt wird, etwa wie wenn man jene Filmstars,deren ebenmäßige oder leidvolle Gesichter nach irgendwel-chen Porträts berühmter Leute stilisiert sind, eben darumfür Wesen wie Lucrezia Borgia oder die Lady Hamiltonhielte, falls nicht gar diese selber schon ihre eigenen Manne-quins gewesen sein sollten. Was enthusiastisch verstockteUnschuld als Urwald ansieht, ist durch und durch Fabrik-ware, selbst dort noch, wo in Sonderveranstaltungen Spon-

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taneität als Sparte des Geschäfts ausgestellt wird. Die para-doxe Unsterblichkeit des Jazz gründet in der Ökonomie.Die Konkurrenz des Kulturmarkts hat eine Anzahl von Zü-gen, wie Synkopierung, halb vokalen, halb instrumentalenKlang, gleitende impressionistische Harmonik, üppige In-strumentation nach dem Grundsatz »bei uns wird nicht ge-spart«, als besonders erfolgreich erwiesen. Diese sind dannaussortiert und kaleidoskopisch zu immer neuen Kombina-tionen zusammengesetzt worden, ohne daß zwischen demSchema des Ganzen und den kaum minder schematischenDetails je auch nur die leiseste Wechselwirkung stattgehabthätte. Die Resultate der Konkurrenz, die vielleicht selberschon nicht so frei war, sind allein übriggelassen worden,das ganze Verfahren eingeschliffen, insbesondere wohl durchsRadio. Die Investitionen, die in den name bands, den durchwissenschaftlich gelenkte Propaganda berühmten Jazzor-chestern stecken, und wohl mehr noch das Geld, das die Fir-men, welche Radiozeit für Reklamezwecke kaufen, für mu-sikalische best-seller-Programme wie die hit parade aufwen-den, machen jede Divergenz zum Risiko. Darüber hinausbedeutet die Standardisierung immer festere Dauerherrschaftüber die Hörermassen und ihre conditioned reflexes. Man er-wartet, daß sie einzig das verlangen, woran sie gewöhntsind, und in Wut geraten, wenn etwas die Ansprüche ent-täuscht, deren Erfüllung ihnen als Menschenrecht des Kun-den gilt. Würde der Versuch, mit etwas anders Geartetemdurchzudringen, in der leichten Musik überhaupt noch ge-wagt, so wäre er durch die ökonomische Konzentration vor-weg hoffnungslos.

In der Unüberwindlichkeit eines der eigenen Art nachZufälligen und Willkürlichen spiegelt sich etwas von derWillkür gegenwärtiger sozialer Kontrolle. Je vollständigerdie Kulturindustrie Abweichungen ausmerzt und damit dieEntwicklungsmöglichkeiten des eigenen Mediums beschnei-det, um so mehr nähert sich der lärmend dynamische Betriebder Statik an. Wie kein Jazzstück, im musikalischen Sinn,Geschichte kennt; wie alle seine Bestandteile umzumontie-ren sind, und wie kein Takt aus der Logik des Fortgangsfolgt, so wird die zeitlose Mode zum Gleichnis einer plan-mäßig eingefrorenen Gesellschaft, gar nicht so unähnlich

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dem Schreckbild aus Huxleys >Brave New World <. Ökono-men mögen erwägen, ob darin eine Tendenz der überakku-mulierenden Gesellschaft zur Rückbildung aufs Stadium dereinfachen Reproduktion von der Ideologie sei's ausgedrückt,sei's getroffen ist. Die Befürchtung, die der am Ende gründ-lich enttäuschte Thorstein Veblen in seinen Spätschriftenhegt: daß das wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte-spiel in einem negativ-geschichtslosen hierarchischen Zu-stand, einer Art potenziertem Feudalsystem stillgelegt werde,hat zwar wenig Wahrscheinlichkeit für sich, wohnt jedochdem Jazz als dessen Wunschbild inne. Die imago der tech-nischen Welt enthält ohnehin ein Geschichtsloses, das siezum mythischen Blendwerk von Ewigkeit tauglich macht.Die geplante Produktion scheint dem Lebensprozeß, ausdem sie das Ungelenkte, nicht Absehbare und nicht Voraus-berechnete ausscheidet, damit das eigentlich Neue zu ent-ziehen, ohne das Geschichte schwer gedacht werden kann,und die Form des standardisierten Massenprodukts teilt auchdem zeitlich aufeinander Folgenden etwas vom Ausdruckder Immergleichheit mit. An einer Lokomotive von 1950wirkt paradox, daß sie anders ist als eine von 1850: darumwerden die modernsten Schnellzüge angelegentlich mit Pho-tographien altertümlicher dekoriert. Seit Apollinaire habendie Surrealisten, die manches mit dem Jazz verbindet, aufdiese Erfahrungsschicht angesprochen: »ici meme les auto-mobiles ont l'air d'etre anciennes«. Bewußtlos sind Spurendessen in die zeitlose Mode eingegangen; der Jazz, der sichnicht umsonst mit der Technik solidarisiert, wirkt als strengwiederholte, doch gegenstandslose Kulthandlung mit am»technologischen Schleier« und täuscht vor, das zwanzigsteJahrhundert wäre ein Ägypten von Sklaven und endlosenDynastien. Täuscht vor: denn während die Technik nachdem Modell des einförmig kreisenden Rades symbolisiertwird, entfalten sich ihre eigenen Kräfte ins Ungemessene,und sie ist von einer Gesellschaft umklammert, deren Span-nungen weitertreiben, deren Irrationalität fortbesteht unddie den Menschen mehr an Geschichte angedeihen läßt, alsihnen lieb ist. Zeitlosigkeit wird auf die Technik von einerWeltverfassung projiziert, die sich nicht mehr verändernmöchte, um nicht zu stürzen. Die falsche Unvergänglichkeit

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jedoch wird Lügen gestraft von dem schlecht Zufälligenund Minderen, das sich als allgemeines Prinzip einrichtet.Die Herren der tausendjährigen Reiche von heutzutage sehenwie Verbrecher aus, und die perennierende Gebärde derMassenkultur ist die Asozialer. Daß gerade dem Synkopen-trick die musikalische Diktatur über die Massen zufiel, mahntan Usurpation, die bei aller Rationalität der Mittel im End-zweck irrationale totalitäre Kontrolle. Im Jazz liegen Me-chanismen, welche in Wahrheit der gesamten gegenwärtigenIdeologie, aller Kulturindustrie angehören, sichtbar oben-auf, weil sie ohne technische Kenntnis nicht ebenso leichtsich festnageln lassen wie etwa im Film. Doch auch der Jazztrifft seine Vorsichtsmaßnahmen. Parallel zur Standardisie-rung läuft Pseudoindividualisierung. Je mehr die Hörer andie Kandare genommen werden, desto weniger dürfen siees merken. Es wird ihnen weisgemacht, sie hätten es miteiner ihnen auf den Leib geschnittenen »Konsumenten-kunst« zu tun. Die spezifischen Effekte, mit denen der Jazzsein Schema ausfüllt, insbesondere die Synkopierung selber,präsentieren sich jeweils als Ausbruch oder Karikatur uner-faßter Subjektivität - virtuell der des Zuhörers - oder auchals piekfeine Nuance zu dessen höherer Ehre. Nur fängt sichdie Methode im eigenen Netz. Während sie unablässig demHörer etwas Apartes versprechen, seine Aufmerksamkeit an-stacheln, vom grauen Einerlei sich abheben muß, darf siedoch andererseits selbst nie den abgesteckten Bannkreisüberschreiten; sie muß immer neu und immer dasselbe sein.Daher sind die Abweichungen ebenso standardisiert wie dieStandards und nehmen sich im gleichen Augenblick zurück,in dem sie auftreten: der Jazz, wie alle Kulturindustrie, er-füllt Wünsche nur, um sie zugleich zu versagen. So sehr dasJazz-Subjekt, der Stellvertreter des Hörers in der Musik,sich als Sonderling aufführt, so wenig ist es doch es selber.Die individuellen Züge, die mit der Norm nicht überein-stimmen, sind von dieser geprägt, Male der Verstümmlung.Voll Angst identifiziert es sich mit der Gesellschaft, die esfürchtet, weil sie es zu dem machte, was es ist. Das verleihtdem Jazzritual den affirmativen Charakter: den der Auf-nahme in die Gemeinde unfreier Gleicher. In deren Zeichenkann der Jazz mit teuflisch gutem Gewissen sich auf die Hö-

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rermassen selbst berufen. Standardverfahren, die unbestrit-ten herrschen und über sehr lange Zeiträume gehandhabtwerden, bringen Standardreaktionen hervor. Viel zu harm-los wäre die Ansicht, es ließe bei geänderter Programmpoli-tik, wie sie wohlmeinenden Erziehern vorschwebt, den ver-gewaltigten Menschen etwas Besseres oder auch nur Ab-wechslung sich aufdrängen. Ernsthafte Änderungen der Pro-grammpolitik würden, sofern sie nicht über den ideologi-schen Bereich der Kulturindustrie weit hinausgriffen, in derTat entrüstet abgelehnt. Die Bevölkerung ist so an den Un-fug gewöhnt, der ihr widerfährt, daß sie selbst dann nichtauf ihn verzichten mag, wenn sie ihn halb durchschaut; imGegenteil, sie muß die eigene Begeisterung andrehen, umsich die Schmach als Gunst einzureden. Der Jazz entwirftSchemata eines gesellschaftlichen Verhaltens, zu dem dieMenschen ohnehin genötigt sind. An ihm exerzieren sie jeneVerhaltensweisen und lieben ihn obendrein, weil er ihnendas Unvermeidliche leichter macht. Er reproduziert seineeigene Massenbasis, ohne daß doch darum die wenigerschuld wären, die ihn hervorbringen. Die Ewigkeit derMode ist ein circulus vitiosus.

Die Anhänger des Jazz gliedern sich, wie erneut von DavidRiesman nachdrücklich hervorgehoben wurde, in zweirecht deutlich getrennte Gruppen. Im Innern hausen dieExperten oder solche, die sich dafür halten - denn sehr oftsind die Fanatiker, die mit einer selbst bereits lanciertenTer-minologie um sich werfen und mit gewichtigem AnspruchJazzstile unterscheiden, kaum fähig, in präzisen, technisch-musikalischen Begriffen Rechenschaft von dem zu geben,wovon sie hingerissen sein wollen. Meist halten sie sich, ineiner Konfusion, die heute allenthalben zu beobachten ist,für avantgardistisch. Unter den Symptomen des Zerfalls vonBildung ist nicht das letzte, daß der wie sehr auch fragwür-dige Unterschied von autonomer »hoher« und kommerziel-ler »leichter« Kunst zwar nicht kritisch durchschaut, dafüraber überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Nachdem

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einige kulturdefaitistische Intellektuelle diese gegen jeneausspielten, haben die banausischen Champions der Kultur-industrie auch noch die stolze Zuversicht, an der Spitze desZeitgeistes zu marschieren. Die mittlerweile selber nach demSchema lowbrow, middlebrow und highbrow für Hörer er-ster, zweiter und dritter Programme organisierte Scheidungvon »Kulturniveaus« ist widerwärtig. Aber sie läßt sichnicht dadurch überwinden, daß sich lowbrow-Sekten zuhighbrows erklären. Das berechtigte Unbehagen an der Kul-tur bietet den Vorwand, aber keinen Grund dafür, eine hoch-rationalisierte Sparte der Massenproduktion, die jene Kulturerniedrigt und ausverkauft, ohne im mindesten sie zu tran-szendieren, als Aufbruch eines neuen Weltgefühls zu verherr-lichen und mit dem Kubismus, der Lyrik von Eliot und derProsa von Joyce durcheinanderzubringen. Regression istnicht Ursprung, aber dieser die Ideologie für jene. Wer sichvon der anwachsenden Respektabilität der Massenkultur da-zu verführen läßt, einen Schlager für moderne Kunst zu hal-ten, weil eine Klarinette falsche Töne quäkt, und einen mitdirty notes versetzten Dreiklang für atonal, hat schon vor derBarbarei kapituliert. Die zur Kultur herabgesunkene Kunstwird von der Strafe ereilt, daß man sie, je mehr sie ihr Un-wesen ausbreitet, um so hilfloser mit ihren eigenen Abfall-produkten verwechselt. Selbstbewußtes Analphabetentum,dem der Stumpfsinn des tolerierten Exzesses fürs Reich derFreiheit gilt, zahlt dem Bildungsprivileg heim. In schwäch-licher Rebellion sind sie schon wieder bereit zu ducken,ganz so wie der Jazz es ihnen vormacht, indem er Stolpernund Zufrühkommen mit dem kollektiven Marschschritt in-tegriert. Auffällig ist eine gewisse Ähnlichkeit des Typus desJazzenthusiasten mit manchen jugendlichen Adepten des lo-gischen Positivismus, die mit demselben Eifer die philoso-phische Bildung abschütteln wie jene die musikalische. DieBegeisterung ist auf Ernüchterung übergesprungen, die Af-fekte heften sich an eine Technik, feindlich allem Sinn. Manfühlt sich geborgen in einem System, das so wohl definiertist, daß keine Fehler unterlaufen können, und die verdrängteSehnsucht nach dem, was draußen wäre, äußert sich in un-duldsamem Haß und einer Miene, in der das Besserwissendes Eingeweihten mit dem Anspruch des Illusionslosen sich

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paaren. Auftrumpfende Trivialität, das Befangensein in derOberfläche als zweifelsfreie Gewißheit, verklärt die feigeAbwehr jeglicher Selbstbesinnung. All diese altgewohntenReaktionsformen haben neuerdings ihre Unschuld verloren,werfen sich als Philosophie auf und werden damit erst ganzböse.

Um die Sachverständigen einer Sache, an der es wenig zuverstehen gibt außer Spielregeln, kristallisieren sich die un-artikulierten, vagen Anhänger. Meist berauschen sie sich andem Ruhm der Massenkultur, den diese manipuliert; siekönnen ebensogut sich in Klubs zur Verehrung von Film-stars zusammenfinden oder Autogramme anderer Promi-nenzen sammeln. Ihnen kommt es auf die Hörigkeit alssolche, auf Identifikation an, ohne daß sie viel Aufhebensvon dem jeweiligen Inhalt machten. Sind es Mädchen, sohaben sie sich geschult, bei der Stimme eines crooner, einesJazzsängers, in Ohnmacht zu fallen. Ihr auf ein Lichtsignaleinschnappender Beifall wird bei populären Radioprogram-men, deren Sendung sie beiwohnen dürfen, gleich mit über-tragen; sie nennen sich selbst jitterbugs, Käfer, die Reflex-bewegungen ausführen, Schauspieler der eigenen Ekstase.Überhaupt von etwas hingerissen sein, eine vermeintlich ei-gene Sache haben, entschädigt sie für ihr armes und bilder-loses Dasein. Der Gestus der Adoleszenz, entschlossen fürdiesen oder jenen von einem zum andern Tag zu »schwär-men«, mit der immer gegenwärtigen Möglichkeit, morgenschon als Narrheit zu verdammen, was man heute eiferndanbetet, ist sozialisiert. Freilich wird in Europa leicht über-sehen, daß die Jazzanhänger dort keineswegs denen in Ame-rika gleichen. Das Exzessive, Unbotmäßige, das am Jazz inEuropa immer noch mitgefühlt wird, fehlt heute in Amerika.Die Erinnerung an die anarchischen Ursprünge, die der Jazzmit allen rezipierten Massenbewegungen der Gegenwartteilt, ist gründlich verdrängt, wiewohl sie unterirdisch wei-tergeistern mag. Jazz als Institution ist vorgegeben, takenfor granted, stubenrein und gut gewaschen. Das Moment derGefügigkeit im parodistischen Überschwang jedoch teilendie Jazzbegeisterten aller Länder. Darin mahnt ihr Spiel anden tierischen Ernst von Gefolgschaften in totalitären Staa-ten, mag auch der Unterschied von Spiel und Ernst auf den

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von Leben und Tod hinauslaufen. Die Reklame für irgend-einen Schlager, den eine berühmte name band spielte, lautete:>Follow Your Leader, X. Y.<. Während in europäischenDiktaturstaaten die Führer beider Schattierungen wider dieDekadenz des Jazz eiferten, hatte die Jugend der anderenschon längst sich von den synkopierten Gehtänzen, derenKapelle nicht umsonst von der Militärmusik abstammt, elek-trisieren lassen wie von Märschen. Die Zweiteilung in Kern-truppen und unartikulierte Gefolgsleute hat etwas von derzwischen der Partei-Elite und den restlichen Volksgenossen.

Das Jazzmonopol beruht auf der Ausschließlichkeit des An-gebots und der Ökonomischen Übermacht dahinter. Aber eswäre längst gebrochen, enthielte nicht die allgegenwärtigeSpezialität ein Allgemeines, auf das die Menschen anspre-chen. Der Jazz muß eine »Massenbasis« besitzen, die Tech-nik muß an ein Moment in den Subjekten anknüpfen, dasfreilich wieder auf die soziale Struktur und auf typischeKonflikte zwischen Ich und Gesellschaft zurückverweist.Auf der Suche nach jenem Moment wird man zunächst anden Excentric-Clown denken oder Parallelen mit älterenFilmkomikern ziehen. Die Kundgabe individueller Schwächewird widerrufen, das Stolpern als eine Art höherer Ge-schicklichkeit bestätigt. In der Integration des Asozialen be-rührt sich das Schema des Jazz mit dem ebenso standardi-sierten des Kriminalromans und seiner Ableger, wo regel-mäßig die Welt so verzerrt - oder enthüllt - ist, als wäre dasAsoziale, das Verbrechen die alltägliche Norm, und wo manzugleich durch den unvermeidlichen Sieg der Ordnung dielockende und bedrohliche Anfechtung wegzaubert. Demallen wäre wohl einzig die psychoanalytische Theorie ange-messen. Ziel des Jazz ist die mechanische Reproduktion ei-nes regressiven Moments, eine Kastrationssymbolik, die zubedeuten scheint: gib den Anspruch deiner Männlichkeitauf, laß dich kastrieren, wie der eunuchenhafte Klang derJazzband es verspottet und proklamiert, und du wirst dafürbelohnt, in einen Männerbund aufgenommen, welcher das

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Geheimnis der Impotenz mit dir teilt, das im Augenblick desInitiationsritus sich lüftet1. Daß diese Deutung des Jazz, vondessen sexuellen Implikationen die schockierten Feinde einebessere Vorstellung haben als die Apologeten, nicht willkür-lich und zu weit hergeholt ist, ließe an zahllosen Details derMusik wie der Schlagertexte sich belegen. In dem Buch>American Jazz Music< beschreibt Wilder Hobson einenfrühen Jazzkapellmeister namens Mike Riley, der als musi-kalischer Exzentrik wahre Verstümmelungen an den Instru-menten muß verübt haben. »The band squirted water andtore clothes, and Riley offered perhaps the greatest of trom-bone comedy acts, an insane rendition of Dinah duringwhich he repeatedly dismembered the hörn and reassembledit erratically until the tubing hung down like brass furnish-ings in a junk shop, with a vaguely harmonic honk stillsounding from one or more of the loose ends.« Längst zuvorhatte Virgil Thomson die Leistungen des berühmten Jazz-trompeters Armstrong mit denen der großen Kastraten desachtzehnten Jahrhunderts verglichen. Für die ganze Sphäresteht der Sprachgebrauch ein, der zwischen long-haired undshort-haired musicians unterscheidet. Die letzteren sind dieJazzleute, die Geld verdienen und sich gepflegtes Aussehenleisten können; die andern, etwa der Karikatur des slawi-schen Pianisten mit der langen Mähne nachgebildet, fallenunter ein geringschätziges Stereotyp des zugleich hunger-leidenden und über konventionelle Anforderungen sich frechhinwegsetzenden Künstlers. Soweit der manifeste Inhalt je-nes Sprachgebrauchs. Wofür aber das abgeschnittene Haareinsteht, bedarf kaum der Erläuterung. Im Jazz werden diePhilister, die über Simson sind, in Permanenz erklärt.

Wahrhaft die Philister. Denn während die Kastrations-symbolik tief vergraben ist im Vollzug des Jazz, durch dieInstitutionalisierung des Immergleichen vom Bewußtseinabgezogen, wenn auch vielleicht darum um so mächtiger,laufen die Praktiken des Jazz sozial auf die fast bis in diePhysiologie des Subjekts hinein fortgesetzte Anerkennungeiner traumlos-realistischen, von jeglicher Erinnerungsspur

*Die Theorie ist entfaltet in der 1936 in der )Zeitschrift für Sozialforschung< erschienenenStudie >Über Jazz< (S. 252ff.) und ergänzt in einer Kritik der Bücher von Sargeant und Hob-son in den >Studies in Philosophy and Social Science<, 1941, S. 175.

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ans nicht ganz Eingefangene gereinigten Welt hinaus. Manmuß, um die Massenbasis des Jazz zu begreifen, sich Rechen-schaft geben von dem Tabu, das in Amerika, allem offiziel-len Kunstbetrieb zum Trotz, über dem künstlerischen Aus-druck, sogar den Ausdrucksregungen von Kindern liegt -die progressive education, die sie zum freien Produzieren an-hält, ja Ausdrucksfähigkeit zum Selbstzweck erklärt, ist ein-zig eine Reaktion darauf. Während der Künstler teils tole-riert, teils als »Unterhalter«, als Funktionär in die Konsum-sphäre eingeschaltet, wie ein höher bezahlter Oberkellnerder Forderung nach Diensten unterworfen wird, ist dasStereotyp des Künstlers zugleich das des Introvertierten, desegozentrischen Narren, vielfach des Homosexuellen. Mögenimmer solche Eigenschaften den Berufskünstlern nachge-sehen, mag selbst ein skandalöses Privatleben als Teil derUnterhaltung von ihnen erwartet werden - jeder anderemacht durch die spontane, nicht vorweg gesellschaftlich ge-steuerte künstlerische Regung sich bereits verdächtig. EinKind, das lieber ernste Musik hört oder Klavier übt, als sichein Baseballspiel anzuschauen oder fernzusehen, wird in sei-ner Klasse oder in den anderen Gruppen, denen es angehörtund die ihm weit mehr Autorität verkörpern als Eltern oderLehrer, als sissy, als weibischer Schwächling, zu leiden haben.Der Ausdrucksregung selber gilt bereits die gleiche Kastra-tionsdrohung, die im Jazz symbolisiert und mechanisch-ri-tuell bewältigt wird. Trotzdem jedoch ist gerade währendder Entwicklungsjahre das Ausdrucksbedürfnis, das mitKunst ihrer objektiven Qualität nach gar nichts zu tun zuhaben braucht, nicht ganz auszutreiben. Die Halbwüchsigensind noch nicht völlig vom Erwerbsleben und dessen seeli-schem Korrelat, dem »Realitätsprinzip«, unterjocht. Ihreästhetischen Impulse werden von der Unterdrückung nichteinfach ausgelöscht, sondern abgelenkt. Der Jazz ist das be-vorzugte Medium solcher Ablenkung. Den Massen der Ju-gendlichen, die der zeitlosen Mode Jahr um Jahr zulaufen,vermutlich um sie nach ein paar Jahren zu vergessen, lieferter einen Kompromiß zwischen ästhetischer Sublimierungund gesellschaftlicher Anpassung. Das »unrealistische«,praktisch unverwertbare, imaginative Element wird durch-gelassen, soweit es im eigenen Charakter derart sich verän-

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dert, daß es selber dem Realbetrieb unermüdlich sich an-ähnelt, seine Gebote in sich wiederholt, ihnen willfahrt unddamit dem Bereich wieder sich eingliedert, aus dem es aus-brechen wollte. Kunst wird entkunstet: sie tritt selber alsein Stück jener Anpassung auf, der ihr eigenes Prinzip wi-derspricht. Von daher fällt Licht auf manche absonderlichenZüge des Jazzverfahrens. So auf die Rolle des Arrangements,die keineswegs bloß aus technischer Arbeitsteilung oder ausdem musikalischen Illiteratentum der sogenannten Kompo-nisten zulänglich sich erklärt. Nichts darf sein, was es ansich ist; alles muß zurechtgestutzt werden, Spuren einer Zu-bereitung tragen, die es, indem es dem schon Bekannten sichannähert, leichter auffaßbar machen, zugleich aber auch be-zeugen, daß es bestimmt ist, dem Hörer zu Willen zu sein,ohne ihn zu idealisieren, und die schließlich es kenntlichmachen als ein vom Gesamtbetrieb Gebilligtes, das keinerleiDistanz beansprucht, sondern vorbehaltlos mitspielt: Mu-sik, die sich nichts Besseres dünkt.

Ebenso gehorcht dem Primat der Anpassung die spezi-fische Art von Geschicklichkeit, welche der Jazz von denMusikern und zu einigem Maß auch von den Hörern, sicher-lich von den Tänzern verlangt, welche die Musik imitierenwollen. Ästhetische Technik, als Inbegriff der Mittel zur Ob-jektivierung einer autonomen Sache, wird ersetzt durch dieFähigkeit, Hindernisse zu nehmen, sich nicht durch Stö-rungsfaktoren wie die Synkope irremachen zu lassen unddabei doch die der abstrakten Spielregel unterstellte Sonder-aktion schlau durchzuführen. Der ästhetische Vollzug wirdsportifiziert von einem Tricksystem. Wer seiner mächtigbleibt, erweist sich zugleich als praktisch. Die Leistung desJazzmusikers und -kenners addiert sich zu einer Folge glück-lich bestandener Tests. Der Ausdruck aber, eigentlicher Trä-ger des ästhetischen Protests, wird ereilt von der Macht, ge-gen die er protestiert. Vor ihr nimmt er den Klang des Hä-mischen und Jämmerlichen an, der eben noch flüchtig insGrelle und Aufreizende sich kostümiert. Das Subjekt, dassich ausdrückt, drückt eben damit aus: ich bin nichts, ichbin Dreck, es geschieht mir recht, was man mit mir macht;es ist potentiell schon einer jener Angeklagten russischenStils, die zwar unschuldig sind, aber von Anbeginn mit dem

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Staatsanwalt kooperieren und keine Strafe schwer genug fürsich finden. War einmal das ästhetische Bereich, als eineSphäre eigener Gesetze, aus dem magischen Tabu hervorge-gangen, welches das Heilige vom Alltäglichen sonderte undjenes rein zu halten gebot, so rächt sich nun die Profanitätam Nachkommen der Magie, der Kunst. Diese wird am Le-ben gelassen nur, wenn sie aufs Recht der Andersheit ver-zichtet und der Allherrschaft der Profanität sich einordnet,an welche am Ende das Tabu überging. Nichts darf sein,was nicht ist wie das Seiende. Jazz ist die falsche Liquida-tion der Kunst: anstatt daß die Utopie sich verwirklichte,verschwindet sie aus dem Bilde.

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Bach gegen seine Liebhaber verteidigt

Die heute herrschende musikwissenschaftliche Ansicht vonBach trifft zusammen mit der Rolle, die ihm Stagnation undBetriebsamkeit der auferstandenen Kultur zuweisen. Es sollsich in ihm, mitten im aufgeklärten Jahrhundert, nochmalsdie traditional verbürgte Gebundenheit, der Geist der mit-telalterlichen Polyphonie, der theologisch überwölbte Kos-mos offenbaren. Seine Musik sei dem Subjekt und seiner Zu-fälligkeit enthoben; sie töne nicht sowohl vom Menschenund seinem Inwendigen, als daß in ihr die Ordnung desSeins an sich verpflichtend laut werde. Die als unveränder-lich und unausweichlich vorgestellte Struktur solchen Seinswird zum Surrogat des Sinnes: was nicht anders sein kann,als es erscheint, zur Rechtfertigung seiner selbst. An ihn hal-ten sich alle, die, des Glaubens wie der Selbstbestimmungentwöhnt oder ihrer nicht mehr fähig, nach Autorität suchen,weil es gut wäre, geborgen zu sein. Die derzeitige Funktionseiner Musik ähnelt der ontologischen Mode: durchs Ver-sprechen, den individualistischen Zustand kraft Setzung ei-nes den Menschen übergeordneten, dem Dasein enthobenen,zugleich jedoch eindeutigen theologischen Inhalts entraten-den, abstrakten Prinzips zu überwinden. Sie genießen dieOrdnung seiner Musik, weil sie sich unterordnen dürfen.Das Werk, das einmal aus der Enge des theologischen Hori-zonts sich erzeugte, um ihn zu durchbrechen und in Univer-salität überzugehen, wird in die Schranken zurückgerufen,die es überstieg: Bach wird von der ohnmächtigen Sehnsuchtzu eben dem Kirchenkomponisten degradiert, gegen dessenAmt seine Musik sich sträubte und das er nur unter Kon-flikten erfüllte. Was ihn von den Verfahrungsweisen seinerEpoche absetzt, wird nicht als Widerspruch seines Gehaltszu diesen verstanden, sondern taugt einzig dazu, den Nim-bus handwerkerlicher Beschränktheit ins Klassische zu er-höhen. Die Reaktion, ihrer politischen Helden beraubt, be-mächtigt sich vollends dessen, den sie längst unter dem

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schmachvollen Namen des Thomaskantors beschlagnahmthatte. Amusische Gymnasien monopolisieren ihn, und seineWirkung geht nicht länger, wie noch bei Schumann und Men-delssohn, von dem aus, was musikalisch in seiner Musik sichzuträgt, sondern von Stil und Spiel, von Formel und Symme-trie, vom bloßen Gestus des Bestätigten. Indem der neureli-giöse Bach in den Dienst der konvertitenhaften Begierde tritt,wird er zugleich arm, schmal, eben des spezifischen musikali-schen Inhalts enteignet, von dem wiederum sein Prestigezehrt. Ihm widerfährt, was seine eifernden Protektoren amletzten Wort haben möchten, er verwandelt sich in ein neutra-lisiertes Kulturgut, in dem trüb das ästhetische Gelingen miteiner an sich nicht mehr substantiellen Wahrheit sich ver-mischt. Sie haben aus ihm einen OrgelfestspielkomponistenfürwohlerhalteneBarockstädte gemacht, ein Stück Ideologie.

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Die einfachste historische Reflexion sollte gegen das histo-ristische Bild Bachs mißtrauisch machen. Zeitgenosse derEnzyklopädisten, starb er sechs Jahre vor der Geburt Mo-zarts, zwanzig nur vor der Beethovens. Nicht die kühnsteKonstruktion von der »Ungleichzeitigkeit« der Musik könntedie These tragen, daß in einem einzelnen Ich substantiellsich am Leben erhält, was der Geist der Epoche auflöste, alsvermöchte je die Wahrheit eines Phänomens schlicht dessenRückständigkeit sich zu verdanken. Schlechter Individualis-mus und der Aberglaube ans Zeitlose finden sich zusammen:nur Willkür unternimmt es, den Einzelnen aus seiner wieimmer auch polemischen Beziehung zum geschichtlichenStand des Bewußtseins zu isolieren. Dem Einwand, Bachhabe, in seiner gleichsam geschichtslosen Werkstatt, in diedoch alle technischen Funde der Epoche eingingen, vonjenem Zeitgeist nichts erfahren als den Pietismus der Texteseiner geistlichen Werke, also eine der Aufklärung feindlicheTendenz, wäre zu erwidern, daß der Pietismus selber, wiealle Gestalten von Restauration, die Kräfte derselben Auf-klärung in sich enthielt, der er sich entgegensetzte. Das Sub-jekt, das vermöge der Versenkung in sich, kraft reflektierter

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»Innerlichkeit« der Gnade meint habhaft weiden zu können,ist bereits aus der dogmatischen Ordnung entlassen und aufsich selbst gestellt, autonom in der Wahl der Heteronomie.Die Teilhabe an der Zeit bezeugen aber drastisch Sach-verhalte im Gefüge von Bachs Musik. Man vergißt über demGegensatz der Generation Philipp Emanuels zu der desVaters, daß dessen ceuvre die ganze Sphäre des »Galanten«einbegreift, nicht bloß in Stilmodellen wie den Französi-schen Suiten, in denen zuweilen die mächtige Hand genre-hafte Typen des neunzehnten Jahrhunderts vorweg ein füralle Mal zu prägen scheint, sondern auch in großen durch-konstruierten Gebilden wie der Französischen Ouvertüre,wo auf Bachische Weise das Gefällige und Organisierte nichtweniger vollkommen sich durchdringt als dann im WienerKlassizismus. Wer aber spielte das Wohltemperierte Kla-vier, dessen Titel zum Prozeß der Rationalisierung sich be-kennt, aufgeschlossen durch, ohne stets wieder auf ein lyri-sches Element zu stoßen, das mit Differenziertheit, Indivi-duation, Freiheit eher zu Vierzehnheiligen paßt als zu einemselbst schon fragwürdigen Bild des Mittelalters? Es sei anFis-Dur-Präludium und Fuge aus dem ersten Band erinnert;jene Fuge, die einmal ein Komponist dem Kellerschen Tanz-legendchen verglich und in der nicht bloß subjektive Anmutunmittelbar sich darstellt, sondern wo überdies der kompo-sitorische Verlauf selber, indem das Motiv des Zwischen-satzes seinen Impuls im Verlauf des Stücks den Durchfüh-rungen mitteilt, allem regelhaften ordo der Fuge, den dochBach selber hervorgebracht hatte, ein Schnippchen schlägt.Oder die Doppelfuge in gis-moll aus dem zweiten Band, dieder späte Beethoven gut gekannt haben muß: erstaunlichnicht bloß um der bei Bach keineswegs seltenen Chromatik,sondern mehr noch um der schwebenden, gewählt vagenHarmonisierung willen, die beim Sechsachtelcharakter desStücks unabweislich den reifsten Chopin heraufruft; dasGanze eine in zahllosen Farbfacetten gebrochene Musik,modern genau in jenem Sinne nervöser Empfindlichkeit, dender Historismus exorzieren möchte. Wer dem gegenübervon romantischen Mißverständnissen reden wollte, dermüßte dem thema probandum zuliebe erst jeder spontanenBeziehung zum Sinn des musikalischen Idioms sich ent-

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schlagen, wie sie von Monteverdi bis Schönberg überhauptals Voraussetzung dem Verständnis von Musik zugrundelag. Aus solchen Gebilden, auf Kosten des Subjekts, nichtsals die Ordnung des Seins herauszuhören anstelle des sehn-süchtig beseelten Echos, das die entsinkende im Bewußtseinfindet, ergriffe nur das caput mortuum. Das Phantasma derBachischen Ontologie kommt zustande durch die mecha-nische Gewalttat des Banausen, der einzig begehrt, der Kunstzu parieren, weil ihm die Organe für ihren Sinn abgehen.

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All dem freilich stehen jene Züge Bachs entgegen, die manzu seiner Zeit bereits als anachronistisch empfand. Sie tragenSchuld an der rätselhaften Amnesie, die sein Werk achtzigJahre lang zudeckte und, mit unabsehbarer Folge für die Ge-schichte der abendländischen Musik, verhinderte, daß seineErrungenschaften in gerader Tradition und ganzem Umfangdem Wiener Klassizismus zuteil wurden. Bach erfüllte in derTat nicht bloß den Geist des Generalbasses, des stufenmäßig-harmonischen Denkens, sondern er war in jenem Geiste zu-gleich der Polyphoniker, der aus den tappenden Ansätzendes siebzehnten Jahrhunderts die Form der Fuge schuf -ihre Theorie ist von ihm abgezogen so wie die des strengenKontrapunkts von Palestrina - und ihr einziger Meisterblieb. Aber gerade die Doppelheit harmonischen und kon-trapunktischen Bewußtseins, welche ein jegliches der Kom-positionsprobleme umschreibt, die Bach paradigmatisch auf-löste, schließt das Bild vom Vollender des Mittelalters aus.Wäre er gewesen, wozu sie ihn stempeln, so hätte er wederjene Doppelheit in sich gehabt, noch, zumal in den speku-lativen Werken der Spätzeit, um ein Paradoxon sich bemüht,das dem alten polyphonen Bewußtsein unvorstellbar war,nämlich wie Musik es vermöchte, harmonisch-generalbaß-mäßig in jeder Fortschreitung als sinnvoll sich auszuweisenund zugleich polyphon, durch die Simultaneität selbständi-ger Stimmen sich ganz und gar zu organisieren. Schon derbloße Ausdruck mancher der archaisch auftretenden Stückesollte skeptisch stimmen. Der affirmative Ton der Es-Dur-

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Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviersist nicht der unmittelbarer Gewißheit einer musikalisch lautwerdenden, in der offenbaren Wahrheit gesicherten sakralenGemeinschaft - den Niederländern liegt solche Affirmationund Emphase ganz fern. Sondern es ist, der Substanz, gewißnicht dem subjektiven Bewußtsein nach, die Reflexion aufsGlück des Bestätigten, der musikalischen Geborgenheit, wiesie einzig dem emanzipierten Subjekt zuteil wird: es erst ver-mag Musik als das nachdrückliche Versprechen objektiverRettung zu konzipieren. Eine solche Fuge setzt den Dualis-mus voraus. Sie sagt, wie schön es wäre, die Botschaft derBestätigung aus dem umgrenzten Kosmos zum Menschenzurückzubringen: sie ist, zum Ärgernis des religiösen Neo-phytentums von heutzutage, romantisch, nur freilich un-beschreiblich viel weiter greifend, als es späterhin der roman-tische Stil sich zutrauen konnte. Sie spiegelt nicht das ein-same Subjekt als Garanten des Sinnes zurück, sondern meintdessen Aufhebung in einem objektiv umfassenden Absolu-ten. Aber dies Absolute wird beschworen, behauptet, ge-setzt, gerade weil und soweit es der leibhaften Erfahrungnicht gegenwärtig ist, und Bachs Gewalt ist die solcher Be-schwörung. Er war kein archaischer Handwerksmeister,sondern ein Genius des Eingedenkens. Erst die heraufzie-hende Barbarei, die Kunstwerke aufs Vorfindliche vereidigt,blind gegen die Differenz von Wesen und Erscheinung inihnen, kann bieder das Sein seiner Musik mit seiner Inten-tion verwechseln und damit genau jene Metaphysik in ihmausrotten, die zu protegieren man sich vornimmt. Da aberder Barbarei mit dem Wesen auch das Vorfindliche sich ver-finstert, so wird übersehen, daß gerade die besonderen poly-phonischen Mittel, deren Bach zur Konstruktion musikali-scher Objektivität sich bedient, Subjektivierung vorausset-zen. Die Kunst der Fugenkomposition ist eine der motivi-schen Ökonomie: durch Ausnutzung der kleinsten Bestand-teile eines Themas aus diesem ein Integrales herzustellen. Esist eine Kunst der Zerlegung, fast ließe sich sagen, der Auf-lösung des als Thema gesetzten Seins, unvereinbar mit derAllerweltsvorstellung, dies Sein hielte in der durchgeform-ten Fuge statisch, unveränderlich sich durch. Solcher Tech-nik gegenüber verwendet Bach die eigentlich mittelalterliche

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der polyphonen Gestaltung, die Imitatorik, nur an zweiterStelle. In den übrigens bei Bach keineswegs gehäuften Teilenund Stücken, wo Imitatorik triumphiert, den Engführungen -und Engführungsfugen, wie der zu dichtestem Leben gestei-gerten in D-Dur aus dem zweiten Bande, ist das ehrwürdigeMittel in den Dienst einer drängenden, durchaus dynami-schen - durchaus »modernen«, Wirkung getreten. Daß unterdem Angriff der von der Polyphonie entbundenen neuenKompositionsmittel die Identität der wiederkehrenden The-men bei Bach überhaupt sich erhalten konnte, bedeutet kaummehr an Statik, als daß die dynamische Beethovensche Sonatedurchweg der tektonischen Forderung der Reprise treulichnachkam, freilich um diese selber aus dem »Prozeß«derDurch-führung zu entwickeln. Schönberg spricht in seinem letztenBuch mit Recht von BachsTechnik der entwickelnden Variati-on, die dann imWiener Klassizismus zum Kompositionsprin-zip schlechthin geworden sei. Eine gesellschaftliche Dechif-frierung Bachs müßte vermutlich jene Aufspaltung des the-matischVorgegebenen durch die subjektive Reflexion der dar-an sich bewährenden motivischen Arbeit in Zusammenhangbringen mit den Veränderungen des Arbeitsprozesses, die inderselben Epoche durch die Manufaktur sich durchgesetzthatten und wesentlich in der Zerlegung der alten handwerkli-chen Verrichtungen in kleine Teilakte bestanden. Wenn darausdie Rationalisierung der materiellenProduktion resultierte, sohat Bach, der nicht umsonst sein instrumentales Hauptwerknach der wichtigsten technischen Errungenschaft der musika-lischen Rationalisierung nannte, als erster die Idee des rationalkonstituierten Werkes, der ästhetischen Naturbeherrschungauskristallisiert. Vielleicht ist es Bachs innerste Wahrheit, daßbei ihm j eneTendenz der Gesellschaft, bis heute die mächtigsteder bürgerlichen Ära, indem sie im Bilde sich reflektiert,nicht bloß festgehalten ist, sondern versöhnt mit der Stimmedes Humanen, die real von der gleichen Tendenz, als dieseeinmal losgelassen war, zum Schweigen verdammt wurde.

Wäre aber Bach in der Tat modern gewesen - warum dannwar er archaistisch? Denn kein Zweifel kann daran sein, daß

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seine Formenwelt, und gerade in den mächtigsten Mani-festationen des noch jüngst von Hindemith grotesk verkann-ten Spätstils, vieles heraufruft, was schon seiner eigenen Zeitvergangen klang und aufs Mißverständnis des Schulmeister-lichen und Pedantischen hintersinnig angelegt scheint. Un-möglich, den Ton des siebzehnten Jahrhunderts zu über-hören gerade in so großartigen Konzeptionen wie derTripel-fuge in ds-moll aus dem ersten Band des WohltemperiertenKlaviers, die, um den Gegensatz der drei Themen destodrastischer herauszuarbeiten, alles, was nicht unmittelbar aufdiesen Kontrast sich bezieht, gleichsam vorthematisch, moti-visch unprofiliert läßt im Sinne der rudimentären vor-Bachi-schen Fugentypen, auf deren einen, die Ricercata, ein Wort-spiel des Musikalischen Opfers anspielt. Wie jene trägt dieim großen AUa-breve-Takt geschriebene E-Dur-Fuge deszweiten Bandes das Altertümliche bis ins Notenbild hinein,als wäre sie ixagusto einer freilich selber schon fiktiven, hoch-stilisierten Vergangenheit geschrieben, nicht anders als dasberühmte Klavierkonzert im Italienischen. Bach gehorchtoftmals einer mit existentieller Gediegenheit höchst unver-einbaren Neigung, mit fremden, willkürlich ergriffenen Idio-men zu experimentieren und an ihnen die durchformendeKraft der musikalischen Gestaltung zu erwecken. Schon beiihm bringt die Rationalisierung der kompositorischen Tech-nik, das Vorwalten gleichsam subjektiver Vernunft es mitsich, daß zwischen allen objektiv verfügbaren Verfahrungs-weisen der Epoche frei gewählt werden kann. An keine weißer blind, substantiell sich gebunden, sondern ergreift jeweilsdie, welche der kompositorischen Intention am genauestensich anmißt. Solche Freiheit zum Altertümlichen kann aberunmöglich als Vollendung der Tradition aufgefaßt werden,die gerade den disponierenden Blick über die Möglichkeitenverwehren müßte. Noch weniger ließe der Sinn des Bachi-schen Rückgriffs als restaurativ sich ansprechen. Denn diearchaisch getönten Stücke sind oft genug gerade die kühn-sten, nicht bloß was die kontrapunktische Kombinatorik an-langt, die ja unmittelbar durch die älteren polyphonen Ver-anstaltungen befördert wird, sondern auch mit Rücksichtauf das Avancierte der Wirkung. Jene cis-moll-Fuge, die be-ginnt, als sei sie ein dichtes Geflecht gleich relevanter Linien,

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deren »Thema« zunächst nichts anderes scheint als der un-auffällige Kitt, der die Stimmen zusammenhält, enthüllt sichin ihrem Verlauf, vom Eintritt des figurierten zweiten The-mas an, als ein unaufhaltsam auskomponiertes Crescendo,mit der mächtigen Explosion des Hauptthema-Einsatzes imBaß, der äußersten Zusammenballung einer pseudo-zehn-stimmigen Engführung und dem Wendepunkt einer schwerbetonten Dissonanz, um dann wie durch ein dunkles Tor zuverschwinden. Kein Hinweis auf den klanglich-statischenCharakter von Cembalo und Orgel vermag über die rein inder Kompositionsstruktur selbst gelegene Dynamik zu be-trügen, gleichgültig ob sie auf den Instrumenten als Cre-scendo zu verwirklichen war, ja ob, wie die müßige Fragelautet, Bach auch nur ein solches Crescendo sich »vorstellte«.Nirgends steht geschrieben, daß die Vorstellung eines Kom-ponisten von seiner Musik mit deren immanentem Wesen,ihrem objektiv eigenen Gesetz, zusammenfallen müsse.Barock ist ein solches Werk weit eher in dem Sinn des vomTheater des siebzehnten Jahrhunderts her vertrauten Ex-zessiven, zum äußersten allegorischen Ausdruck Gesteiger-ten, auf perspektivische Wirkung Angelegten als in dem des»Vorklassischen«, dessen Begriff überall dort versagt, wo esum Bachs Spezifisches geht, und am meisten bei seinen ar-chaistischen Tendenzen. Um diesen gerecht zu werden, wirdman nach ihrer Funktion im kompositorischen Gefügefragen müssen. Und dabei stößt man auf eine Doppeldeutig-keit des Fortschritts selber, die mittlerweile universal sichentfaltete. Für modern galt seiner Zeit, was die Last der ressevera abschüttelte um des Gaudiums willen, des Gefälligenund Spielerischen im Zeichen der Kommunikation, derRücksicht auf den präsumtiven Hörer, dem mit der altentheologischen Ordnung das Bewußtsein geschwunden war,die an jene Ordnung mahnende Formensprache sei verbind-lich. Weder läßt die historische Notwendigkeit sich verleug-nen, daß Kunst Mittel preisgibt, wenn sie nicht länger vomobjektiven Geist getragen werden, noch, daß jene WendungKräfte des menschlich Beredten in der Musik entband, dieschließlich selber in einer höheren Gestalt der Wahrheit re-sultierten. Der Preis aber, der für die errungene Freizügig-keit bezahlt wurde, war die immanente Stimmigkeit der

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Musik. Gerade die frühen Produkte des »ungelehrten« Stils,am auffälligsten die von Bachs eigenen Söhnen, hatten ihnzu entrichten. Jäh erleuchtet sich das Rätselbild solcher Dop-peldeutigkeit des Fortschritts, wenn man kommensurableFormtypen des Wiener Klassizismus und Bachs vergleicht,das Rondo eines Mozartschen Klavierkonzerts mit dem Prestodes Italienischen. Trotz all der gewonnenen Geschmeidigkeitund Luftigkeit des Komponierens hat Mozarts sprichwört-liche Grazie, verglichen mit dem unendlich in sich vermittel-ten, unschematischen Verfahren Bachs, als rein musikalischepeinture etwas Mechanisches und Vergröbertes. Es ist Graziedes Tons eher als der Faktur. Je deutlicher die Umrisse derForm geworden sind, um so mehr scheint deren dichte undreine Konsequenz durch den Appell ans einmal etablierteSchema ersetzt. Wer, nach andauernder intensiver Beschäf-tigung mit Bach, zu Beethoven zurückkehrt, dem kommt esselbst dort zuweilen vor, als stünde er einer Art von deko-rativer Unterhaltungsmusik gegenüber, wo das Kultur-cliche einzig Tiefe vermutet. Gewiß ist ein solches Urteilverzerrt und befangen und bringt den Maßstab an denGegenstand von außen heran. Nicht umsonst würden ihmdie heutigen Apologeten Bachs zustimmen. Aber es enthältdoch Elemente der geschichtlichen Konstellation, die BachsWesen ausmacht. Seine archaistischen Züge begreifen insich den Versuch, jene Verarmung und Verhärtung der mu-sikalischen Sprache zu parieren, die den Schatten ihres ent-scheidenden Fortschritts bildet. Sie meinen den Widerstandgegen den unaufhaltsamen ineins mit ihrer Subjektivierungsich durchsetzenden Warencharakter der Musik. Sie sindaber zugleich insofern identisch mit Bachs Moderne, als sieüberall die fortgetriebene Konsequenz der musikalischenLogik der Sache selbst gegenüber ihrer Zession an den Ge-schmack vertreten. Der Archaist Bach unterscheidet vonspäteren Klassizisten bis hinauf zu Strawinsky sich dadurch,daß er kein abstraktes Stilideal dem geschichtlichen Standdes Materials konfrontiert. Sondern das Gewesene wird zumMittel, das Zeitgenössische zur Zukunft der eigenen Ent-faltung zu zwingen. Die Versöhnung von Gelehrt und Ga-lant, die, wie Alfred Einstein hervorhob, seit Haydn die Ideedes Wiener Klassizismus abgibt, ist in gewissem Sinn auch

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die Bachs. Ihm aber war es nicht um einen mittleren Aus-gleich beider Elemente zu tun. Er hat die Indifferenz der Ex-treme gegeneinander so radikal angestrebt wie erst wiederBeethovens Spätstil. Bach, als der fortgeschrittenste General-baßmeister, sagte zugleich, als altertümlicher Polyphoniker,der Tendenz der Zeit, die er selber ausprägte, den Gehorsamauf, um jener Tendenz zu ihrer eigenen Wahrheit zu ver-helfen, der Emanzipation des Subjekts zur Objektivität ineinem bruchlosen Ganzen, das in Subjektivität selber ent-springt. Es geht um die ungeschmälerte Koinzidenz, det hat-monisch-funktionellen und der kontrapunktischen Dimen-sion bis in die subtilsten Bestimmungen der Struktur. Daslängst Vergangene wird zum Träger der Utopie des musika-lischen Subjekt-Objekts, der Anachronismus zum Boten derZukunft.

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Danach aber wäre nicht nur die Erkenntnis der BachischenMusik in Gegensatz gerückt zur herrschenden Meinung, son-dern es wäre das unmittelbare Verhältnis zu ihr berührt. Esbestimmt sich wesentlich durch die Aufführungspraxis. Diehat aber heute, unterm Unstern des Historismus, einen sek-tiererischen Gestus angenommen. Er löst ein zelotenhaftesInteresse aus, das dem Werke selbst entzogen wird. Mankann sich zuweilen des Verdachts nicht erwehren, als kämees den heutigen Liebhabern Bachs einzig darauf an, daß nurja keine unauthentische Dynamik, keine Modifizierungender Tempi, keine zu großen Chöre und Orchester geduldetwürden, und als warteten sie mit potentieller Wut auf jedehumanere Regung, die in der Wiedergabe laut wird. DieKritik an dem aufgeblähten und sentimentalisierten Bach-bild der Spätromantik braucht nicht bestritten zu werden,wenn auch etwa die Beziehung zu Bach, die SchumannsWerk bezeugt, als unvergleichlich viel produktiver sich er-wies denn die beflissene Reinheit von heutzutage. Wohl aberist dieser abzuerkennen, worauf sie selber am meisten sichzugute tut: die Sachlichkeit. Sachlich wäre einzig eine Dar-stellung von Musik, die dem Wesen ihrer Sache angemessen

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sich zeigt. Das fällt aber nicht, wie auch Hindemith es nochunterstellt, mit der Idee der historisch ersten Wiedergabe zu-sammen. Daß die koloristische Dimension der Musik inBachs Ära kaum entdeckt, gewiß nicht als Kompositions-mittel freigesetzt war; daß die Komponisten noch nicht ein-mal zwischen den verschiedenen Klaviertypen und der Orgelstreng unterschieden, sondern den Klang in weitem Maßedem Geschmack anheimgaben, weist in genau umgekehrteRichtung als das Verlangen, den damals gebräuchlichenKlang sklavisch zu imitieren. Wäre Bach -wirklich mit denOrgeln und Cembali und gar den dünnen Chören und Or-chestern seiner Epoche zufrieden gewesen, so besagte dasgar nicht, daß diese der Substanz seiner Musik an sich ge-recht werden. Das Bewußtsein der Künstler von sich selbst -ihre »Vorstellung« von den eigenen Werken ist ohnehin nierekonstruierbar - vermag zwar zur Erkenntnis manches bei-zutragen, gibt aber nicht deren Kanon ab. Die authentischenWerke entfalten ihren Wahrheitsgehalt, der den individuel-len Bewußtseinskreis überschreitet, kraft der Objektivitätihres eigenen Formgesetzes in der Zeit. Übrigens wider-spricht, was vom Interpreten Bach überliefert wird, durch-aus dem musikhistorischen Darstellungsstil und deutet aufeine Flexibilität, die lieber aufs Monumentale verzichtet alsauf die Möglichkeit, den Ton der subjektiven Regung anzu-schmiegen. Gewiß erschien Forkels berühmter Bericht zulange nach Bachs Tod, um volle Authentizität beanspruchenzu können; aber was er vom Klavierspieler Bach mitteilt,folgt offensichtlich präzisen Angaben, und kein Grund liegtvor, warum in einer Zeit, die die Kontroverse noch nichtkannte und wenig Sympathien fürs Klavichord hegte, dasBild hätte verfälscht werden sollen: »Am liebsten spielte erauf dem Klavichord. Die sogenannten Flügel (seil. Cembali),obgleich auch auf ihnen ein gar verschiedener Vortrag statt-findet« — womit nur die Registrierung gemeint sein kann -»waren ihm doch zu seelenlos, und die Pianoforte waren beiseinem Leben noch zu sehr in ihrer ersten Entstehung, undnoch viel zu plump, als daß sie ihm hätten Genüge tun kön-nen. Er hielt daher das Klavichord für das beste Instrumentzum Studieren, sowie überhaupt zur musikalischen Privat-unterhaltung. Er fand es zum Vortrag seiner feinsten Ge-

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danken am bequemsten, und glaubte nicht, daß auf irgend-einem Flügel oder Pianoforte eine solche Mannigfaltigkeitin den Schattierungen des Tons hervorgebracht werdenkönne, als auf diesem zwar tonarmen, aber im einzelnenaußerordentlich biegsamen Instrument.« Was aber für dieDifferenzierung des Intimen gilt, gilt umgekehrt erst rechtfür die ausladende Dynamik der großen Chorwerke. Gleich-gültig wie in der Thomaskirche verfahren wurde, eine Auf-führung etwa der Matthäuspassion mit den kargen Mittelnwirkt fürs gegenwärtige Ohr blaß und unverbindlich wieeine Probe, zu der nur zufällig einige Teilnehmer sich ein-gefunden haben, und nimmt zugleich den lehrhaften Charak-ter des Justament an. Nicht genug damit aber tritt sie inGegensatz zum Wesen der Bachischen Musik an sich. Derobjektiv in seinem Werke verschlossenen Dynamik gebührteinzig eine Interpretation, welche sie realisiert. Denn diewahre Interpretation ist die Röntgenphotographie desWerks: ihr obliegt, im sinnlichen Phänomen die Totalitätall der Charaktere und Zusammenhänge hervortreten zulassen, welche Erkenntnis aus der Versenkung in den Noten-text sich erarbeitet. Das Lieblingsargument der Puristen, alldies solle man dem Werk an sich überlassen, das man nur mitSelbstverleugnung auszusagen brauche, damit es rede, wäh-rend die eigentlich interpretative Darstellung herausschreie,was sich ohne Zutun schlicht, doch um so eindringlicherkundgebe und was nur verzerrt werde, wenn man es hervor-hebe - dies Argument ist ohne Kraft. Solange Musik über-haupt der Interpretation bedarf, hat sie ihr Formgesetz ander Spannung zwischen dem kompositorischen Wesen undder sinnlichen Erscheinung. In diese das Werk zu versetzen,rechtfertigt sich nur, wenn sie fürs Wesen zeugt. Eben dasleistet die Reflexion im Subjekt und dessen Anstrengung.Der Versuch, dem objektiven Gehalt Bachs zu seinem Rechtzu verhelfen, indem man die subjektive Anstrengung bloßdaran wendet, das Subjekt auszumerzen, überschlägt sich.Objektivität bleibt nicht als Rest nach Subtraktion des Sub-jekts zurück. Nie und an keiner Stelle ist der musikalischeNotentext mit dem Werk identisch; stets vielmehr gefordert,in der Treue zum Text zugleich zu ergreifen, was er in sichverbirgt. Bar solcher Dialektik wird die Treue zum Verrat:

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die Interpretation, die sich um den musikalischen Sinn nichtkümmert, weil er aus sich heraus sich offenbare, anstatt ihnselber als je sich erst konstituierenden zu erkennen, verfehltihn. Er gehört nicht der von vermeintlicher Exhibition ge-reinigten Wiedergabe an, sondern diese, sinnlos an sichselber und vom »Unmusikalischen« nicht abzuheben, wirdzur Mauer vor dem musikalischen Sinn, als dessen Fenstersie sich wähnt. Damit ist nicht den monströse Massen ein-setzenden Bachaufführungen das Wort geredet, wie sie bisnach dem Ersten Krieg gang und gäbe waren. Die gefor-derte Dynamik bezieht sich nicht auf Stärkegrade und denUmfang von crescendo und decrescendo. Sie ist der Inbegriffaller kompositorischen Kontraste, Vermittlungen, Unter-teilungen, Übergänge, Beziehungen, die das Werk in sichenthält; und in Bachs reifster Zeit war Komponieren nichtweniger die Kunst des infinitesimalen Übergangs als beieinem der Nachgeborenen. Der ganze Reichtum des musi-kalischen Gefüges, in dessen Integration seine Kraft eigent-lich besteht, muß von der Aufführung zur Evidenz erhobenwerden, anstatt daß man der Fülle ein starres, in sich un-bewegtes Einerlei entgegensetzt, den nichtigen Schein einerEinheit, die das Mannigfaltige, das sie bewältigen soll, igno-riert. Die Reflexion auf den Stil darf nicht den konkretenmusikalischen Inhalt verdrängen und sich selbstzufriedenbei der Pose transzendenten Seins bescheiden. Sie muß derunter der klanglichen Oberfläche verborgenen, kompositori-schen Struktur der Musik folgen. Mechanisch zirpende Con-tinuo-Instrumente, bettelhafte Schulchöre dienen nicht derheiligen Nüchternheit, sondern der hämischen Versagung,und daß etwa schrille und hüstelnde Barockorgeln die lan-gen Wellen der lapidaren großen Fugen aufzufangen ver-möchten, ist purer Aberglaube. Vom Gesamtniveau ihrerEpoche trennt Bachs Musik ein astronomischer Abstand.Beredt wird sie erst wieder, wenn sie der Sphäre des Ressenti-ments und des Obskurantismus entrissen ist, dem Triumphder Subjektlosen über den Subjektivismus. Sie sagen Bach,meinen Telemann und sind heimlich eines Sinnes mit jenerRegression des musikalischen Bewußtseins, die ohnehinunterm Druck der Kulturindustrie droht. Freilich zeichnetdie Möglichkeit sich ab, daß der Widerspruch zwischen

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Bachs kompositorischer Substanz und den Mitteln von derenklanglicher Realisierung, den zu seiner Zeit verfügbaren so-wohl wie den von der Tradition angesammelten, nicht längersich schlichten läßt. Im Licht dieser Möglichkeit gewinnt dievielberufene klangliche »Abstraktheit« des MusikalischenOpfers und der Kunst der Fuge als der Werke, in denen dieWahl der Instrumente offenbleibt, einen neuen Horizont.Denkbar, daß in ihnen der Widerspruch von Musik undKlangmaterial - zumal die Unangemessenheit des Orgel-klangs überhaupt an die unendlich gegliederte Struktur -damals schon durchschlug. Dann hätte Bach den Klang aus-gespart und seine reifsten Instrumentalwerke wartend aufden Klang, der ihnen selber gliche, hinterlassen. Bei diesenStücken kann es am letzten sein Bewenden damit haben, daßkompositionsfremde Philologen die Stimmen ausschreibenund durchlaufenden Instrumenten oder Gruppen anver-trauen. Gefordert wäre, sie umzudenken für ein Orchester,das weder schmückt noch spart, sondern als Moment derintegralen Komposition fungiert. Für die ganze Kunst derFuge ward das bislang einzig von Fritz Stiedry angestrebt,dessen Bearbeitung es nicht über die eine New Yorker Auf-führung hinausbrachte. Gerechtigkeit widerfährt Bach nichtdurch die Usurpation stilkundiger Sachverständiger, son-dern einzig vom fortgeschrittensten Stande des Komponie-rens her, der mit dem Stand des sich entfaltenden Werks vonBach konvergiert. Die wenigen Instrumentationen, dieSchönberg und Anton von Webern beistellten, insbesonderedie der großen Tripelfuge in Es-Dur und der sechsstimmi-gen Ricercata, in denen jeder Zug der Komposition in einfarbliches Korrelat übersetzt, die Oberfläche des Linien-geflechts in die kleinsten Motivzusammenhänge aufgelöstund diese dann durch die konstruktive Gesamtdispositiondes Orchesters wieder vereint sind - diese Instrumentationensind Modelle einer Stellung des Bewußtseins zu Bach, diedem Stande von dessen Wahrheit entspräche. Vielleicht istder überlieferte Bach in der Tat uninterpretierbar geworden.Dann fällt sein Erbe dem Komponieren zu, das ihm dieTreue hält, indem es sie bricht, und seinen Gehalt beimNamen ruft, indem es ihn aus sich heraus nochmals erzeugt.

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Arnold Schönberg1874-1951

Heard melodies are sweet, but those unheardAre sweeter; therefore, ye soft pipes, play on;Not to the sensual ear, but, more endear'd,Pipe to the spirit ditties of no tone. Keats

Dem öffentlichen Bewußtsein heute gilt Schönberg als Neu-erer, als Reformator, wohl gar als Erfinder eines Systems. Inwiderwilligem Respekt räumt man ein, er habe für andereeinen Weg bereitet, den zu betreten jene freilich keine großeNeigung zeigen, läßt aber durchblicken, er habe es nichtselbst vollbracht und sei bereits veraltet. Der einst Verfemtewird verdrängt zugleich und gefahrlos aufgesogen. Nichtnur die Jugendwerke, sondern auch die der mittleren Zeit,die ihm einst den Haß aller Kulturbesitzer eintrugen, schiebtman als wagnerisch und spätromantisch ab, obgleich man siein vierzig Jahren kaum nur richtig aufzuführen lernte. Waser dann nach dem Ersten Krieg erscheinen ließ, wird als Ex-empel der Zwölftontechnik gewertet. Wohl haben ihr neuer-dings zahlreiche junge Komponisten sich anvertraut, abereher wie einem Gehäuse, in das man unterschlüpft, als ausder Not der eigenen Erfahrung heraus, und daher ohne Sorgeum die Funktion des Zwölftonverfahrens in Schönbergseigenem ceuvre. Solche Verdrängung und Zurichtung wirdherausgefordert von den Schwierigkeiten, die Schönbergeiner von der Kulturindustrie gekneteten Hörerschaft be-reitet. Wer etwas nicht versteht, projiziert gleich dem hohenVerstand von Mahlers Esel seine Unzulänglichkeit auf dieSache und erklärt diese für unverständlich. Tatsächlich er-heischt Schönbergs Musik von Anbeginn aktiven und kon-zentrierten Mitvollzug; schärfste Aufmerksamkeit für dieVielheit des Simultanen; Verzicht auf die üblichen Krückeneines Hörens, das immer schon weiß, was kommt; an-gespannte Wahrnehmung des Einmaligen, Spezifischen unddie Fähigkeit, die oftmals auf kleinstem Räume wechselndenCharaktere und ihre wie derholungslose Geschichte präzis

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aufzufassen. Die Reinheit und Unbeirrtheit, mit der Schön-berg der Forderung der Sache jeweils sich anvertraut, hatihn von der Wirkung abgeschnitten; Rancune weckt geradeder Ernst, der Reichtum, die Integrität seiner Musik. Je mehrsie den Hörern schenkt, desto weniger bietet sie ihnen zu-gleich. Sie verlangt, daß der Hörer ihre innere Bewegungspontan mitkomponiert, und mutet ihm anstelle bloßer Kon-templation gleichsam Praxis zu. Damit aber frevelt Schön-berg gegen die im Widerspruch zu allen idealistischen Be-teuerungen gehegte Erwartung, daß Musik als eine Folgegefälliger sinnlicher Reize dem bequemen Hören sich prä-sentiere. Selbst Schulen wie die Debussys haben trotz derästhetischen Atmosphäre des l'art pour l'art jener Erwartungentsprochen. Die Grenze zwischen dem jungen Debussy undder Salonmusik war fließend, und die technischen Errungen-schaften des reifen wurden der kommerziellen Massenmusikbehend einverleibt. Bei Schönberg hört die Gemütlichkeitauf. Er kündigt einen Konformismus, der die Musik alsNaturschutzpark infantiler Verhaltensweisen inmitten einerGesellschaft beschlagnahmt, die längst erkannte, daß sie sichertragen läßt nur, wenn sie ihren Gefangenen eine Quotekontrollierten Kinderglücks zukommen läßt. Er versündigtsich gegen die Zweiteilung des Lebens in Arbeit und Frei-zeit; er verlangt für die Freizeit eine Art Arbeit, die an dieserselbst irremachen könnte. Sein Pathos gilt einer Musik, derender Geist sich nicht zu schämen brauchte und die damit denherrschenden beschämt. Seine Musik will mündig werden anihren beiden Polen: sie setzt das bedrohlich Triebhafte frei,das sonst Musik nur filtriert und harmonistisch gefälschtdurchläßt; und spannt die geistige Energie aufs äußerste an;das Prinzip eines Ichs, das stark genug wäre, den Trieb nichtzu verleugnen. Kandinsky, in dessen Blauem Reiter er die>Herzgewächse< veröffentlichte, formulierte das Programmdes »Geistigen in der Kunst«. Dem hielt Schönberg dieTreue, nicht indem er auf Abstraktionen ausging, sondernindem er die konkrete Gestalt der Musik selber vergeistigte.Daraus wird ihm der beliebteste Vorwurf gemacht, derdes Intellektualismus. Die immanente Kraft der Vergeisti-gung wird entweder verwechselt mit einer der Sache äußer-lichen Reflexion, oder es wird dogmatisch Musik von jener

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Forderung der Vergeistigung ausgenommen, die als Kor-,rektiv der Verwandlung von Kultur in Kulturgut für alleästhetischen Medien unabweisbar ward. In Wahrheit istSchönberg ein naiver Künstler gewesen, nicht zuletzt in denoft hilflosen Intellektualisierungen, mit denen er das Eigenezu rechtfertigen suchte. Wenn einer, so gehorchte er derüberquellend unwillkürlichen musikalischen Anschauung.Die Sprache der Musik war dem halben Autodidakten selbst-verständlich. Nur mit äußerstem Widerstreben hat er sie bisin ihre Grundschichten hinein verändert. Während seineMusik alle Kräfte des Ichs an die Objektivierung ihrer Im-pulse wandte, ist sie ihm zugleich zeitlebens »ichfremd« ge-blieben. Er selbst hat gern mit dem Erwählten sich identifi-ziert, der sich gegen den Auftrag wehrt; tapfer waren ihm»solche, die Taten vollbringen, an die ihr Mut nicht heran-reicht«. Die Paradoxie der Formel charakterisiert seine Stel-lung zur Autorität. Ästhetischer Avantgardismus und kon-servative Gesinnung laufen nebeneinander her. Während erder Autorität durchs Werk die tödlichsten Schläge versetzt,möchte er es wie vor einer verborgenen Autorität verteidi-gen, schließlich selbst zur Autorität erheben. Dem Wieneraus engen Verhältnissen dünkten die Normen einer geschlos-senen und halbfeudalen Gesellschaft gottgewollt. Aber sol-cher Respekt fand sich mit einem konträren, ob auch mit demBegriff des Intellektuellen ebenso unvereinbaren Elementzusammen. Etwas nicht Integriertes, nicht ganz Zivilisier-tes, ja Zivilisationsfeindliches hielt ihn aus der gleichen Ord-nung draußen, an der er so wenig Zweifel hegte. Wie einUrsprungsloser, vom Himmel Gefallener, ein musikalischerKaspar Hauser traf er jäh ins Schwarze. Nichts sollte an denNaturzusammenhang erinnern, dem er doch angehörte, unddamit ward das Naturwüchsige an ihm selber um so sinn-fälliger. Der die Fäden abgeschnitten hatte, um alles nur sichzu verdanken, gewann gerade in solcher Isolierung Kontaktmit dem kollektiven Unterstrom der Musik und jene Ver-bindlichkeit, die jedes einzelne seiner Gebilde für die ganzeGattung einstehen ließ. Nichts konnte mehr überraschen,als wenn der heiser und gereizt Sprechende ein paar Taktesang. Die warme, freie und wohltönende Stimme kannte dasFürchten nicht: das vorm Singen selber, das den Zivilisier-

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ten eingebrannt ist und die falsche Unbefangenheit des Be-rufssängers doppelt peinlich macht. Anstatt der Eltern hatteer Musik selber eingesetzt, »musikalisch« als ein von derSprache der Musik Getragener, sie wie einen Dialekt Spre-chender, darin vergleichbar etwa Richard Strauß oder sla-wischen Komponisten. Von den allerersten Werken an, ganzdeutlich schon in der >Verklärten Nacht<, strömt dieseSprache spezifische Wärme aus im Ton wie in der Fülle suk-zessiver und simultaner musikalischer Gestalten, ungehemmterzeugend, fast orientalisch fruchtbar. Genug ist nicht ge-nug. Schönbergs Unduldsamkeit gegen alles ornamentalÜberladene, Aufgezäumte stammt aus Generosität: keineOstentation soll dem Hörer den gediegensten Reichtum er-setzen. Schenkende Phantasie, eine künstlerische Gastfreund-schaft, die jeden Geladenen mit dem Besten bedenkt, inspi-riert ihn vielleicht mehr, als was man gemeinhin, fragwürdiggenug, Ausdrucksbedürfnis nennt. Ganz unwagnerisch, ent-springt seine Musik aus dem zeugenden Rausch, nicht dersehrenden Sehnsucht: unersättlich im Gewähren. Als wärenalle künstlerischen Stoffe, an denen Schönberg sich erprobenkonnte, noch erborgt, schafft er schließlich den Stoff unddessen Widerstände sich selber in rastlosem Überdruß anallem, was er nicht hervorbringt wie am allerersten Tage.Die Flamme des Ungebändigten, Mimetischen, die Schön-berg aus dem unterirdischen Erbe zuwächst, verzehrt zu-gleich das Erbe. Tradition und Neubeginn verschränken sichin ihm wie der revolutionäre und konservative Aspekt.

Der Vorwurf des Intellektuellen geht mit dem des Man-gels an Melodie zusammen. Aber er war der Melodikerschlechthin. Anstelle der eingeschliffenen Formel hat er un-ablässig neue Gestalten produziert. Kaum je kann seine melo-dische Eingebung mit einer einzelnen Melodie haushalten,sondern alle gleichzeitigen musikalischen Ereignisse werdenals Melodien profiliert und damit gerade die Auffassung er-schwert. Die ursprüngliche musikalische ReaktionsweiseSchönbergs selbst ist melodisch: alles bei ihm eigentlich »ge-sungen«, auch die instrumentalen Linien. Das verleiht seinerMusik das Artikulierte, zugleich frei Schwingende und biszum letzten Ton Gegliederte. Der Primat des Atmens überden Schlag der abstrakten Zeit macht den Gegensatz Schön-

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bergs zu Strawinsky aus und all denen, die, der gegenwärti-gen Existenz besser angepaßt, sich für moderner halten alsSchönberg. Das verdinglichte Bewußtsein ist allergischgegen die ausgreifende Erfüllung der Melodie und substitu-iert sie durch die gehorsame Wiederholung ihrer verstümmel-ten Bruchstücke. Das Vermögen, dem musikalischen Atemohne Angst zu folgen, hat aber Schönberg bereits von anderen,älteren Komponisten der neudeutschen Schule wie Straußund Wolf unterschieden, bei denen stets wieder die Entfal-tung der Musik aus ihrer eigenen Substanz heraus paralysierterscheint und ohne literarisch-programmatische Lücken-büßer, selbst im Lied, nicht auskommt. Ihnen gegenübersind schon die Werke der ersten Periode, die noch die sym-phonische Dichtung >Pelleas und Melisande< und die Gurre-lieder einschließt, auskomponiert. Der Wagnerischen Ver-fahrungsweise so wenig wie dem Wagnerischen Ausdruckist Schönberg verwandt: indem der musikalische Impulsans Ziel kommt, anstatt abzubrechen und abermals anzu-setzen, verliert er das Moment des Süchtigen, obsessiv Be-fangenen. Schönbergs ursprünglicher Ausdruck, generösund im bedeutenden Sinne jovial, mahnt an den Beethoven-schen des Humanen. Er ist freilich von Anbeginn bereit, inTrotz sich zu verwandeln gegen eine Welt, die den Schen-kenden zurückstößt. Spott und Gewalt wollen das Kalte,Widerstrebende bezwingen, und zur Angst wird das Gefühldessen, der die Menschen, eben weil er sie als Menschen an-spricht, nicht erreicht. Daraus entsteht Schönbergs Ideal derPerfektion. Er reduziert, konstruiert, panzert die Musik; daszurückgewiesene Geschenk soll so vollkommen werden,bis es empfangen werden muß. Seine Liebe mußte sich re-aktiv verhärten wie die allen Geistes seit Schopenhauer, dersich nicht bescheidet bei dem, was ist. Der Kraussche Vers»Was hat die Welt aus uns gemacht« gilt emphatisch für denMusiker.

Schönbergs Nonkonformismus ist keine Sache der Gesin-nung. Ihm ließ die Komplexion seiner musikalischen An-schauung keine Wahl als auszukomponieren. Zur Lauter-keit war er genötigt; die Spannung zwischen Brahmsischenund Wagnerischen Elementen mußte er austragen. Am Wag-nerischen Material entzündete sich seine expansive Phanta-

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sie, zur Brahmsischen Verfahrungsweise zog ihn die Forde-rung kompositorischer Konsequenz, die Verantwortung vordem, wohin Musik von sich aus will. Demgegenüber war dieFrage nach dem Brahmsischen oder Wagnerischen Stil beiSchönberg irrelevant. So wenig der Wagnerische Stil umseiner kompositorischen Schranken willen ihn kann befrie-digt haben, so wenig konnte er sich bei dem akademischenAspekt der Brahmsischen Lösung bescheiden. Er hat umder »Idee«, also der reinen Ausprägung musikalischer Ge-danken willen den Begriff des Stils, als eine der Sache vor-geordnete und am äußerlichen Consensus orientierte Kate-gorie, in seiner Praxis stets so verworfen wie dann auch theo-retisch. Auf allen Stufen kam es ihm auf das Was, nicht aufdas Wie, die Selektionsprinzipien und Mittel der Präsentationan. Daher sollten denn auch die verschiedenen Stilphasen inseinem ceuvre nicht allzusehr belastet werden. Das Entschei-dende findet sich schon recht früh, sicherlich nicht später alsin den Liedern op. 6 und dem d-moll-Quartett op. 7. Wer indiesen Werken zu Hause ist, dem werden alle späteren zu-fallen. In den Neuerungen, die einmal Sensation machten,wurden einzig auch für die Sprache der Musik die vollenKonsequenzen aus dem gezogen, was die je einzelnen musi-kalischen Ereignisse im spezifischen Werk hervorgebrachthatten. Die Dissonanzen und weiten Intervalle, das Auffal-lendste an der Verfahrungsweise des reifen Schönberg, sindsekundär, bloße Derivate der inneren Zusammensetzung allseiner Musik; übrigens kommen die großen Intervalle schonbeim jungen vor. Zentral ist die Bewältigung des Wider-spruchs von Wesen und Erscheinung. Reichtum und Füllesoll Wesen werden, nicht bloßer Schmuck; das Wesen aberzutage kommen, nicht länger mehr starres Skelett, das dieMusik umkleidet, sondern konkret und offenbar im subtil-sten ihrer Züge. Das, was er das »Subkutane« nannte, dasGefüge der musikalischen Einzelereignisse als der unabding-baren Momente einer in sich konsistenten Totalität, durch-bricht die Oberfläche, wird sichtbar und behauptet sich un-abhängig von jeglicher stereotypischen Form. Das Inneretritt nach außen. Das musikalische Phänomen reduziert sichauf die Elemente seines Strukturzusammenhangs. Ordnungs-kategorien, die auf Kosten der reinen Ausprägung des Ge-

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bildes das Mithören erleichtern, werden beseitigt. SolcheAbsenz aller von außen ins Werk eingelegten Vermittlungenläßt dem unnaiv-naiven Hörer den musikalischen Vorgang,je höher er in sich organisiert ist, als zerrissen und abrupt er-scheinen. Das frühe Lied >Lockung< aus op. 6 etwa, Proto-typ eines Charakters, der bis in die Zwölftonphase wieder-kehrt, hat eine zehntaktige Einleitung. Sie reiht drei scharfkontrastierende und auch im Tempo unterschiedene Grup-pen aneinander: die erste viertaktig, die zweite und dritte jedreitaktig. Keine wiederholt sinnfällig etwas aus einer dervorhergehenden, alle aber sind durch eingreifende Variationaufeinander bezogen. Zugleich hängen die Gruppen syn-taktisch zusammen: stürmische Frage, Nachdrängen undeine halbe, vorläufige und schon überleitende Antwort. Un-endlich viel geschieht auf knappstem Raum und ist doch der-art durchgeformt, daß es sich nie verwirrt. So variiert diezweite Gruppe die erste, indem zwar die Intervalle der klei-nen Sekund und übermäßigen Quart erhalten bleiben, zu-gleich aber der Dreiachtel- zu einem Zweiachteltakt ver-kürzt wird, der eben den drängenden Charakter stiftet. In-mitten radikaler Veränderung waltet melodische Ökonomie.Solche Organisation des musikalischen Gefüges, nicht dieBevorzugung sinnfälliger Mittel ist das eigentlich Schön-bergische: buntester Wechsel voneinander verschiedenerund genau gegeneinander schattierter Gestalten bei univer-saler Einheit motivisch-thematischer Beziehungen. Es isteine Musik der Identität in der Nichtidentität. Alle Entwick-lungen vollziehen sich gedrängter und rascher, als die trägeGewohnheit des kulinarischen Hörens gutheißt; die Poly-phonie operiert mit realen Stimmen, nicht mit umkleiden-den Kontrapunkten; die Einzelcharaktere werden aufs äußer-ste geschärft, die Artikulation verzichtet auf alle fertigenSigel, und der im neunzehnten Jahrhundert durch den Über-gang verdrängte Kontrast wird, unterm Zwang einer nachExtremen polarisierten Gefühlslage, zum formbildendenMittel. Technisch heißt das Mündigwerden der Musik Pro-test gegen die musikalische Dummheit. Ist Schönbergs Mu-sik nicht intellektuell, so erheischt sie dafür musikalische In-telligenz. Ihr Grundprinzip ist, nach seinem Ausdruck, dasder entwickelnden Variation. Was erscheint, will seine Kon-

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sequenz, will weitergetrieben werden, gespannt, aufgelöstbis zum Ausgleich. Es herrscht universale Verpflichtung undIdiosynkrasie gegen alle Züge der Musik, die der journalisti-schen Sprache ähneln. Die Albernheit der Phrase ebenso wieder betrügerische Gestus, der mehr verspricht, als er hält,werden geächtet. Schönbergs Musik tut dem Hörer Ehre an,indem sie ihm nichts konzediert.

Daher wird sie experimentell gescholten. Zugrunde liegtdie Vorstellung, der Fortschritt der künstlerischen Mittelvollziehe sich in stetigem, gleichsam organischem Übergang.Wer eigenmächtig, ohne offenbare geschichtliche Deckung,Neues erfinde, verletze nicht nur die Ehrfurcht vorm Über-kommenen, sondern verfalle der Eitelkeit und Ohnmacht.Aber in die Kunstwerke, auch die musikalischen, gehen Be-wußtsein und Spontaneität von Menschen ein, und stetswieder machen sie den Schein kontinuierlichen Wachstumszunichte. Als die neue Musik noch das gute Gewissen ihrerFeindschaft gegen jene Tradition hatte, die Mahler alsSchlamperei definierte, und nicht ängstlich zu beweisensuchte, eigentlich meine sie es nicht so böse, hat sie dennauch zum Begriff des Experimentellen sich bekannt. Einzigder Aberglaube, der das Verdinglichte und Verfestigte,wenn man will, gerade das der Natur Entfremdete, feti-schistisch mit Natur verwechselt, wacht darüber, daß inKunst nichts versucht werden darf. Gleichwohl hat daskünstlerische Extrem zu verantworten, ob es der Logik derSache, einer wie sehr auch verborgenen Objektivität ge-horcht, oder bloß der privaten Willkür oder dem abstraktenSystem. Seine Legitimität aber zieht es wesentlich aus derTradition, die es negiert. Hegel hat gelehrt, daß, wo einNeues unvermittelt, schlagend, authentisch sichtbar wird, eslängst sich bildete und nun die Hülle abwirft. Nur was vonden Säften der Überlieferung sich nährte, hat wohl über-haupt die Kraft, dieser authentisch gegenüberzutreten; dasandere wird zur hilflosen Beute der Mächte, von denen esallzu wenig in sich selber bewältigte. Jedoch das Band derÜberlieferung ist schwerlich die simple Verwandtschaft des-sen, was in der Geschichte aufeinanderfolgt, sondern einUnterirdisches. »Eine Tradition«, heißt es in Freuds Spät-schrift über Moses und den Monotheismus, »die nur auf

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Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscha-rakter erzeugen, der dem religiösen Phänomen zukommt.Sie würde angehört, beurteilt, eventuell abgewiesen werdenwie jede andere Nachricht von außen, erreichte nie das Pri-vileg der Befreiung vom Zwang des logischen Denkens. Siemuß das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Ver-weilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie beiihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, dieMassen in ihren Bann zwingen kann.« Nicht nur die reli-giöse, auch die ästhetische Tradition ist Erinnerung an einUnbewußtes, ja Verdrängtes. Wo sie in der Tat »mächtigeWirkungen« entfaltet, gehen diese nicht vom vordergrün-digen und geradlinigen Bewußtsein der Fortsetzung aussondern eher von dort, wo das unbewußt Erinnerte dieKontinuität aufsprengt. Tradition ist gegenwärtig in denals experimentell gescholtenen Werken und nicht in den dereigenen Absicht nach traditionalistischen. Was an der neuenfranzösischen Malerei längst bemerkt ward, trifft nicht min-der für Schönberg und die Wiener Schule des Komponierenszu. Am manifesten Klangmaterial des Klassizismus und derRomantik, den tonalen Akkorden und ihren genormten Ver-bindungen, der zwischen Dreiklangs- und Sekundinterval-len ausgewogenen Melodik, kurz der ganzen Fassade derMusik der letzten zweihundert Jahre wird von ihm produk-tive Kritik geübt. Aber in der großen Musik der Traditionkam es nicht auf jene Elemente als solche an sondern darauf,daß sie in der Darstellung des spezifisch musikalischen In-halts, des Komponierten, eine genaue Funktion übernah-men. Unter der Fassade lag eine zweite, latente Struktur. Siewar vielfältig von der Fassade determiniert, hat aber zugleichauch jene, als ein dauernd Problematisches, stets aufs neueaus sich hervorgebracht und gerechtfertigt. TraditionelleMusik verstehen hieß immer auch: mit der Fassadenstrukturjener zweiten innewerden und das Verhältnis der beiden re-alisieren. Dies Verhältnis war, kraft der gesellschaftlichenEmanzipation der Subjektivität, so prekär geworden, daßam Ende beide Strukturen auseinanderklafften. Schönbergsspontane Produktivkraft vollstreckte einen objektiven histo-rischen Richterspruch: er hat die latente Struktur freigesetzt,die manifeste beseitigt. So wurde er gerade im »Experiment«,

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in der Ungewohntheit des Erscheinenden zum Erben derTradition. Er hat Normen gehorcht, die im Wiener Klassi-zismus und dann in Brahms teleologisch enthalten waren,und auch in diesem historischen Sinn Verpflichtungen ein-gelöst. Die objektivierende Leistung unterm Primat des»Auskomponierens« war bei Brahms unverbindlich geraten,weil sie gleichsam leerläuft, nicht in einen ihr widerstreben-den musikalischen Stoff eingreift, den ausbrechenden Im-puls überhaupt verleugnet. Bei Schönberg aber ist das musi-kalische Einzelmoment an sich, bis hinab zum »Einfall«, un-vergleichlich viel substantieller. Seine Totalität geht, getreudem geschichtlichen Stand des Geistes, vom Individuellen,nicht vom Plan oder der Architektur aus. Er zieht, wie rudi-mentär schon Beethoven, das romantische Element ins inte-grale Komponieren hinein. Es findet sich gewiß auch beiBrahms als liedähnliche Melodik inmitten der instrumen-talen Form; dort aber wird es ausgeglichen, balanciert, ineiner Art Äquilibrium mit der »Arbeit« gehalten, und daherrührt das Scheinhafte und, wenn man will, Resignierte derBrahmsischen Form, welche die Gegensätze weise schlichtet,anstatt sie sich durchdringen zu lassen. Bei Schönberg wirddie Objektivierung des subjektiven Impulses zum Ernstfall.War die variierende motivisch-thematische Arbeit an Brahmsgeschult, so gehört die Polyphonie, kraft deren die Objekti-vierung des Subjektiven bei Schönberg ihre Schärfe ge-winnt, ganz ihm an, buchstäblich das Eingedenken einesseit zweihundert Jahren Verschütteten. Sie wäre daraus ab-zuleiten, daß die Beethovensche »thematische Arbeit« ins-besondere der Kammermusik polyphonische Verpflichtun-gen einging, ohne ihnen bis auf wenige Ausnahmen derSpätzeit nachzukommen. Wilhelm Fischer hat in seiner Stu-die >Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischenStils< die Einsicht erreicht: »Im allgemeinen ist die Wienerklassische Durchführung der Tummelplatz für die nunmehraus der Exposition verdrängten melodischen Mittel des altenklassischen Stils.« Nicht nur jedoch für das »barocke« melo-dische Fortspinnungsprinzip, sondern in viel höherem Maßefür die Polyphonie, wie sie immer wieder in den Durchfüh-rungen sich regt, um zu versanden. Schönberg denkt zuEnde, was der Klassizismus versprach und nicht hielt, und

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darüber zerbricht die traditionelle Fassade. Er hat die Bachi-sche Forderung wieder aufgenommen, der der Klassizis-mus, Beethoven einbegriffen, sich entzog, ohne daß Schön-berg doch hinter den Klassizismus zurückgefallen wäre. Die-ser hatte Bach aus geschichtlicher Notwendigkeit vernach-lässigt. Die Autonomie des musikalischen Subjekts überwogjedes andere Interesse und schloß kritisch die überkommeneGestalt der Objektivierung aus, während man mit demSchein der Objektivierung vorliebnehmen konnte, so wiedas ungehemmte Zusammenspiel der Subjekte die Gesell-schaft zu garantieren schien. Heute erst, da die Subjektivitätin ihrer Unmittelbarkeit nicht länger als höchste Kategoriewaltet, sondern als der gesamtgesellschaftlichen Verwirk-lichung bedürftig durchschaut ist, wird die Insuffizienz selbstder Beethovenschen Lösung, die das Subjekt zum Ganzenausbreitet, ohne das Ganze in sich zu versöhnen, erkennbar.Schönbergs Polyphonie bestimmt die Durchführung, die beiBeethoven noch auf der Höhe der Eroica »dramatisch«,nicht ganz auskomponiert bleibt, als dialektische Auseinan-derlegung des subjektiven melodischen Impulses in der ob-jektiv organisierten Mehrstimmigkeit. Dies Organisierende,kein Beliebiges Duldende unterscheidet den Schönbergi-schen Kontrapunkt von jedem anderen seiner Epoche. Esüberwindet zugleich das lastende harmonische Schwerge-wicht. Er soll einmal gesagt haben, bei wirklich gutemKontrapunkt denke man gar nicht an die Harmonie; dascharakterisiert aber nicht nur Bach, bei dem die Stringenzder Mehrstimmigkeit das Generalbaß Schema vergessen läßt,in dem sie spielt, sondern auch Schönbergs eigenes Verfah-ren, in dem solche Stringenz schließlich jegliches Akkord-schema und jegliche Fassade überflüssig macht: Musik desspirituellen Ohrs.

Als »entwickelnde Variation« wird Vergeistigung zumtechnischen Prinzip. Es hebt alle bloße Unmittelbarkeit auf,indem es deren eigener Bewegung sich anvertraut. Schön-berg hat ironisch davon gesprochen, daß die Musiktheorieeigentlich immer nur vom Anfang und vom Schluß handle,und nie von dem, was dazwischen geschieht, also von derMusik selber. Sein ganzes Werk ist ein einziger Versuch derAntwort auf jene von der Theorie umgangene Frage. Die

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Themen und ihre Geschichte, der musikalische Verlauf, ha-ben das gleiche Gewicht: ja die Differenz von beiden wirdliquidiert. Das geschieht in der Gruppe der Werke, die etwavon den Liedern op. 6 bis zu den Georgeliedern reicht unddie beiden ersten Quartette, die Erste Kammersymphonieund den ersten Satz der Zweiten umfaßt. Nur der Obsessionmit »Stil« können sie als bloßer »Übergang« erscheinen; alsKompositionen sind sie von der höchsten Reife. Das d-tnoll-Quartett hat ein ganz neues Niveau bis zur letzten Note the-matisch auskomponierter Kammermusik geschaffen. Wie esgestaltet ist, wurden später die Zwölftonwerke gestaltet; werdiese begreifen will, sollte lieber das d-moll-Quartett stu-dieren als Reihen abzählen. Jeder »Einfall« vom ersten Taktan ist kontrapunktisch und birgt die Möglichkeit seinerDurchführung in sich; jede Durchführung bewahrt sich dieSpontaneität des ersten Einfalls. In den knappen Dimen-sionen und der Vielstimmigkeit der Ersten Kammersym-phonie dann ist, was immer noch im Ersten Quartett suk-zessiv sich auslebte, zur Simultaneität zusammengedrängt.Damit beginnt die Fassade zu zerfallen, die das Quartettnoch einigermaßen duldet. Schönberg hat in seinem letztenBuch beschrieben und belegt, wie er in der Exposition derKammersymphonie dem unbewußten Impuls - also demDesiderat der latenten Struktur - folgte, die übliche Vor-stellung von der »Konsequenz« offenbarer thematischer Be-züge opferte und statt dessen die Konsequenz aus dem inne-ren Gefüge der Themen zog. Die beiden an der Oberflächevoneinander ganz unabhängigen Hauptmelodien des erstenThemenkomplexes erweisen sich als verwandt im Sinne desReihenprinzips der späteren Zwölftontechnik: so weit reichtdiese in Schönbergs Entwicklung zurück, ein Implikat desKompositionsverfahrens eher als des bloßen Materials. DerZwang jedoch, Musik vom Vorgedachten zu reinigen, führtnicht nur auf neue Klänge wie die berühmten Quartenak-korde, sondern auch auf eine neue, der Abbildung mensch-licher Gefühle entrückte Ausdruckssphäre. Ein Dirigent hatdas Auflösungsfeld am Ende der großen Durchführung mitGlück einer Gletscherlandschaft verglichen. Die Kammer-symphonie sagt sich zum erstenmal von einer Grundschichtder Musik seit dem Generalbaßzeitalter los, dem Stile rap-

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presentativo, der Anpassung der musikalischen Sprache andie meinende der Menschen. Zum erstenmal schlägt dieSchönbergische Wärme ins Extrem einer Kälte um, derenAusdruck das Ausdruckslose ist. Später hat er polemischgegen die sich gewandt, die von der Musik »animalischeWärme« verlangen; sein Diktum, daß Musik ein nur durchMusik zu Sagendes sage, entwirft die Idee einer Sprache, dieder der Menschen nicht gleicht. Das Helle, beweglich Sprödeund gleichsam Stachlige, ein Charakter, der sich im Fort-gang der Ersten Kammersymphonie verstärkt, antizipiertvor fünfzig Jahren die spätere Sachlichkeit ohne alle vor-klassische Gebärde. Musik, die sich treiben läßt von derreinen und unverstellten Expression, wird gereizt empfind-lich gegen alles, was diese Reinheit antasten könnte, gegenjegliche Anbiederung an den Hörer wie jegliche des Hörersan sie, gegen Identifikation und Einfühlung. In der Konse-quenz des Expressionsprinzips selbst liegt auch das Momentvon dessen Verneinung als jene negative Form der Wahr-heit, welche die Liebe in die Kraft des unbeirrten Protestsversetzt.

Zunächst, und für viele Jahre, ging Schönberg dem nichtweiter nach. Der gleichzeitig entstandene erste Satz derZweiten Kammersymphonie ist expressiv durchaus und har-monisch gehört, eines der vollkommensten Beispiele desAusharmonisierens, der Fülle qualitativ verschiedener undkonstruktiv eingesetzter Akkordstufen, die SchönbergsPhantasie der vertikalen Dimension abgewann. Der auf An-regung Fritz Stiedrys in Amerika nachkomponierte zweiteSatz aber, der die Erfahrungen der Zwölftontechnik auf diespäte Tonalität anwendet, zeitigt eine selbst bei Schönbergeinzigartige Verschränkung von Ausdruck und Konstruk-tion: das Stück setzt spielerisch wie eine Serenade ein, aberje mehr es kontrapunktisch sich verdichtet, um so mehrschürzt sich der tragische Knoten, bis es am Ende bestäti-gend in den düsteren Ton des ersten Satzes mündet. DieserZweiten Kammersymphonie steht technisch das fis-moll-Quartett op. 10 näher als der Ersten. H. F. Redlich hat dar-auf aufmerksam gemacht, daß es als Mikrokosmos die ge-samte Entwicklung Schönbergs retrospektiv wie vorblik-kend repräsentiert. Der erste Satz holt, mit einem Äußer-

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sten an Stufenreichtum und thematischen Profilen, wie aufeinem Fuße stehend heraus, was die bereits souverän über-schaute und bewußt wie ein Darstellungsmittel ausgenützteTonalität an ihrem Ende zu geben vermag. Der zweite,scherzoartige läßt alles grelle Weiß und alle schwarzen Frat-zen des Strindbergschen Expressionismus los: Dämonenzerfetzen die Tonalität. Im dritten, den Gesangsvariationenzu der Georgeschen >Litanei<, besinnt Musik sich auf sichselbst. Reihenartig treten im Thema die wesentlichsten Mo-tivbestandteile des Materials der beiden ersten zusammen.Integrale Konstruktion bändigt den Ausbruch von Trauer.Der letzte Satz aber, wiederum mit Gesang, tönt herüberaus dem Reich der Freiheit, die neue Musik schlechthin,trotz des Fis-Dur am Ende, ihr erstes schlackenloses Zeug-nis, so utopisch inspiriert wie keine andere danach. Die in-strumentale Einleitung dieser >Entrückung< tönt wahrhaft,als wäre Musik aller Fesseln ledig geworden und drängeüber ungeheure Abgründe hinweg zu jenem anderen Pla-neten, den das Gedicht beschwört. Schönbergs Zusammen-treffen mit Georges ihm schroff entgegengesetzter und den-noch wahlverwandter Lyrik ist einer der wenigen Glücks-fälle in seiner sporadischen und unsicheren Erfahrung des-sen, was außerhalb der Musik zu seiner Zeit geistig sich zu-trug. Solange er an George sich maß, war er gefeit vor denliterarischen Versuchungen des wohlfeilen Urlauts: das Ge-orgesche »Strengstes maaß ist zugleich höchste freiheit«hätte er als Maxime wählen können. Gewiß hängt die Quali-tät von Musik nicht simpel von der von Gedichten ab, aberauthentische Vokalmusik will nur dort gelingen, wo sie imGehalt der Dichtung einem Authentischen begegnet. DieGeorgelieder op. 15 bezeugen bereits den manifesten Stil-bruch und sind denn auch bei der Uraufführung durch eineprogrammatische Erklärung Schönbergs eingeleitet wor-den. Aber der Substanz nach gehören sie zum fis-moll-Quartett, zumal dessen letztem Satz. Die damals überausungewohnten und befremdenden Kompositionsmittel rufennoch einmal die Idee der großen Liederzyklen, der FernenGeliebten, der Müllerin, der Winterreise, herauf. Stets istbei Schönberg das Zum-ersten-Mal ein Noch-einmal. Knapp-heit, Prägnanz und Charakteristik eines jeden einzelnen Lie-

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des sind der Architektur des Ganzen ebenbürtig, mit demEinschnitt nach dem achten Lied, dem Adagioschwerpunktim elften und der Steigerung des letzten zum Finale. DerKlaviersatz hat sich asketisch aller herkömmlichen Sonori-tät entäußert und bringt dafür den gedämpften Zauber welt-weiter Ferne heim. Die lyrische Wärme des Saget mir auf wel-chem pfade, die schleierlose Nacktheit von Wenn ich heut nichtdeinen leib berühre, das auf der Höhe einer kaum mehr zu er-tragenden Intensität des Ausdrucks bebende Pianissimo vonAls wir hinter dem beblümten tore - das klingt, als könnte esnicht anders sein und wäre immer schon dagewesen. Derdüstere Abschied des Endes aber weitet sich symphonischwie einst der Jubel von »Und ein liebend Herz erreichet /was ein liebend Herz geweiht«.

Mit den Georgeliedern beginnt die Phase der »freienAtonalität«, die Schönberg den Ruf des Umstürzlers eintrug,nachdem bereits die Kammersymphonie und das ZweiteQuartett offenen Skandal erregt hatten. Heute erscheint derradikale Bruch von damals einzig das Unvermeidliche zuratifizieren. Schönberg hat das Vokabular, vom Einzelklangbis zu den Schemata der großen Form, umgestülpt, aber erhat weiter das Idiom gesprochen, die Art musikalischer Tex-tur angestrebt, die nicht nur genetisch, sondern auch demSinn nach mit den von ihm eliminierten Mitteln verwachsenist. Solcher Widerspruch hat Schönbergs Entwicklung nichtweniger weitergetrieben als gehindert. Auch in den expo-niertesten Werken blieb er traditionell derart, daß er zwarden musiksprachlichen Stoff ausschied, an dem seit dem be-ginnenden siebzehnten Jahrhundert der musikalische Zu-sammenhang sich herstellte, daß aber die Kategorien desZusammenhangs als solche, die Träger eben der »subkuta-nen« Momente seiner Musik fast unangefochten bewahrtwurden. Das Idiom war ihm so selbstverständlich und jederFrage entzogen wie nur Schubert, und etwas vom Über-zeugenden seiner Gebilde rührt daher. Zugleich aber kom-men die vertrauten Kategorien des musikalischen Zusam-menhangs - etwa die von Thema, Fortsetzung, Spannung,Auflösungsfeld - mit dem von ihm freigesetzten Materialnicht mehr überein. Gereinigt von allen vorgegebenen Im-plikationen, ist es zugleich entqualifiziert. Eigentlich müßte

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jeder Augenblick und jeder Ton gleich nah zum Zentrumsein, und das schlösse die bei Schönberg vorwaltende Or-ganisation des musikalischen Zeitverlaufs aus. Gelegentlich,in besonders ungebärdigen Stücken wie dem dritten ausop. 11, hat er danach gehandelt; sonst aber, als hätte er esnoch mit vorstrukturiertem Material zu tun. Vielleicht wardie Zwölftontechnik im innersten gemeint als Versuch, demMaterial auf eigene Faust etwas von jener Vorstrukturiert-heit zu verleihen. Denn sonst nimmt die schaltende Verfü-gung über das Material ein Äußerliches, Willkürliches, jaBlindes an. Nirgends wird das deutlicher als in SchönbergsVerhältnis zum musikalischen Drama. Es war, bei allem Ex-pressionismus der beiden ersten Bühnenwerke, schlicht vonder Wagnerischen Ästhetik diktiert. Noch in >Moses undAron< steht die Musik kaum anders zum Text als bei einemNeudeutschen, so wenig sie auch als solche mit den musik-dramatischen Partituren zu schaffen hat. In Schönberg pralltUngleichzeitiges aufeinander. Der immanent-musikalischseiner Epoche um Lichtjahre voraus war, blieb ein Kind desneunzehnten Jahrhunderts, wo es um den terminus ad quemder Musik, ihre Funktion ging. Insofern ist die Kritik, diean Schönberg von Strawinsky her geübt wird, nicht bloßreaktionär, sondern markiert eine Grenze, die SchönbergsNaivetät vorzeichnet.

Gegen sie wendet sich freilich das kunstfeindlich explo-sive Element Schönbergs. Die Klavierstücke op. 11 sindantiornamental bis zum Gestus des Zerschlagens. Unstili-sierter, nackter Ausdruck und Kunstfeindschaft sind eins1.Etwas in Schönberg, vielleicht Gehorsam vor jenem »Du

1 Der Gestus vollzieht vor den Ohren des Hörers, worauf Schönbergs Entwicklung abzielt:das Subkutane aufzudecken, analog zum gleichzeitigen Kubismus, in dem ebenfalls latenteStrukturen ins unmittelbare Phänomen versetzt werden. Die Analogie betrifft zumal die Ab-schaffung der traditionellen Perspektive in der Malerei und die der tonalen - »räumlichen« -Harmonik. Beides folgt aus dem Impuls der Ornamentfeindschaft. Die malerische Perspektive,nicht umsonst »trompe-rceil« geheißen, enthalt ein Element der Täuschung, das auch, auf einefreilich schwer zu bestimmende Weise, der tonalen Harmonik eignet, welche die Illusion räum-licher Tiefe hervorbringt. Eben diese wird vom Satz der Klavierstücke op. 11 zerstört. Un-erträglich ward an der Harmonie das Illusionsmoment, und die Reaktion dagegen hat entschei-dend dazu beigetragen, das Innere nach außen zu wenden. Das Illusionsmoment aber war aufstiefste verbunden mit jenem Stile rappresentativo, von dem Schönberg sich distanzierte. So-weit Kunst nachmacht, war sie immer auf Illusion aus. Aber wie die Malerei schaffte auch dieMusik den Raum nicht einfach ab, sondern ersetzte den illusionären, vorgetäuschten durcheinen gleichsam erweiterten, nur der Musik selber zugehörigen.

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sollst dir kein Bild machen«, das ein Text der Chorstückeop. 27 zitiert, möchte in Musik, der bilderlosen Kunst, dieabbildlich-ästhetischen Züge ausmerzen. Aber diese Zügesind zugleich Charaktere des Idioms, in dem jeder musi-kalische Gedanke Schönbergs gedacht wird. Daran hat erbis zum Ende laboriert. Immer wieder, auch in der Zwölf-tonphase, hat er heroische Anstrengungen des Vergessens,des Abbaus überdeckender musikalischer Schichten ge-macht, aber immer wieder hat demgegenüber das musi-kalische Idiom sich zäh behauptet. Immer wieder folgendaher auf die Reduktionen komplexe, reich gewobeneWerke, in denen musikalische Sprache wird, was eben nochdie musikalische Sprache kündigen wollte. So sind nachden ersten atonalen Klavierstücken die Orchesterstückeop. 16 entstanden, die zwar von der Emanzipation des Ma-terials nichts nachlassen, aber, inmitten ihrer »Prosa«, aufsneue in Polyphonie und thematischer Arbeit sich entfalten.Diese resultiert, längst vor der Zwölftontechnik, bereits in»Grundgestalten«. Auch der >Pierrot lunaire< kennt ihres-gleichen, etwa der >Mondfleck<, der berühmt ward durchstour de force einer von zwei simultanen krebsgängigenKanons begleiteten Fuge, aber überdies das Fugenthemaund das des Bläserkanons schon streng aus einer Reihe ab-leitet, während der Streicherkanon ein »Begleitsystem« vonder Art bildet, die dann in der Zwölftontechnik fast zurRegel ward. Wie die freie Atonalität aus dem Gefüge dergroßen tonalen Kammermusiken hervorging, so das Zwölf-tonverfahren aus der Kompositionsweise der freien Atonali-tät. Daß die Orchesterstücke das Reihenprinzip entdecken,ohne es zum System zu verfestigen, rückt sie zu den gelun-gensten Werken. Einige daraus, die verästelte Lyrik deszweiten und das in einem Schluß von beispielloser perspek-tivischer Kraft gesammelte letzte, sind den großen tonalenKammermusikwerken und den Georgeliedern ebenbürtig.Als Kompositionen stehen die Bühnenwerke >Erwartung<und >Glückliche Hand< nicht dahinter zurück. Aber in ihnenfährt Schönbergs Kunstfeindschaft, als Kunstfremdheit, derKonzeption in die Parade. Sicherlich hat er kaum je etwasFreieres als die Erwartung komponiert. Nicht nur die Dar-stellungsmittel, sondern die Syntax selber emanzipiert sich.

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Webern übertrieb nicht, als er in der ersten Sammelpubli-kation über Schönberg schrieb, die Partitur sei »ein uner-hörtes Ereignis. Es ist darin mit aller überlieferter Architek-tonik gebrochen; immer folgt Neues von jähster Verände-rung des Ausdrucks.« Jeder Augenblick überantwortet sichder spontanen Regung, und der Gegenstand, die Darstel-lung der Angst, bewährt Schönbergs geschichtliche Inner-vation, verwandt der tiefsten des Expressionismus unmittel-bar vor 1914. Aber in der Wahl des Textes hat Schönbergnicht zu unterscheiden vermocht. Marie Pappenheims Mo-nodram ist Expressionismus aus zweiter Hand, dilettantischnach Sprache und Bau, und das teilt sich auch der Musik mit.So ingeniös Schönberg das Ganze dreiteilig, in. Suchen, Aus-bruch und klagenden Abgesang gliedert, so wenig kanndoch die Musik aus dem Text innere Form ziehen und muß,indem sie sich ihm anschmiegt, dieselben Gesten und Kon-figurationen stets wiederholen. So verstößt sie gegen dasPostulat des unablässig Neuen. In der Glücklichen Hand,die bei nicht minder expressionistischer Haltung komposito-risch zum objektiv Symphonischen sich wendet und pastoseFormflächen entwirft, wird solche Objektivität vom töricht-narzißtischen Sujet trostlos kompromittiert. Die Sympho-nie, zu der Schönbergs Werk zusammenschießen wollte, istnicht geschrieben worden.

Die Orchesterlieder op. 22 schließen mit den Worten Undbingant^ allein in dem großen Sturm. Schönberg muß damals dieäußerste Steigerung seiner Kräfte erfahren haben. Seine Mu-sik dehnt sich wie ein Riese: als wolle aus der selbstverges-senen Subjektivität - »ganz allein« - das Totale, der »großeSturm« aufrauschen. Diesen Jahren gehört der Pierrot lu-naire an, von allen Werken Schönbergs seit der Preisgabeder Tonalität das bekannteste. Glücklich wird die Tendenzzum Objektiven, umfassend Weiten balanciert mit dem, wasdas Subjekt zu füllen vermag. Ein Kosmos aller erdenk-lichen musikalischen und expressiven Charaktere wird er-stellt, aber wie im Spiegel isolierter Inwendigkeit, in einemSeelentreibhaus gleich dem, das kurz zuvor im Maeterlinck-lied besungen war; märchenhaft und absurd. Das Restau-rative dabei, Passacaglia, Fuge, Kanon, Walzer, Serenadeund strophisches Lied, zieht einzig ironisch, gleichsam de-

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naturiert ins paradis artificiel ein, und die zu Aphorismenverkürzten Themen klingen bloß noch wie das ferne Echobuchstäblich gemeinter. Solche Gebrochenheit läßt sichaber nicht trennen vom anachronistischen Vorwurf. Dievon Hartleben übertragenen Gedichte Albert Girauds re-gredieren hinter den Expressionismus in eine Sphäre desKunstgewerbes, des figürlich Ornamentalen, Stilisierten.Was da an Form und Gehalt dem Subjekt verpflichtend ge-genübertritt, bleibt dessen ihrer selbst unkundige Projek-tion. Nicht nur der Vorwurf bringt Schönbergs exquisitesMeisterstück in eine paradox allem Exquisiten drohendeAffinität zum Kitsch, sondern die Musik selber opfert inihrer Neigung zu eingängigem Fließen und sinnfälligenPointen etwas von dem, was Schönberg seit der Erwartungvollbracht hatte. Bei aller virtuosen Spiritualität und obwohlim Pierrot einige seiner kompliziertesten Kompositionenstehen, nimmt das musikalische Vorhaben, als Herstellungvon Oberflächenzusammenhängen, die avancierteste Posi-tion unmerklich zurück. Das aber ist keiner Minderung deskompositorischen Vermögens zuzuschreiben. Schönberghat nie souveräner über die Mittel verfügt als in den Ara-besken, die jegliche musikalische Schwerkraft spielend über-winden. Aber er kollidiert mit eben der geschichtlichen Not-wendigkeit, die in keinem Musiker der Epoche vollkom-mener sich verkörpert hatte als in ihm selber. Er ist in dieAporie des falschen Übergangs geraten. Nichts Geistigesseit Hegel ist ihr entronnen - vielleicht weil Widerspruchs-losigkeit im selbstgenügsamen Bereich des Geistes nichtmehr zu erlangen ist, wenn anders sie je zu erlangen war.Das ästhetische wie das philosophische Subjekt kann, alsvoll entfaltetes und seiner selbst mächtiges, sich nicht beisich selbst und seinem »Ausdruck« bescheiden und muß aufobjektive Verbindlichkeit zielen, wie sie Schönbergs schen-kender Gestus vom ersten Tag an gemeint hat. Aus bloßerSubjektivität heraus jedoch, und wäre sie gespeist von allergesellschaftlichen Dynamik, läßt diese Verbindlichkeit sichnicht bereiten, wenn sie nicht substantiell in der Gesellschaftgegenwärtig ist, von der doch heute das ästhetische Subjektsich lossagen muß, eben weil sie jenes substantiellen Gehaltsenträt. An Schönberg hat sich das Schicksal von Nietzsches

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Neuen Tafeln wiederholt und das Georges, der um der Mög-lichkeit kultischer Lyrik willen sich einen Gott erfand; nichtumsonst hat Schönberg zu beiden sich hingezogen gefühlt.Nach dem Pierrot und den Orchesterliedern hat er die Kom-position eines Oratoriums begonnen. Die Bruchstücke derMusik, die veröffentlicht wurden, zeigen nochmals Schön-bergs Fähigkeit, ohne Umschweife das Äußerste zu treffenwie der Hammerschlag der Glücklichen Hand; der Text aberenthüllt das Verzweifelte des Unternehmens. In der literari-schen Unzulänglichkeit kommt die Unmöglichkeit der Sacheselbst, das Ungemäße eines religiösen Chorwerks inmittender spätkapitalistischen Gesellschaft zutage: der ästhetischenGestalt von Totalität. Das Ganze als Positives läßt sich nichtantithetisch, aus dem Willen und der Kraft des Einzelnenheraus, der entfremdeten und gespaltenen Realität abzwin-gen, sondern ist verwiesen auf die Negation, wofern es nichtzum Trugbild und zur Ideologie verderben soll. Das chefd'oeuvre blieb unvollendet, und das Eingeständnis des Schei-terns, Schönbergs Erkenntnis »Bruchstück wie alles« zeugtvielleicht mehr als jedes Gelingen für ihn. Fraglos hätte erforcieren können, was ihm vorschwebte, aber er muß in dem,was ihm vorschwebte, ein Falsches gespürt haben: die Ideedes chef d'oeuvre ist heute ins genre chef d'oeuvre verhext.Zu tief ist der Bruch zwischen der Substantialität des Ichsund einer Gesamtverfassung des gesellschaftlichen Daseins,die ihm nicht bloß die äußere Sanktion, sondern die apriori-schen Bedingungen versagt, als daß Kunstwerken die Syn-thesis beschieden wäre. Das Subjekt weiß von sich selbst alseinem Objektiven, der Zufälligkeit seines bloßen DaseinsEntrückten, aber dies Wissen, das wahr ist, ist zugleich auchunwahr. Jener im Subjekt angelegten Objektivität ist dieVersöhnung verwehrt mit einem Zustand, der ihren eigenenGehalt negiert, gerade soweit die volle Versöhnung mit ihrgemeint ist, und in den sie doch übergehen müßte, um vonder Ohnmacht des bloßen Fürsichseins geheilt zu werden.Je höher geartet der Künstler, um so größer die Verführungdes Schimärischen. Denn wie Erkenntnis kann die Kunstnicht warten, aber sobald sie der Ungeduld nachgibt, ver-strickt sie sich. Darin ähnelt Schönberg nicht nur Nietzscheund George sondern auch Wagner. Die Male des Sektierer-

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tums an ihm und seinem Umkreis sind Symptome des fal-schen Übergangs. Sein autoritäres Wesen ist so geartet, daßer, der sich folgerecht zum Prinzip der gesamten Musik auf-wirft, es sich selber vorschreiben und ihm dann parierenmuß. Die Idee der Freiheit in seiner Musik wird blockiertvon dem desperaten Bedürfnis, einem Heteronomen sich zubeugen, weil die Anstrengung, bloße Individualität zu über-schreiten und sich zu objektivieren, fehlschlägt. Die innereUnmöglichkeit der Objektivation der Musik manifestiertsich an den Zwangszügen ihrer ästhetischen Komplexion.Sie kann nicht wahrhaft aus sich herausgehen und muß dar-um die eigene Willkür, in deren Zeichen sie es versucht, zurAutorität über sich selber erhöhen. Der Bilderstürmer wirdzum Fetischisten. Das Prinzip rational durchsichtiger undgleichwohl das Subjekt einschließender Musik, von der Ver-wirklichung abgeschnitten, verwandelt als Abstraktes sichin die starre, unbefragte Vorschrift.

Die biblisch lange Schaffenspause läßt sich nicht ausSchönbergs privatem Schicksal in Krieg und Inflation zu-reichend erklären. Wie nach einer tödlichen Niederlage ha-ben seine Kräfte sich umgruppiert. In jenen Jahren hat ersich ungemein intensiv mit dem von ihm gegründeten >Ver-ein für musikalische Privataufführungen < befaßt. Was er fürdie musikalische Interpretation bedeutet, kann kaum über-schätzt werden. Der als Komponist das Subkutane nachaußen kehrte, hat eine Darstellungsweise gefunden und tra-diert, in der die subkutane Struktur sichtbar, in der die Auf-führung zur integralen Realisierung des musikalischen Zu-sammenhangs wird. Das Interpretationsideal konvergiertmit dem kompositorischen. Der Traum vom musikalischenSubjekt-Objekt konkretisiert sich technologisch, nachdemder Komponist auf den Abschluß der >Jakobsleiter< ver-zichtet hat. Er erwartet die Ausweitung ins Verbindlichenicht länger von überpersonalen Vorwürfen und Formen,sondern einzig von der Selbstbewegung der Sache kraftkonsequenter Kompositionsverfahren. Er hat damit allenusurpatorischen und restaurativen Tendenzen, die in dernachexpressionistischen Musik sich hervorwagten, unbe-stechlich überlegen sich gezeigt selbst dort noch, wo er mitdem von ihm verspotteten Neoklassizismus sich berühren

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mochte. Aber das verbissene Vertrauen des späteren Schön-berg auf die Verfahrensweise als Garantin umfassender To-talität schob die Aporie bloß zurück. Ein fast Unmerklicheshat mit der Musik unterm Primat der höchst ingeniösenZwölftontechnik sich zugetragen. Wohl sind in ihr Erfah-rungen und Regeln, die zwangvoll und überzeugend imkompositorischen Prozeß zusammenschössen, zum Bewußt-sein erhoben, kodifiziert und systematisiert worden. Aberdieser Akt berührt den Wahrheitscharakter jener Erfahrun-gen. Sie sind nicht länger offen und der dialektischen Kor-rektur zugänglich. Als Nemesis droht Schönberg, was Kan-dinsky 1912 in einem Aufsatz zu seinem Ruhm geschriebenhatte: »Der Künstler meint, daß er, nachdem er >endlichseine Form gefunden hat<, jetzt ruhig weiter Kunstwerkeschaffen kann. Leider merkt er gewöhnlich selbst nicht, daßvon diesem Moment (des >ruhig<) er sehr bald diese endlichgefundene Form zu verlieren beginnt.« Denn jedes Kunst-werk ist ein Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt deslogischen Urteils denkender Vollzug nicht sich abtrennenläßt, so sind wahr Kunstwerke nur so weit, wie sie ihre ma-terialen Voraussetzungen überschreiten. Das wahnhafte Ele-ment, das technisch-ästhetische Systeme mit solchen der Er-kenntnis gemeinsam haben, sichert ihnen zwar ihre Sug-gestivkraft. Sie werden zum Modell. Aber indem sie derSelbstreflexion sich verweigern und sich stillstellen, befälltsie ein Totenhaftes und lähmt eben jene Impulse, die zuvordas System hervorgetrieben hatten. Kein Mittelweg entgehtder Alternative. Die Einsichten, die im System geronnensind, zu ignorieren, heißt ohnmächtig ans Überholte sichklammern. Das System selbst aber wird zur fixen Idee undzum Universalrezept. Falsch ist nicht das Verfahren an sich-keiner wohl kann heute mehr komponieren, der die Gravi-tation zur Zwölftontechnik nicht mit den eigenen Ohrenverspürt hätte - sondern dessen Hypostasierung, die Ab-wehr des Anderen, nicht bereits analytisch Eingeschlosse-nen. Musik darf nicht die Methode, ein Stück subjektiverVernunft, als die Sache selbst, als Objektives unterschieben.Dazu wird sie aber um so mehr genötigt, je weniger dasästhetische Subjekt an einem ihm Gegenüberstehenden undzugleich mit ihm Harmonierenden sich ausrichten kann: die

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Zauberformel ersetzt das umfassende Werk, das sich selbstverbietet. Wer Schönberg die Treue hält, müßte warnen vorallen Zwölftonschulen. Indem diese heute wie von Vorsichtund vom Tasten so vom Risiko nichts mehr wissen, habensie sich in den Dienst des zweiten Konformismus gestellt.Die Mittel werden zum Zweck. Schönberg selber kam seineBindung an die musiksprachliche Tradition zugute: er or-ganisierte durchs Zwölftonverfahren höchst komplexe undsolcher Stütze bedürftige Musik. Bei den Nachfolgern ver-liert es allmählich die Funktion und wird als bloßer Tonali-tätsersatz mißbraucht, gut genug, um musikalische Phäno-mene aneinander zu kitten, die so simpel sind, daß man nichtso viele Umstände mit ihnen machen müßte. Auch an dieserWendung indessen war Schönberg nicht ganz unschuldig.Zuzeiten schrieb er Zwölftongiguen und -rondos, Formen,an denen die Zwölftontechnik zur Überbestimmung wird,während sie zugleich unvereinbar bleibt mit Typen, welcheso unmißverständlich die tonale Modulatorik vorausset-zen. Er hat im Anfang die Inkonsistenz des allzu Konsi-stenten durch derlei Anleihen grell ins Licht gerückt, umdann jahrelang um die Korrektur sich zu bemühen.

Bis heute noch ist das Potential der Zwölftontechnik of-fen. Sie erlaubte in der Tat die Synthesis von ganz freiemund ganz strengem Verfahren. Indem die thematische Ar-beit ganz und gar das Material durchherrscht, könnte dieKomposition selber wirklich athematisch, »Prosa« werden,ohne darüber der Zufälligkeit zu verfallen. Aber die Ver-dinglichung der Verfahrungsweise wird daran flagrant, daßSchönberg den Zwölftonreihen selber, die einzig das Mate-rial prädisponieren, zutraut, daß sie große Formen stiften.Was jedoch einmal die Tonalität vermöge der modulatori-schen Proportionen leistete, leistet eine Technik nicht, inderen Sinn es geradezu liegt, nicht auswendig zu erscheinen.Würden Zwölftonreihen und -relationen in einer größerenForm ebenso evident wie in der traditionellen Musik dieVerhältnisse von Tonarten, so klapperte die Form mecha-nisch. Die Zwölftonreihen definieren nicht einen musikali-schen Raum, innerhalb dessen das Werk spielt und der dieAnschauung vorweg regelt. Sondern sie sind die kleinstenEinheiten, die es gestatten, ein integrales Ganzes allseitiger

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Beziehungen zu konstruieren. Würden sie manifest, so zer-ginge das Ganze in seine Atome. Schönbergs variativePhantasie hat denn auch selbstverständlich die Reihen hin-ter dem realen Verlauf der Musik versteckt. Dort konntensie dann aber auch nicht die architektonische Wirkung aus-üben, die er sich erhoffte. Der Widerspruch latenter Organi-sation und manifester Musik reproduziert sich auf höhererStufe. Ihn zu bannen, beschwört Schönberg traditionelleFormmittel. Weil er der Zwölftontechnik Objektivität alseine Art allgemeinbegrifflicher Ordnung aufbürdete, die sienicht trug, mußte er Kategorien solcher Ordnung vonaußen, ohne Rücksicht aufs Material heranholen. Des Glau-bens an musikalische Ordnungskategorien an sich hat ersich nie entschlagen. Viele der großen zwölftönigen Sätze,besonders aus der amerikanischen Zeit, sind überzeugendgelungen. Die besten aber haben sich weder auf die Zwölf-tonreihen noch auf die traditionellen Typen verlassen. Essind jene, in denen er unbefangen mit eigentlich komposito-rischen Mitteln operiert; etwa um je verschiedene Kern-modelle geordnete thematische Flächen aneinander schich-tet. Die Logik des Aufbaus wird nochmals gesteigert: dieKonstruktion etwa des Hauptthemas aus dem ersten Satzdes Violinkonzerts ist prägnanter als irgend etwas vor Ein-führung der Zwölftontechnik. An ihren Widerständen hatdas kompositorische Vermögen sich potenziert. Aber derSchein des Natürlichen, des musikalischen ordo, den sie imBewußtsein der Adepten als schlechte Erbschaft der Tonali-tät annimmt, die selber schon nicht Natur, sondern Produktder Rationalisierung war, ist bloßes Zeugnis der Schwäche,der hilflosen Sehnsucht nach Sekurität. Das läßt drastischetwa am Verhältnis der Zwölftontechnik zur Oktav sich zei-gen. Die Identität der Oktav wird stillschweigend akzep-tiert: sonst wäre eines der wichtigsten Zwölftonprinzipien,Versetzbarkeit jedes Tons in jede beliebige Oktavlage, un-denkbar. Zugleich aber haftet der Oktav selber etwas »To-nales« und das Gleichgewicht der zwölf Halbtöne Stören-des an: wo Oktaven verdoppelt werden, assoziiert manDreiklänge. Der Widerspruch hat sich in Schönbergsschwankender Praxis ausgeprägt. Früher, weithin schonin den Werken der freien Atonalität, war die Oktav ver-

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mieden. Dann aber hat Schönberg, wohl der klanglichenVerdeutlichung von Bässen und thematischen Hauptstim-men zuliebe, doch Oktaven geschrieben, und zwar zuerst ineinem mit der Tonalität spielenden Stück, der Ode an Na-poleon; hier so wenig wie dann im Klavierkonzert läßt einegewisse Gewaltsamkeit und Unreinheit des Satzes sich über-hören. Vollends in der Frühzeit der Technik verrät sichfalsche Natur in Zügen des Apokryphen, Schäbigen undAbsurden. Zuweilen droht Musik in zugleich formelhaftemund sinnleerem Wesen all ihre Sublimierung ungeschehenzu machen, zum kruden Stoff zu werden. So wie das Dogmader Astrologen die Bewegung der Gestirne und die Pro-gnose menschlicher Schicksale zwar zusammenbringt, beideaber dem Vollzug der Einsicht unverbunden bleiben, soenthält auch die Folge der bis zur letzten Note determinier-ten Zwölftonereignisse für die lebendige Erfahrung denRest eines Unverbundenen. Zum Hohn auf die möglicheSynthesis von Gesetzmäßigkeit und Freiheit erweist sich dieverabsolutierte Notwendigkeit als Zufall. Nochmals siegte der große Komponist über den Erfinder,als Schönberg alle Energie seines späteren Lebens daranwandte, das apokryphe Element der Zwölftontechnik aus-zutreiben. Von ihm waren die ersten, nicht strikt zwölftöni-gen Reihenkompositionen noch frei. In den vier ersten Stük-ken aus op. 23 zittert die eruptive Gewalt der expressionisti-schen Phase nach. Kaum finden sich starre Partien. Daszweite etwa, eine Peripetie, jenem Typus zugehörig, zu demunter Schönbergs Händen das Scherzo wurde, ist nur einauskomponiertes Diminuendo höchster Originalität: derAusbruch klingt rasch ab und läßt einen nächtlich ruhigenund tröstlich schließenden Nachsatz übrig. Das schwung-volle vierte Stück kommt der Idee einer athematischenZwölftonkomposition nahe wie kaum ein anderes. Ganz undgar zwölftönig sind erst die Klaviersuite op. 25 und dasBläserquintett op. 26. Sie heben das Zwangshafte eigens her-vor, eine Art Bauhausmusik, metallischer Konstruktivis-mus, dessen Schlagkraft gerade von der Absenz primärenAusdrucks herrührt; wo Ausdruckscharaktere begegnen,sind diese selber »auskonstruiert«. Das Quintett, am schwie-rigsten wohl zu hören von allem, was Schönberg schrieb,

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treibt in seiner Schroffheit die Sublimierung nach einer Di-mension hin am weitesten: es sagt der Farbe den Krieg an.Der Impuls gegen das Infantile, musikalisch Dumme ergreiftdas Medium, das mehr als andere kulinarisch, bloßer sinn-licher Reiz diesseits des geistigen Vollzugs scheint. UnterSchönbergs Akten der Integration musikalischer Mittel warnicht der letzte, daß er endgültig die Farbe der Sphäre desSchmückenden entriß und zum Kompositionselement eige-nen Rechtes erhob. Sie verwandelt sich in ein Mittel der Ver-deutlichung des Zusammenhangs. Solche Einbeziehung indie Komposition aber wird ihr zum Verhängnis. An einerStelle von >Style and Idea< hat er sie ausdrücklich verwor-fen. Je nackter die Konstruktion sich darstellt, um so weni-ger bedarf sie der koloristischen Hilfe. So kehrt sich dasPrinzip gegen Schönbergs eigene Errungenschaften, ver-gleichbar vielleicht dem letzten Beethoven, bei dem allesinnliche Unmittelbarkeit zu einem bloß Vordergründigen,Allegorischen sich reduziert. Man kann sich diese Spätformder Schönbergischen Askese, der Negation alles Fassaden-haften, leicht genug ausgedehnt denken auf alle musikali-schen Dimensionen überhaupt. Mündige Musik schöpftVerdacht gegen das real Erklingende schlechthin. Ähnlichwird mit der Realisierung des »Subkutanen« das Ende dermusikalischen Interpretation absehbar. Stumm imaginativesLesen von Musik könnte das laute Spielen ebenso überflüs-sig machen wie etwa das Lesen von Schrift das Sprechen,und solche Praxis könnte zugleich Musik von dem Unfugheilen, der dem kompositorischen Inhalt von fast jeglicherAufführung heute angetan wird. Die Neigung zum Ver-stummen, wie sie in Weberns Lyrik die Aura jeden Tonesbildet, ist dieser von Schönberg ausgehenden Tendenz ver-schwistert. Sie läuft aber auf nicht weniger hinaus, als daßMündigkeit und Vergeistigung der Kunst mit dem sinn-lichen Schein virtuell die Kunst selber tilgen. Emphatischarbeitet in Schönbergs Spätwerk die Vergeistigung derKunst an deren Auflösung und findet sich so mit demkunstfeindlichen und barbarischen Element abgründig zu-sammen. Daher sind denn auch Bestrebungen völliger Ab-straktion, wie die von Boulez und jüngeren Zwölftonkom-ponisten in allen Ländern, keineswegs bloße »Verirrung«,

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sondern denken eine Intention Schönbergs weiter. Aber erhat sich doch nie ganz zum Sklaven der eigenen Intentionund der objektiven Tendenz gemacht. Das Schaltende undgewaltsam Verfügende im Verhältnis zum Material, immerschroffer im Alter, hat, paradox genug, in manchem Be-tracht den Systemzwang der losgelassenen Konsequenz ge-brochen. Sein Komponieren hat niemals die primitive Ein-heit von Komposition und technischer Verfahrungsweisevorgetäuscht. Die Erfahrung, daß kein musikalisches Sub-jekt-Objekt heut und hier sich konstituieren kann, war anihm nicht verschwendet. Das hat ihm auf der einen Seite diesubjektive Bewegungsfreiheit gerettet, auf der andern denDämon der Komponiermaschine von der objektiven Ge-stalt ferngehalten. Jene Freiheit gewann er wieder, sobalder mit der Zwölftontechnik abermals wie mit einer ver-trauten »Sprache« umgehen konnte, in der Schule der un-belastet heiteren Kammersuite op. 29 und der fast didak-tischen Orchestervariationen, aus denen Leibowitz einKompendium der neuen Technik destillierte. Die engeFühlung mit dem Text und den wie sehr auch bescheidenenPointen der Lustspieloper >Von heute auf morgen < hat ihmvollends alle Flexibilität des musikalischen Idioms zurück-gegeben. Ihrer bewußt, holt er zum zweitenmal zum chefd'oeuvre aus, und wieder verschiebt er den Abschluß mitjenem rätselvollen Glauben an eine endlose Lebenszeit, inden sich seine Verzweiflung über das Es-soll-nicht-sein mas-kierte. Daß in den frühen Dreißiger jähren tatsächlich seineKraft nochmals zum Gipfel sich erhob, tat die unvergeß-liche Darmstädter Uraufführung des >Tanzes um das gol-dene Kalb< unter Scherchen im Sommer 1951 dar, die we-nige Tage vor Schönbergs Tod zum erstenmal einem derZwölftonwerke jenen Jubel eintrug, dessen der Verächterdes Beifalls mehr als jeder andere bedurfte. Die Intensitätdes Ausdrucks, die Disposition der Farbe, die Gewalt desAufbaus trägt über Stock und über Stein. Nach dem Textdes Bruchstückes zu urteilen, wäre Moses und Aron alsvollendete Oper verloren gewesen; die unvollendete zähltzu den großen Fragmenten der Musik.

Schönberg, der allen Konventionen im Bereich der Mu-sik widerstand, hat in die Rolle sich gefunden, die ihm in

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der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zufiel, die ihn aufs Be-reich der Musik vereidigte. Seine Regung, als Maler undDichter darüber hinauszugehen, wurde vereitelt: Arbeits-teilung ist nicht durch den Anspruch des Universalgenieszu widerrufen. So hat er sich denn unter die »großen Kom-ponisten« eingereiht, als wäre ihr Begriff ewig. Die leisesteKritik an einem der Meister seit Bach war ihm unerträglich;er bestritt nicht nur Qualitätsunterschiede im oeuvre jedeseinzelnen, sondern womöglich auch noch stilistische zwi-schen ihren Arbeiten aus verschiedenen Gattungen, selbstso fraglose wie den zwischen Beethovens Symphonik undKammermusik. Daß die Kategorie des großen Komponi-sten geschichtlich variieren könnte, kam ihm so wenig beiwie der Zweifel daran, daß sein Werk, wenn es an der Zeitsei, ähnlich etabliert sein müsse wie das eines Klassikers.Gegen seinen Willen, im Innern seines Werks kristallisiertsich, was musikalisch-immanent solchen gesellschaftlich nai-ven Vorstellungen entgegen ist. Der Überdruß am sinn-lichen Scheinen in seinem Spätstil entspricht der Emasku-lierung von Kunst im Angesicht der Möglichkeit, ihr Ver-sprechen real einzulösen, aber auch dem Grauen, das, umsolche Möglichkeit zu hintertreiben, jegliches Maß dessensprengt, was noch Bild werden könnte. Inmitten des ver-blendeten Spezialistentums sind seiner Musik die Lichteraufgegangen, die über das ästhetische Bereich hinausstrah-len. Einmal hat seine unbestechliche Redlichkeit das Be-wußtsein davon erreicht, in den ersten Monaten der Hitler-diktatur, als er unverblümt sagte, daß zu überleben wich-tiger sei als Kunst. Wenn sein Spätwerk, wie sonst wohl nurdas Picassos, von der Hinfälligkeit aller Kunst nach demZweiten Krieg verschont blieb, so hat sie das jener Rela-tivierung des Künstlerischen zu danken, zu der das kultur-fremde Element Schönbergs selber sich vergeistigte. Viel-leicht enträtselt das erst ganz die didaktischen Züge. Va-lerys Bemerkung, daß die Arbeit großer Künstler etwas vonFingerübungen hat, etwas von Studien zu Werken, die sel-ber nie gelingen, könnte auf Schönberg gemünzt sein. DieUtopie der Kunst überflügelt die Werke. Übrigens schaffteinzig dies Medium das eigentümliche Einverständnis zwi-schen Musikern, in dem der Unterschied von Produktion

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und Reproduktion gleichgültig wird. Sie spüren, daß sie ander Musik arbeiten und nicht an den Werken, wenngleichnur durch diese hindurch. Der späte Schönberg komponiertan deren Stelle Paradigmata einer möglichen Musik. Um sodurchsichtiger wird die Idee der Musik selber, je weniger dieWerke auf ihrem Schein bestehen. Sie nähern sich dem Frag-mentarischen, dessen Schatten Schönbergs Kunst sein Lebenlang begleitete. Nicht nur in ihrer Kürze, sondern in ihrer ge-schrumpften Diktion wirken die letzten Arbeiten bruchstück-haft. An Splitter geht die Dignität des großen Werkes über.Oratorium und biblische Oper werden aufgewogen von denpaar Minuten der Erzählung des >Überlebenden von War-schau <, in denen Schönberg von sich aus den ästhetischenBereich suspendiert durchs Eingedenken an Erfahrungen,welche der Kunst schlechterdings sich entziehen. SchönbergsAusdruckskern, die Angst, identifiziert sich mit der Angstder Todesqual von Menschen unter der totalen Herrschaft.Die Klänge der Erwartung, die Schocks der Filmmusikvon »drohender Gefahr, Angst, Katastrophe«, treffen, wassie seit je prophezeiten. Was die Schwäche und Ohnmachtder individuellen Seele auszudrücken schien, bezeugt, wasder Menschheit angetan wird in denen, die als Opfer dasGanze vertreten, das es ihnen antut. So wahr hat nie Grauenin der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sieihre lösende Kraft wieder vermöge der Negation. Der jüdi-sche Gesang, mit dem der Überlebende von Warschauschließt, ist Musik als Einspruch der Menschheit gegen denMythos.

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Valery Proust Museum

Hermann von Grab zum Gedächtnis

Der Ausdruck »museal« hat im Deutschen unfreundlicheFarbe. Er bezeichnet Gegenstände, zu denen der Betrachternicht mehr lebendig sich verhält und die selber absterben.Sie werden mehr aus historischer Rücksicht aufbewahrt alsaus gegenwärtigem Bedürfnis. Museum und Mausoleumverbindet nicht bloß die phonetische Assoziation. Museensind wie Erbbegräbnisse von Kunstwerken. Sie bezeugendie Neutralisierung der Kultur. Kunstschätze sind in ihnenangehortet: der Marktwert verdrängt das Glück der Betrach-tung. Aber es ist doch auf die Museen verwiesen. Wer nichtselbst eine Sammlung besitzt - und die großen privatenSammler werden zu Raritäten - kann Malerei und Plastik zuweitem Maß nur in Museen kennenlernen. Wo das Un-behagen an diesen überwiegt und der Versuch gemacht wird,etwa Bilder in ihrer ursprünglichen Umgebung zu zeigenoder einer, welche dieser ähnelt, in Barock- oder Rokoko-schlössern, stellt peinlichere Abneigung sich ein, als wo sieabgesprengt und wieder zusammengebracht erscheinen; dasFeinsinnige tut der Kunst mehr Harm als selbst das Sammel-surium. Analoges gilt für die Musik. Die Programme dergroßen Konzertgesellschaften, meist retrospektiv gerichtet,haben mehr stets mit den Museen gemeinsam, aber der beiKerzenlicht aufgeführte Mozart wird zum Kostümstück er-niedrigt, und die Anstrengungen, Musik aus der Distanz derAufführung in den Zusammenhang des unmittelbaren Le-bens zurückzurufen, haben nicht nur etwas Hilfloses, son-dern obendrein etwas von geschäftig rückschrittlicher Ran-cune. Mit Grund sagte Mahler, als ein Wohlmeinender ihmriet, der Stimmung zuliebe beim Konzert den Saal verdun-keln zu lassen, eine Aufführung, über der man nicht dieUmgebung vergäße, tauge nichts. Es zeichnet in dergleichenSchwierigkeiten etwas von der fatalen Lage dessen sich ab,was kulturelle Tradition heißt. Sobald dieser keine umfan-gende, substantielle Kraft mehr innewohnt, sondern sie her-

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beizitiert wird, weil es doch gut wäre, Tradition zu haben,löst sich als Mittel zum Zweck auf, was von ihr noch übrigsein mag. Die kunstgewerbliche Veranstaltung spottet des-sen, was da konserviert werden soll. Glaubt man, das Ur-sprüngliche lasse sich aus dem Willen wiederherstellen, soverfängt man sich in hoffnungsloser Romantik; die Moder-nisierung des Vergangenen tut diesem Gewalt an und wenigGutes; wollte man aber auf die Möglichkeit, das Traditio-nelle zu erfahren, radikal verzichten, so überlieferte man sichaus lauter Kulturtreue der Barbarei. Daß die Welt aus denFugen ist, zeigt allerorten sich daran, daß man es falschmacht, wie man es auch macht.

Bei der allgemeinen Einsicht in den negativen Zustandsollte man sich jedoch nicht beruhigen. Ein geistiger Rechts-streit wie der ums Museum wäre mit spezifischen Argumen-ten durchzufechten. Dazu gibt es nun zwei außerordentlicheDokumente. Die beiden authentischen Dichter der letztenGeneration in Frankreich, Paul Valery und Marcel Proust,haben zur Frage des Museums sich geäußert, und zwar in ge-nau entgegengesetztem Sinn; ohne daß übrigens jene Äuße-rungen polemisch aufeinander zugeschnitten wären oder daßauch nur die eine Kenntnis der anderen verriete. Valery hatin seinem Beitrag zu einem Proust gewidmeten Sammelbandhervorgehoben, wie wenig er mit dessen Romanwerk ver-traut sei. Das in Rede stehende Stück von ihm heißt >LeProbleme des musees< und steht in dem Essayband Piecessur L'art. Die Stelle bei Proust kommt im dritten Band von>A l'ombre des jeunes filles en fleurs< vor.

Valerys Plädoyer bezieht sich offensichtlich auf die ver-wirrende Überfülle des Louvre. Er habe die Museen nichtallzu gern. So viel des Bewundernswerten in ihnen aufbe-wahrt werde, so wenig gebe es dort das Köstliche. Das Wortdelices, das er dafür verwendet, gehört, beiläufig gesagt, zuden schlechterdings unübersetzbaren: Köstlichkeiten klängewie aus dem Feuilleton, Wonnen schwerfällig-wagnerisch,Entzückungen käme vielleicht dem Gemeinten am nächsten,aber keines von all den Worten drückt die leise Erinnerungan feudalen Genuß aus, die der Haltung des l'art pour l'artseit Villiers de L'Isle Adam gesellt war und die auf Deutschnur in der Rosenkavalierkomik von »deliziös« anklingt. Je-

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denfalls fühlt der seigneuriale Valery sich bedrängt schonvon der autoritären Geste, die ihm den Spazierstock ab-nimmt, und von dem Schild, welches das Rauchen verbietet.Kalte Verwirrung herrsche unter den Skulpturen, ein Tu-mult gefrorener Geschöpfe, deren jedes die Nichtexistenzdes anderen fordert, sonderbar organisierte Unordnung.Inmitten der zur Kontemplation dargebotenen Bilder werdeman, spottet Valery, von heiligem Schauder ergriffen: manspreche zwar eben noch lauter als in der Kirche, aber dochleiser als im Leben. Man wisse nicht, warum man gekommensei: um sich Bildung zu holen, um Entzücken zu suchen oderum eine Pflicht zu erfüllen, einer Konvention nachzukom-men. Ermüdung und Barbarei fänden sich zusammen. KeineKultur der Wollust und keine der Vernunft hätten ein der-artiges Haus des Unzusammenhängenden errichten können.Tote Visionen seien darin aufgebahrt.

Das Sinnesorgan des Ohrs, meint Valery, der der Musikferner stand und daher Illusionen hegen mochte, sei besserdaran: niemand könne ihm zumuten, zehn Orchester zu-gleich zu hören. Vollends der Geist führe nicht simultan allemöglichen Operationen aus. Nur das bewegliche Auge müsseim gleichen Augenblick ein Portrait und ein Seestück, eineKüche und einen Triumphzug auffassen, vor allem aber:miteinander schlechterdings unvereinbare Malweisen. Jeschöner jedoch Bilder seien, um so mehr seien sie vonein-ander verschieden: seltene Objekte, Unica. Dies Bild, sosage man zuweilen, tötet die anderen, die es umgeben. Wirddaran vergessen, so gehe das Erbe zugrunde. Wie derMensch seine Kräfte einbüße durchs Übermaß von techni-schen Hilfsmitteln, so verarme er durchs Übermaß seinerReichtümer.

Valerys Argumentation trägt durchaus kulturkonserva-tive Akzente. Er hat sich gewiß wenig um die Kritik derpolitischen Ökonomie bekümmert. Um so erstaunlicher, daßdie ästhetischen Nerven, die den falschen Reichtum regi-strieren, so genau auf den Tatbestand der Überakkumula-tion ansprechen. Metaphorisch gebraucht er einenAusdruck,der wörtlich für die Wirtschaft gilt, und spricht von der An-sammlung eines exzessiven und daher unverwertbaren Ka-pitals. Was immer geschehe - ob Künstler produzieren oder

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reiche Leute sterben, es komme den Museen zugute; wie dieSpielbank könnten sie nicht verlieren, und eben das sei ihrFluch. Denn die Menschen seien trostlos verloren in denGalerien, Einsame gegen so viel Kunst. Keine andere Reak-tion daraufsei möglich als jene, die Valery überhaupt als denSchatten des Fortschritts jeglicher Materialbeherrschung an-sieht, anwachsende Oberflächlichkeit. Kunst werde zur Sachevon Erziehung und Information, Venus zum Dokument,und Bildung sei, in Angelegenheiten der Kunst, eine Nieder-lage. Ganz ähnlich argumentierte Nietzsche in der Unzeit-gemäßen Betrachtung über den Nutzen und Nachteil derHistorie. Valery erreicht, im Schock des Museums, die ge-schichtsphilosophische Einsicht ins Absterben der Kunst-werke : wir richten dort, sagte er, die Kunst der Vergangen-heit hin.

Er werde das großartige Chaos des Museums - ein Gleich-nis, könnte man es nennen, für die Anarchie der Waren-produktion in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft -noch auf der Straße nicht los und suche nach dem Grundseines Unbehagens. Malerei und Skulptur, so spreche zu ihmder Dämon der Erkenntnis, seien verlassene Kinder. »IhreMutter ist tot, ihre Mutter, die Architektur. Solange sielebte, gab sie ihnen ihren Ort, ihre Beschränkung. Die Frei-heit zu irren war ihnen versagt. Sie hatten ihren Raum, ihrwohldefiniertes Licht, ihren Stoff. Es herrschten zwischenihnen die rechten Verbindungen. Solange jene lebte, wußtensie, was sie wollten ... Leb wohl, sagt mir der Gedanke, wei-ter will ich nicht gehen.« Mit einem romantischen Gestushält Valerys Reflexion inne. Indem er sie offenläßt, vermeideter die sonst unvermeidliche Konsequenz des radikalen Kul-turkonservativen : die Kultur zu kündigen, um ihr die Treuezu halten.

Prousts Ansicht über das Museum ist aufs kunstvollste inden Zusammenhang der >Recherche du temps perdu< ver-woben. Nur dort erschließt sie sich ganz in ihrem Stellen-wert. Durchweg bei Proust sind die Reflexionen, durchderen Gebrauch er auf die ältere vor-Flaubertsche Übungdes Romans zurückgreift, nicht bloße Betrachtungen überdas Dargestellte, sondern durch unterirdische Assoziationenmit diesem zusammengewachsen und fallen dergestalt wie

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die Erzählung selbst ins große ästhetische Kontinuum, dasdes inwendigen Selbstgesprächs. Er berichtet von seinerReise nach dem Seebad Balbec. Dabei markiert er die Zäsur,die Reisen in den Ablauf des Lebens setzen, indem sie »unsvon einem Namen zu einem anderen Namen führen«. Schau-plätze jener Zäsur seien zumal die Bahnhöfe, »diese ganz be-sonderen Stätten . . . die sozusagen kein Teil der Stadt sindund doch die Essenz ihrer Persönlichkeit so deutlich ent-halten, wie sie in dem Signalschild ihren Namen tragen«.Bahnhöfe werden, wie alles unter dem Blick der ProustschenErinnerung, die gleichsam die Intention aus ihren Gegen-ständen saugt, zu geschichtlichen Urbildern, und zwar, alssolche des Abschieds, zu tragischen. Von der Glashalle derGare St-Lazare heißt es: »Über einer auseinandergerissenenStadt spannte sie ihren weiten wüsten Himmel voll drohen-der Dramen; so modern, so fast pariserisch sind mancheHimmel von Mantegna oder Veronese, unter solcher Wöl-bung kann sich nur etwas Furchtbares und Feierliches voll-ziehen, eine Abfahrt auf der Eisenbahn oder die Kreuz-erhöhung.«

Der assoziative Übergang zum Museum ist im Roman ver-schwiegen: das Bild jenes Bahnhofs, gemalt von dem vonProust leidenschaftlich geliebten Claude Monet, das jetzt inder Sammlung des Jeu de Paume sich befindet. Ohne vielWorte vergleicht er den Bahnhof dem Museum. Beide Ortesind dem konventionellen Oberflächenzusammenhang derAktionsobjekte entzogen, und dem mag man hinzufügen:beide sind Träger einer Todessymbolik, der Bahnhof deruralten des Reisens, das Museum jener, die sich auf dasWerk bezieht, »l'univers nouveau et perissable«, den neuenund hinfälligen Kosmos, den der Künstler geschaffen habe.Gleich den Erwägungen Valerys kreisen die Prousts um dieSterblichkeit der Artefakte. Was ewig dünkt, sagt er ananderer Stelle, enthalte in sich die Motive seiner Destruk-tion. Die entscheidenden Sätze übers Museum sind einge-lassen in die Physiognomik des Bahnhofs. »Aber auf allenGebieten hat ja unsere Zeit die Manie, uns die Dinge in ihrernatürlichen Umgebung vor Augen führen zu wollen und da-mit das Wesentliche zu unterschlagen, nämlich den geistigenVorgang, der sie aus jener heraushob. Man >präsentiert<

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heute ein Bild inmitten von Möbeln, kleinen Kunstgegen-ständen und Vorhängen >aus der Epoche < in einer belang-losen Dekoration, die jetzt in neu eingerichteten Stadthäu-sern eine gestern noch in diesen Dingen völlig unwissendeHausherrin großartig zustande bringt, nachdem sie ihre Tagein Archiven und Bibliotheken verbracht hat; aber dasMeisterwerk, das man während des Abendessens betrachtet,schenkt uns nicht mehr das gleiche berauschende Glücks-gefühl, das man nur in einem Museumssaal — der viel besserin seiner nüchternen Enthaltung von allen Details die inne-ren Räume symbolisiert, in die sich der Künstler zurück-gezogen hat, um es zu erschaffen - wird erwarten können.«Prousts These ist der Valeryschen vergleichbar, weil ermit ihm die Voraussetzung des Glücks an den Kunstwerkenteilt. Wie Valery von den delices, spricht er von der joieenivrante, der berauschenden Freude. Weniges könnte denAbstand nicht nur zwischen der gegenwärtigen Generationvon der vorhergehenden, sondern auch zwischen dem deut-schen Verhältnis zur Kunst und dem französischen genauercharakterisieren als jene Voraussetzung; schon als A l'om-bre geschrieben ward, muß im Deutschen der AusdruckKunstgenuß rührend philiströs geklungen haben wie einReimwort aus Wilhelm Busch. Übrigens war es um diesenGenuß, an den Valery und Proust glauben wie an die Ver-sicherung einer bewunderten Mutter, immer schon fraglichbestellt. Wer den Kunstwerken nah ist, dem pflegen sie sowenig Gegenstände des Entzückens zu sein wie der eigeneAtem. Weit eher lebt er mit ihnen wie der moderne Ein-wohner einer mittelalterlichen Stadt, der, vom Besucher aufdie Schönheit von Gebäuden aufmerksam gemacht, daraufbrummig »ja, ja« antwortet, aber in jedem Winkel und unterjedem Torbogen sich auskennt. Nur dort jedoch, wo jenefeste Distanz zwischen den Kunstwerken und dem Betrach-ter herrscht, welche den Genuß erlaubt, kann die Frage nachderen Lebendig- oder Totsein aufkommen. Wer im Kunst-werk zu Hause ist, anstatt es zu besuchen, verfiele schwer-lich darauf. Die beiden Franzosen aber, die doch nicht bloßselbst produzieren, sondern zudem stetig über die eigeneProduktion nachdenken, sind gleichwohl des Glückes nochgewiß, das die Werke dem draußen spenden. So weit sogar

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stimmen sie überein, daß sie etwas von der Todfeindschaftder Werke untereinander wissen, die jenes Glück begleitet,das im Wettkampf entsprang. Proust jedoch, anstatt vorsolcher Feindschaft zu erschrecken, bejaht sie, als wäre er sodeutsch, wie Charlus es affektiert. Der Prozeß zwischen denWerken ist ihm einer von Wahrheit; die Schulen, heißt es aneiner Stelle von >Sodome et Gomorrhe<, verschlingen sichgegenseitig wie Mikroorganismen und sorgen durch ihrenKampf dafür, daß das Leben sich erhält. Diese dialektische,übers Beharren vorm Sein des je Einzelnen hinausgehendeAnsicht bringt Proust in Gegensatz zu dem Artisten Valeryund erlaubt ihm die perverse Toleranz für die Museen, wäh-rend jenem die Sorge um die Dauer der Werke alles ist.

Sie mißt sich am Jetzt und Hier. Die Kunst ist für Valeryverloren, wenn sie ihren Platz im unmittelbaren Leben ein-gebüßt hat, den Funktionszusammenhang, in dem sie stand;schließlich: ihre Beziehung auf möglichen Gebrauch. DerHandwerker in ihm, der Dinge, Gedichte mit jener Präzi-sion der Konturen herstellt, die stets den Blick auf ihre Um-gebung einbegreift, ist für den Ort des Kunstwerkes, denbuchstäblichen und den geistigen, unendlich hellsichtig ge-worden, so als wäre bei ihm das perspektivische Gefühl desMalers zu einem für die Perspektive der Realität gesteigert,in der das Werk selber erst seine Tiefe empfängt. Sein Stand-punkt ist der künstlerische als der der Unmittelbarkeit, aberzur verwegensten Konsequenz getrieben. Er gehorcht demPrinzip des l'art pour l'art bis zur Schwelle von dessen Ver-neinung. Ihm liegt am reinen Kunstwerk als Objekt derdurch nichts verwirrten Kontemplation, aber er faßt es solange und so starr ins Auge, bis er sieht, daß es gerade alsGegenstand solcher reinen Kontemplation abstirbt, zumkunstgewerblichen Zierstück degeneriert und jener Würdeberaubt wird, die fürs Werk wie für Valery selbst die raisond'etre ausmacht. Dem reinen Werk droht Verdinglichungund Gleichgültigkeit. Mit dieser Erfahrung überwältigt ihndas Museum. Er entdeckt, daß die reinen Werke, die derBetrachtung im Ernst standhalten, nur die nicht reinenWerke sind, die in jener Betrachtung sich nicht erschöpfen,sondern auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang hin-weisen. Und da Valery mit der Unbestechlichkeit des großen

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Rationalisten weiß, daß dieser Stand der Kunst unwieder-bringlich ist, so bleibt dem Antirationalisten und Bergso-nianer in ihm nichts übrig als die Trauer um die versteiner-ten Werke.

Fast beginnt der Romancier Proust dort, wo der LyrikerValery ins Schweigen fällt, beim Nachleben der Werke.Denn Prousts primäres Verhältnis zur Kunst ist das Gegen-teil der Haltung des Experten und des Produzenten. Er istzunächst der bewundernd Konsumierende, der Amateur, ge-neigt zu jenem überschwenglichen und unter Künstlern ver-dächtigen Respekt, den nur jene für Werke aufbringen, diegleichwie durch einen Graben von ihnen getrennt sind. Fastkönnte man sagen, seine Genialität habe nicht zum letztendarin bestanden, diese Haltung des Konsumenten - auch diedessen, der im Leben selber als Zuschauer sich geriert - sounbeirrt einzunehmen, bis sie umschlug in einen neuen Typusder Produktivität, bis die Kraft der Kontemplation des In-wendigen und Auswendigen sich steigerte zum Eingeden-ken, zur unwillkürlichen Erinnerung. Der Liebhaber paßtvon vornherein unvergleichlich viel besser ins Museum alsder Sachverständige. Dieser, Valery, fühlt sich dem Atelierzugehörig, jener, Proust, flaniert durch die Ausstellung.Seine Beziehung zur Kunst hat etwas Exterritoriales, undmanche seiner Fehlurteile, etwa in Fragen der Musik — washat der konziliante Kitsch seines Freundes Reynaldo Hahnmit Prousts Roman zu tun, der in jedem seiner Sätze durchunerbittliche Zartheit eine etablierte Ansicht außer Kurssetzt -, zeigen bis zum Ende Spuren des Dilettanten. Aber erhat diese Schwäche so großartig zum Instrument der Stärkeumgeschmiedet wie nur Kafka die seine. So viel naiver seinenthusiastisches Urteil über die einzelnen Kunstwerke, zu-mal die italienische Renaissance, sich anhört als das Valerys,so viel weniger naiv stand er zur Kunst als solcher. VonNaivetät gerade bei Valery zu reden, bei dem der künstle-rische Produktions Vorgang und dieReflexion auf diesen Vor-gang unauflöslich ineinander verschlungen sind, mag provo-katorisch klingen. Aber er war in der Tat naiv insofern, alser keinen Zweifel an der Kategorie des Kunstwerks als sol-cher hegte. Er nahm es, nach einer englischen Redensart,for granted; und die Dynamik seines Denkens, seine ge-

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schichtsphilosophische Energie steigerte sich gerade imFesthalten an jener Kategorie. Sie wird zum Kriterium da-für, wie die innere Zusammensetzung der Kunstwerke undder Erfahrung von ihnen sich verändert. Proust aber ist ganzfrei von dem unabdingbaren Fetischismus des Künstlers,der die Dinge selber macht. Ihm sind von Anbeginn dieKunstwerke, neben ihrem spezifisch Ästhetischen, ein ande-res, ein Stück des Lebens dessen, der sie betrachtet, ein Ele-ment seines eigenen Bewußtseins. Dadurch gewahrt er anihnen eine Schicht, die sehr verschieden ist von der, aufwelche das Formgesetz der Werke sich bezieht. Das ist aberkeine andere als die, welche an den Kunstwerken erst mitihrer geschichtlichen Entfaltung frei wird, eben die, welchebereits den Tod der lebendigen Intention des Kunstwerksvoraussetzt. Prousts Naivetät ist eine zweite; auf jeder Stufedes Bewußtseins reproduziert sich erweitert neue Unmittel-barkeit. Wenn Valerys konservativer Glaube an Kultur alsein reines Ansichsein schneidende Kritik an einer Kulturübt, die jenes Ansichsein vermöge ihrer eigenen historischenTendenz zerstört, dann resultiert Prousts außerordentlicheSensibilität für Änderungen der Erfahrungsweise, seine be-stimmende Reaktionsform, in der paradoxen Fähigkeit, Ge-schichtliches als Landschaft wahrzunehmen. Museen ado-riert er wie Gottes wahre Schöpfung, die ja, Prousts Meta-physik zufolge, nicht fertig ist, sondern kraft jeden konkre-ten Moments der Erfahrung, kraft jeder ursprünglichenkünstlerischen Anschauung aufs neue sich ereignet. In sei-nem staunenden Blick hat er sich ein Stück Kindheit gerettet;ihm gegenüber spricht Valery von Kunst wie ein Erwachse-ner. Weiß dieser etwas von der Macht, die Geschichte überProduktion und Apperzeption der Werke hat, so weiß Proust,daß Geschichte im Innern der Kunstwerke selbst gleichwieein Verwitterungsprozeß waltet. »Ce qu'on appelle la poste-rite, c'est la posterite de l'ceuvre« - das darf man wohl über-setzen : was die Nachwelt heißt, ist das Nachleben der Werke.In der Fähigkeit der Artefakte zu verwittern, entdeckt Proustihre Ähnlichkeit mit dem Naturschönen. Er kennt die Phy-siognomik des Verfalls der Dinge als die ihres zweiten Le-bens. Weil nichts bei ihm Bestand hat als das bereits durchdie Erinnerung Vermittelte, haftet seine Liebe am zweiten

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schon vergangenen Leben eher als am ersten. Die Fragenach der ästhetischen Qualität ist dem Proustschen Ästheti-zismus sekundär; an einer berühmten Stelle hat er die min-dere Musik verherrlicht um der Erinnerung ans Leben desHörers willen, die jeder alte Schlager so viel treuer und ein-dringlicher bewahrt, als ein Satz von Beethoven, ein an sichSeiendes, je es vermöchte. Der saturnische Blick der Erinne-rung durchdringt den Schleier von Kultur: kulturelle Ni-veaus und Distinktionen, nicht länger als Domäne des ob-jektiven Geistes isoliert, sondern hereingezogen in die strö-mende Subjektivität, verlieren jenen pathetischen Anspruch,den ihnen noch Valerys Ketzereien ungebrochen konzedie-ren. Das Chaotische des Museums, an dem Valery sich stößt,weil es den Ausdruck der Werke verwirrt, gewinnt bei Prousteigenen Ausdruck: den tragischen. Der Tod der Werke imMuseum erweckt diese für Proust zum Leben; durch denVerlust der Ordnung des Lebendigen, in der sie fungierthaben, soll erst ihre wahre Spontaneität sich entbinden: dasje Einmalige, ihr Name, das, worin die großen Werke derKultur mehr sind als bloß Kultur. Prousts Reaktionsformbewährt in abenteuerlichem Raffinement das GoethescheDiktum aus Ottiliens Tagebuch, daß alles in seiner Art Voll-kommene über seine Art hinausweise - einen sehr unklas-sischen Satz, der der Kunst Ehre widerfahren läßt, indem ersie relativiert.

Wer aber nicht beim geistesgeschichtlichen Verständnissich bescheiden will, kann nicht der Frage sich entziehen,wer recht habe, der Kritiker oder der Retter des Museums.Für Valery ist das Museum Stätte der Barbarei. Zugrundeliegt die Anschauung von der Heiligkeit der Kultur, die ermit Mallarme teilt. Gegenüber allen Einwänden, welche vondieser Religion des spieen herausgefordert werden, zumalden eilfertig sozialen, ist auf dem Moment ihrer Wahrheit zubestehen. Nur was um seiner selbst willen, ohne den Blickauf die Menschen, denen es gefällig sein soll, da ist, erfülltseine menschliche Bestimmung. Wenig hat zur Enthumani-sierung so viel beigetragen wie der an der Vorherrschaft derschaltenden Vernunft gebildete, allmenschliche Glaube, gei-stige Gebilde empfingen ihre Rechtfertigung nur, insoweitsie für anderes da sind. Valery hat ihren objektiven Charak-

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ter, die immanente Stimmigkeit des Kunstwerks und die Zu-fälligkeit des Subjekts ihr gegenüber, mit unvergleichlicherAutorität dargetan, weil er die Einsicht an subjektiver Er-fahrung, dem Zwang in der Arbeit des Künstlers selber ge-wann. Darin war er fraglos Proust überlegen: unverführbar,von größerer Resistenz, während der Proustische Primatdes Erfahrungsstroms, der nichts Verhärtetes duldet, einenfinsteren Aspekt, den des Konformismus, der bereitwilligenAnpassung an die je wechselnde Situation mit Bergson ge-mein hat. Es gibt bei ihm Stellen über Kunst, die aus losge-lassenem Subjektivismus jener banausischen Ansicht ähneln,die aus den Kunstwerken eine Batterie projektiver Testsmacht, während Valery gelegentlich, und kaum ohne Ironie,darüber klagt, daß die Qualität von Gedichten nicht sichtesten lasse. Nach einer Äußerung im zweiten Band des>Temps retrouvé< ist das Werk des Schriftstellers nichts alseine Art von optischem Instrument, das er dem Leser anbie-tet, damit dieser in sich entdeckt, was er ohne das Buch viel-leicht nicht hätte entdecken können. Auch was Proust zu-gunsten des Museums vorbringt, ist vom Menschen, nichtvon der Sache her gedacht. Nicht zufällig identifiziert er, wasim musealen Nachleben der Werke aufgehen soll, mit einemSubjektiven, dem jähen Akt der Produktion, durch den dasKunstwerk von der Realität sich scheidet. Ihn findet er injener Isolierung der Gebilde widerspiegelt, die Valery alsderen Schandmal betrachtet. Erst diese Treulosigkeit derfessellosen Subjektivität dem objektiven Geist gegenüberbefähigt Proust, die Immanenz der Kultur zu durchbrechen.Weder Valery noch Proust hat recht in dem latenten Pro-zeß, der zwischen ihnen anhängig ist, noch ließe gar einemittlere Versöhnung zwischen beiden sich herbeiführen.Aber ihr Konflikt bezeichnet aufs eindringlichste einen derSache selbst, und beide stellen Momente jener Wahrheit bei,welche die Entfaltung des Widerspruchs ist. Die Fetischisie-rung des Objekts und die Vernarrtheit des Subjekts in sichselber finden wechselseitig ihr Korrektiv. Die Positionengehen ineinander über. Valery wird des Ansichseins derWerke in unablässiger Selbstreflexion gewahr, während um-gekehrt der Proustsche Subjektivismus das Ideal, die Ret-tung des Lebendigen von der Kunst erhofft. Er vertritt

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gegen die Kultur, und durch diese hindurch, Negativität,Kritik, den spontanen Akt, der beim Sein sich nicht beschei-det. Damit läßt er den Kunstwerken Gerechtigkeit wider-fahren, die nur so weit welche sind, wie sie den Inbegriff sol-cher Spontaneität verkörpern. Er hält um des objektivenGlücks willen an der Kultur fest, während Valerys Loyalitätdem objektiven Anspruch der Werke gegenüber die Kulturverloren geben muß. Und wie beide kontradiktorische Mo-mente der "Wahrheit repräsentieren, so haben beide, dieWissendsten, die in der neuen Zeit über Kunst geschriebenhaben, Schranken, ohne die ihr Wissen selber nicht möglichgewesen wäre. Valery ließ wenig Zweifel darüber, daß er mitseinem Lehrer Mallarme darin übereinstimmte, daß, wie esin dem Essay >Triomphe de Manet< heißt, Dasein und Dingeeinzig dazu da seien, um von der Kunst verzehrt zu werden;daß die Welt existiere, um ein schönes Buch hervorzubrin-gen; daß ein absolutes Gedicht ihre Vollendung sei. Er ge-wahrte auch scharf den Fluchtpunkt, dem die poesie purezustrebt. »Nichts führt so sicher zur vollkommenen Barba-rei«, beginnt ein anderer seiner Essays, »wie die ausschließ-liche Bindung an den reinen Geist.« In der Tat kam seineeigene Anschauung, die Erhöhung der Kunst zum Bilder-dienst, jenem Prozeß der Verdinglichung und des Verschlei-ßes der Kunst zugute, als dessen Stätte Valery das Museumverfemt: erst im Museum, wo die Bilder der Betrachtung alsSelbstzweck dargeboten sind, werden sie so absolut, wieValery es sich erträumte, und er erschrickt tödlich vor derVerwirklichung des eigenen Traums. Dagegen weiß Proustdas Heilmittel. Indem die Kunstwerke, als Elemente des sub-jektiven Bewußtseinsstroms ihres Betrachters, gleichsamnach Hause geholt werden, verzichten sie auf die kultischePrärogative und sind damit befreit von dem usurpatorischenZug, der ihnen in der heroischen Ästhetik der Impressio-nisten eignet. Dafür überschätzt Proust nach Art der Ama-teure den Akt der Freiheit in der Kunst. Oft versteht er dieWerke, gar nicht so verschieden von den Nervenärzten, all-zu sehr als Abdruck des Seelenlebens dessen, der das Glückund Unglück hatte, sie hervorzubringen oder zu genießen,und gibt nicht volle Rechenschaft davon, daß das Kunst-werk seinem Autor und seinem Publikum bereits im Augen-

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blick der Konzeption als ein Objektives, Forderndes miteigener Konsequenz und Logik gegenübertritt. Wie dasLeben der Künstler, so erscheinen auch ihre Gebilde nur vonaußen »frei«. Weder sind sie Spiegelungen der Seele nochVerkörperungen Platonischer Ideen, reines Sein, sondern»Kraftfelder« zwischen Subjekt und Objekt. Das objektivNotwendige, für das Valery spricht, verwirklicht sich nurdurch den Akt der subjektiven Spontaneität hindurch, inden Proust allen Sinn und alles Glück verlegt.

Der Kampf gegen die Museen hat etwas von Donquichot-terie nicht bloß, weil der Einspruch der Kultur gegen dieBarbarei ungehört verhallt: es bedarf des hoffnungslosenEinspruchs. Aber Valery ist noch um ein weniges zu harm-los im Verdacht, daß lediglich die Museen es an den Bildernverüben. Noch die an der alten Stelle in den Schlössern jenerAdeligen hängen, um die wiederum Proust mehr sich be-mühte als Valery, wären Museumsstücke ohne Museen. Wasam Leben des Kunstwerks zehrt, ist zugleich dessen eigenesLeben. Wenn Valerys kokette Allegorie Malerei und Skulp-tur den Kindern vergleicht, welche die Mutter verlorenhaben, dann wäre daran zu erinnern, daß in den Mythen dieHelden, in denen das Menschliche dem Schicksal sich ent-ringt, allemal die Mutter verloren. Zur vollen promesse dubonheur werden Kunstwerke erst losgerissen von ihremNährboden, auf der Bahn zum eigenen Untergang. Das hatProust erkannt. Der Vorgang, der jedes Kunstwerk heute,und wäre es die jüngste Plastik von Picasso, dem Museumüberantwortet, ist irreversibel. Er ist aber nicht nur ver-worfen, sondern deutet auf einen Zustand, in dem die Kunst,die ihre eigene Entfremdung von den menschlichen Zwek-ken vollendet, nach dem Vers des Novalis ins Leben zurücksich begibt. Etwas davon ist in Prousts Roman zu spüren,wo die Physiognomien von Bildern und Personen ohneSchwelle fast ineinander gleiten und die Erinnerungs spurenan Erlebnisse und an musikalische Passagen. An einer derexponiertesten Stellen des Ganzen, auf der ersten Seite von>Du côté de chez Swann<, bei der Beschreibung des Ein-schlafens, sagt der Erzähler »es kam mir so vor, als sei ichselbst, wovon das Buch handelte: eine Kirche, ein Quartett,die Rivalität zwischen Franz dem Ersten und Karl dem

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Fünften«. Das ist die Versöhnung des Getrennten, demValerys unversöhnliche Klage gilt. Das Chaos der Kultur-güter verdämmert in die Seligkeit des Kindes, dessen Leibsich eins fühlt mit dem Nimbus der Ferne.

Die Museen lassen sich nicht zusperren, es wäre auch nichteinmal zu wünschen. Die Naturalienkabinette des Geisteshaben recht eigentlich die Kunstwerke in eine Hieroglyphen-schrift der Geschichte verwandelt und ihnen einen neuenGehalt hinzugefügt, während der alte einschrumpfte. Da-gegen ist kein der Vergangenheit abgeborgter und zugleichihr unangemessener Begriff reiner Kunst aufzubieten. Kei-ner hätte das besser gewußt als Valery, der eben darum seineReflexion abbrach. Wohl aber verlangen die Museen nach-drücklich, was eigentlich schon jedes Kunstwerk verlangt:etwas vom Betrachter. Denn auch der Flaneur, in dessenSchatten Proust wandelte, ist längst hinab, und keiner kannmehr durch Museen schlendern, um hier und dort sein Ent-zücken zu finden. Das einzige Verhältnis zur Kunst, das inder katastrophisch verhängten Realität noch anstünde, wäreeines, das die Kunstwerke so blutig ernst nimmt, wie derWeltlauf es geworden ist. Des von Valery diagnostiziertenÜbels erwehrt sich bloß, wer mit Stöcken und Schirmen dieReste seiner Naivetät draußen abgegeben hat, genau weiß,was er will, zwei oder drei Bilder sich aussucht und vorihnen so konzentriert verharrt, als wären es wirklich Idole.Manche Museen kommen ihm dabei entgegen. Mit Luft undLicht haben sie auch jenes Prinzip der Auswahl sich zu-geeignet, das Valery zu dem seiner Schule erklärt hat unddas er an den Museen vermißt. In jenem Jeu de Paume, wojetzt die Gare St-Lazare hängt, wohnen Prousts Elstir undValerys Degas friedlich nahe und doch diskret getrennt bei-einander.

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George und Hofmannsthal

Zum Briefwechsel: 1891-1906

Walter Benjamin zum Gedächtnis

Wer den Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthalzur Hand nimmt, um daraus Erkenntnis dessen zu gewinnen,was mit der deutschen Lyrik in den fünfzehn Jahren sich zu-trug, die der Band umschließt, der wird vorab enttäuscht.Während die beiden mit Strenge und Vorsicht bis zurStummheit sich voreinander verschließen, fördert ihre per-sönliche Disziplin kaum je die sachliche Erörterung. Viel-mehr scheint der Gedanke von der Starre mitbefallen. Publi-kationstechnische und verlagspolitische Details, dazwischengereizt-zurückhaltende Angriffe und stereotype Verteidigun-gen füllen die Seiten. Stellen, wie Georges Kritik eines über-zähligen Wortes in einem Hofmannsthalschen Vers, wieseine Polemik gegen Dehmel und sein gleichsam verhand-lungsloses Urteil über das >Gerettete Venedig < sind die Aus-nahme. Der Gestus der Briefe möchte glauben machen, daßdie Materialnähe des Künstlers weitgreifender Reflexionennicht bedürfe oder auch, daß man gemeinsamer Erfahrun-gen und Anschauungen zu sicher sei, um sich auf profanie-rendes Zerreden einzulassen.

Dieser Anspruch indessen beruht eher auf stillschweigen-der Vereinbarung, als daß die Briefe selber ihn bewährten.Ihm widerspricht der formale Charakter der Rezeption zu-mal von Hofmannsthals Gedichten durch George, der demJüngeren gegenüber durchweg in der Position des Redak-tors sich befindet. Nicht von George, sondern von einemwohlwollenden Herausgeber wären Sätze zu erwarten wie:»ich empfange und lese Ihre gediente und danke Ihnen. Siekönnen kaum eine strofe schreiben die einen nicht um einenneuen schauer ja um ein neues fühlen bereichert.« Es han-delt sich um zwei von Hofmannsthals denkwürdigsten lyri-schen Modellen, Manche freilich müssen drunten sterben und das>Weltgeheimnis<, das noch in dem >Lied< aus Georges letz-

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tem Band erinnert wird. An das erledigende Lob schließtGeorge die unbegreifliche Frage: »Ist es Ihre absicht dasgedicht >Manche freilich müssen < . . . auf >Weltgeheimnis <folgen zu lassen? oder ist es teil? eine angabe darüber fehlt.«Die Unterstellung der bloßen Möglichkeit, daß die zweiGedichte, das eine trochäisch, vier- und sechszeilig geglie-dert, das andere jambisch-daktylisch, durchweg vierfüßig, indreizeiligen gereimten Strophen, zusammen eines abgebenkönnten, straft das vorausgesetzte sachliche EinverständnisLügen. So muß die Armut an theoretischem Gehalt aus derPosition der beiden wenig naiven Autoren geklärt werden.Unter den Plänen zur Zusammenarbeit an den >Blätternfür die Kunst<, wie sie Hofmannsthal 1892 mit dem Bevoll-mächtigten Georges, Carl August Klein, brieflich erwog,fehlen nicht durchaus solche theoretischer Publikationen.Hofmannsthal fragt am 26. Juni: »Womit werden die ein-zelnen >Hefte< bei der notwendigerweise geringen Zahl derMitarbeiter und der quantitativ geringen Produktion vonwirklichen Kunstwerken ausgefüllt werden? oder soll derKritik und der technischen Theorie Raum gewährt werden,und wenn, wieviel?« Er erhält den Bescheid: »von land-läufigen kritischen essays kann keine rede sein«, der dannvon Klein einigermaßen undeutlich dahin abgemildert wird,es bleibe »nicht ausgeschlossen daß jeder von uns über einbeliebiges kunstwerk sein urteil abgibt«. Denn es sei - imaltfränkischen Sprachgebrauch der deutschen decadence -»sehr interessant über bilder über ein theater- oder musik-stück irgend eine neue oder pikante ansieht zu hören«. Hof-mannsthal, längst Mitarbeiter an Zeitschriften wie die >Mo-derne< oder die >Moderne Rundschau <, gibt sich dabei nichtzufrieden. »Unter Prosaaufsätzen hatte ich mir weit wenigerlandläufige kritische Essays als vielmehr Reflexionen übertechnische Fragen, Beiträge zur Farbenlehre der Worte undähnliche Nebenprodukte des künstlerischen Arbeitsprocessesvorgestellt, durch deren Mittheilung einer den anderen, wieich meine, wohl zu fördern im Stande wäre.« Die Farben-lehre der Worte < spielt vermutlich auf die >Voyelles< an,eines der drei Gedichte Rimbauds, die George später in dieÜbertragungen zeitgenössischer Dichter aufgenommen hat.Die Voyelles sind eine Litanei der Moderne, die ihre Macht

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noch über die Surrealisten behauptet. Wenn Rimbaud darindie Enthüllung der naissances latentes der Vokale für die Zu-kunft verspricht, dann hat mittlerweile das Geheimnis desGedichtes selber sich enthüllt. Es ist die Genauigkeit desUngenauen, wie sie erstmals in Verlaines >Art poetique< alsVerbindung des Indecis und des Precis gefordert war. Poesiewird zur technischen Beherrschung dessen, was vom Be-wußtsein sich nicht beherrschen läßt. Die Belehnung vonLauten mit Farben, die mit ihnen in keinem Zusammenhangals dem der bedeutungsfernen Gravitation der Sprachestehen, emanzipiert das Gedicht vom Begriff. Zugleich in-dessen überantwortet die Sprache als Instanz das Gedichtder Technik: die Charakteristik der Vokale ist nicht sowohlderen assoziative Verkleidung als eine Anweisung, wie sieim Gedicht sprachgerecht zu verwenden seien. Auch, dieVoyelles sind ein Lehrgedicht. Das Verlainesche kommt mitihm überein. Die Nuance, die Verlaine als Regel proklamiert,ist vom Schlage jener Korrespondenz von Laut und Farbe:ihre Unterstellung unter den Primat der Musik hält zugleichihre Bedeutungsferne fest und macht die technische Stimmig-keit zum Kriterium der Nuancen selber, der recht oder falschgegriffenen Töne1. Das schweigsame Verfahren von Georgeund Hofmannsthal appelliert an nichts anderes alsRimbaudsund Verlaines Manifeste: das Inkommensurable. Das istnicht das metaphysische Absolutum, auf welchem die erstedeutsche Romantik und ihre Philosophie bestand. Trägerdes Inkommensurablen ist nicht zufällig der Ton: es istnicht intelligibel sondern sinnlich. Der Dichtung fallen jenesensuellen Momente des Gegenstandes - fast könnte mansagen: des naturwissenschaftlichen Objekts - zu, die sichexakten Meßmethoden entziehen. Der poetische Kontrastdes Lebens zu dessen technischer Entstellung ist selbst tech-nischer Art. Die überlaut gepriesene Feinnervigkeit desKünstlers macht ihn gewissermaßen zum Komplement des

1 Der junge George hat die Musik noch nicht mit jenem Verdikt bedacht, das er später seinenGehilfen zu exekutieren erlaubte, ohne sich im Beethovenspruch des Siebenten Ringes selberdaran zu kehren. Dafür ersetzt er das Wort Musik durch »Ton« oder »Töne«. Der Protestgegen ein Cliché, das der Muse ein einzelnes ästhetisches Stoffbereich zuteilt, verführt ihn dazu,die ausgebildete Kunst in ihr mythisches Urstadium romantisch zu transponieren. Dem ist danndie Doktrin des Kreises in der Tat gefolgt. Zugleich jedoch enthält die Reduktion der Musikauf Töne den Verweis auf das technische Element. Nahe verwandt ist die Gewohnheit Georges,das Wort Dichter im Plural zu bringen.

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Naturforschers: als befähigte ihn sein Sensorium, kleinereDifferenzen zu registrieren als die den Apparaten zugäng-lichen2. Er versteht sich als Präzisionsinstrument. Die Sensi-bilität wird zur Versuchsanordnung, ja zur Veranstaltung,jene Grundreize auf der Skala der Empfindungen ablesbarzu machen, die anders der subjektiven Herrschaft sich ent-zögen. Als Techniker wird der Künstler zur Kontroll-instanz seiner Sensibilität, die er an- und abstellen kann, wieNiels Lyhne sein Talent. Er bemächtigt sich des Unerwar-teten: dessen, was unter den kurrenten Ausdrucksmateriennoch nicht vorkommt; des Neuschnees, in welchem nochkeine Intentionen ihre Spur hinterlassen haben3. Wenn aberdie nackte Empfindung der Deutung durch den Dichter sichverweigert, unterjocht er sie, indem er die unberechenbarein den Dienst berechneter Wirkung stellt.

Das Geheimnis des sinnlichen Datums ist kein Geheimnissondern die blinde Anschauung ohne Begriff. Es ist vomSchlag des gleichzeitig etwa von Ernst Mach formuliertenEmpiriokritizismus, in dem das Ideal naturwissenschaft-licher Akribie mit der Preisgabe jeglicher Selbständigkeitder kategorialen Form sich zusammenfindet. Die reine Ge-gebenheit, welche diese Philosophie herauspräpariert, bleibtundurchdringlich wie das Ding an sich, das sie verwirft. DasGegebene läßt sich nur »haben«, nicht halten. Als Erinne-

2 An Jacobsen, der Naturwissenschaften studierte und den Darwinismus propagierte, eheseine literarische Produktion begann, ist das früh bemerkt worden. In einer 1898 geschriebe-nen, ungemein eindringlichen Einleitung zu der Ausgabe der gesammelten Werke bei EugenDiederichs von 1905 sagt Marie Herzfeld: »J. P. Jacobsen ist zugleich ein traumwirrer Phan-tasiemensch und ein hellwacher Realist.« Die Einheit beider Momente in der Komplexion derNeuromantik konnte damals noch nicht durchschaut werden. Die Verfasserin jener Einleitungbefindet sich unter den vier Lesern, die Hofmannsthal am 24. August 1892 »persönlich vonunseren Absichten verständigen« möchte.—Der erste Band von Georges Übertragung zeitgenös-sischer Dichter stellt Jacobsen zu Rossetti und Swinburne.

3 In der Musik handhabt Berlioz, der Platzhalter des modern style in der älteren Romantik,das Orchester als Palette im Namen des imprevu. Er ist der erste Orchestertechniker. Der Be-griff des imprevu geht auf Stendhal zurück. Der junge Hofmannsthal bezieht sich darauf: »Esist nichts anderes als die suchende Sehnsucht des Stendhal nach dem >imprevu<; nach dem Un-vorhergesehenen, nach dem, was nicht >ekel, schal und flach und unerträglich < in der Liebe, imLeben« (Loris, die Prosa des jungen Hugo von Hofmannsthal, Berlin 1930). Das imprevususpendiert die gleichförmige Mechanik des bürgerlichen Lebens und ist doch selber mecha-nisch hervorzubringen: durch Tricks. — Die Interpretation vor-Berliozscher Musik in Kate-gorien ihrer Technik gehört einem späteren Aspekt an und konnte sich erst historisch er-schließen. Man wird in der Zeit Mozarts oder Beethovens schwerlich dem Wort Komposi-tionstechnik begegnen. Beethoven freilich begann, sich der Relevanz technischer Mittel imGegensatz zum »Naturgenie des Komponisten« bewußt zu werden.

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rung und gar in Worten ist es nicht mehr es selbst; ein Ab-straktum, in dessen Bereich man das unmittelbare Lebenverwiesen hat, nur um es mit der Technik desto besser mani-pulieren zu können. Nicht länger vermögen die kategorialenFormen Subjekt und Objekt zu fixieren: beide versinken im»Bewußtseinsstrom« als im wahren Lethe der Moderne. DasGedicht an George, das den Briefwechsel eröffnet, hat zumTitel: >Einem, der vorübergeht<. George wird sogleich desUngehörigen gewahr: »aber bleibe ich für Sie nichts mehrals >einer, der vorübergeht <?4« Er ist von Anbeginn daraufaus, das Sein vom Strom des Vergessens zu schützen, andessen Rand gleichsam er seine Gebilde aufrichtet5. ZumSchutz dient die Esoterik: als Geheimnis wird festgebannt,was anders entglitte. Daher das Schweigen des nicht existen-ten Einverständnisses. Denn das statuierte Geheimnis exi-stiert selber nicht. Das hochtrabende Gleichnis, worin derBriefwechsel es designiert, bleibt ganz inhaltslos: »späteraber wäre ich gewiß zusammengebrochen hätt ich michnicht durch den Ring gebunden gefühlt, das ist eine meinerletzten Weisheiten - das ist eines der geheimnisse!« Es mußgewahrt werden, nicht sowohl um Profanierung als umDemaskierung zu verhüten. In der mystischen Zelle sinddie puren Stoffe versammelt. Würde aber die Technik öffent-lich, die über die Stoffe disponiert, so ginge mit ihr der An-spruch des Dichters auf eine Herrschaft verloren, die längstan die Veranstaltung zediert ward. Geheimgehalten wirddas nicht Geheime; eingeweiht wird ins Rationale die Tech-nik selber. Je mehr die Fragen der Dichtung in Fragen derTechnik sich übersetzen, um so lieber bilden sich exklusiveZirkel. Der Teppich, das intentionslose Stoffgewirk, stelltein technisches Rätsel; dessen »lösung« aber »wird denvielen nie und nie durch rede«. Die Rechtfertigung des Zir-

4 Die mutwillige Verfügung über die Vergänglichkeit gehört zum ältesten Inventar desÄsthetizismus. In den Diapsalmata aus Kierkegaards Entweder-Oder heißt es 1843: »An jedemErlebnis vollziehe ich die Taufe der Vergessenheit und weihe es der Ewigkeit der Erinnerung.«

5 Von diesem Impuls zeugt eine Briefstelle, wo er nach ein paar Sätzen über eine Nummerder >Blätter für die Kunst< fortfährt: »Verzeihen Sie, daß ich den geschichtlichen Teil meinesbriefes wieder so wenig ausdehne.« Ihm wird das Vergängliche sogleich als Geschichtlichesverewigt. Die Überspannung des Geschichtlichen ist die Gegenwehr gegen den Zerfall des Ge-genstandes. Hofmannsthals »organische« und Georges »plastische« Formgesinnung, die manzu kontrastieren pflegt, datieren auf den gleichen geschichtsphilosophischen Sachverhalt zu-rück.

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kels jedoch, wie er für George in der Mitarbeiterschaft anden >Blättern für die Kunst< sich auswies, ist keineswegs dieTeilnahme an verborgenen Gehalten, keineswegs die Sub-stantialität des Einzelnen, sondern technische Kompetenz:»Und nicht einmal von den ganz kleinen will ich schweigen •den zufälligen Schnörkeln und Zieraten • die ich an sich be-trachtet völlig preisgebe. Daß aber diese kleinsten solchearbeit zu liefern vermochten: daß man ihnen rein handwerk-lich bei aller dünnheit nicht soviel Stümperei anzukreidenhat als manchen Vielgerühmten: das scheint mir zeitlich undörtlich betrachtet für unsere kunst und kultur von höhererBedeutung als alle verbände und alle theaterstücke auf dieSie damals hoffnungen setzten.« Es bleibt offen, ob die Tech-nik als Arcanum, sakramental tradiert, nicht notwendig intechnische Insuffizienz umschlägt: in jene Routine, die dervulgären Kritik vor Augen steht, wenn sie von Formalismusschwatzt.

Je leerer das Geheimnis, um so mehr bedarf sein Wahrerder Haltung. Sie ist es, die George an seinen Schülern außerTechnik zu rühmen weiß: »Ihnen aber mit Ihrem großengefühl für stil muß es doch mindestens zu denken gegebenhaben - muß es doch sehr anmutend geschienen haben -diese menschen zu sehen >die nie mitthaten< >sich nie öffent-lich machten < von so vornehmer haltung wie sie in ihremkreis etwa durch unseren gemeinsamen freund Andrian ver-treten sind.« Wie sehr auch das nicht Mittun und die Distanzvom Betrieb für diese Haltung spricht, es wird der Begriffzugleich kompromittiert durch das Epitheton vornehm, dasjene Distanz positiv bestimmen soll. Ja, dem Begriff Haltungselber ist nicht zu trauen. In der intelligiblen Welt spielt ereine ähnliche Rolle wie in der profanen das Rauchen. WerHaltung hat, lehnt sich in seine Persönlichkeit zurück: dieKälte, die sein Ausdruck vorstellt, macht einen guten Ein-druck. Monaden, die durch ihr Interesse voneinander ab-gestoßen werden, ziehen durch die Geste des Uninteressier-ten noch am ehesten sich an. Die Not der Entfremdung wirdin die Tugend der Selbstsetzung umgebogen. Darum sindim Lob der Haltung alle einig. Sie wird an einem Revolutio-när so gern gerühmt wie an Max Weber, und in den>Natio-nalsozialistischen Monatsheften< präsentierten bereits die

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Jagdhunde sich knapp, gefaßt und entschlossen. Das Un-recht, das der überlegene Einzelne in der Konkurrenzgesell-schaft allen anderen notwendig antut, schreibt er sich durchHaltung als moralischen Profit gut. Nicht bloß die stramme,noch die edle Haltung ist stigmatisiert, und selbst jene An-mut, die nach Georges Ideenhierarchie als Schönheit des ein-fach gestalthaften Seins die oberste Stelle einnimmt. War An-mut einmal Ausdruck des Dankes am Menschen - des Dan-kes, den diesem die Götter abstatten, wenn er ohne Angstund ohne Hochmut in der Schöpfung sich zu bewegen ver-mag, als wäre sie es noch -, dann ist Anmut heute, entstellt,Ausdruck jenes Dankes am Menschen, den ihm die Gesell-schaft abstattet, weil et als einstimmend Zugehöriger sicherzugleich und widerstandslos in ihr sich bewegt. Charme undGrazie und ihr Erbe, der gut Aussehende, taugen eben nochdazu, das Privileg vergessen zu machen. Das Edle selber istedel kraft des Unedlen. Das kommt bei George nicht bloßin sinistren Formulierungen zu Tage wie: »Ich habe nieetwas anderes als Ihr bestes gewollt. Mögen Sie sich davonnicht zu spät überzeugen.« Wer vor seinen Gedichten dieBesonnenheit aufbringt, den pragmatischen Gehalt nichtüber der prätendierten Identität mit dem lyrischen zu ver-gessen, dem ist ein Niedriges an den gehobenen Stellen oftunverkennbar. Schon im berühmten Eingangszyklus desJahres der Seele, >Nach der Lese<, wird eine demütigendeErsatzliebe vorgeführt, deren Restriktionen vor der Beleidi-gung der Geliebten nicht zurückscheuen. Zwischen denzartesten Versen stehen solche von unbedachter Roheit.Kein Geschäftsmann ließe so leicht sich beikommen, seinerFreundin »und ganz als glichest du der Einen Fernen« undähnliche karge Freundlichkeiten zu sagen. Mit Grund stelltder Gedanke an den Geschäftsmann sich ein: das Ideal, dasman sich selber nicht gönnt und das einem gerade gut genugdazu ist, das herabzusetzen, was man ohnehin hat, gehörtzur eisernen Ration des Bürgers. Solche Idealität ist dieKehrseite von Sein, Gehalt und Kairos. »Der heut nichtkam bleib immer fern!« Er muß sich am Parkgitter die Naseplattdrücken und obendrein noch eine platte Nase nach-sagen lassen. In jedem Augenblick wird die GeorgescheKultur mit Barbarei erkauft.

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Der Gegensatz von George und Hofmannsthal bewegtsich um das Postulat der Haltung, das George durch Vor-bild wie Rede immer wieder erhebt und dem Hofmannsthalmit unablässig variierten Wendungen sich entzieht, wie demAusfall »es widerstrebt mir sehr, den Ausdruck der Herr-schaft über das Leben, der Königlichkeit des Gemüthes auseinem Munde zu vernehmen, dessen Ton mich nicht zu-gleich mit der wahren Ehrfurcht erfüllt« oder der Parade»in mir ist vielleicht die Dichterkraft mit anderen geistigenDrängen dumpfer vermischt als in Ihnen«. Er setzt jedochder Haltung eine Lässigkeit entgegen, die kaum mensch-licher sich bewährt als das Unerbittliche. Es ist die geflissent-liche Weltoffenheit des Jungen Herren aus großem Hause,als welchen Hofmannsthal später seine am ersten Tageschon legendäre Vergangenheit stilisierte; dessen der keinerHaltung bedarf, weil er ohnehin dazugehöre. Krampfhaftidentifiziert er sich mit der Aristokratie oder wenigstens jenerArt großbürgerlicher society, die mit ihr manche Interessenteilt und Bescheid weiß: »So viel von mir: außerdem binich wohl, werde ein paar Tage dieses Sommers in Münchenvor den Bildern zubringen, den Herbst wohl in Böhmen zurJagd. Und Sie? Wenigstens ein paar Zeilen bei Gelegenheitwären mir sehr erwünscht. Hugo Hofmannsthal.« Die böh-mischen Wälder haben es ihm angetan. Von »einem meinerFreunde« heißt es: »Er gehört völlig dem Leben an, keinerKunst. Er wird Ihnen einen schönen Begriff von österrei-chischem Wesen geben, bei reichlicher Übersicht über viel-fältige äußere und innere Verhältnisse auch der anderenLänder. Es ist der Graf Josef Schönborn von der böhmischenLinie des Hauses«, deren mit Nonchalance Erwähnung ge-schieht. George, in chthonischen Dingen zuständiger undnüchtern genug, um die Hoffnungslosigkeit solcher Anbiede-rung zu erkennen, nennt darauf das Kind beim Namen: »Sieschreiben einen satz, mein lieber freund: >er gehört völligdem Leben an, keiner Kunst < den ich fast als Lästerung auf-fassen möchte. Wer gar keiner kunst angehört darf sich derüberhaupt rühmen dem leben anzugehören? Wie? höchstensin halbbarbarischen Zeitläuften.« Hofmannsthals Lässigkeitassimiliert die Kritik in weniger als einem halben Jahr: »Mirschwebt eine Art von Brief an einen sehr jungen Freund vor,

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der dem Leben dient, und dem gezeigt werden soll, daß ersich mit dem Leben niemals recht verknüpfen kann, wenner sich ihm nicht zuerst in der geheimnisvollen Weise ent-fremdet, deren Werkzeug das Aufnehmen von Dichtungenist.« Unbestimmt bleibt, zu welcher Art Leben der jungeFreund vorbereitet werden soll. Es ist aber Grund zur An-nahme, daß das höhere von Attaches und Offizieren gemeintist, die sich mit den Söhnen der Bankiers und Fabrikbesitzerbeim Vornamen nennen, wobei alle Beteiligten ihren Adeltaktvoll sich verschweigen6. Man braucht das Glücksverlan-gen nicht zu verkennen, das den Snob inspiriert, der aus demBereich des Praktischen in ein gesellschaftliches zu ent-weichen trachtet, das dem Geist in der Absage an Utilitätverschworen scheint. Die Mädchen zu Hofmannsthals Ge-dichten waren nicht im Mittelstand zu finden. Aber der Geist,der auf jene gesellschaftlichen Abenteuer sich einläßt, hates nicht leicht. Er kann beim Glanz des schönen Lebens sichnicht bescheiden und muß in dessen Mitte die Erfahrung desDas ist es nicht wiederholen, von der er sich abwandte. Demist der eine Proust gerecht geworden. Seine Jugendphoto-graphien ähneln denen Hofmannsthals, als hätte die Ge-schichte zweimal an verschiedenen Stellen das gleiche Ex-periment geplant. An Hofmannsthal ist es gescheitert. DerIntellektuelle, der, von Hunden umspielt, fröhlichem Waid-werk obliegt oder viel »Reiten durch Abenddämmerung,Wind und Sternenlicht« vorhat, kann sich schwerlich gutsein. Der Geist ist recu um den Preis seiner Selbstdenun-ziation. Hofmannsthals böhmischen Affiliationen entsprichtder verstohlene Eifer des Umgänglichen, von anderen

6 Der junge Hofmannsthal hat sich der Einsicht in solche Aspekte seiner Welt nicht durch-aus versagt. Von Marie Bashkirtseff, der Schutzheiligen des fin du siecle, sagte er: »En attcn-dant ist sie so hochmütig als möglich. Alles, was an Macht und Königlichkeit erinnert, be-rauscht sie: die Paläste der Colonna und Chiarra; die königlichen Truppen des Vatikan, irgend-ein Triumphwagen in irgendeinem Museum; irgendein hochmütiges und ruhig überlegenesWort, eine feine und legitime Arrogan2. Sie ist selbst für diesen großen Stil der Vornehmheitbei aller innerer Eleganz ihres Wesens zu lebhaft und nervös; es liegt in ihrer stark betontenSympathie dafür etwas von dem Neid, mit dem Napoleon einsah, daß er das legitime Gehennicht erlernen könne; sie spricht zu laut und wird zu leicht heftig; auch der Ton des Tagebuchsist lauter, werfi ger reserviert, als man in guter Gesellschaft gewöhnlich spricht.« Man mag indiesen Sätzen ein Stück uneingestandener Selbstkritik Hofmannsthals suchen. Der Vorwurfder Lautheit zeigt eine von Proust beschriebene Urgeste des Snobs: den anderen einen Snobzu nennen. Sie entspringt dem Konkurrenzmotiv. Vornehmheit verbietet dem vitalen Auf-stiegswillen niemals den Gebrauch der Ellenbogen.

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Intellektuellen sich fernzuhalten. In seinem paradis artifi-ciel waltet kein Bergotte und kein Elstir: »Leider ist meineGesellschaft eine so durchaus unlitterarische, daß ich Ihnenkeinen ernst zu nehmenden Mitarbeiter vorzuschlagenweiß.«

Solche krampfhafte Selbstverleugnung des Literaten grün-det in den problematischen Beziehungen zwischen der Machtund den Intellektuellen. Ohne angedrehten Charme und ge-wundene Schultern geht es nicht ab. Die deutsche Society,die sich aus Landadligen und Großunternehmern rekrutierte,war der künstlerischen und philosophischen Tradition we-niger verbunden als die westliche. Die feinen Leute nach1870 haben meist unsicher und nervös mit der Kultur sicheingelassen; unsicher und nervös sind die Intellektuellendenen entgegengekommen, die keinen Augenblick ihre Be-reitschaft vergessen ließen, jeden herauszuwerfen, der un-bequem wurde. Die paar Schriftsteller, die darauf bestanden,die »Nation« zu repräsentieren, hatten die Wahl, entwederdie herrschende Halbroheit als Substantialität und »Leben«zu glorifizieren, oder der wirklichen society, der sie nach-liefen und vor der sie Angst hatten, eine Traumsociety zusubstituieren, die sich nach ihnen richtete und die man jenerals pädagogisches Muster vor Augen stellen konnte. Hof-mannsthal hat beides versucht: er hat, vertrauend auf sub-stantielle Momente der österreichischen Tradition, eine Ideo-logie für das high life gemacht, welche diesem eben jene hu-manistische Gesinnung zuschiebt, gegen die der Jagdstiefelerhoben ist, und hat eine fiktive Aristokratie sich ausgedacht,die seine Sehnsucht als erfüllt vorspiegelt. Der SchwierigeKari Bühl ist das Produkt dieser Bemühung. Der junge Hof-mannsthal war derart kunstreicher Kreationen noch nichtmächtig. Er macht sich bei den Feudalen als Zwischenhänd-ler des fin du siecle beliebt; er vermittelt ihnen bald auf an-preisende, bald auf apologetische Weise, womit die Elitenin England, Frankreich und Italien den Ton angeben. Esist, als wolle er manche derer, die er sucht, zum Dank intel-lektuelle Manieren lehren. Das eröffnet ihm zugleich denZugang zum Markt. Die Unterweisungen, die er den WienerPhäaken über d'Annunzio, die Bashkirtseff und den modernstyle erteilt, waren als Feuilletons recht wohl danach ange-

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tan, dem mittleren Bürger, der von alldem ausgeschlossenist, das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen, wiedenn in der ganzen Esoterik der schmeichelnde Appell anjene mitklingt, die nicht mitspielen dürfen7. Auch darin er-weisen die Geheimnisse des Ästhetizismus sich als öffent-liche. Der Plauderer Loris gibt mit der Miene der Heimlich-keit den Zeitgeist jenem Publikum preis, von dem er ohne-hin stammt. - Der Flügel der deutschen Rechten, mit demHofmannsthal sympathisiert, ist zum Nationalsozialismusübergegangen, soweit man es ihm erlaubt hat, oder tobt sichin jener geistigen Handweberei aus, deren Figuren Lorenzund Cordula heißen. Sie dienen der Propaganda auf eigeneWeise: ihr besonnenes Maßhalten dementiert das maßloseGrauen. 1914 begnügte sich die äußerste Gemeinheit mit denReimen, zu denen freilich auch Hofmannsthal beitrug. ImZeitalter der Konzentrationslager haben die Skribenten dasverschlossene Schweigen, die herbe Rede und die nachsom-merliche Fülle gelernt.

Die Georgesche Schule hat, bei geringerer Weitläufigkeit,mehr Widerstand aufgebracht: darin zeigte die angestrengteHaltung immer noch jener »Herrschaftlichkeit«, jenem Blick»von oben herab« sich überlegen, den Borchardts Mißver-ständnis an Hofmannsthal zu rühmen wußte. George selberzumindest blieb unverführt von einer mondanité, die auchüber Hitler internationale Gespräche zu führen verstand.Das »geheime Deutschland«, das George proklamierte, ver-trug sich weniger gut mit dem aufgebrochenen als das legere

7 Am deutlichsten bei Oscar Wilde: der >Dorian Gray< reklamiert l'art pour l'art und ist einKolportageroman. In Deutschland hat diese Tendenz auf der Bühne sich durchgesetzt. DieVorbilder waren d'Annunzios >Gioconda< und Maeterlincks >Monna Vanna<. Hofmannsthalhing mit der Sphäre schon vor seiner Kollaboration mit Richard Strauß zusammen. — Georgehat das früh erkannt und gegen Hofmannsthal den Vorwurf des Sensationalismus erhoben,insbesondere in der Kritik am >Geretteten Venedig<: »Das ganze neuere geschichts- und sitten-stück leidet - für mich — an übelangewandtem Shakespeare. Bei ihm bildet sich die handlungaus gestalten seiner leidenschaftlichen seele - bei den heutigen aus gedanklichem: aus abwick-lungen bei diesen oder jenen Voraussetzungen, dort ist alles rauhe und rohe notwendigkeit -hier aber befleckende zutat oder gar kitzel. ..« In der Sensation kommt das technische Ge-heimnis des Künstlers unter die Leute. Am Sensationellen hat George selbst größeren Anteil,als die asketische Ideologie zumal der Spätwerke glauben machen möchte: keineswegs nur mitden Provokationen des Algabal, sondern noch mit einem Gedicht wie der >Porta Nigra< desSiebenten Ringes. Der römische Buhlknabe Manlius, der die moderne Zivilisation verflucht,mahnt an Hugenbergs Nachtausgabe, wenn sie gegen den Kurfürstendamm wettert. Man wirbtvon alters her Bundesgenossen gegen die Verderbtheit, indem man mit dieser auf vertrautemFuße sich zeigt.

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Einverständnis, das von Anbeginn sich nicht durch die Lan-desgrenzen beengt fühlte, die später revidiert werden soll-ten. Er hatte den Blick für die fatale Toleranz, die ihm diemaßgebenden Salons hätten bewilligen mögen. Diesen ziehter Konventikel vor, zu denen er ohnehin gravitiert: als Ver-femter. Davon gibt der Briefwechsel Zeugnis. Der Grundder Aufregung, die George im Hause des siebzehnjährigenHofmannsthal hervorrief, wird nicht ausgesprochen. RobertBoehringer datiert die Affäre auf einen Tritt zurück, denGeorge im Cafe einem Hund mit den Worten »sale voyou«erteilt haben soll. Die Sphäre des Konflikts wird richtigerwohl bezeichnet in dem Brief, mit dem George - in der Ab-sicht nach Mexiko auszuwandern — von Hofmannsthals Va-ter sich verabschiedet: »Mögen ihr hr. söhn und ich unsauch im ganzen leben nicht mehr kennen wollen, wendet ersich weg, wende ich mich weg, für mich bleibt er immer dieerste person auf deutscher seite die ohne mir vorher nähergestanden zu haben mein schaffen verstanden und gewürdigtund das zu einer zeit wo ich auf meinem einsamen Felsen zuzittern anfing es ist schwer dem nicht-dichter zu erklären vonwie großer bedeutung das war. Das konnte denn kein wun-der sein daß ich mich dieser person ans herz warf (Carlos ?Posa?) und habe dabei durchaus nichts anrüchiges gefun-den. « Zwei Tage früher heißt es in einem Brief an Hofmanns-thal selber: »Also auf etwas hin und gott weiß welches etwas>das Sie verstanden zu haben glauben < schleudern Sie einemgentleman der dazu im begriff war Ihr freund zu werden eineblutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtigsein, selbst jeden Verbrecher hört man nach den schreiend-sten indizien.« Das ist die Sprache des Verfemten: nichts alsdie Angst, in die Maschinerie der Sittlichkeit zu geraten,kann George dazu vermocht haben, sich einen Gentlemanzu nennen. Besser als jeder andere mußte er die Spielregelder Sprache kennen, der zufolge die Anrufung eines solchenWortes genügt, um den Anrufenden von dessen Inhalt aus-zunehmen. Dafür bietet es bei ihm einen zweiten Aspekt.Der Sprengstoff der Angst fördert das Bild des Gentlemanals historisches Modell des zeitlosen George zutage: dasPhantasma des fin du siecle. Wie hier das priesterhafte Zivildes Unholds inkognito, wird in Georges Traumprotokollen

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aus Tage und Taten8 - nur in diesen - die Eisenbahn vor demZeit-Ende zitiert; nicht anders stehen englische Titel in Ge-dichten Verlaines. Die »blutige Beleidigung« scheint weni-ger dem Gentleman zugefügt, als daß sein beleidigendesAntlitz von Anbeginn die Blutspur trägt. Aus Georges Sät-zen blickt das Wort Gentleman wie ein Mörder. Seine Kor-rektheit bedarf des Frevels wie der Anzug des Dandys derGardenia. In Georges Ära nimmt der Verfemte die Last desunfruchtbaren Widerstandes auf sich. Er erfährt das Un-wesen der Gesellschaft an der Familie, zu deren Vernichtunges ihn treibt. Das hält der Spruch >Vormundschaft< des Sie-benten Ringes fest: »Als aus dem schönen söhn die flammenfuhren / Umsperrtest du ihn klug in sichern höfen. / Duhieltst ihn rein für seine ersten huren . . . / Öd ist dies hausnun: asche deckt die öfen.« Der von der Familie Umsperrteverfällt eben der Welt als Markt und Öde, vor welcher dermoralische Verfall ihn hätte bewahren mögen. In den sichernHöfen aber erkennt George den Besitz, der diese Welt amLeben erhält, und ihnen gegenüber pointiert er sich in demSpruch an Derleth: »In unsrer runde macht uns dies zumpaare: / Wir los von jedem band von gut und haus9.« Von

8 Der Name des Unholden erscheint im Stern des Bundes als Symbol für »nicht ganz ge-stalte kräfte«. Es liegt nahe, diese als noch jenseits der Polarität der Geschlechter vorzustellen,etwa wie die Hexen des Macbeth. Das Gedicht mißt ihnen gerade die Möglichkeit zu, welchedie Epoche versäumte. »Unholdenhaft nicht ganz gestalte kräfte: / Allhörige zeit die jedesschwache poltern / Eintrug ins buch und alles staubgeblas / Vernahm nicht euer unterirdischrollen - / Allweis und unkund des was wirklich war. / Euch trächtig von gewesnem die sienutzen / Sich zur belebung hätte bannen können / Euch übersah sie dunkelste Verschollne . . . /So seid ihr machtlos rückgestürzt in nacht / Schwelende sprühe um das innre Licht,«

9 Borchardt kontrastiert Hofmannsthal der »zernichteten Bagage, die von keinem Hausemehr weiß als dem Kaffeehause, dem Pfandhause und dem verrufenen«. Solch schändliches Lobkönnte George nicht gespendet werden, davon zu schweigen, daß der Wiener Schauplatz derFreundschaft mit Hofmannsthal nach allen Zeugnissen des Briefwechsels eben das Cafe" ist.Klagend über einen unterbliebenen Besuch Hofmannsthals findet George ein Wort, das alleingenügt, ihn untauglich zu machen zur Hetze gegen den Literaten: das von der »landschaft alshaus«. Die chthonische Erfahrung, die es anmeldet, ist aufs tiefste verschränkt mit der des Ob-dachlosen. Homer hat sein ganzes Epos aus dem Heimweh dessen hervorgesponnen, derIthaka noch einmal sehen will. Die Chthoniker von heutzutage kennen das Heimweh nicht.Sie sind immer bei sich zu Hause. In Gedichten wie der >Rückkehn des Jahres der Seele zeigtGeorge ihnen sich weit überlegen: »Du wohntest lang bei fremden stammen. / Doch unsreliebe starb dir nicht.« - Solche Verse freilich verdanken sich eher dem mächtigen Kindergefühlbei Indianergeschichten als dem Gedanken an gentile Gesellschaftsformen, der dem früherenGeorge verhaßt war: »Gegen das biderbe, das Sie so erträglich finden, hab ich auch wenig ein-zuwenden, wo es den grund bildet auf dem noch etwas wachsen kann .. . wo Sie es aber her-vorheben, wird Ihnen bei näherer betrachtung klar werden, daß nichts verlogener, verstunke-ner, wurmstichiger sein kann als dieses derb- und dumm-thun.«

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der Bohèe trennt ihn deren Schlamperei, die auf die Weltvertraut, wie sie ist; mit der Boheme verbindet ihn die Mög-lichkeit der Kriminalität als der Weise von Opposition, dieder Welt das letzte Vertrauen kündigt. Der Beginn des Ge-dichtes an den Jugendfreund Carl August: »Du weißt nochersten Stürmejahres gesell / Wie du voll trotz am zäun denhagelschlossen / Hinwarfst den blanken leib auf den blau-schwarz / Die trauben hingen?« mahnt an den WeinbergHanschen Rilows in >Frühlings Erwachen <. Die Tradition,der zufolge George Wedekind hoch soll geschätzt haben,ist einleuchtend. Der Möglichkeit der Kriminalität zeigt Ge-orges großes Gedicht vom Täter eher sich verschworen alsdaß es sie, eine Möglichkeit unter anderen, gestaltete. Dazustehen noch petriflzierte Verse wie der dritte Jahrhundert-spruch des Siebenten Ringes und der >Gehenkte< des >NeuenReichs <. Hier allein liegt das Recht von Georges Haltungbeschlossen: der Baudelairesche Hochmut des Verstoßenen,»tresor de toute gueuserie10«. Wenn freilich der Gehenkte ineiner ungefügen Metapher sich rühmt »und eh ihrs euchversähet, biege / Ich diesen starren balken um zum rad«, sodegeneriert im Stiftertum des späten George der Frevlerzum Helden. Der Protest gegen Ehe und Familie schlägt um,

10 Baudelaire, Le vin du solitaire, Les fleurs du mal. - Von den Perfidien des verstorbenenGundolf ist nicht die geringste die Herrichtung des Verfemten für den Nachttisch von Rechts-anwälten. In der dritten Auflage des Georgebuchs heißt es geschwollen, doch beschwichti-gend: »Was jeweils Tugend, Ordnung, Macht dünkt, bedarf eines unterirdischen Tilgers, zu-gleich Hegers und Erneuerers, des Trägers der künftigen Gottesgeschichte. Genauer ertönthier eine Lehre Georges, die schon der >Siebente Ring< verkündet: sein Glaube an die Erneue-rung der Welt aus dem Fernsten, an ihren Umbau auf dem Stein des Anstoßes, der Grundsteinwird ,.. an den Vollzug jeder heilsamen Tat durch die jeweiligen Verbrecher, ja Zuchthäus-ler.« Für Zwecke der Erneuerung, des Umbaus und ähnliche Kulturmaßnahmen sind Gundolfauch die Verbrecher recht, als wäre bei George an deren Zwangsarbeit gedacht und nicht ansAttentat. Georges Gehenkter ist zweideutig genug, aber er bringt immerhin noch den blutig-sten Hohn für jene Sittlichkeit auf, in deren Dienst der Kommentator die Unsittlichkeit stellenmöchte: »Als ich zum richtplatz kam und strenger miene / die Herrn vom Rat mir beides: ekelzeigten / Und mitleid mußt ich lachen: >ahnt ihr nicht / Wie sehr des armen sünders ihr be-dürft< / Tugend - die ich verbrach - auf ihrem antlitz / Und sittiger frau und maid, sei sie auchwahr,/ So strahlen kann sie nur wenn ich so fehle!« Gundolf" fährt fort: »In solchen Gedichten(auch der >Täter< im >Teppich des Lebens< gehört dazu) verrät George den Abgrund, worausseine vielgepriesene und vielbelächelte Schönseligkeit steigt. Mit Genießertum hat sie nichts zutun, sondern setzt - wie der griechische Apollo die Titanen, wie Dantes Paradies seine Hölle,wie Shakespeares Lustspiele seine Tragödien, den Aufenthalt in der unbarmherzigen Schreck-nis voraus.« Diesen aber kann der Literarhistoriker nur kurzfristig sich vorstellen. Die Un-moral wird erst zur mythischen Amoral neutralisiert und dann in den Zug positiver Entwick-lung als eben die Schwelle eingefügt, deren Begriff George als idealistisch verworfen hat. Einzigals Ausflugsort wird die Holle in der Landkarte des »gotthaft gestaltigen Seins« verzeichnet.

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sobald der totalitäre Staat, dessen Schatten über den letztenBüchern Georges liegt, selber von Ehe und Familie sich los-sagt und deren Geschäfte in die Hand nimmt. Dann wirdder Brandstifter als Entzünder, der Täter als Prophet desBüttels rezipiert. Wer eben noch »los von jedem band vongut und haus« sich wußte, versteht sich nun als Freischärler:»Wir einzig können stets beim ersten saus / Wo grad wirstehn nachfolgen der fanfare.« Die ominöse Reinheit, dieschon den Algabal des frühen George befleckte und denTäter so gut wie das bündische Wesen entgleisten Schul-meistern empfahl, pervertiert ihn schließlich zur Licht-gestalt. Georges Transzendenz zur Gesellschaft entlarvtderen Humanität. Seine Unmenschlichkeit aber wird vonder Gesellschaft aufgesogen.

Transzendenz zur Gesellschaft beansprucht auch Hof-mannsthal, und der Gedanke an Outsidertum ist dem nichtfremd, der seine society fingieren muß. Aber es ist ein kon-ziliantes Outsidertum, zu verliebt in sich selber, um den an-deren ernsthaft böse zu sein. »Ich hatte von der Kindheit anein fieberhaftes Bestreben, dem Geist unserer verworrenenEpoche auf den verschiedensten Wegen, in den verschieden-sten Verkleidungen beizukommen. Und die Verkleidungeines gewissen Journalismus - in einem so anständigen Sinngenommen, daß allenfalls jemand wie Ruskin, bei uns da-gegen niemand, als Vertreter davon anzusehen wäre, hatmich öfters mächtig angezogen. Indem ich in den Tagesblät-tern und vermischten Revuen veröffentlichte, gehorchte icheinem Trieb, den ich lieber gut erklären als irgendwie ver-leugnen möchte.« Der Trieb zur Verkleidung, in prästabi-lierter Harmonie auf die Erfordernisse des Marktes einge-stimmt, ist der des Schauspielers. Ihn wiederum hat Georgesehr früh erkannt. Einem Brief vom 31. Mai 1897 sind Verseeingefügt, die gemildert im Jahr der Seele mit Hofmanns-thals Initialen wiederkehren: »Finder / Des flüssig rollen-den gesangs und sprühend / Gewandter Zwiegespräche, fristund trennung / erlaubt daß ich auf meine dächtnistafel / Denalten hasser grabe, thu desgleichen!« Damit ist nicht derDramatiker charakterisiert, sondern der »Schauspielerdeiner selbstgeschafFenen Träume«, der Page im >Tod desTizian <, den sein Freund, der Dichter, verteidigend apostro-

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phiert11. Vor aller Stilkostümierung, ja vor aller dramatischenAbsicht komponieren die Gedichte Hofmannsthals, und ge-rade die vollkommensten, die rollende Stimme des Schauspie-lers mit. Es ist, als objektiviere diese Stimme das Gedicht so,wie in Musik die lyrische Unmittelbarkeit des Subjektsdurchs mitgedachte Instrument objektiviert wird. Verse wie:»Er glitt durch die Flöte / Als schluchzender Schrei, / Andämmernder Röte, / Flog er vorbei« tragen in sich den Tonvon Josef Kainz, dem Hofmannsthal den Nekrolog geschrie-ben hat12. Hofmannsthals Schauspielertum, gleichgültig wor-auf Psychologie es zu reduzieren vermöchte, entspringt inder technischen Handhabung der Lyrik. Wie zur eigenenKontrolle rezitieren seine Gedichte sich selbst. Ihr Reden-des gestattet es den Versen sich zuzuhören13. Daher die Vor-liebe für den redenden, den Blankvers. Dessen Synkopie-rung, Hofmannsthals berühmtes Stilmittel, hat er den Eng-ländern abgelernt. Sie ist eine Veranstaltung des technischenDichters, die dem formimmanenten Schauspieler dient: sienimmt die Freiheit, mit der der Vers sonst erst rezitiertwird, in die Geschlossenheit des poetischen Metrons selberauf. Es ist aber zugleich der Vers, der dem Kind aus einemTheater übriggeblieben ist, das seit Hofmannsthals Jugend

11 An das Wort des Pagen glaubt Borchardt in der Rede über Hofmannsthal die Verteidigungvor dem Vorwurf des Ästhetizismus anschließen zu müssen: »Er, den man als den >büdungs-satten DecadenU, als ästhetenhaften Klangehascher abzutun vermeint - denn dafür wagt dasdummdreiste Gezücht, das bei uns Bücher und Theater beurteilt, ihn immer noch auszugeben -ist seit Goethe der erste deutsche Dichter, der einem selbstdurchlittenen problematischen Zu-stande durch den Emst der Vertiefung, die Gewalt der Vision und die Verbindung mit allemhöheren Dasein seiner Zeit Allgemeingültigkeit und völligen Kunstwert zu geben gewußt hat.«So armselig der Vorwurf, gegen den Borchardt zu Felde zieht, Begriffe wie Ernst der Vertie-fung und höheres Dasein sind ihm nicht überlegen. Hofmannsthal ist nicht vor der Verleum-dung in Schutz zu nehmen, er sei ein Ästhet: zu retten ist der Ästhetizismus selber. Leicht ge-nug könnte sich herausstellen, daß die von Borchardt so genannten »moralischen Dramen«,wie der »Tor und der Tod« und der »Kaiser und die Hexe«, in denen der Schein thematischund eben jenem »Ernst der Vertiefung« zur Korrektur überantwortet wird, in Wahrheit denVerrat Hofmannsthal an seiner tragenden Erfahrung darstellen, gar nicht so verschieden vonder Wendung Georges seit dem »Teppich«.

12 George bietet dazu ein Seitenstück. Die Beschreibung der Anemonen am Ende von »Be-trübt als führten sie zum totenanger«: »Und sind wie seelen die im morgengrauen / Der halb-erwachten wünsche und im herben / Vorfrühjahrswind voll lauerndem verderben / Sich ganzzu Öffnen noch nicht recht getrauen« nimmt in ihrer letzten Zeile akustisch fast den rheinischenTonfall an, der dem Dichter mag eigen gewesen sein.

13 Das sich selbst Zuhören Hofmannsthals tendiert zur Anpreisung. Gelegentlich schließenGedichte die Augen und schmecken sich mit der Zunge ab, als wollten sie ihr Unvergleichlichesempfehlen. Nach den Zeilen: »Dein Antlitz war mit Träumen ganz beladen. / Ich schwieg undsah dich an mit stummem Beben« folgt der Satz: »Wie stieg das auf!« Er wird dreimal wieder-holt.

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den Hamlet und wie viel mehr Schiller Schülern vorbehält.Mit Grund datiert Hofmannsthal das Bestreben zur intellek-tuellen Verkleidung auf die Kindheit zurück. Wer da Thea-ter spielt, hängt die Worte und ihren Widerstand um wieden ererbten Bühnenschmuck mit bunten Steinen und Rhein-kieseln. Wohl mag von Hofmannsthal bestehen bleiben, daßer unermüdlich die Gestik dieses Kindes geübt und gleich-sam die Stufe wiederhergestellt hat, auf der allein noch dasTrauerspiel sich erfahren läßt. Unter den Händen seinerStimme verzaubert jeglicher Stoff sich in Kindheit, und esist diese Transformation, kraft deren er der Gefahr von Hal-tung und Verantwortung stets wieder entschlüpft. Die ma-gische Verfügung über Kindheit ist die Stärke des Schwa-chen14: er entrinnt der Unmöglichkeit seiner Aufgabe alsPeter Pan der Lyrik. Wahrhaft einer Unmöglichkeit. DennHofmannsthals Schauspielertum verdankt sich bis in seinealexandrmischen Konsequenzen hinein, bis zu den Pseudo-rnorphosen. der späteren Zeit einer höchst realen Einsicht:daß die Sprache nichts mehr zu sagen erlaubt, wie es erfah-ren ist15. Entweder ist sie die verdinglichte und banale vonWarenzeichen und fälscht vorweg den Gedanken. Oder sieinstalliert sich selber, feierlich ohne Feier, ermächtigt ohne

14 Sie bedingt den Ton der zweiten Naivetät in Hofmannsthals Dichtung. Ihr Begriff gehörtJacobsen an. Er rindet sich in der kleinen Prosa >Es hätten Rosen da sein müssen< (1881), einerSchatzkammer Hofmannsthalscher Motive. Die Personen des »Proverbs«, das zu einem süd-lichen Garten geträumt wird, sind zwei Pagen. Deren Beschreibung springt über zu der derbeiden Schauspielerinnen, die die Pagen geben. »Die Schauspielerin, welche die jüngere vonden Pagen sein soll, ist in dünner Seide, die ganz dicht anschließt und die blaßblau ist, mit ein-gewebten, heraldischen Lilien aus lichtestem Gold. Das und dann so viele Spitzen als anzu-bringen möglich, ist das hervorstechendste an der Tracht, die nicht so sehr auf ein bestimmtesJahrhundert hinweisen, als die jugendlich volle Figur, das prachtvolle blonde Haar und dendurchsichtigen Teint hervorheben will. Sie ist verheiratet, aber es währte bloß anderthalbJahre; dann wurde sie von ihrem Mann geschieden, und soll sich gegen ihn durchaus nicht gutaufgeführt haben. Und das mag schon sein; allein etwas Unschuldigeres kann man nicht leichtvor seinen Augen sehen. Das will sagen, es ist ja nicht jene ungemein niedliche Unschuld auserster Hand, die gewiß auch ihr Ansprechendes hat; es ist im Gegenteil jene soignierte, wohlentwickelte Unschuld, in der kein Mensch sich irren kann und die einem geradewegs ins Herzgeht und einen gefangennimmt mit all der Macht, die einmal dem Vollendeten gegeben ist.«

15 Diese Einsicht ist, wie sehr auch lebensphilosophisch verdorben, von Hofmannsthal imChandosbrief formuliert worden: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähig-keit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu be-sprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohneBedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte>Geist<, >Seele< oder >Körper< nur auszusprechen ... die abstrakten Worte, deren sich dochdie Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zer-fielen mir im Munde wie modrige Pilze.«

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Macht, bestätigt auf eigene Faust, kurz, von dem Schlage,wie Hofmannsthal an der Georgeschen Schule es bekämpfte.Sie verweigert sich vollends dem Gegenstand in einer Ge-sellschaft, in der die Gewalt der Fakten solches Entsetzenannimmt, daß noch das wahre Wort wie Spott klingt. Hof-mannsthals Kindertheater ist der Versuch, die Dichtung vonder Sprache zu emanzipieren. Indem dieser die Substantiali-tät aberkannt wird, verstummt sie: Ballett und Oper sind dienotwendige Folge. Unter den tragischen und komischenMasken ist kein menschliches Antlitz übrig. Daher dieWahrheit von Hofmannsthals Schein. Dort gerade nimmtdiese Sprache den Ausdruck des Schreckhaft-Schwanken-den an, wo sie aus epischer Vernunft zu reden vorgibt.»Circe, kannst du mich hören? / Du hast mir fast nichts ge-tan«, heißt es im Text der >Ariadne<. Das epische Fast, dasnoch im Angesicht der mythischen Metamorphose ein-schränkend innehält, entzieht dem gleichen Mythos denBoden durch neuzeitliche Lässigkeit.

Gegen Hofmannsthals Schauspielertum hält George dentrivialsten Einwand bereit: »Woran Sie am schmerzlichstenleiden ist eine gewisse wurzellosigkeit. . .« Er scheint da-mit das Vokabular eines Antisemitismus zu bemühen, des-sen Spuren seinem Werk trotz der Absage an Klages nichtfehlen. Der Übersetzer der Baudelaireschen Malabaraise pro-klamiert im Stern des Bundes: »Mit den frauen fremder ord-nung / Sollt ihr nicht den leib beflecken / Harret! lasset pfaubei äffe! / Dort am see wirkt die Wellede / Weckt den mäd-chen tote künde: / Weibes eigenstes geheimnis« - Verse, diein der Turnhalle eines rheinländischen Gymnasiums nichtübel sich ausgenommen hätten. Aber mit deren Atmosphäremöchte George am wenigsten zu schaffen haben: »Es warnur unfug des schreibenden pöbeis diese äußerst Verschie-denartigen zu einem häufen zu werfen weil sie sich in glei-cher weise von ihm entfernten - eine ähnliche Scheidung wiedermalen des rheinischen Janhagels der alle die sich anderstrugen als >juden< anrief.« Dem Wurzellosen hat Georgenicht seine empirische Existenz als verwurzelte gegenüber-stellen wollen: »Um Weihnachten hab ich hier wenig zubieten • weiß auch kaum ob ich dann hier bin. das von Ihnenausgemalte trauliche Winterzusammensein gewährt nur (sei

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es In stadt oder land) wer wie Sie ein Heim hat • nicht werwie ich überall gleichsam nur besucher ist.« Erstaunlichernoch formuliert ein kaum wohl ironisch gemeinter BriefGeorges vom 27. August 1892: »ich glaube in der leiden-schaft für ein schönes und klangvolles können Sie sich nichtso weit reißen lassen. Das ist das graniten-germanische inIhnen, das romanische an mir. Das werden Sie bei dauern-dem verkehr mit leuten wälscher zunge merken daß die inihren vor- und abneigungen thätlicher • lauter sind16.« Sei-nen Gegensatz zum »Wurzellosen« legt George zu Anfangnicht als einen der Ursprünge aus, sondern vielmehr alseinen des Entschlusses17. Er beruft sich nicht auf Erde,Seinsgewalt und Unbewußtes. Strategische Überlegungenzur Situation, und zwar recht genau zur literarischen, inspi-rieren ihn zu dem prinzipiellen Brief an Hofmannsthal vomJuli 1902, ohne daß dabei die Gegenposition von Anbe-ginn als minderwertig oder unebenbürtig ausgeschlossenwäre: »So lassen Sie mich ausreden nachdem Sie es getan:

16 Noch am 26. März 1896 schreibt George an Hofmannsthal: »wer weiß ob ich - wenn ichSie nicht oder Gerardy als dichter gefunden hätte - in meiner muttersprache weitergedichtethätte!«; noch Februar 1893 hat er im Floreal die ursprünglich französische Fassung eines Ge-dichtes publiziert. Der treudeutsche Gundolf hat davon nichts wissen wollen: »Wenn man ihnals Jünger der französischen Parnassiens und Symbolisten in die >Richtung< Swinburnes oderd'Annunzios eingereiht hat, so verwechselt man die Oberfläche mit dem Grund: diese Dichterwaren für ihn - einerlei was sie ihrem Land als Literaturrichtungen bedeuten, welche Motiveoder Techniken sie brachten - lediglich willkommen als die damals dichtesten, reinsten undfeinsten Sprachkomplexe ihres Volkes. Baudelaires Höllenweihe und Verlaines Endschafts-anmut und Müdigkeit, d'Annunzios Sinnenprunk, Swinburnes rauschende Seelenwoge, Ros-settis keltisch-italische schwermütige Glut, selbst die Poesie seiner persönlichen Freunde Ver-wey und Lieder, gingen ihn nur insofern an, als sie die Sprache um neue Massen, Gewichte,Widerstände, Bewegungen, Tiefen und Lichter bereicherten. Es ist ein Literatenmißverständ-nis, wenn man nachher auf Georges Spurea all diese Dichter als ) Richtungen < oder Seelen-werte, als Stimmung oder Manier importierte, und ihren ersten Vermittler als Jünger ihrerGesinnung ansah.« Nur Dilettanten vermögen den dichterischen »Grund« von bloßen »Mo-tiven oder Techniken« abzuheben; nur Banausen bringen den Namen Baudelaires nicht überdie Lippen, ohne den Verlaines mitzuplappern.

17 Es wird dem Entschluß - und in letzter Instanz der politischen Aktion - von George zu-gemutet, was gerade nicht Sache des Entschlusses sein kann: die Präsenz des Gewesenen. Da-mit aber wandelt sich der Entschluß in den Feind dessen, wozu man sich entschließt. Die Neu-chthoniker haben vergessen, daß Rumpelstilzchen sich in Stücke reißt, sobald ihm sein Namevorgehalten wird. Solches Unheil bereitet der agitatorische Kult der Ursprungsmächte. Georgeund Klages nehmen darin verhängnisvolle Tendenzen des Nationalsozialismus vorweg. Unab-lässig zerstören die Mythologen, was sie für ihre Substanz halten, durch Benennung. Sie warendie Herolde des Ausverkaufs vorgeblicher Urworte wie Tod, Innerlichkeit und Echtheit, derdann im Dritten Reich Platz griff. Die Phänomenologie, welche die Wesenheiten gewisser-maßen ausstellt, hat ebenfalls für diesen Ausverkauf gute Vorarbeit geleistet. Das Buch >DieTranszendenz des Erkennens< von Frau Edith Landmann stellt zwischen der Georgeschen undder phänomenologischen Schule die Verbindung her.

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Wenn Sie es für schön preisen sich von den vielfarbigenthatsächlichkeiten treiben zu lassen bedeuten sie mir nichtsohne auswahl und zucht. Was das bessere sei bleibe ganz un-beredet. nur soviel ist gewiß: dass in allgemeinem wie be-sonderem sinn etwas geschehe ermöglicht nur die eine artder führung • wol weiß ich: durch alle haltung und führungwird kein meisterwerk geboren - aber ebensogut wird ohnediese manches oder alles unterdrückt, auch Ihnen wirdschon aufgefallen sein wie unsere ganze kunst bestürztdurch das fetzen- und sprunghafte • durch die reihe vonkraft-menschen denen immer das letzte versagt blieb - alldas hat seinen grund in derselben geistesart. . . Und nun diehöhere tagesschriftstellerei die Sie rühmen und die sehr zubilligen ist - erfordert nicht die lauliche reizbarkeit undweichtierhafte eindrucksfähigkeit die heut >Berliner natu-ralismus< morgen >Wiener Symbolismus < untergeht — son-dern das gegenteil: das strenge sich-aufeinen-punktstel-len. . .« Über den Sprachzerfall kennt er so wenig Illusio-nen wie Hofmannsthal: »Sagbar ward Alles: drusch undleeres stroh.« Aber wo Hofmannsthal die Finte wählt, greifter mit Desperation zur Gewalt. Er würgt die Worte, bis sieihm nicht mehr enteilen können: der toten meint er sichsicher, während sie als tote vollends ihm so verloren sind,wie die flüchtigen es waren. Darum überschlägt sich derGeorgesche Heroismus. Seine mythischen Züge sind dasGegenteil jenes Erbgutes, als welches die politische Apolo-getik sie beschlagnahmte. Sie sind Züge von Trotz. »Es istworden spät.« Keine Spur des Archaischen in Georges Werk,die nicht diesem Späten als Gegensatz unmittelbar verschwi-stert wäre. Er blickt auf die Worte so nah und fremd, alsvermöchte er dadurch ihrer an ihrem ersten Schöpfungstaginnezuwerden. Solche Entfremdung ist vom liberalen Zeit-alter so vollkommen determiniert wie die antiliberale Poli-tik, die in Deutschland so gern auf George sich berief. Wiesehr bei ihm die liberale Vorstellung von Rechtssicherheit,der trotzige Drang zur Herrschaft und der Vorstellungskreisurgeschichtlicher Verhältnisse ineinanderspielen, zeigenSätze aus einem Brief vom 9. Juli 1893: »Jede gesellschaftauch die kleinste und loseste baut sich auf vertrage Ihrestimme gilt soviel als jede andre sie muß sich aber in jedem

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fall unverhüllt vernehmen lassen.« Setzen die Verträge an-scheinend die volle Rechtsgleichheit bürgerlicher Kontra-henten voraus, so ist ihre Anrufung in Fragen geistiger So-lidarität doch ein Mittel zur Suspension der Gleichheit undzur Unterdrückung und nimmt einen Zustand tödlicherFeindschaft zwischen den Subjekten an, durch den die Ge-sellschaft der Konkurrenten der der Horden sich annähert.Die Aufforderung, sich »unverhüllt vernehmen zu lassen«jedoch, wie sie George Hofmannsthal gegenüber immerwieder mit Rücksicht auf die >Blätter für die Kunst < erhebt,kann dem von ihr Betroffenen allemal nur Unheil bringen.Wann immer Hofmannsthal zur Kritik an George und des-sen Hörigen sich verführen ließ, ist es ihm übel angeschlagen.George ruft gegen jene Welt, die ihm als wurzellos er-scheint, die Eindeutigkeit der Natur auf. Eindeutig aberwird dieser Moderne Natur nur durch Naturbeherrschung.Das gibt den berühmten Schlußstrophen des Templerge-dichtes, die die Georgesche Lehre von der Gestalt um-reißen, ihren geschichtsphilosophischen Sinn, so wie er anOrt und Stelle nicht vermeint war: »Und wenn die großeNährerin im zorne / Nicht mehr sich mischend neigt am un-tern borne, / In einer weltnacht starr und müde pocht: / Sokann nur einer der sie stets befocht / Und zwang und nieverfuhr nach ihrem rechte / Die hand ihr pressen, packenihre flechte, / Daß sie ihr werk willfährig wieder treibt: / Denleib vergottet und den gott verleibt18.« Wer Natur nur den-ken kann, indem er ihr Gewalt antut, sollte nicht das eigeneWesen als Natur rechtfertigen. Solcher Widersinn ist dasGeorgesche Gegenbild zur Hofmannsthalschen Fiktion. -George möchte Hofmannsthal beherrschen. Was in demAndrian gewidmeten Gedicht >Den Brüdern< von Öster-

18 In der Vorstellung des Zwanges, der der »großen Nährerin« widerfahren soll, tritt Georgein so bestimmten Gegensatz zu Klages, wie er diesem durch die neuheidnische Invokation derErde ähnlich bleibt. So schwankend war seine Stellung zu Klages insgesamt. Im Briefwechselmit Hofmannsthal verteidigt er den Pelasger, Hofmannsthal hatte bereits 1902 die bizarre In-konsistenz zwischen der pedantischen Nüchternheit des Ausdrucks und dem Dogma desRausches erkannt, welche die Klagessche Philosophie unablässig desavouiert und der Ko-stümfestlyrik von Alfred Schuler nahebringt: »Aber ich muß offen gestehen, daß mir in Kla-ges' Schrift über Sie an unendlich wichtigen Stellen der Ausdruck, also die Kraft das innerlichGeschaute zu verleiblichen, peinlich zurückzubleiben schien. Es fanden sich da Metaphern, dieich zu vergessen trachte.« Georges Antwort daraufist recht allgemein: »Wegen K. und seinemBuch lassen Sie mich heute nur sagen, daß wir uns da auf würdigem streit-boden befinden. Erist ein Edler, der für höchste werte glüht, aber auch ein titan, der blocke entgegenwälzt.« Im

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reich gesagt wird, beZeichnet das Verhältnis: »Da wolltenwir euch freundlich an uns reißen / Mit dem was auch ineuch noch keimt und wächst.« Hofmannsthal ist in der Ver-teidigung. Wie er privat der Werbung um Freundschaft undNähe sich entzieht, nimmt er literarisch den Standpunkt deshochmütig Unbeteiligten ein. Es macht ihm nicht einmalviel aus, seine Gedichte in obskuren Zeitschriften erschei-nen zu sehen, während George, sobald es ums schriftstelle-rische Metier geht, auf Haltung verzichtet und so leiden-schaftlich sich zeigt wie nur je einer seiner Pariser Freunde.Hofmannsthals Abwehr bietet umsichtig alle Kräfte derPhantasie auf. Bald surrogiert er das Zeremonial des altenGoethe oder der Wahnsinnsbriefe Hölderlins; bald deser-tiert er kokett zur »lesenden menge«; bald versöhnt er durchTeilnahme, selbst für die sonst verachteten Freunde Geor-ges, bald kränkt er durch das Pathos eines Dankes, der Di-stanz setzt. Selbst die unzählige Male und bis zum Schlußbeteuerte »Nähe« zu George wird durch die Stereotypie derVersicherung in den Dienst der Ferne gestellt. Er verstecktsich in die Nähe und schlüpft in Georges Sprache: seineBriefe an andere ließen niemals den gleichen Verfasser er-raten. Die zuverlässigste Technik aber ist die der Selbst-anklage. Unübertrefflich die von George als solche durch-schaute »bescheidene ausflucht«, mit der er auf den Vor-schlag Georges reagiert, mit diesem gemeinsam die Redak-tion der >Blätter für die Kunst < zu übernehmen. Hofmanns-thal fängt selbst beleidigende Vorwürfe Georges wie dender Solidarität mit der »schwindelhaftigkeit« durch die Be-rufung auf den eigenen schlechten Zustand ab. Seine Nach-giebigkeit und Beiehrbarkeit - noch im letzten Brief teilt ermit, daß er Georges vernichtende »Beurtheilung des geret-teten Venedig<, die im ersten Augenblick hart erschien, nach

Stern des Bundes von 1913 wird den Chthonikern eine Absage erteilt, die auf den gleichenNationalsozialismus auftriflt, dessen Sprachbereich sie selber angehört: »Ihr habt, fürs recken-alter nur bestimmte / Und nach der Urwelt, später nicht bestand. / Dann müßt ihr euch infremde gaue wälzen / Eur kostbar tierhaft kindhaft blut verdirbt / Wenn ihrs nicht mischt imreich von körn und wein. / Ihr wirkt im andern fort, nicht mehr durch euch, / Hellhaarigeschar! wißt daß eur eigner Gott / Meist kurz vorm siege meuchlings euch durchbohrt.« DerDialog von Mensch und Drud jedoch im >Neuen Reich< ist in der Tendenz von Klages nichtmehr zu unterscheiden. Je mehr die von George abstrakt verherrlichte Tat in tödlich politischePraxis überging, um so notwendiger bedurfte sie der unverstörten Natur und des »Lebens« alsIdeologie.

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und nach« sich »völlig zu eigen machen konnte« - ist sogrenzenlos, daß er unbelehrbar erscheint: nur wen keineKritik je erreicht, kann so widerstandslos jede akzeptieren.Die Freundschaft der beiden ist im Zerfall, ehe sie jemalssich verwirklichte. Damals bereits war Freundschaft selbstunter Menschen der außerordentlichsten Produktivkraftnicht mehr aus bloßer Sympathie und bloßem Geschmackmöglich, sondern einzig auf dem Grunde bindend gemein-samer Erkenntnis: Freundschaft aus Solidarität, welche dieTheorie als Element ihrer Praxis einschließt. Im Briefwech-sel wird Erkenntnis von den Voraussetzungen der Freund-schaft beklommen ferngehalten: das Trauma des ersten Wie-ner Zusammentreffens wirkt fort und macht jeden Versuchder Explikation zum neuen Akt der Verwirrung: »ich gingvielleicht früher zu streng mit Ihnen zu gericht • nicht wegengesühnter that sondern wegen der geäußerten gesinnung.ich zog Ihre ganz verschiedene art des fühlens zu wenig inbetracht wie Ihre ganz verschiedene erziehung unter andremhimmelsstrich • ich glaubte der satz von der edlen plötzlich-keit an der große und vornehme menschen sich allzeit er-kannt haben erleide keine ausnähme und ich wies in meinemgeist Ihnen den platz an >wo die schweren rüder der schiffestreifen <. doch immer wieder hatte ich als entschuldigungfür Sie die unbegreiflichkeit des Wahnsinnes und habe nieaufgehört Sie zu lieben mit jener liebe deren grundzug dieVerehrung ist und die für die höhere menschlichkeit alleinin betracht kommt. Soweit das persönliche.« Man kann kaumerwarten, das Persönliche sei durch diese undeutlichen, zu-gleich saugenden und beißenden Sätze gefördert worden.Sie stehen in Georges feierlichem Versöhnungsbrief, demgleichen, dem die Verse über den »alten hasser« beigefügtsind. Durch den Briefwechsel hindurch variiert George dieallemal fatale Absicht, das Frühere vergessen und vergebensein zu lassen. Jeder freundlich intermittierende Brief suchteine Schuld auszulöschen, während doch durch die hart-näckige Nachsicht das Schuldkonto unaufhaltsam anschwillt:es bedarf nur einer entgegenkommenden Geste des einen,um den anderen zur Bosheit oder zum Zurückweichen zu in-spirieren. Hinter der Kasuistik der Briefe stehen Fragen desPrestiges, des Verfügungsrechts über fremde - sei's auch

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geistige - Arbeit und schließlich selbst des intellektuellenEigentums und einer Art von Originalität, die dem von bei-den Autoren emphatisch vertretenen Begriff des Stils kraß widerspricht. 1892 heißt es in einem Brief Hofmannsthals anGeorge: »Im >Tode des Tizian< wird Ihnen ein bekanntesDetail entgegentreten: ich meine das Bild des Infanten.«Das spielt an auf ein Gedicht der Hymnen. Mit gereiztostentativer Noblesse entgegnet George: »Da Sie über den>Prolog< kein motto setzen so ließ ich da man in der selbennummer auszüge aus meinen büchern bringt meinen >In-fanten< streichen, die masse könnte da leicht mit miß Ver-ständnis reden.« Die Verachtung gegen die Masse hat Ge-orge nicht vor einer Eifersucht bewahrt, wie sie in eben denZirkeln alltäglich ist, denen seine Exklusivität ausweicht.Nichts aber könnte die Absurdität solcher Besorgnisse grel-ler ins Licht stellen als der Gegenstand der Kontroverse.Das Bildungserlebnis des Infanten ist weder von Georgenoch von Hofmannsthal zuerst gemacht worden: es stammtvon Baudelaire19. Kalkulationen solcher Art sind es, die Soli-darität ausschließen und noch solidarische Handlungen wiedas publizistische Eintreten des einen für den anderen be-lasten. Hofmannsthal hat zwar wiederholt über George, nieaber dieser über jenen geschrieben, obwohl der Vorwurfmangelnder Solidarität stets vom Älteren ausgeht. Einmalist es beinahe soweit gewesen, aber die vorweg aufgebrachteMitteilung über den Plan, die implizit Hofmannsthal seinenRuhm vorwirft, läßt keinen Zweifel daran, warum GeorgesEssay nie zustande kam. »Ich sinne seit einiger zeit an einemaufsatz über Sie - doch werde ich mir zur Veröffentlichungein großes ausländisches blatt aussuchen müssen — wokünstlerische ereignisse überhaupt als ereignisse gelten - Ichrede nicht über Sie nachdem alle wilden volksstämme allegold- und gewürz-händler zu wort gekommen sind.« ImZerfall der Freundschaft Georges mit Hofmannsthal setztder Markt sich durch, in dessen Negation ihre Lyrik ent-springt : die sich gegen die Erniedrigung durch Konkurrenzwehren, verlieren sich als Konkurrenten.

George stand weniger naiv zum Markt als Hofmannsthal.

19 »Je suis comme le roi d'un pays pluvieux, / Riche, mais impuissant, jeune etpourtaat très vieux,« Das Gedicht ist von George übersetzt.

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Aber er stand kaum weniger naiv zur Gesellschaft. So han-delt er dem Markt als Phänomen entgegen, ohne an dessenVoraussetzungen zu rühren. Er möchte die Dichtung vonder Nachfrage des Publikums emanzipieren und gleichwohlin einem sozialen Zusammenhang verbleiben, den er spätermit Worten wie Bund und Held, Volk und Tat mythologi-siert hat. Sich der »rücksicht auf die lesende menge« ent-heben, heißt ihm, durch eine Technik der Beherrschung, dieder artistischen aufs engste verknüpft ist, die lesende Mengein eine von Zwangskonsumenten verwandeln. Daher seineambivalente Stellung zum Erfolg. Der Entwurf eines ver-lorengegangenen Briefes an Hofmannsthal enthält die Sätze:»Keinesfalls beginne ich eh ich vertragsmäßig mit allen überlieferung und belohnung format und haltung mich geeinigthabe, das ist bei einigen meiner freunde unnötig bei andernjedoch umsomehr. Nichts zufälliges darf dazwischentretenwas den erfolg verhindern könnte, denn wie Sie wissen istkeinen erfolg zu suchen: groß - ihn suchen und nicht habenunanständig. «20 Die Verachtung des Erfolgs bezieht sich bloßauf den Marktmechanismus, der die Konkurrierenden Fehl-schlägen aussetzt. Erfolg wird angestrebt unter Umgehungdes Marktes. Die Größe, die sich stolz dazu bescheidet, ihnnicht zu suchen, ist die des literarischen Trustmagnaten, als

20 Der Briefentwurf ist von 1897. Damals erschien das Jahr der Seele. Man mag die Wendungvom Buch der Hängenden Gärten zum Jahr der Seele mit dem Gedanken an die Technik desErfolgs wohl in Zusammenhang bringen. Die Wendung hat ihr Vorbild an Verlaine, dem dasJahr der Seele Entscheidendes verdankt. Der Titel »Traurige Tänze«, Gedichte wie »Es winkteder abendhauch« mit den Schlußzeilen: »Meine trübste stunde / Nun kennst du sie auch« sindohne Verlaine nicht zu denken. Die Lobrede aus Tage und Taten beschreibt den für Georgemaßgeblichen Vorgang: »Nach seinen ersten Saturnischen Gedichten, wo der jüngüng in per-sischem und päpstlichem prunke sich berauscht, aber noch gewohnte parnassische Klängespielt, führt er uns in seinen eigenen rokokogarten der Galanten Feste, wo gepuderte ritte* undgeschminkte damen sich ergehen oder zu zierlichen gitarren tanzen, wo stille paare in kähnenrüdem und kleine mädchen in versteckten gangen lustern zu den nackten marmorgöttern auf-blicken. Über dieses leichte lockende Frankreich aber haucht er eine nie empfundene luft pei-nigender innerlichkeit und leichenhafter Schwermut. .. Was aber ein ganzes dichtergeschlechtam meisten ergriffen hat, das sind die Lieder ohne Worte - strofen des wehen und frohen le-bens ... hier horten wir zum erstenmal frei von allem redenden beiwerk unsre seele von heutepochen: wußten, daß es keines kothurns und keiner maske mehr bedürfe und daß die einfacheflöte genüge um den menschen das tiefste zu verraten. Eine färbe zaubert gestalten hervor, in-des drei spärliche striche die landschaft bilden und ein schüchterner klang das erlebnis gibt.«Die Wendung besteht im Versuch, dem Interieur zu entweichen und die »landschaft als haus«zu betreten. Sie involviert die äußerste Vereinfachung der Mittel: die Sprache des ganz Ein-samen tönt als Echo der vergessenen Sprache aller. Diese Vereinfachung eröffnet nochmals dieLyrik einem Leserkreise: der ganz Einsame aber ist der Diktator derer, die ihm gleichen (cf.Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, Schriften I, Frankfurt 1935, S. 426 ff).

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den George sich früher konzipierte, als ihm zumindest diedeutsche Wirtschaft die Modelle beistellen konnte: »Ich wardes festen glaubens dass wir • Sie und ich • durch jähre inunsrem Schrifttum eine sehr heilsame diktatur hätten übenkönnen • dass es dazu nicht kam dafür mach ich Sie alleinverantwortlich.« Schwer nur können Diktatoren Fehler be-gehen. Die gefährlich leben, haben die wahre Sekurität.Ihnen ist auf längere Frist die Unanständigkeit des Fehl-schlags erspart. Mit der Hellsichtigkeit des Hasses hat Bor-chardt in der Polemik gegen das >Jahrbuch für die geistigeBewegung < die monopolistischen Züge der GeorgeschenSchule getroffen: »Das Zentralblatt für die deutschen In-dustriellen muß verkünden, daß wirtschaftliche Kraft nurfrei werde, wo der Mensch sich dem Menschen um des Men-schen willen verbinde, daß der Eigenbrötler sich über denwirtschaftlichen Ruin nicht beklagen solle, und dergleichenmehr . . . Die Freunde des Herrn Wolfskehl machen dieseNot nicht sowohl zur Tugend als zum Dogma von der ver-ödenden und verschrumpfenden Wirkung dessen, was siestrafend >Vereinzelung < nennen, und variieren Schillers Hel-denwort in ihr Modernes: >Der Starke ist am mächtigstenim Kreis<, im Syndikat der Seelen.«21 Konkurrenz wird indie Herrschaft überzuführen gesucht, und ans Konkurrenz-motiv wird zynisch appelliert, wenn die Herrschaft es ver-langt. 1896 trägt George Hofmannsthal die Mitredaktion der>Blätter für die Kunst < an. Dem verleiht er Nachdruck durchdie Worte: »Da es sich hier um ein ernsthaftes zusammen-wirken aller kräfte dreht so wäre Ihre gelegentliche mit-arbeiterschaft (die Sie wol anbieten könnten) bedeutungslos.Ihre stelle müssen wir alsdann durch einen andren auszu-füllen trachten, doch will ich an diesen schweren Verlustlieber nicht denken.«

Die >Blätter für die Kunst < machen den sinnfälligen Ge-genstand der Differenz Georges und Hofmannsthals aus. ImVerhalten der beiden zu den Blättern und deren Partei22 of-

21 Borchardts Kritik hat der Georgeschen Schule gegenüber den Standpunkt des Ultrarechteneingenommen. Er erlaubt zuweilen materialistische Durchblicke. Der bedeutende Aufsatz überdie toskanische Villa entwickelt diese als Kunstform aus den ökonomischen Voraussetzungender Pachtherrschaft.

22Aber auch in anderen Sphären, von der Bayreuther Runde bis zu den Psychoanalytikern,haben sich um die gleiche Zeit sektenbafte Gruppen formiert. Bei divergierendem Inhalt zeigen

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fenbart sich eine wahre Antinomie. Sie hat später im eigent-lich politischen Bereich sich durchgesetzt an Stellen, vondenen beide Autoren sich nichts träumen ließen. Hofmanns-thal teilt 1893 Klein mit: »Einen Aufsatz über die >Blätter<in einem Tagesblatt zu schreiben, ist mir nicht sehr genehm:in den bisherigen Heften steht für meinen Geschmack 1. zuwenig wirklich wertvolles, 2. zu viel von mir. Beides müßtemeine Reden so einschränken, daß ich vorziehe, zu schwei-gen.« Der Hintergrund dieser Äußerung wird in einemfrüheren Brief Hofmannsthals an Klein aufgedeckt: »über-haupt befremdet mich Ihr Vorschlag, in einem andern öf-fentlichen Blatt unser Unternehmen zu besprechen, aufshöchste. Wozu? warum dann nicht gleich meine Sachen woanders unter Fremden abdrucken lassen? dann habe ich of-fenbar das ganze Wesen der Gründung falsch verstanden.Ich habe absolut keine Angst davor, mich zu >compromit-tieren< und ich bin in künstlerischen Dingen durch keineRücksicht und Verbindung gehemmt. Aber bitte, sagen Siemir klar, was Sie wollen und wozu Sie es wollen.« Es gehtdialektisch genug zu: Georges Exklusivität drängt als dikta-toriale auf öffentliche, selbst journalistische Stellungnahmeund hebt damit virtuell sich selber auf: das aber erlaubt Hof-mannsthal, sich eben auf die verletzte Esoterik zu berufenund seine Sachen »wo anders unter Fremden«, also vollendsunter Preisgabe der Esoterik, drucken zu lassen. Die Furcht,sich zu kompromittieren, die er verleugnet, bestimmt seinVerhalten: sich zu kompromittieren nicht sowohl, indem ersich mit der kommerziellen Öffentlichkeit einläßt, als viel-mehr, indem er es mit ihr verdirbt. Seine Isolierung im Kreisder Blätter macht ihn zum verständnisvollen Sprecher desprofanum vulgus, gegen den die Blätter gegründet waren:»Wonach es mich verlangt ist nicht sosehr, dreinzureden,als minder spärliches zu erfahren. Ich berechne nach meinermangelnden Einsicht in Vieles die fast vollständige Rat-losigkeit des Publicums einem so fremdartigen und herb-wortkargen Unternehmen gegenüber.« Die Aversion dessich auffallende Übereinstimmungen im Bau. Gemeinsam ist ihnen ein mehrdeutiger Begriffvon Reinigung und Erneuerung, der die Resistenz gegen das Bestehende vortäuscht und zu-gleich vereitelt. Politische Solidarität wird vom Glauben an die Panazee ersetzt. Die Realitäts-gerechtigkeit solcher Katharsis bewährte sich im Guerillakrieg der Konkurrenz ebenso wie imEinparteiensystem.

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Publikums hat Hofmannsthal durch kritische Einsicht über-boten. Mit seiner Ablehnung nicht bloß der schlechten Ge-dichte, die die Blätter füllten, sondern auch der NachahmerGeorges selber hielt er nicht hinterm Berge. Noch zu denhöflicheren rechnet eine Formulierung wie: »Hätten Sie dieFreunde und Begleiter die Sie verdienen, wieviele Freudewürde dadurch auch auf mein Theil kommen.« Wie es mitden Blättern bestellt war, hat George fraglos so gut gewußtwie Hofmannsthal. Er konnte diesem den Vorwurf der ge-ringen literarischen Qualität seiner Freunde bequem zu-rückgeben, nur daß mit diesen Hofmannsthal niemals eben-so verbindlich sich eingelassen hatte wie George mit seinenMitarbeitern. Aber George hat sich damit nicht begnügt:»Ich halte nun meine ansieht der Ihrigen gegenüber die allemitarbeit außer der Ihren und meinen ablehnt. Gar nicht zureden von ausländern wie Lieder • Verwey begreife ich nichtwie Sie an künstlern und denkern wie z. B. Wolfskehl undKlages vorüber gehen konnten. - die dunklen gluten desEinen wie die scharfe ebnenluft des andern sind so einzigso urbedingt dass ich aus Ihrem kreis (soweit er sich geoffen-bart hat) niemanden auch nur annähernd mit ihnen verglei-chen dürfte . . . Reden Sie aber von den kleineren Sternen —so ist es leicht das urteil zu fällen das sie selber kannten —doch befinden Sie sich in großem irrtum wenn Sie dort dievon Ihnen angeführte unehrlichkeit und falsche abgeklärt-heit wittern - es sind alle menschen von guter geistigerzucht mit denen Sie wenn Sie sie kennten • aufs schönste le-ben würden • sich wie geniusse geberden - thaten sie nie,sondern gerade diejenigen die sie den unsren gegenüber inschütz nahmen . . . In den >Blättern< weiß jeder was er ist •hier wird der scharfe unterschied gezeigt zwischen dem ge-borenen werk und dem gemachten • hasser der >Blätter< istjeder, dem es darum zu thun ist diesen unterschied zu ver-wischen . . . Wenn aber Sie mir erklärten dort nur eine an-sammlung mehr oder minder guter verse zu sehen - undnicht das Bauliche (construktive) von dem freilich heut nurdie wenigsten wissen - so würden Sie mir eine neue großeenttäuschung bringen.« Das Konstruktive umschließt eben-so die Gleichschaltung der Beherrschten wie die Einheit derbewußt tradierten Technik: Unterdrückung und Steigerung

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der Produktivkraft. Hofmannsthal sieht das Unterdrückende,hat aber dagegen nichts aufzubieten als kurrente Ansichtenvon Tradition und Individualität: »ich würde vieles wert-volle, dem Individuum homogene an Formen, Beziehungen,Einsichten dadurch gegen Flacheres eintauschen«. Beidesind gegeneinander im Recht. George wittert in Hofmanns-thals für sich Stehen »die ausgespitztheit die sofort aus dermilchstraße butter machen und für die jeweiligen markt-bedürfnisse herrichten will«; Hofmannsthal enthüllt dafürdas Pseudos des kommandierten, der Spontaneität entäußer-ten Kollektivs und das Verhängnis des »Ordinären«, demkein solches Kollektiv entrinnt. Der Einzelgänger und derOrganisierte sind gleich bedroht, dem Bestehenden zu ver-fallen; jener durch die eigene Ohnmacht, die trügerisch sichals Maß installiert und real der feindlichen Macht das Rechtüberläßt; dieser durch die Macht, der er gehorcht und diedas gleiche Unrecht, dem widerstanden werden soll, in dieReihen der Widerstehenden trägt. Denn beide müssen in derWelt des universalen Unrechts leben. Bis in die Sprache hin-ein ist Georges Haltung von ihr stigmatisiert. In den Tagendes ursprünglichen Konflikts fordert er Hofmannsthal her-aus: »Wie lange noch das versteckspiel? Wenn Sie frei re-den wollen (was nun auch meine absieht ist) so lade ich Sieein noch einmal auf neutralem gebiet zu erscheinen. IhrBrief der ja auch so diplomatisch war - aber war es meineschuld daß Sie gerade in jenes unglückl. cafe kamen . . .«Wie später die Rede von Verträgen, so bläht hier die vonneutralem Gebiet und Diplomatie das Private zum Allge-meinen auf, als wäre es politisch relevant. Das aber reflek-tiert die Zeitung, die das Allgemeine, politisch Bedeutsamedem Privaten zuträgt. Leicht könnte das esoterische Pathosin der Waren weit entspringen: die Würde des Einzelnenist der der Schlagzeilen abgeborgt. Georges ausgreifendeGebärde hat die Naivetät dessen, der mit den großen Wor-ten sich bekleidet, ohne zu erröten. Er vermag keine Sache,und wäre es die privateste, je anders denn als öffentliche an-zuschauen. Seine literarische Strategie stammt von verirr-ten politischen Impulsen.

Einmal jedenfalls haben diese Impulse an ihrem wahrenObjekt sich bewährt. 1905 hat Hofmannsthal im Namen des

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von ihm selbst, in einigen Briefen an Bodenhausen, höchstkritisch beurteilten Grafen Harry Kessler sich zum Sprach-rohr jenes schillernden Pazifismus der ruling class gemacht,der teleologisch schon die Attitüde derer in sich trug, diespäter während der Okkupation von Paris sich aufführten,als wäre sie vom Penklub arrangiert, damit sie mit den fran-zösischen Kollegen bei Prunier speisen könnten. Georgesollte mittun. Hofmannsthals Brief, Weimar, 1. Dezember1905 datiert, lautet:

Mein lieber George,ich werde gebeten, zu einem sehr ernsthaften und über dasPersönliche hinausgehenden Zwecke an Sie zu schreiben.Die furchtbare nicht auszudenkende Gefahr eines englisch-deutschen Krieges - wenn auch im Sommer beschworen -ist näher, fortdauernd näher als die zeitungsschreibendenund die meisten der politikmachenden Individuen sich ah-nen lassen. Die wenigen, die diesseits die Ernsthaftigkeit derSituation kennen, und die wenigen, die jenseits dem drohen-den Losbrechen sich entgegenstemmen wollen, haben - wis-send wieviel Gewalt in solchen Epochen die imponderabiliain sich tragen - sich geeinigt, offene Briefe zu wechseln, je-derseits unterschrieben von vierzig bis fünfzig der absolutersten Namen des Landes (mit Ausschluß von Berufspoliti-kern). Der englische offene Brief (unterschrieben von LordKelvin, George Meredith, A. Swinburne usw.) wird an dieHerausgeber der deutschen Journale gerichtet sein, derdeutsche an die englischen (da die Journale die eigentlichenPulverfässer sind). Man bittet ganz ausnahmsweise undwohl wissend, wie wenig Sie Publizität lieben, um IhrenNamen, während man sich z. B. nicht mit der Absicht trägt,den des bekannten Sudermann aufzunehmen. Man wünschtin dieser tiefernsten Angelegenheit durchaus die ernsthafte-sten geistigen Kräfte der Nation zu vereinigen. Wenn esIhnen gefällt, den beigelegten Brief zu unterzeichnen, sosenden Sie ihn dann bitte innerhalb zehn Tagen zurück anHarry Graf Kessler, Weimar, Cranachstraße 3.

Ihr Hofmannsthal.Die Musterkollektion der »absolut ersten Namen«, der

Ausschluß des unseligen Sudermann, der dazu herhaltenmuß, die Zugelassenen im Gefühl ihrer Superiorität zu be-

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stärken, und das vage »Man«, das hinter der Wichtigmache-rei gewaltige Mächte suggeriert, die so erhaben sind, daß ihrBeauftragter vor eitel Respekt sie nicht zu nennen wagt - alldas hat soviel Stil wie die Josefslegende. George hat das un-würdige Schriftstück nicht beantwortet. Aber ein Entwurfzur Antwort ist erhalten geblieben und in den Briefwechsel,unterm Druck des Hitlerregimes ohne den wichtigsten Satz,nun vollständig aufgenommen worden:

»Käme diese Zuschrift nicht von einem dessen verstandich aufs höchste bewundre: so würd ich sie für einen scherzhalten, wir treiben doch weder mit geistigen noch mit greif-baren dingen handel von hüben nach drüben, was soll unsdas? und dann: so einfach wie diese Zettel vermelden liegendie Verhältnisse doch nicht, krieg ist nur letzte folge einesjahrelangen sinnlosen draufloswirtschaftens von beidensehen, das Verklebmittel einiger menschen däucht mir ohnejede Wirkung, und noch weiter gesehen: wer weiß ob manals echter freund der Deutschen ihnen nicht eine kräftigeSeeschlappe wünschen soll damit sie jene völkischebeschei-denheit wieder erlangen, die sie von neuem zur erzeugunggeistiger werte befähigt. Ich hätte mit größerer gelassenheiterwidert wenn sich nicht die trauer darüber einstellte daß eskaum noch einen punkt zu geben scheint wo wir uns nichtmißverstehen.«

Kurz danach bot eine Verlagsangelegenheit den Anlaßzur endgültigen Entzweiung.

Daß George den Zusammenhang internationaler Betrieb-samkeit und imperialistischer Ambitionen durchschaut; daßder spätere Emigrant damals schon Worte über Deutschlandfindet, die seinem eigenen Kreis blasphemisch klingen muß-ten; ja, daß er ohne theoretische Einsicht in Gesellschaft denobjektiven Zwang wahrnimmt, der zum Krieg treibt - alldas wird nicht mit seinem von Borchardt notierten »bedeu-tenden Weltverband« hinreichend erklärt. Vielmehr ist seineErkenntnis kraft dem dichterischen Gehalt zuzuschreiben.In der Arbeiterbewegung ist es zumal seit Mehring üblich,die auf die unmittelbare Abbildung des gesellschaftlichenLebens gerichteten Tendenzen der Kunst, naturalistischeund realistische, dem Fortschritt zuzurechnen und die ihnenentgegengesetzten der Reaktion. Wer nicht Hinterhöfe,

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werdende Mütter und neuerdings Prominenzen darstellt, seiMystiker. Solche Stempel mögen das Bewußtsein der zen-sierten Autoren zuweilen treffen. Aber die Insistenz auf derWiedergabe des gesellschaftlich Unmittelbaren teilt dieempiristische Befangenheit der bekämpften Bürger. DieTauschgesellschaft treibt ihre Kinder dazu, unablässigZwecke zu verfolgen, stur auf sie hin zu leben, die Augenvon dem Vorteil aufgezehrt, nach dem man schnappt, ohnenach rechts und links zu blicken. Wer aus seinem Weg geht,dem droht der Untergang. Die zwangshafte Unmittelbarkeithindert die Menschen daran, bewußt eben den Mechanismuszu erkennen, der sie verstümmelt: er reproduziert sich inihrem fügsamen Bewußtsein. Dies Bewußtsein wird in demPostulat der Anschauung und Abbildung des Unmittelbaren- mit ihrem Komplement, der fetischisierten Theorie, dieman durch Treue verrät - hypostasiert. Der Realist, derliterarisch aufs Handgreifliche sich eingeschworen weiß,schreibt aus der Perspektive des Hirnverletzten, dessen Re-gungen nicht weiter reichen als die Reflexe auf Aktions-objekte. Er tendiert zum Reporter, der den sinnfälligen Be-gebenheiten nachjagt, wie Wirtschaftskonkurrenten demgeringsten Profit. Solcher Promptheit sind die als Luxus ver-pönten literarischen Gebilde entzogen. Heute vollends istmit dem längst staatsfrommen sozialistischen Realismus keinStaat mehr zu machen. Selbst an den Konservativen Georgeund Hofmannsthal indessen träfe die Rede von der Flucht vorder Realität kaum die halbe Wahrheit. Zunächst kehrt beiderWerk pointiert sich wider die mystische Innerlichkeit:»Schwärmer aus zwang weil euch das feste drückt / Sehneraus not weil ihr euch nie entfahrt / Bleibt in der trübe schuld-los . . . die ihr preist - / Ein schritt hinaus wird alles daseinlug!« In Hofmannsthals >Gesprächen über Gedichte<, seinerverbindlichen Äußerung zu Georges Lyrik, bemüht er sichum die Theorie dazu: »Wollen wir uns finden, so dürfen wirnicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zufinden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sichunsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wirbesitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, esflieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.«Wie der nachkonstruierende Empiriokritizismus in der

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reinen Immanenz der Subjektivität zur Verneinung des Sub-jekts und zum zweiten naiven Realismus gelangt, so ver-löscht Innerlichkeit in Hofmannsthals Konzeption. Ist aberdas Geheimnis der Symbolisten nicht sowohl eines vonInnerlichkeit als von Metier, so geht es gewiß nicht an, ihnenanstandslos als »Formalisten« technisch fortschrittlicheFunktion zuzumessen, die mit reaktionären Inhalten ver-koppelt seien. Viele Progressive haben das grobschlächtigeForm-Inhalt-Schema vom Positivismus auf die Kunst über-tragen, als sei deren Sprache jenes ablösbare Zeichensystem,das sie schon in Wissenschaften nicht ist. Selbst wenn sierecht hätten jedoch, fiele keineswegs alles Licht auf die sou-veräne Form und alles Dunkel auf den hörigen Inhalt.

Falsch wäre es, in Lob oder Tadel George, Hofmannsthalund den unter dem Namen Symbolismus und Neuromantikfigurierenden Bewegungen, aus denen sie hervorgegangensind, zu attestieren, was sie wohl selber sich attestiert hätten:daß sie das Schöne bewahrten, während die Naturalisten vorder Verwüstung des Lebens im Industrialismus resignierten.Die Preisgabe des Schönen vermöchte dessen Idee mächtigerfestzuhalten als die scheinhafte Konservierung verfallenderSchönheit. Umgekehrt ist nichts an George und Hofmanns-thal so vergänglich wie das Schöne, das sie zelebrieren: dasschöne Objekt. Es tendiert zum Kunstgewerbe, dem Georgeseinen Segen nicht versagt hat: wie in der Vorrede der zwei-ten Ausgabe der Hymnen dem »freudigen aufschwunge vonmaierei und Verzierung«, so in einem nicht abgesandtenBrief an Hofmannsthal von 1896: »Es macht sich in unsremdeutschland an vielen stellen eine Sehnsucht nach höhererkunst bemerkbar nach Jahrzehnten einer rein körperlichenoder auch wissenschaftlichen anstrengung. Sie geht vonmaierei ton und dichtung durch Verzierung und baukunstsogar allmählich in mode und leben.« Auf dem Weg in Modeund Leben fraternisiert die Schönheit mit der gleichen Häß-lichkeit, der sie, die Nutzlose, den Kampf ansagte. Das Lebender Gemeinschaft, die George sich wünschte, hat kunst-gewerbliche Färbung: »Heut ist dies nun alles leichter zuvergessen da unsre bestrebungen doch zu einem guten endegeführt wurden und eine Jugend hinter uns kommt voll ver-trauen Selbstzucht und glühendem Schönheitswunsch.« Das

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sind die »großen und vornehmen menschen«, wie sie seitCharcot und Monna Vanna der Familie in die Krankheit ent-flohen. Die Depravation ins Kunstgewerbe hat mit denDingen die Individuen betroffen: Kunstgewerbe ist das Malder emanzipierten Schönheit. Sie erliegt, sobald die neu-gewonnenen und technisch beherrschten Stoffe, beliebigherstellbar, billig und marktfähig werden. George ist demBewußtsein dessen im Schlußgedicht der Pilgerfahrten, daszum Algabal überleitet, sehr nahegekommen. Es redet vomIdeal des Schönen im Gleichnis der Spange: »Ich wollte sieaus kühlem eisen / Und wie ein glatter fester streif, / Dochwar im schacht auf allen gleisen / So kein metall zum gussereif. / Nun aber soll sie also sein: / Wie eine große fremdedolde / Geformt aus feuerrotem golde / Und reichem blit-zenden gestein.« Wenn »so kein metall zum gusse reif«, inden Bedingungen des materiellen Lebens die objektive Mög-lichkeit des Schönen nicht angelegt war, das vielmehr »wieeine große fremde dolde« schimärisch in der Negation desmateriellen Lebens sich öffnet, so zieht das materielle Lebendie Schimäre wiederum in sich hinein durch Imitation. Dieschlichte Spange des Kunstgewerbes, aus wohlfeilem Eisen,stellte allegorisch jene goldene dar, die gegossen werdenmußte, weil es am rechten Eisen gebrach. Über den schimä-rischen Charakter des Erlesenen läßt der Briefwechsel keinenZweifel. Es geht selber aus ökonomischen Machinationenhervor. Georges bibliophiles Pathos hat eine Druckschriftersonnen, die seine Handschrift nachahmt: »Ich sende hierneue proben des einbandes. sowie der schrift (meiner eige-nen an deren besserung ich schon lange arbeite) ich glaubedaß sie Ihnen gefallen wird. Sie sehen daß sie meiner hand-schrift angeglichen ist: jedenfalls ein guter weg nachdem alleneueren Zeichner von buchstaben die bereits bestehendenmit irgendwelchen erdachten Schnörkeln versahen • um sovom alten loszukommen.« Das kunstgewerbliche Pseudosdes technisch Massenhaften, das als originär auftritt, ent-springt in der Not einer Veranstaltung, die kein sachlich bin-dendes Maß des Schönen hat, sondern nur das dürre Pro-gramm : »vom alten loszukommen«. Die trügende Einmalig-keit wird aber zugleich um des materiellen Wertes willengeplant: »Erstes ziel ist unserm kreis (durch die festen ab-

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nehmer der händler erweitert) wahrhaft schöne und dabeierschwingliche bücher zu geben • die auch für den liebhaberein wesentliches: die Seltenheit nicht einbüßen dürfen • dernachhinkende uns ganz ferne leser mag dann den erhöhtenpreis zahlen . . . Einen andren weg wie den der Einzeich-nung giebt es nicht.« Daß schon der erlesene Reiz nachWertbegriffen sich ausdrücken, das Einmalige sich verglei-chen läßt; diese Abstraktheit von Malachit und Alabastermacht das Erlesene fungibel. Doppelt entstellt ist das sym-bolistisch Schöne: durch krude Stoffgläubigkeit und durchallegorische Ubiquität. Auf dem kunstgewerblichen Marktkann alles alles bedeuten. Je weniger vertraut die Stoffe,desto schrankenloser ihre Verfügbarkeit für Intentionen.Lange Seiten bei Oscar Wilde könnten den Katalog einesJuweliers abgeben, ungezählte Interieurs vom fin du sieclegleichen dem Raritätenladen. Noch George und Hofmanns-thal zeigen rätselhaften Ungeschmack in Dingen der bilden-den Kunst ihrer Ära. Unter den Malern, die der Briefwechselpreist, nehmen Burne-Jones, Puvis de Chavannes, Klinger,Stuck und der unsägliche Melchior Lechter die hervorra-gendsten Stellen ein. Der großen französischen Malerei derEpoche geschieht zwischen ihnen mit keinem Wort Er-wähnung23. Wenn George in freilich ganz anderem Zu-sammenhang mit Bedauern davon redet, daß »unsre besse-ren geister . .. den kecken farbenkleckser nicht mehr vommaier trennen könnten«, so ist das vom WilhelminischenUrteil über Impressionismus und Kloakenkunst nicht so garsehr verschieden. Tabuiert sind die Bilder, in denen die wah-ren Impulse des Gedichts vom Frühlingswind oder der Eis-landschaften des Jahres der Seele sich verwirklichen. Bejahtwerden abbildlich treue Idealgestalten, schöne Wesen im ero-tischen Geschmack der Zeit, welche die erhabenen Bedeu-

23 Nochmals ist an Marie Bashkirtseff zu erinnern. Sie war ohne die leiseste Beziehung zuravancierten Kunst. Ihr malerischer Horizont war durch den Salon bestimmt; bewundert hat sieBastien-Lepage. Ihre Bilder sind wie frühe Ansichtskarten. Mit jener Offenheit, die dem Ge-ständniszwatlg gleichkommt und die zumal die gesunde Erfolgsgier der Kranken preisgibt,charakterisiert sie sich gelegentlich selber als rohe und rignorante Barbarin. Ihr Urteil über be-suchte Kunststätten ist das der Bildungsreisenden; zur Wahrnehmung von Nuancen ist sie un-fähig, da sie alles, was ihr begegnet, brutal ihrem Geltungsinteresse subsumiert. Das hatnicht verhindert, daß die Mischung von Machtkult, Naivetät und Morbidezza, die sie zurSchau stellt, sie Zur Heroine einer Bewegung machte, mit der sie sachlich nichts gemein-sam hat.

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tungen auf sich nehmen, ohne daß die autonome peintureder allegorischen Absicht im Wege stünde. Verkannt wirdnichts Geringeres als das Formgesetz, dem die eigene Dich-tung untersteht.Diesem Formgesetz aber entzieht George sich späterhin

um so vollkommener, je mehr er die Stoffe Deutungen unter-wirft, um sich vom Vorwurf des Ästhetizismus zu reinigen.In seiner Jugend war er noch so gleichgültig gegen den Sinnwie der Rimbaud der Voyelles: »Den einen fehler >sangen<st. saugen brauchen Sie nicht zu bedauern denn er verschlim-mert nichts, es paßt auch sehr gut.« Der wahre Symbolismusist ein lucus a non lucendo. In Hofmannsthals Georgedialogmeint der Schüler von der Sprache: »Sie ist voll von Bil-dern und Symbolen. Sie setzt eine Sache für die andere.«Hofmannsthal weist ihn zurecht mit den Worten: »Welchein häßlicher Gedanke! Sagst du das im Ernst? Niemalssetzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist geradedie Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zusetzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe All-tagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als dieschwächliche Terminologie der Wissenschaft. Wenn diePoesie etwas tut, so ist es das: daß sie aus jedem Gebilde derWelt und des Traumes mit durstiger Gier sein Eigenstes,sein Wesenhaftes, herausschlürft.« Und auf den Einwand:»Es gibt keine Symbole?« — »Oh, vielmehr, es gibt nichts alsdas, nichts anderes.« Mit dem intentionsfremden Stoff diein konventionellen Bedeutungen verhärtete Realität aufzu-sprengen, ist das Desiderat: zu den frischen Daten flüchtet,was sein könnte, daß es von keiner geläufigen Kommunika-tion hinabgezogen werde in den Kreis dessen, was ist. Durchjeden deutenden Zugriff über die bloßen Stoffe hinaus kom-promittiert sich diese Dichtung: mit dem Engel des Vor-spiels triumphiert Melchior Lechter. Schuld daran aber trägtnicht Georges besondere Verblendung. Was er den reinenStoffen zutraute, konnten diese nicht bewähren. Als abstrakteRelikte der Dingwelt so gut wie als »Erlebnis« des Subjektsgehören sie eben jenem Umkreis an, dem man sie entrücktmeinte. Ironisch bleibt Hofmannsthal im Recht: das Un-symbolische verkehrt notwendig sich ins Allsymbolische.Zwischen den reinen Lauten Rimbauds und den edlen Mate-

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rialien der Späteren ist darin kein Unterschied. Wohl magman den frühen ästhetischen George real nennen undschlecht ästhetisch den späten realen: dennoch ist die-ser in jenem mitgesetzt. Die Schönheit, aus deren blindenAugen grelle Preziosen blicken, enthält schon die Ideo-logie vom »Jungen Führer im ersten Weltkrieg«, diedas Geschäft zudeckt, von dessen Fluch der Zauber be-freien sollte. Die Preziosen empfangen ihren Wert ausder Mehrarbeit. Das Geheimnis der intentionslosen Stoffeist das Geld. Baudelaire ist allen, die ihm folgten, über-legen darum, weil er an keiner Stelle jener Schönheit alspositiver und unmittelbarer sich zugeneigt hat, sondernbloß als unwiederbringlich verlorener oder in äußersterVerneinung. Ihm ist Satan, der vom Schicksal verratenedeus absconditus, »le plus savant et le plus beau des Anges«;ihn betrübt nicht der rosige Engel des schönen Lebens, zudessen Fidusbild Schönheit selber in George sich hergibt.Durch sie kommuniziert George mit den realistischen Ab-bildnern.

Was ihn zu dieser Schönheit zog, war nicht vorab derdichterische Formwille, sondern ein Inhaltliches. Wie einSchibboleth wird der Gegenstand unter Anrufung seinerSchönheit dem drohenden Verderben entgegengehalten. DieKorrespondenz mit Hofmannsthal gibt dafür ein merkwür-diges Beispiel. Es handelt sich um die Publikation des Toddes Tizian in den Blättern für die Kunst: »die lesezeichen wounbeabsichtigt weggelassen vervollständigte ich in Ihremsinn . . . und dann auf eigene faust (es war so wenig zeit) inder anmerkung >da Tizian 99Jährig an der pest starb< das be-strichene, damit brachten Sie eine schädliche luft in Ihr werkund augenscheinlich ungewollt.« Demnach könnte die bloßeErwähnung der Pest im Kunstwerk diesem Schaden tun undnicht diesem allein. Die Magie krampfhafter Schönheit be-herrscht den Symbolismus. Hofmannsthal sucht im George-dialog das ästhetische Symbol als Opferritual zu fassen:»Weißt du wohl, was ein Symbol ist? . . . Willst du ver-suchen dir vorzustellen, wie das Opfer entstanden ist? . . .Mich dünkt, ich sehe den ersten, der opferte. Er fühlte, daßdie Götter ihn haßten . . . Da griff er, im doppelten Dunkelseiner niedern Hütte und seiner Herzensangst, nach dem

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scharfen krummen Messer und war bereit, das Blut aus seinerKehle rinnen zu lassen, dem furchtbaren Unsichtbaren zurLust. Und da, trunken vor Angst und Wildheit und Nähedes Todes, wühlte seine Hand, halb unbewußt, noch einmalim wolligen warmen Vließ des Widders. - Und dieses Tier,dieses Leben, dieses im Dunkel atmende, blutwarme, ihmso nah, so vertraut - auf einmal zuckte das Messer in dieKehle, und das warme Blut rieselte zugleich an dem Vließdes Tieres und an der Brust, da den Armen des Menschenhinab: und einen Augenblick lang muß er geglaubt haben,es sei sein eigenes Blut; einen Augenblick lang, während einLaut des wollüstigen Triumphes aus seiner Kehle sich mitdem ersterbenden Stöhnen des Tieres mischte, muß er dieWollust gesteigerten Daseins für die erste Zuckung desTodes genommen haben: er muß, einen Augenblick lang,in dem Tier gestorben sein, nur so konnte das Tier für ihnsterben . . . Das Tier starb hinfort den symbolischen Opfer-tod. Aber alles ruhte darauf, daß auch er in dem Tier gestor-ben war, einen Augenblick lang . . . Das ist die Wurzel allerPoesie . . . Er starb in dem Tier. Und wir lösen uns auf in denSymbolen. So meinst du es?« - »Freilich. Soweit sie dieKraft haben, uns zu bezaubern.« Diese blutrünstige Theoriedes Symbols, welche die finsteren politischen Möglichkeitender Neuromantik einbegreift, spricht etwas von ihren eigent-lichen Motiven aus. Angst zwingt den Dichter, die feind-lichen Lebensmächte anzubeten: mit ihr rechtfertigt Hof-mannsthal den symbolischen Vollzug. Im Namen der Schön-heit weiht er sich der übermächtigen Dingwelt als Opfer. Istaber der Primitive, dem Hof manns thal die Ideologie beistellt,nicht wirklich gestorben, sondern hat das Tier geschlachtet,so ist dafür das unverbindliche Opfer des Modernen um sodrastischer zu nehmen. Er möchte sich retten, indem er sichwegwirft und zum Mund der Dinge macht. Die von Georgeund Hofmannsthal urgierte Entfremdung der Kunst vomLeben, die die Kunst zu erhöhen gedenkt, schlägt in gren-zenlose und gefügige Nähe zum Leben um. Symbolismus istin Wahrheit nicht darauf aus, alle Stoffmomente sich alsSymbole eines Inwendigen zu unterwerfen. Eben an dieserMöglichkeit verzweifelt man und proklamiert, das Absur-dum, die entfremdete Dingwelt selber, in ihrer Undurch-

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dringlichkeit fürs Subjekt, verleihe diesem Weihe und Sinn,wenn nur das Subjekt in die Dingwelt sich auflöse. Nichtlänger weiß sich Subjektivität als das beseelende Zentrumdes Kosmos. Sie überliefert sich jenem Wunderbaren, dasgeschähe, wenn die bloßen sinnverlassenen Stoffe von sichaus die verlöschende Subjektivität beseelten. Anstatt daßdie Dinge als Symbole der Subjektivität nachgäben, gibtSubjektivität nach als Symbol der Dinge, bereit, in sichselber schließlich zu dem Ding zu erstarren, zu dem sie vonder Gesellschaft ohnehin gemacht wird. So ist denn der arg-losen Zutraulichkeit des früheren Rilke gerade das WortDinge zur kultischen Formel geworden. Solche Angst mel-det Erfahrungen von der Gesellschaft an, die dem unmittel-baren Blick auf diese verwehrt sind. Sie beziehen sich auf dieKomposition des Individuums. Ehmals forderte Autonomie,daß die unverbrüchliche Äußerlichkeit des Objekts durchAufnahme in den eigenen Willen überwunden werde. Derwirtschaftlich Konkurrierende bestand, indem er die Schwan-kungen des Marktes, wenn er schon nichts darüber ver-mochte, bewußt vorwegnahm. Der Dichter der Moderneläßt von der Macht der Dinge sich überwältigen wie derOutsider vom Kartell. Beide gewinnen den Schein der Seku-rität: der Dichter jedoch auch die Ahnung ihres Gegenteils.Die »Chiffren, welche aufzulösen die Sprache ohnmächtigist« - nämlich die, welche sich in der Signifikation ihrerGegenstände erschöpft -, werden Hofmannsthal zum Mene-tekel. Die Entfremdung der Kunst vom Leben ist doppeltenSinnes. In ihr liegt nicht bloß, daß man mit dem Bestehendensich nicht einlassen will, während die Naturalisten immerzuin Versuchung sind, die von ihnen mit zärtlich-scharfenKünstleraugen gesehenen Abscheulichkeiten als einmal soseiende zu bejahen. Nicht weniger haben George und Hof-mannsthal mit der Ordnung sich encanailliert. Aber eben alsmit einer entfremdeten. Die veranstaltete Entfremdung ent-hüllt so viel vom Leben, wie nur ohne Theorie sich enthüllenläßt, weil das Wesen die Entfremdung selber ist. Die anderenstellen die kapitalistische Gesellschaft dar, aber lassen dieMenschen fiktiv so reden, als ob sie noch miteinander redenkönnten. Die ästhetischen Fiktionen sprechen den wahrhaf-ten Monolog, den die kommunikative Rede bloß verdeckt.

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Die anderen erzählen Begebenheiten, als ob vom Kapitalis-mus sich noch erzählen ließe. Alle neuromantischen sindletzte Worte24. Die anderen bedienen sich der Psychologieals Klebemittels zwischen Innen und entfremdetem Außen,einer Psychologie, die an die gesellschaftlichen Tendenzendes Zeitalters nicht heranreicht, während sie zugleich, nacheiner Bemerkung Leo Löwenthals, hinter der wissenschaft-lich entwickelten seit dem Ende des neunzehnten Jahrhun-derts zurückbleibt25. Anstelle der Psychologie tritt bei ihrenästhetischen Gegnern das unauflösliche Bild, das — wie sehrauch der Transparenz entratend - doch die Kräfte designiert,die zur Katastrophe treiben. Es ist die Konfiguration dessen,wovon die Psychologie nur abgeleitete und zerstreuteKunde gibt, so wie die Individuen, mit denen sie sich ein-läßt, selber nur Ableitungen des geschichtlich Wirklichensind. Baudelaires Petites Vieilles, noch Georges Täter oder»Ihr tratet zu dem herde« stehen der Einsicht ins Zusammen-bruchgesetz näher als die unverdrossene Beschreibung vonSlums und Bergwerken. Tönt in dieser dumpf das Echo deshistorischen Stundenschlags, so wissen jene Gedichte, wasdie Stunde geschlagen hat. In diesem Wissen und nicht imunerhörten Gebet zur Schönheit entspringt die Form: imTrotz. Die leidenschaftliche Bemühung um sprachlichenAusdruck, der bannend das Banale fernhält, ist der sei's auchhoffnungslose Versuch, das Erfahrene dem tödlichstenFeind zu entziehen, der ihm in der späten bürgerlichen Ge-sellschaft heranwächst: dem Vergessen. Das Banale ist demVergessen geweiht; das Geprägte soll dauern als geheimeGeschichtsschreibung. Daher die Verblendung gegen denImpressionismus: man verkennt, daß keine Macht der Erdemehr der Vergängnis standzuhalten vermag, die nicht auchselber Macht der Vergänglichkeit wäre. - Der Trotz gegen

24 Der Testamentsvollstrecker war Wedekind. Sein Dialog beruht auf dem Prinzip, daß keinSprecher je den anderen versteht. Wedekinds Stücke sind Mißverständnisse in Permanenz.Darauf hat erstaunlicherweise Max Halbe in seinen Memoiren hingewiesen. Die dramatischenPersonen nähern als Akrobaten den Mechanismen sich an. Sie können bereits nicht mehr spre-chen - daher das tiefe Recht des Wedekindschen Papierdeutschs -, wissen es aber nochnicht.

25 Hofmannsthal, der mit Schnitzler befreundet war, hat der Psychoanalyse Interesse entge-gengebracht, ohne daß sie doch in seine Werke eingegangen wäre. Vom psychologischen Ro-man hat er sich ferngehalten. Die Georgesche Schule vollends ist anti-psychologistisch gleichder Phänomenologie.

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die Gesellschaft ist einer gegen deren Sprache26. Die anderenteilen die Sprache der Menschen. Sie sind »sozial«. DieÄstheten sind ihnen um so weit voraus, wie sie asozial sind27.Ihre Werke messen sich an der Erkenntnis, daß die Spracheder Menschen die Sprache ihrer Entwürdigung ist. DieSprache ihnen rauben, der Kommunikation sich versagen,ist besser als Anpassung. Der Bürger verklärt das Daseiendeals Natur und verlangt vom Mitbürger, daß er »natürlich«rede. Diese Norm wird von der ästhetischen Affektationumgestoßen. Der Affektierte redet, als wäre er sein Idol. Ermacht sich damit zum billigen Ziel. Alle können ihm be-weisen, er sei ihresgleichen. Er jedoch vertritt die Utopie,nicht man selber zu sein. Wohl üben die anderen Kritik ander Gesellschaft. Aber sie bleiben sich so treu wie deren Vor-stellung vom Glück der eines gesunden, wohl organisierten,vernünftig eingerichteten Lebens. Die Utopie des Ästhetizis-mus kündigt dem Glück den Gesellschaftsvertrag. Es lebtvon der antagonistischen Gesellschaft, einer Welt, »où l'ac-tion n'est pas la soeur du reve«28. Noch als gemäßigte SchülerBaudelaires haben George und Hofmannsthal das Glück dortaufgemacht, wo es verfemt ist. Vorm Verfemten sinkt ihnendas Erlaubte in nichts zusammen. Unnatur soll die vomPrimat der Zeugung entstellte Vielheit des Triebes wiederherstellen, unverantwortliches Spiel den verderblichen Ernst

26 Daher die Vormacht der Übersetzung von Rossetti und Baudelaire bis George und Bor-chardt. Sie alle suchen die eigene Sprache vorm Fluch des Banalen zu retten, indem sie sie vonder fremden her visieren und ihre Alltäglichkeit unterm Gorgonenblick der Fremdheit erstarrenlassen ; jedes Gedicht von Baudelaire so gut wie von George ist der eigenen Sprachform nacham Idea Ider Übersetzung einzig zu messen.

27 Freilich nur um so weit; solange sie den Anstoß der »Entartung« bieten, die ihnen seitMax Nordaus Buch vorgeworfen worden ist. Jede Wendung ins Positive ist in der Tat Verfall.Ein Beleg für viele: das große Baudelairesche Motiv der Unfruchtbarkeit. Die Unfruchtbareentzieht sich dem Generationszusammenhang der verhaßten Gesellschaft. Von Baudelaire wirdsie mit der Lesbierin und der Dirne gefeiert. Er vergleicht die froide majestd de la femmesterile mit dem nutzlosen Sternenlicht, das dem Umkreis der gesellschaftlichen Zwecke entrücktist. Hofmannsthal übernimmt das Motiv, um es ins Staatserhaltende und zugleich Triviale zuwenden. »Von allen diesen Dingen / Und ihrer Schönheit - die unfruchtbar war«, sagt er sichum der Geliebten willen los. In der >Frau ohne Schatten< ist Unfruchtbarkeit ein Fluch, vondem erlöst werden soll.

28 George übersetzt: »Ich fliehe wahrlich gerne dies geschlecht / Das träum und that sich zuverbinden wehrte.« Die Übersetzung ist ein Verrat. Baudelaire spricht vom monde, der Ge-samtverfassung der Wirklichkeit, die den Traum vom tätigen Handeln fernhält. George machtdaraus das »geschlecht«, als ob es sich um einen Abfall, um »Dekadenz« handelte, wo die Baude-lairesche Revolte das Prinzip der Ordnung selber trifft. Bei George tritt an Stelle des Aufruhrsjene »Erneuerung«, die dem »Geschlecht« allemal sich assoziiert.

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dessen überkommen, was man bloß ist. Beide rütteln lautloslärmend an der Identität der Person, aus deren Mauern dieinnerste Gefängniszelle des Bestehenden sich fügt. Wasimmer sie der herrschenden Gesellschaft positiv kontrastie-ren mögen, ist ihr untertan als Spiegel des Individuums, sowie Georges Engel dem Dichter gleicht, so wie der Liebendeim Stern des Bundes am Geliebten »mein eigen fleisch« er-rät. Was überlebt, ist die bestimmte Negation.

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Charakteristik Walter Benjamins

. . . . und den Geräuschen des Ta-ges zu lauschen, als wären es dieAkkorde der Ewigkeit.

Karl Kraus

Der Name des Philosophen, der auf der Flucht vor denSchergen Hitlers sein Leben auslöschte, hat in den mehr alszwanzig Jahren, die seitdem vergingen, Nimbus gewonnentrotz des esoterischen Charakters seiner früheren Arbeitenund des fragmentarischen der späteren. Die Faszination vonPerson und œuvre ließ keinen Ausweg als magnetischesHingezogensein oder schaudernde Abwehr. Unter demBlick seiner Worte verwandelte sich, worauf immer er fiel,als wäre es radioaktiv geworden. Die Fähigkeit, unablässigneue Aspekte herzustellen, weniger indem er Konventionenkritisch durchbrach, als indem er durch seine innere Organi-sation zum Gegenstand sich verhielt, wie wenn die Konven-tion keine Macht über ihn hätte - diese Fähigkeit wird gleich-wohl vom Begriff des Originellen kaum erreicht. Keiner derEinfälle des Unerschöpflichen dünkte je bloßer Einfall. DasSubjekt, dem leibhaft alle die originären Erfahrungen zuteilwurden, welche die offizielle zeitgenössische Philosophieeinzig formal beredet, schien zugleich keinen Anteil an ihnenzu haben, wie denn seiner Art, zumal der Kunst augenblick-lich-endgültiger Formulierung, das Moment des im her-kömmlichen Sinne Spontanen und Sprudelnden durchausabging. Er wirkte nicht wie einer, der Wahrheit erzeugteoder denkend gewann, sondern, indem er sie durch den Ge-danken zitierte, wie ein höchstes Instrument von Erkennt-nis, auf dem diese ihren Niederschlag hinterließ. Nichts hatteer vom Philosophierenden nach traditionellem Maß. Was erselber zu seinen Funden beitrug, war kaum ein Lebendigesund »Organisches«; gründlich verfehlte ihn das Gleichnisdes Schöpfers. Die Subjektivität seines Denkens war ver-hutzelt zur spezifischen Differenz; das idiosynkratische Mo-ment seines eigenen Geistes, das Singuläre daran, das der

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herkömmlich philosophischen Verfahrungsweise für dasZufällige, Ephemere, ganz Nichtige gelten würde, bewährtesich bei ihm als das Medium des Verbindlichen. Angegossenist ihm der Satz, in der Erkenntnis sei das Individuellste dasAllgemeinste. Wäre nicht im Zeitalter der radikalen Diver-genz von gesellschaftlichem und naturwissenschaftlichemBewußtsein jedes physikalische Gleichnis tief suspekt, sokönnte man bei ihm tatsächlich von der Energie intellektu-ellen Atomzerfalls reden. Seiner Insistenz löste das Unauf-lösliche sich auf; dort gerade ward er des Wesens habhaft,wo die Mauer bloßer Tatsächlichkeit alles trugvoll Wesen-hafte unerbittlich verwehrt. Ihn trieb es, formelhaft gespro-chen, dazu, aus einer Logik auszubrechen, welche das Be-sondere mit dem Allgemeinen überspinnt oder das All-gemeine bloß aus dem Besonderen herausabstrahiert. Erwollte das Wesen begreifen, wo es weder in automatischerOperation sichabdestillierennochdubios sich erschauen läßt:es methodisch erraten aus der Konfiguration bedeutungs-ferner Elemente. Das Rebus wird zum Modell seiner Philo-sophie.

Ihrem planvoll Abwegigen jedoch kommt ihre zarte Un-widerstehlichkeit gleich. Sie liegt weder im magischen Effekt,der ihm nicht fremd war, noch in »Objektivität«, als dembloßen Untergang des Subjekts in jenen Konstellationen.Vielmehr rührt sie her von einem Zug, den die Departemen-talisierung des Geistes sonst der Kunst vorbehält, der aber,umgesetzt in Theorie, des Scheins sich entäußert und un-vergleichliche Würde annimmt: dem Versprechen vonGlück. Was Benjamin sagte und schrieb, lautete, als nähmeder Gedanke die Verheißungen der Märchen- und Kinder-bücher, anstatt mit schmachvoller Reife sie von sich zu wei-sen, so buchstäblich, daß die reale Erfüllung selber der Er-kenntnis absehbar wird. Von Grund auf verworfen ist inseiner philosophischen Topographie die Entsagung. Werauf ihn ansprach, dem war es zumute wie einem Kind, dasdurch die Ritze der verschlossenen Tür das Licht des Weih-nachtsbaums gewahrt. Aber das Licht verhieß zugleich, alseines der Vernunft, die Wahrheit selber, nicht deren ohn-mächtigen Abglanz. War Benjamins Denken kein Schaffenaus dem Nichts, so war es dafür Schenken aus dem Vollen;

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alles wollte es wiedergutmachen, was Anpassung und Selbst-erhaltung an der Lust verbietet, in welcher Sinne und Geistsich verschränken. In seinem Aufsatz über Proust hat erGlücksverlangen als das Motiv des wahlverwandten Dich-ters bestimmt, und man geht kaum fehl, wenn man dort denUrsprung einer Passion vermutet, der zwei der vollkommen-sten Übersetzungen der deutschen Sprache - die von >Al'ombre des jeunes filles en fleurs< und von >Le cöte deGuermantes< - zu danken sind. Wie aber bei Proust dasGlücksverlangen seinen Tiefgang gewinnt durch die lastendeSchwere des Desillusionsromans, der in der >Recherche dutemps perdu< tödlich sich vollendet, so wird die Treue zumverweigerten Glück bei Benjamin erkauft mit einer Trauer,von der die Geschichte der Philosophie sonst so wenig Zeug-nis gibt wie von der Utopie des wolkenlosen Tages. Nichtferner ist er mit Kafka verwandt als mit Proust. Daß es un-endlich viel Hoffnung gebe, nur nicht für uns, könnte seinerMetaphysik als Motto dienen, hätte er je sich herbeigelassen,eine solche zu schreiben, und im Zentrum seines theoretischentfaltetesten Werkes, des Barockbuchs, steht nicht umsonstdie Konstruktion der Trauer als der letzten umschlagendenAllegorie, der von Erlösung. Die in den Abgrund der Be-deutungen stürzende Subjektivität »wird zum förmlichenGaranten des Wunders, weil sie die göttliche Aktion selbstankündigt«. In all seinen Phasen hat Benjamin den Unter-gang des Subjekts und die Rettung des Menschen zusam-mengedacht. Das definiert den makrokosmischen Bogen,dessen mikrokosmischen Figuren er nachhing.

Denn das Unterscheidende seiner Philosophie ist ihre Artvon Konkretion. Wie sein Denken in immer erneuten An-sätzen dem klassifikatorischen sich zu entziehen trachtet, soist ihm das Urbild aller Hoffnung der Name der Dinge undMenschen, und ihn sucht seine Besinnung zu rekonstruie-ren. Darin scheint er mit der Gesamttendenz sich zu begeg-nen, die gegenldealismus und Erkenntnistheorie aufbegehrte,nach den »Sachen selbst« anstatt deren gedanklichem Abgußverlangte und in der Phänomenologie und den an diese an-schließenden ontologischen Richtungen ihren schulgerech-ten Ausdruck fand. Aber wie die entscheidenden Differen-zen zwischen den Philosophen allemal in Nuancen sich ver-

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stecken, und wie am unversöhnlichsten zueinander steht,was sich ähnelt, aber aus verschiedenen Zentren gespeist ist,so verhält Benjamin sich zu der heute akzeptierten Ideologiedes Konkreten. Diese durchschaute er als bloße Maske desan sich selbst irregewordenen Begriffs, ebenso wie er denexistential-ontologischen Geschichtsbegriff als bloßes De-stillat verwarf, aus dem der Stoff der historischen Dialektikverdampft. Die kritische Einsicht des späten Nietzsche, daßdie Wahrheit nicht mit dem zeitlos Allgemeinen identischsei, sondern daß einzig das Geschichtliche die Gestalt desAbsoluten abgebe, hat er, ohne sie vielleicht zu kennen, alsKanon seines Verfahrens befolgt. Das Programm ist formu-liert in einer Notiz zum fragmentarischen Hauptwerk, daß»das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eineIdee«. Dabei hat er keineswegs harmlos die Illustration vonBegriffen durch bunte geschichtliche Objekte gemeint, sowie es Simmel hielt, wenn er seine schlichte Metaphysik vonForm und Leben am Henkel, am Schauspieler, an Venedigdartat. Sondern seine desperate Anstrengung, aus dem Ge-fängnis des Kulturkonformismus auszubrechen, galt Kon-stellationen des Geschichtlichen, die nicht auswechselbareBeispiele für Ideen bleiben, jedoch in ihrer Einzigkeit dieIdeen als selber geschichtliche konstituieren.

Das hat ihm den Ruf des Essayisten eingetragen. Bis heutenoch ist sein Nimbus der des raffinierten Literators, wie erselber mit antiquarischer Koketterie es würde genannt haben.Angesichts der hintergründigen Absicht seiner Wendunggegen die ausgeleierte Thematik der Philosophie und ihrenJargon — er pflegte ihn Zuhältersprache zu nennen — fällt esleicht genug, das Cliché des Essayisten als bloßes Miß-verständnis fortzuweisen. Aber die Berufung auf Miß-verständnisse in der Wirkung geistiger Gebilde führt nichtweit. Sie setzt ein Ansichsein des Gehaltes unabhängig vondessen geschichtlichem Schicksal voraus, gar was der Autorsich dabei dachte, und was prinzipiell kaum je auszumachenist, gewiß nicht bei einem so vielschichtigen und gebroche-nen Schriftsteller wie Benjamin. Mißverständnisse sind dasMedium der Kommunikation des Nicht-Kommunikativen.Die Herausforderung, ein Aufsatz über Pariser Passagen ent-halte mehr an Philosophie als Betrachtungen über das Sein

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des Seienden, schlägt genauer in den Sinn von BenjaminsWerk als die Suche nach jenem sich selbst gleichbleibendenBegriffsskelett, das er in die Rumpelkammer verbannte. Imübrigen hat er, indem er die Grenze zwischen dem Literatenund dem Philosophen nicht respektierte, aus der empirischenNot seine intelligible Tugend gemacht. Zu ihrer Schandehaben ihn die Universitäten refüsiert, während der Antiquarin ihm zum Akademischen auf ähnlich ironische Weise sichhingezogen fühlte wie etwa Kafka zum Versicherungswesen.Der perfide Vorwurf des Übergescheiten hat ihn sein Lebenlang verfolgt: ein existentieller Bonze hat es gewagt, ihn als»von Dämonen geschlagen« zu beschimpfen, wie wenn dasLeiden dessen, den der Geist beherrscht und entfremdet, dasmetaphysische Vernichtungsurteil über ihn wäre, bloß weiles die quicklebendige Ich-Du-Beziehung verstört. Dabeischeute er zurück vor aller Gewalttat gegen die Worte;Spitzfindigkeit war ihm bis ins Innerste fremd. In Wahrheiterregte er den Haß, weil sein Blick unwillkürlich, ohne allepolemische Absicht die gewohnte Welt in der Sonnenfinster-nis zeigte, die ihr permanentes Licht ist. Zugleich jedoch er-laubte ihm dafür das Inkommensurable seiner Natur, durchkeine Taktik überwindbar und unfähig zum Gesellschafts-spiel in der Republik der Geister, auf eigene Faust und un-geschützt als Essayist sein Leben sich zu verdienen. Das hatdie Agilität seines Tiefsinns unendlich gefördert. Er lernte,mit lautlosem Kichern die gewaltigen Uransprüche der primaphilosophia ihrer Hohlheit zu überführen. All seine Äuße-rungen sind gleich nah zum Mittelpunkt. Die in der Lite-rarischen Welt und der Frankfurter Zeitung verstreutenAufsätze zeugen kaum weniger für die hartnäckige Inten-tion als die Bücher und die großen Abhandlungen aus derZeitschrift für Sozialforschung. Die Maxime der >Einbahn-straße<, alle entscheidenden Schläge heute würden mit derlinken Hand geführt, hat er selber befolgt, ohne doch darumvon der Wahrheit das Mindeste nachzulassen. Noch die pre-ziösesten literarischen Spielereien fungieren als Etüden zumchef d'œuvre, dessen Genre er zugleich gründlich mißtraute.Der Essay als Form besteht im Vermögen, Geschichtli-ches, Manifestationen des objektiven Geistes, »Kultur« soanzuschauen, als wären sie Natur. Benjamin war dazu fähig

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wie kaum einer. Sein gesamtes Denken ließe als »naturge-schichtlich« sich bezeichnen. Ihn sprachen die versteinerten,erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur, allesan ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte,so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze imHerbarium. Kleine Glaskugeln, die eine Landschaft ent-halten, auf die es schneit, wenn man sie schüttelt, zählten zuseinen Lieblingsutensilien. Das französische Wort für Still-leben, nature morte, könnte über der Pforte zu seinen philo-sophischen Verliesen geschrieben stehen. Der Hegelsche Be-griff der zweiten Natur als der Vergegenständlichung sichselbst entfremdeter menschlicher Verhältnisse, auch dieMarxische Kategorie des Warenfetischismus gewinnt beiBenjamin eine Schlüsselposition. Ihn fesselt es nicht bloß,geronnenes Leben im Versteinten - wie in der Allegorie -zu erwecken, sondern auch Lebendiges so zu betrachten,daß es längst vergangen, »urgeschichtlich« sich präsentiertund jäh die Bedeutung freigibt. Philosophie eignet denWarenfetischismus sich selber zu: alles muß ihr zum Dingsich verzaubern, damit sie das Unwesen der Dinglichkeitentzaubere. So gesättigt ist dies Denken mit Kultur als sei-nem Naturgegenstand, daß es der Verdinglichung sich ver-schwört, anstatt ihr unentwegt zu widersprechen. Das istder Ursprung von Benjamins Neigung, seine geistige Kraftans ganz Entgegengesetzte zu zedieren, wie sie in der Arbeitüber das >Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-duzierbarkeit < den extremen Ausdruck fand. Der Blick sei-ner Philosophie ist medusisch. Besetzt in ihr, zumal ihrerälteren, eingestanden theologischen Phase, der Begriff desMythos die zentrale Stelle als Widerpart zur Versöhnung,dann wird seinem eigenen Denken wiederum alles, und zu-mal das Ephemere, mythisch. Die Kritik der Naturbeherr-schung, welche das letzte Stück der Einbahnstraße program-matisch anmeldet, hebt den ontologischen Dualismus vonMythos und Versöhnung auf: diese ist die des Mythos selber.Im Fortgang solcher Kritik wird der Begriff des Mythos sä-kularisiert. Seine Lehre vom Schicksal als dem Schuldzu-sammenhang des Lebendigen geht über in die vom Schuld-zusammenhang der Gesellschaft: »Solange es noch einenBettler gibt, gibt es noch Mythos.« So wendet sich Benja-

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mins Philosophie, die einmal, etwa in der >Kritik der Ge-walt <, die Wesenheiten unmittelbar beschwören wollte, im-mer entschiedener zur Dialektik. Diese wuchs nicht eineman sich statischen Denken von außen oder durch bloße Ent-wicklung zu, sondern war vorgebildet in dem Quid pro quodes Starrsten und des Beweglichsten, das in all seinen Pha-sen wiederkehrt. Immer deutlicher trat die Konzeption vonder »Dialektik im Stillstand« in den Vordergrund.

Die Versöhnung des Mythos ist das Thema von Benja-mins Philosophie. Aber es bekennt sich, wie in guten musi-kalischen Variationen, kaum je kahl ein, sondern hält sichverborgen und schiebt die Last seiner Legitimation der jüdi-schen Mystik zu, von der er in der Jugend durch seinenFreund Gerhard Scholem, den bedeutenden Kabbalafor-scher, erfuhr. Es steht dahin, wie weit er in der Tat auf jeneneuplatonischen und antinomistisch-messianischen Überlie-ferungen sich stützte. Manches spricht dafür, daß er, derkaum je mit aufgedeckten Karten spielte, aus eingewurzelterOpposition gegen amateurhaftes Drauflosdenken und »frei-schwebende« Intelligenz die unter Mystikern beliebte Tech-nik der Pseudo-Epigraphie auch seinerseits benutzte - frei-lich ohne mit den Texten herauszurücken —, um damit dieWahrheit zu überlisten, von der er argwöhnte, sie sei derautonomen Besinnung unzugänglich. Auf jeden Fall hat eran der Kabbala seinen Begriff des heiligen Textes orientiert.Philosophie bestand ihm wesentlich aus Kommentar undKritik, und der Sprache, als der Kristallisation des »Na-mens«, schrieb er höheres Recht zu als das des Bedeutungs-und selbst Ausdrucksträgers. Die Beziehung von Philoso-phie auf je kodifiziert vorliegende Lehrmeinungen ist ihrergroßen Tradition weniger fremd, als Benjamin glaubenmochte. Zentrale Schriften oder Partien von Aristoteles undLeibniz, von Kant und Hegel sind »Kritiken« nicht nur im-plizit, als Arbeit an aufgeworfenen Problemen, sondern alsspezifische Auseinandersetzungen. Erst als die zur Branchezusammengeschlossenen Philosophen des eigenen Denkenssich entwöhnten, glaubte ein jeder dadurch sich decken zumüssen, daß er vor Erschaffung der Welt anfing oder wo-möglich diese in eigene Regie nahm. Demgegenüber hatBenjamin den entschlossenen Alexandrinismus vertreten und

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damit alle wurzelwütigen Affekte gegen sich aufgebracht.Die Idee des heiligen Textes transponierte er in eine Auf-klärung, in die umzuschlagen nach Scholems Aufweis diejüdische Mystik selber sich anschickte. Sein Essayismus istdie Behandlung profaner Texte, als wären es heilige. Keines-wegs hat er an theologische Relikte sich geklammert oder,wie die religiösen Sozialisten, die Profanität auf einen tran-szendenten Sinn bezogen. Vielmehr erwartete er einzig vonder radikalen, schutzlosen Profanisierung die Chance fürstheologische Erbe, das in jener sich verschwendet. DerSchlüssel zu den Rätselbildern ist verloren. Sie sollen, wiees in dem barocken Gedicht von der Melancholie heißt,»selber reden«. Das Verfahren ähnelt der Blague ThorsteinVeblens, er studiere fremde Sprachen, indem er jedes Wortso lange anstarre, bis er wisse, was es heiße. Unverkennbardie Analogie zu Kafka. Aber er unterscheidet sich von demälteren Prager, dem noch in der äußersten Negativität einLändliches, episch Traditionales innewohnt, sowohl durchdas weit prononciertere Element von Urbanität als Wider-spiel zum Archaischen, wie dadurch, daß sein Denken, kraftdes aufklärerischen Zuges, gegen die dämonische Regres-sion unendlich viel gefeiter sich zeigt als Kafka, dem deusabsconditus und Teufel sich verwirrten. Vorbehaltlos, ohneMentalreservat konnte Benjamin in seiner reifen Zeit gesell-schaftlich-kritischen Einsichten sich überlassen und hat dochvon seinen Impulsen keinen sich verboten. Die Kraft derAuslegung hat sich umgesetzt in die, Äußerungen der bür-gerlichen Kultur als Hieroglyphen ihres finsteren Geheim-nisses zu durchschauen: als Ideologien. Gelegentlich hat ervon dem »materialistischen Giftstoff« gesprochen, den erseinem Denken beimischen müsse, damit es überlebe. Zuden Illusionen, deren er sich entschlug, um nicht entsagenzu müssen, gehörte auch die von der monadologischen, insich ruhenden Gestalt der eigenen Reflexion, die er uner-müdlich, unbekümmert um den Schmerz der Entäußerung,an der zwangvollen Tendenz des Kollektivs maß. Aber erhat das fremde Element so ganz der eigenen Erfahrung as-similiert, daß es dieser zum Guten anschlug.

Asketische Gegenkräfte hielten denen des an jedem Ge-genstand sich erneuenden Einfalls die Waage. Das hat Ben-

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jamin zur Philosophie wider die Philosophie verholfen. Nichtübel ließe sie sich darstellen an den Kategorien, die in ihrnicht vorkommen. Von ihnen vermittelt eine Vorstellungdie Idiosynkrasie gegen Worte wie Persönlichkeit. Sein Den-ken sträubt sich von Anbeginn gegen die Lüge, Mensch undMenschengeist gründeten in sich selbst, und in ihnen ent-spränge ein Absolutes. Das Schneidende dieser Reaktions-weise läßt sich nicht verwechseln mit den neureligiösen Be-wegungen, welche den Menschen in der Reflexion nochmalszu jener Kreatur machen wollen, zu der ihn die vollendetegesellschaftliche Abhängigkeit ohnehin degradiert. Er zieltnicht gegen den angeblich aufgeblähten Subjektivismus son-dern gegen den Begriff des Subjektiven selber. Zwischenden Polen seiner Philosophie, Mythos und Versöhnung, zer-geht das Subjekt. Dem medusischen Blick verwandelt derMensch weithin sich zum Schauplatz objektiven Vollzugs.Darum verbreitet Benjamins Philosophie Schrecken kaumweniger, als sie Glück verspricht. Wie im Umkreis des My-thos anstelle von Subjektivität Vielfalt und Vieldeutigkeitherrscht, so ist die Eindeutigkeit der Versöhnung — nachdem Modell des »Namens« vorgestellt — das Widerspielmenschlicher Autonomie. Diese wird, beim tragischen Hel-den etwa, zum dialektischen Durchgangsmoment herabge-setzt, und die Versöhnung des Menschen mit der Schöpfunghat die Auflösung alles selbstgesetzten Menschenwesens zurBedingung. Einer mündlichen Äußerung zufolge erkannteBenjamin das Selbst nur als mystisches, nicht als metaphy-sisch-erkenntniskritisches, als »Substantialität« an. Inner-lichkeit ist ihm nicht bloß die Heimstätte von Dumpfheitund trüber Selbstgenügsamkeit sondern auch das Phantasma,welches das mögliche Bild des Menschen verstellt: überallkontrastiert er ihr das leibhaft Auswendige. So wird mandenn nach Begriffen nicht nur wie Autonomie, sondern auchwie Totalität, Leben, System, die alle dem Bannkreis dersubjektiven Metaphysik angehören, vergebens bei ihm su-chen. Was er an dem sonst von ihm gänzlich verschiedenenKarl Kraus zu dessen Mißvergnügen feierte, ist ein eigenerZug Benjamins: Unmenschlichkeit gegen den Trug des All-menschlichen. Die von ihm außer Kurs gesetzten Kate-gorien sind aber zugleich die eigentlich gesellschaftlich-

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ideologischen. Je und je wirft in ihnen der Herr sich als Gottauf. Der Kritiker der Gewalt ruft die subjektive Einheitgleichsam ins mythische Gewimmel zurück, um sie selbernoch als bloßes Naturverhältnis zu begreifen; der an derKabbala ausgerichtete Sprachphilosoph betrachtet sie alsGekritzel für den Namen. Das verbindet seine materialisti-sche Phase der theologischen. Seine Anschauung von Mo-derne als Archaik bewahrt nicht Spuren eines vorgeblichalten Wahren auf, sondern meint den realen Ausbruch ausder Traumbefangenheit der bürgerlichen Immanenz. Er läßtes nicht sowohl sich angelegen sein, die Totalität der bürger-lichen Gesellschaft nachzukonstruieren, als vielmehr sie alsVerblendetes, Naturhaftes, Diffuses unter die Lupe zu neh-men. Den Gedanken der universalen Vermittlung, der beiHegel wie bei Marx die Totalität stiftet, hat dabei seine mi-krologische und fragmentarische Methode nie ganz sich zu-geeignet. Unbeirrt stand er zu seinem Grundsatz, die kleinsteZelle angeschauter Wirklichkeit wiege den Rest der ganzenWelt auf. Ihm hieß, Phänomene materialistisch interpretie-ren, weniger sie aus dem gesellschaftlichen Ganzen erklären,als sie unmittelbar, in ihrer Vereinzelung, auf materielle Ten-denzen und soziale Kämpfe beziehen. So gedachte er derEntfremdung und Vergegenständlichung zu entgehen, in derdie Betrachtung des Kapitalismus als System diesem sich an-zugleichen droht. Motive des frühen Hegel, den er kaumkannte, treten hervor: auch im dialektischen Materialismushat er verspürt, was jener »Positivität« nannte, und auf seineWeise ihr opponiert. In der Tuchfühlung mit dem stofflichNahen, der Affinität zu dem was ist, war seinem Denken,bei aller Fremdheit und Schärfe, stets ein eigentümlich Be-wußtloses, wenn man will Naives gesellt. Solche Naivetätließ ihn zuweilen mit machtpolitischen Tendenzen sym-pathisieren, welche, wie er wohl wußte, seine eigene Sub-stanz, unreglementierte geistige Erfahrung, liquidiert hätten.Aber auch ihnen gegenüber hat er verschmitzt eine ausle-gende Haltung eingenommen, als wäre, wenn man nur denobjektiven Geist deutet, gleichzeitig ihm Genüge getan undsein Grauen als begriffenes gebannt. Eher war er bereit, derHeteronomie spekulative Theorien beizustellen als auf Spe-kulation zu verzichten.

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Politik und Metaphysik, Theologie und Materialismus,Mythos und Moderne, intentionsloser Stoff und extravaganteSpekulation - alle Straßen von Benjamins Stadtschaft kon-vergierten in dem Plan des Buchs über Paris als in ihrerEtoile. Aber es wäre ihm nicht beigekommen, etwa an demihm gleichsam apriorisch zubestimmten Gegenstand seinePhilosophie zusammenfassend darzustellen. Wie die Kon-zeption vom konkreten Anstoß ausgelöst ward, so bewahrtesie sich durch all die Jahre hindurch die monographischeForm. Ein in der Neuen Rundschau erschienener Aufsatz>Traumkitsch< beschäftigte sich mit dem schockhaften Auf-blitzen obsoleter Elemente des neunzehnten Jahrhundertsim Surrealismus. Die stoffliche Einsatzstelle bot ein Maga-zinaufsatz über Pariser Passagen, den er und Franz Hesselprojektierten. Am Titel Passagenarbeit hielt er fest, nach-dem längst ein Entwurf zusammengeschossen war, der mitextremen physiognomischen Zügen des neunzehnten Jahr-hunderts ähnlich verfahren sollte wie das Trauerspielbuchmit denen des Barock. Aus ihnen dachte er die Idee derEpoche zu konstruieren im Sinne einer Urgeschichte vonModerne. Diese sollte nicht etwa archaische Rudimente imJüngstvergangenen entdecken, sondern das je Neueste sel-ber als Figur des Ältesten bestimmen: »Der Form des neuenProduktionsmittels, die im Anfang noch von der des altenbeherrscht wird . . ., entsprechen im KollektivbewußtseinBilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt.Diese Bilder sind Wunschbilder, und in ihnen sucht dasKollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produktssowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsord-nung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt indiesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor,sich gegen das Veraltete - das heißt aber: gegen das Jüngst-vergangene - abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bild-phantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an dasUrvergangene zurück. In dem Traum, in dem jeder Epochedie ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint dieletztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißteiner klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welcheim Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugenin Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend

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Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten biszu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen.« SolcheBilder indessen galten Benjamin für mehr als für Archetypendes kollektiven Unbewußten wie bei Jung: er verstand unterihnen objektive Kristallisationen der geschichtlichen Bewe-gung und belegte sie mit dem Namen dialektische Bilder.Eine grandios improvisierte Theorie des Spielers erstelltederen Modell: sie sollten geschichtsphilosophisch die Phan-tasmagorie des neunzehnten Jahrhunderts als Figur derHölle enträtseln. Jene ursprüngliche Schicht der Passagen-arbeit, etwa von 1928, wurde dann von einer zweiten mate-rialistischen überlagert: sei es, daß die Bestimmung desneunzehnten Jahrhunderts als Hölle angesichts des herein-brechenden Dritten Reichs unhaltbar ward, sei es, daß derGedanke an die Hölle in eine gänzlich veränderte politischeRichtung drängte, als Benjamin von der strategischen Rolleder Haussmannschen Boulevarddurchbrüche Rechenschaftsich ablegte, und vor allem, als er auf eine verschollene, imGefängnis entstandene Schrift von Auguste Blanqui, >L'eter-nite par les astres<, stieß, welche mit dem Akzent absoluterVerzweiflung Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehrvorwegnimmt. Die zweite Phase des Passagenplans ist doku-mentiert in dem 1935 geschriebenen Memorandum >Paris,die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts<. Es bezieht jeweilsSchlüsselgestalten der Epoche auf Kategorien der Bilder-welt. Von Fourier und Daguerre, von Grandville und LouisPhilippe, von Baudelaire und Haussmann sollte gehandeltwerden, aber es ging um Themen wie Mode und nou-veaute, Ausstellungswesen und Gußeisenkonstruktion, denSammler, den Flaneur, die Prostitution. Von dem mitäußerster Erregung besetzten Bereich der Interpretationmag etwa eine Stelle über Grandville zeugen: »Die Welt-ausstellungen bauen das Universum der Waren auf. Grand-villes Phantasien übertragen den Warencharakter aufs Uni-versum. Sie modernisieren es. Der Saturnring wird ein guß-eiserner Balkon, auf dem die Saturnbewohner abends Luftschöpfen . . . - Die Mode schreibt das Ritual vor, nach demder Fetisch verehrt sein will, Grandville dehnt ihren An-spruch auf die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs sogut wie auf den Kosmos aus. Indem er sie in ihren Extremen

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verfolgt, deckt er ihre Natur auf. Sie steht im Widerstreitmit dem Organischen. Sie verkuppelt den lebendigen Leibder anorganischen Welt. An dem Lebenden nimmt sie dieRechte der Leiche wahr. Der Fetischismus, der dem sexappeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv.Der Kultus der Ware stellt ihn in seinen Dienst.« Überle-gungen solchen Stils führten in das geplante Baudelaire-kapitel. Benjamin zweigte es von dem großen Entwurf ab,um ein kürzeres dreiteiliges Buch daraus zu machen; eingroßes Stück erschien 1939-40 in der Zeitschrift für Sozial-forschung als Aufsatz >Über einige Motive bei Baudelaire<.Er zählt zu den wenigen Texten, die er aus dem Passagen-komplex unter Dach und Fach brachte. Ein zweiter sind dieThesen >Über den Begriff der Geschichte<, welche gleich-sam die erkenntnistheoretischen Erwägungen zusammen-fassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs beglei-tet hat. Von diesem liegen Tausende von Seiten vor, Mate-rialstudien, die während der Okkupation in Paris verstecktwaren. Das Ganze jedoch läßt sich kaum rekonstruieren.Benjamins Absicht war es, auf alle offenbare Auslegung zuverzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafteMontage des Materials hervortreten zu lassen. Philosophiesollte nicht bloß den Surrealismus einholen, sondern selbersurrealistisch werden. Den Satz aus der Einbahnstraße, Zi-tate aus seinen Arbeiten seien wie Räuber am Wege, die her-vorbrechen und dem Leser seine Überzeugungen abnehmen,faßte er wörtlich auf. Zur Krönung seines Antisubjektivis-mus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen. Nurspärlich finden sich Interpretationen notiert, die nicht imBaudelaire und den geschichtsphilosophischen Thesen auf-gegangen wären, und kein Kanon besagt, wie das verwe-gene Unterfangen einer vom Argument gereinigten Philo-sophie etwa sich realisieren ließe, auch nur, wie die Zitateeinigermaßen sinnvoll aneinanderzureihen wären. Die frag-mentarische Philosophie blieb Fragment, Opfer vielleichteiner Methode, von der nicht entschieden ist, ob sie im Me-dium des Gedankens überhaupt sich einlösen läßt.

Die Methode aber kann vom Gehalt nicht getrennt wer-den. Benjamins Ideal von Erkenntnis beschied sich nicht beider Reproduktion dessen, was ohnehin ist. In der Ein-

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schränkung des Umkreises möglicher Erkenntnis, dem Stolzder neueren Philosophie auf illusionslose Reife, witterte erdie Sabotage am Glücksanspruch, die bloße Bekräftigungdes endlos Gleichen: den Mythos selber. Gepaart aber istdas utopische Motiv mit dem antiromantischen. Unverführtblieb er von allen dem Scheine nach verwandten Versuchen- etwa dem Schelerschen -, aus natürlicher Vernunft Trans-zendenz zu ergreifen, als wäre der grenzensetzende Prozeßder Aufklärung widerruf bar, und es ließe auf vergangenetheologisch überwölbte Philosophien unbekümmert sich re-kurrieren. Darum verwehrt sein Denken seinem Ansatz nachsich selbst das »Gelingen« bruchloser Einstimmigkeit undmacht das Fragmentarische zum Prinzip. Um zustande zubringen, was ihm vorschwebte, wählte er die vollkommeneExterritorialität zur manifesten Überlieferung der Philoso-phie. Trotz aller Bildung gehen die Elemente ihrer appro-bierten Geschichte nur versprengt, unterirdisch, quer insein Labyrinth ein. Das Inkommensurable beruht auf einemunmäßigen sich Überlassen an den Gegenstand. Indem derGedanke gleichsam zu nah an die Sache herantritt, wirddiese fremd wie jegliches Alltägliche unterm Mikroskop.Wollte man ihn, um der Absenz von System und geschlos-senem Begründungszusammenhang willen, unter die Re-präsentanten von Intuition oder Schau einreihen — und soist er oft selbst von Freunden mißverstanden worden —,dann vergäße man das Beste. Nicht der Blick als solcher be-ansprucht unvermittelt das Absolute, aber die Weise desBlickens, die gesamte Optik ist verändert. Die Technik derVergrößerung läßt das Erstarrte sich bewegen und das Be-wegte innehalten. Seine Vorliebe für minimale oder schä-bige Objekte wie Staub und Plüsch in der Passagenarbeitsteht komplementär zu jener Technik, die von all dem an-gezogen wird, was durch die Maschen des konventionellenBegriffnetzes hindurchschlüpfte oder vom herrschendenGeist zu sehr verachtet ist, als daß er andere Spuren daranhinterlassen hätte als die des hastigen Urteils. Wie Hegelhofft der Dialektiker der Phantasie, die er als »Extrapola-tion im Kleinsten« definierte, die »Sache, wie sie an und fürsich selber ist, zu betrachten«, also ohne Anerkennung derunauf hebbaren Schwelle zwischen Bewußtsein und Ding an

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sich. Aber die Distanz solcher Betrachtung ist verrückt.Weil nicht sowohl, wie bei Hegel, Subjekt und Objekt alsschließlich identisch entwickelt werden, sondern vielmehrdie subjektive Intention als im Gegenstand erlöschende vor-gestellt ist, gibt dies Denken mit Intentionen nicht sich zu-frieden. Der Gedanke rückt der Sache auf den Leib, alswollte er in Tasten, Riechen, Schmecken sich verwandeln.Kraft solcher zweiten Sinnlichkeit hofft er, in die Goldaderneinzudringen, die kein klassifikatorisches Verfahren erreicht,ohne doch darüber dem Zufall der blinden Anschauung sichzu überantworten. Die Herabsetzung der Distanz zum Ge-genstand stiftet zugleich die Beziehung auf mögliche Praxis,die später dann Benjamins Denken leitet. Was die Erfah-rung im dejä vu unerhellt und ohne Objektivität vorfindet,was Proust für die dichterische Rekonstruktion durch un-willkürliche Erinnerung sich versprach, wollte Benjamineinholen und zur Wahrheit erheben durch den Begriff. Die-sen verpflichtet er, in jedem Augenblick selber zu leisten,was sonst dem begrifflosen Erfahren vorbehalten wird. DerGedanke soll die Dichte der Erfahrung gewinnen und dochauf nichts von seiner Strenge verzichten.

Die Utopie der Erkenntnis aber hat die Utopie zum In-halt. Benjamin nannte sie die »Unwirklichkeit der Verzweif-lung«. Philosophie verdichtet sich zur Erfahrung, daß ihrdie Hoffnung zuteil werde. Diese jedoch erscheint einzig alsgebrochene. Wenn Benjamin die Überbelichtung der Ge-genstände veranstaltet um der verborgenen Konturen wil-len, die einmal im Stande der Versöhnung an ihnen offenbarwerden sollen, dann tritt zugleich der Abgrund zwischendiesem und dem Dasein schroff hervor. Der Preis für dieHoffnung ist das Leben: »messianisch ist die Natur aus ihrerewigen und totalen Vergängnis« und Glück, nach einemalles einsetzenden Fragment der Spätzeit, deren »eigenerRhythmus«. Darum ist die Mitte von Benjamins Philosophiedie Idee der Rettung des Toten als der Restitution des ent-stellten Lebens durch die Vollendung seiner eigenen Ver-dinglichung bis hinab ins Anorganische. »Nur um der Hoff-nungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«, schließtdie Abhandlung über die Wahlverwandtschaften, Im Para-doxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm ein

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letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefun-den. Er hat des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu ver-raten und sich zum Komplizen dessen zu machen, worinstets die Philosophen sich einig waren: daß es nicht seinsoll.Der Charakter des Rätsel- und Vexierbildes, den er selbstden Aphorismen der Einbahnstraße verlieh und der allesmarkiert, was er überhaupt schrieb, hat in jener Paradoxieseinen Grund. Sie mit den einzigen Mitteln, über welchePhilosophie verfügt, den Begriffen, doch noch auseinander-zulegen, ist das Eine, um dessentwillen er ins Mannigfaltigerückhaltlos sich versenkte.

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Aufzeichnungen zu Kafka

Für Gretel

Si Dieu le Père a créé les chosesen les nommant, c'est en leurôtant leur nom, ou en leur don-nant un autre que l'artiste lesrecrée. Marcel Proust

Die Beliebtheit Kafkas, das Behagen am Unbehaglichen, dasihn zum Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heu-tigen Situation des Menschen erniedrigt und mit quickemBescheidwissen eben den Skandal wegräumt, auf den dasWerk angelegt ist, weckt Widerwillen dagegen, mitzutunund den kurrenten Meinungen eine sei's auch abweichendeanzureihen. Aber gerade der falsche Ruhm, die fatale Va-riante des Vergessens, das Kafka bitter ernst sich gewünschthätte, zwingt zur Insistenz vor dem Rätsel. Weniges vondem, was über ihn geschrieben ward, zählt; das meiste istExistentialismus. Er wird eingeordnet in eine etablierteDenkrichtung, anstatt daß man bei dem beharrte, was dieEinordnung erschwert und eben darum die Deutung er-heischt. Als ob es der Sisyphusarbeit Kafkas bedurft hätte,als ob es die Maelstrom-Gewalt seines Werkes erklärte, wenner nichts anderes sagte, als daß dem Menschen das Heil ver-loren, der Weg zum Absoluten verstellt, daß sein Lebendunkel, verworren oder, wie man das heute so nennt, insNichts gehalten sei, und daß ihm nichts bleibe, als beschei-den und ohne viel Hoffnung die nächsten Pflichten zu be-sorgen und einer Gemeinschaft sich einzufügen, die genaudies erwartet und die Kafka nicht hätte vor den Kopf zustoßen brauchen, wenn er darin mit ihr eines Sinnes ge-wesen wäre. Werden Deutungen dieses Typus damit erläu-tert, daß Kafka mit so dürren Worten es freilich nicht aus-gesprochen, sondern als Künstler der Realsymbolik sich be-fleißigt habe, so meldet das zwar das Ungenügen an den

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Formeln an, aber nicht viel mehr. Denn eine Darstellung istentweder realistisch oder symbolisch; gleichgültig wie dichtgefügt die Symbole auch sein mögen, ihr Eigengewicht anRealität tut dem Symbolcharakter keinen Abtrag. Goethes>Pandora< steht gewiß an sinnlicher Gestaltung nicht hintereinem Roman von Kafka zurück, und trotzdem kann an derSymbolik des Fragments kein Zweifel sein, mag auch dieKraft der Symbole darin, etwa der Elpore, welche Hoffnungverkörpert, weiter reichen als das unmittelbar Vermeinte.Wenn der Symbolbegriff in der Ästhetik, mit dem es über-haupt nicht recht geheuer ist, irgend etwas Triftiges besagensoll, so einzig, daß die einzelnen Momente des Kunstwerksaus der Kraft ihres Zusammenhangs über sich hinaus weisen:daß ihre Totalität bruchlos übergehe in einen Sinn. Nichtsaber paßt schlechter auf Kafka. Selbst in Gebilden wie jenemGoetheschen, das mit allegorischen Momenten so tiefsinnigspielt, geben doch diese, vermöge des Zusammenhangs, indem sie stehen, ihre Bedeutung ab an den Schwung desGanzen. Bei Kafka aber ist alles so hart, bestimmt, abge-setzt wie möglich; wie in Abenteuerromanen, nach jenerMaxime, die James Fenimore Cooper dem >Roten Frei-beuter < voranstellte: »Das wahre Goldene Zeitalter der Li-teratur kann nicht erscheinen, bis die Werke in ihrem Druckgenau sind wie ein Schiffsbuch — in ihrem Inhalt körnig wieein Wachtrapport.« Nirgends verdämmert bei Kafka dieAura der unendlichen Idee, nirgends öffnet sich der Hori-zont. Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Bei-des ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, son-dern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischenblendet der grelle Strahl der Faszination. Kafkas Prosa hältes, trotz dem Protest seines Freundes, auch darin mit denVerfemten, daß sie eher der Allegorie nacheifert als demSymbol. Benjamin hat sie mit Grund als Parabel definiert.Sie drückt sich nicht aus durch den Ausdruck sondern durchdessen Verweigerung, durch ein Abbrechen. Es ist eine Pa-rabolik, zu der der Schlüssel entwendet ward; selbst der,welcher eben dies zum Schlüssel zu machen suchte, würdein die Irre geführt, indem er die abstrakte These von KafkasWerk, die Dunkelheit des Daseins, mit seinem Gehalt ver-wechselte. Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will

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es dulden. Jeder erzwingt mit der Reaktion »So ist es« dieFrage: woher kenne ich das; das déjà vu wird in Permanenzerklärt. Durch die Gewalt, mit der Kafka Deutung gebietet,zieht er die ästhetische Distanz ein. Er mutet dem angeblichinteresselosen Betrachter von einst verzweifelte Anstren-gung zu, springt ihn an und suggeriert ihm, daß weit mehrals sein geistiges Gleichgewicht davon abhänge, ob er rich-tig versteht, Leben oder Tod. Unter den VoraussetzungenKafkas ist nicht die geringfügigste, daß das kontemplativeVerhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist.Seine Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnenund ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sonderndaß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß,das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publi-kum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik. Solcheaggressive physische Nähe unterbindet die Gewohnheit desLesers, mit Figuren der Romane sich zu identifizieren. Umjenes Prinzips willen kann der Surrealismus mit Recht ihnfür sich in Anspruch nehmen. Er ist die Schrift gewordeneTurandot. Wer es merkt und nicht vorzieht fortzulaufen,muß seinen Kopf hinhalten oder vielmehr versuchen, mitdem Kopf die Wand einzurennen, auf die Gefahr hin, daß esihm nicht besser ergeht als den Vorgängern. Anstatt abzu-schrecken, steigert ihr Los, wie im Märchen, den Anreiz.Solange das Wort nicht gefunden ist, bleibt der Leserschuldig.

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Mehr als leicht für einen anderen gilt für Kafka, daß zwarnicht verum, wohl aber falsum index sui sei. Zur Verbrei-tung des Falschen jedoch hat er selbst einiges beigetragen.Den beiden großen Romanen >Schloß< und >Prozeß< schei-nen, wenn schon nicht im Detail, so jedenfalls im großenPhilosopheme auf die Stirn geschrieben, die trotz ihres ge-danklichen Gewichts den Titel Betrachtungen über Sünde,Leid, Hoffnung und den wahren Weg< keineswegs Lügenstrafen, den man einem theoretischen Konvolut Kafkas ver-liehen hat. Immerhin ist dessen Inhalt nicht kanonisch für

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die Dichtung. Der Künstler ist nicht gehalten, das eigeneWerk zu verstehen, und man hat besonderen Grund zumZweifel, ob Kafka es vermochte. Jedenfalls reichen seineAphorismen kaum an die enigmatischsten Stücke und Epi-soden heran, wie die >Sorge des Hausvaters < oder den >Kü-belreiter<. Kafkas Gebilde hüteten sich vor dem mörde-rischen Künstlerirrtum, die Philosophie, die der Autor insGebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt. Wäre siees, das Werk wäre totgeboren: es erschöpfte sich in dem,was es sagt, und entfaltete sich nicht in der Zeit. Vorm Kurz-schluß auf die allzu frühe, vom Werk schon gemeinte Be-deutung vermöchte als erste Regel zu schützen: alles wört-lich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken.Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zumBuchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmalhelfen. In einer Dichtung, die unablässig sich verdunkeltund zurücknimmt, wiegt jede bestimmte Aussage die Gene-ralklausel der Unbestimmtheit auf. Kafka hat diese Regel zusabotieren gesucht, indem er an einer Stelle verkünden läßt,die Mitteilungen aus dem Schloß wären nicht »wortwörtlich«zu nehmen. Gleichviel, will man nicht jeden Boden unterden Füßen verlieren, so muß man festhalten, daß am An-fang des Prozesses steht, jemand müsse Josef K. verleum-det haben, »denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurdeer eines Morgens verhaftet«. Man darf auch nicht in denWind schlagen, daß K. am Anfang des Schlosses fragt: »Inwelches Schloß habe ich mich verirrt? Ist denn hier einSchloß?«, also unmöglich berufen sein kann. Auch ist ihmnichts von jenem Grafen West-west bekannt, dessen Namenur einmal genannt, dessen allmählich weniger und dann garnicht mehr gedacht wird, so wie, nach einer Parabel Kafkas,Prometheus eins wird mit dem Felsen, an den er geschmiedetist, und dann vergessen. Das Prinzip der Wörtlichkeit, wohlErinnerung an die Thora-Exegese der jüdischen Tradition,findet aber seine Stütze an manchen Kaf kaschen Texten. Zu-weilen lösen die Worte, insbesondere Metaphern, sich losund gewinnen eigene Existenz. »Wie ein Hund« stirbt JosefK., und Kafka teilt die Forschungen eines Hundes mit. Ge-legentlich wird die Wörtlichkeit bis zum Assoziationswitzgetrieben. So in der Geschichte der Familie des Barnabas im

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Schloß, wo von dem Beamten Sortini gesagt ist, er sei wäh-rend des Festes des Feuerwehrvereins »bei der Spritze« ge-blieben. Die hemdsärmelige Redensart für die Pflichttreuewird ernst genommen, die Respektsperson bleibt bei derFeuerspritze, und zugleich wird wie in Fehlleistungen aufdie grobe Begierde angespielt, die den Beamten den ver-hängnisvollen Brief an Amalia schreiben läßt - Kafka, Ver-ächter der Psychologie, ist überreich an psychologischenEinsichten, gleich der von der Beziehung zwischen trieb-haftem und Zwangscharakter. - Das Prinzip der Wörtlich-keit, ohne dessen Maß das Vieldeutige ins Gleichgültige zer-fließen müßte, verbietet den geläufigsten Versuch, in derAuffassung Kafkas den Anspruch auf Tiefe mit Unverbind-lichkeit zu vereinen. Mit Recht hat Cocteau darauf aufmerk-sam gemacht, daß die Einführung von Befremdendem alsTraum stets den Stachel entfernt. Kafka selber hat zur Ver-hinderung solchen Mißbrauchs den Prozeß an einer ent-scheidenden Stelle durch einen Traum unterbrochen — daswahrhaft ungeheure Stück publizierte er im >Landarzt< —und durch den Kontrast dieses Traums alles andere alsWirklichkeit bekräftigt, wäre es auch jene aus den Träumengeschöpfte, an welche zuweilen in >Schloß< und >Amerika<so qualvoll ausgesponnene Partien gemahnen, daß der Leserfürchten muß, nicht wieder auftauchen zu können. Unterden Schockmomenten ist nicht das schwächste, daß er dieTräume ä la lettre nimmt. Weil alles ausgeschieden ist, wasnicht dem Traum und seiner prälogischen Logik gliche, istder Traum selber ausgeschieden. Nicht das Ungeheuerlicheschockiert, sondern dessen Selbstverständlichkeit. Kaumhat der Landvermesser aus seinem Zimmer im Wirtshausdie lästigen Gehilfen vertrieben, so kommen sie durchs Fen-ster wieder herein, ohne daß der Roman, über die bloße Mit-teilung hinaus, sich auch nur mit einem Wort darüber auf-hielte ; der Held ist zu müde, um sie nochmals zu vertreiben.So aber wie Kafka zu dem Traum sich verhält, soll der Le-ser zu Kafka sich verhalten. Nämlich auf den inkommen-surablen, undurchsichtigen Details, den blinden Stellen be-harren. Daß Lenis Finger durch eine Schwimmhaut verbun-den sind oder daß die Exekutoren wie Tenöre aussehen, istwichtiger als die Exkurse übers Gesetz. Das betrifft zugleich

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Darstellungsweise und Sprache. Oft setzen Gesten Kontra-punkte zu den Worten: das Vorsprachliche, den IntentionenEntzogene fährt der Vieldeutigkeit in die Parade, die wieeine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat.»>Den Brief<, begann K., >habe ich gelesen. Kennst du denInhalt?< >Nein<, sagte Barnabas, sein Blick schien mehr zusagen als seine Worte. Vielleicht täuschte sich K. hier imGuten, wie bei den Bauern im Bösen, aber das Wohltuendeseiner Gegenwart blieb.« Oder: »>Nun<, sagte sie versöhn-lich, >es war Grund zum Lachen. Sie fragten, ob ich Klammkenne, und ich bin doch< - hier richtete sie sich unwillkür-lich ein wenig auf, und wieder ging ihr sieghafter, mit dem,was gesprochen wurde, gar nicht zusammenhängender Blicküber K. hin - >ich bin doch seine Geliebte. <« Oder, in derSzene der Trennung Friedas vom Landvermesser: »Friedahatte ihren Kopf an K.s Schulter gelegt, die Arme umeinan-der geschlungen, gingen sie schweigend auf und ab. > Wärenwir doch<, sagte dann Frieda langsam, ruhig, fast behaglich,so als wisse sie, daß ihr nur eine ganz kleine Frist der Ruhean K.s Schulter gewährt sei, diese aber wolle sie bis zumletzten genießen, >wären wir doch gleich noch in jenerNacht ausgewandert, wir könnten irgendwo in Sicherheitsein, immer beisammen, deine Hand immer nahe genug, siezu fassen; wie brauche ich deine Nähe, wie bin ich, seitdemich dich kenne, ohne deine Nähe verlassen, deine Nähe ist,glaube mir, der einzige Traum, den ich träume, keinen an-dern.<« Solche Gesten sind die Spuren der Erfahrungen,die vom Bedeuten zugedeckt werden. Der jüngste Standeiner Sprache, die denen im Munde quillt, die sie sprechen;die zweite babylonische Verwirrung, der ohnehin Kafkasernüchterte Diktion ohne zu ermüden widersteht, nötigtihn dazu, das geschichtliche Verhältnis von Begriff und Ge-stus spiegelbildlich umzukehren. Der Gestus ist das »So istes«; die Sprache, deren Konfiguration die Wahrheit seinsoll, als zerbrochene die Unwahrheit. »>Auch sollten Sieüberhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, wasSie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sie nur einpaar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen kön-nen, außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges.<«Den in den Gesten sedimentierten Erfahrungen wird einmal

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die Deutung folgen, in ihrer Mimesis ein vom gesundenMenschenverstand verdrängtes Allgemeines wiedererken-nen müssen. »Durch das offene Fenster erblickte man wiederdie alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zudem gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auchweiterhin alles zu sehen«, heißt es in der Verhaftungsszeneam Anfang des Prozesses. Wer hätte nicht schon, in einerPension, auf die gleiche, genau die gleiche Weise von Nach-barn sich beobachtet gefühlt, und wem wäre nicht daransamt allem Abstoßenden, Altgewohnten, Unverständlichenund Unvermeidlichen das Bild des Schicksals aufgeblitzt.Der aber solche Rebusse aufzulösen vermöchte, wüßte mehrvon Kafka, als wer in ihm die Ontologie illustriert findet.

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Nahe liegt der Einwand, dem dürfe die Deutung so wenigsich anvertrauen wie irgendeinem anderen Element vonKafkas verstörtem Kosmos. Jene Erfahrungen seien nichtsals zufällig-private, psychologische Projektionen. Wer glaubt,die Nachbarn beobachteten ihn aus Fenstern, oder aus demTelefon töne dessen eigene singende Stimme - und Kaf-kas Schriften wimmeln von solchen Aussagen -, der leide anBeziehungs- und Verfolgungswahn, und wer daraus eineArt System mache, sei von der Paranoia angesteckt; ihmtaugten Kafkas Werke einzig dazu, die eigene Beschädigungzu rationalisieren. Der Einwand ist zu widerlegen bloßdurch Reflexion aufs Verhältnis von Kafkas Werk selber zujener Zone. Sein Wort »Zum letztenmal Psychologie«, seineBemerkung, alles von ihm ließe psychoanalytisch sich inter-pretieren, nur bedürfte diese Interpretation dann weitererad indefinitum - solche Verdikte sollten so wenig wie dergeweihte Hochmut, die jüngste ideologische Abwehr desMaterialismus, zur These verführen, Kafka habe nichts mitFreud zu tun. Schlecht wäre es um die Tiefe bestellt, die manihm nachrühmt, wenn in ihr verleugnet würde, was druntenwest. Die Ansicht von der Hierarchie bei Kafka und Freudist kaum zu unterscheiden. Eine Stelle aus >Totem undTabu< lautet: »Das Tabu eines Königs ist zu stark für seinen

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Untertan, weil die soziale Differenz zwischen ihnen zu großist. Aber ein Minister kann etwa den unschädlichen Ver-mittler zwischen ihnen machen. Das heißt aus der Sprachedes Tabus in die normale Psychologie versetzt: der Unter-tan, der die großartige Versuchung scheut, welche ihm dieBerührung mit dem König bereitet, kann etwa den Umgangdes Beamten vertragen, den er nicht so sehr zu beneidenbraucht und dessen Stellung ihm vielleicht selbst erreichbarerscheint. Der Minister aber kann seinen Neid gegen denKönig durch die Erwägung der Macht ermäßigen, die ihmselbst eingeräumt ist. So sind geringere Differenzen der inVersuchung führenden Zauberkraft weniger zu fürchten alsbesonders große.« Im Prozeß sagt ein Hochgestellter:»Schon den Anblick des dritten Türhüters kann nicht ein-mal ich mehr ertragen«, und Analoges kommt im Schloßvor. Licht fällt von hier zugleich auf einen entscheidendenKomplex bei Proust, den Snobismus als den Willen, durchAufnahme unter die Eingeweihten die Angst vorm Tabu zubeschwichtigen: »denn nicht Klamms Nähe an sich war ihmdas Erstrebenswerte, sondern daß er, K., nur er, kein ande-rer mit seinen, mit keines andern Wünschen an Klamm her-ankam, nicht um bei ihm zu ruhen, sondern um an ihm vor-beizukommen, weiter, ins Schloß«. Der ebenfalls für dieSphäre des Tabus zuständige, von Freud zitierte Ausdruckdélier de toucher trifft genau den sexuellen Zauber, der beiKafka Menschen, zumal niedrige mit höheren, zusammen-treibt. Selbst auf die von Freud geargwöhnte »Versuchung«- die des Mords an der Vaterfigur - wird bei Kafka ange-spielt. Am Ende des Kapitels aus dem Schloß, wo die Wir-tin dem Landvermesser auseinandersetzt, es sei unbedingtunmöglich für ihn, Herrn Klamm selbst zu sprechen, be-hält er das letzte Wort: »>Was fürchten Sie also? Sie fürch-ten doch nicht etwa für Klamm? < Die Wirtin sah ihm schwei-gend nach, wie er die Treppe hinabeilte und die Gehilfenihm folgten.« Man wird dem Verhältnis zwischen dem Er-forscher des Unbewußten und dem Paraboliker der Un-durchdringlichkeit am nächsten kommen, wenn man sichdaran erinnert, daß Freud eine archetypische Szene wie dieErmordung des Urhordenvaters, eine vorzeitliche Erzäh-lung wie die von Moses, oder die Beobachtung des Bei-

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schlafs der Eltern in der frühen Kindheit nicht als Verdich-tungen der Phantasie, sondern weithin als reale Begeben-heiten auffaßte. In solchen Exzentrizitäten folgt KafkaFreud, mit eulenspiegelhafter Treue, bis zum Absurden. Erentreißt die Psychoanalyse der Psychologie. Diese selbst be-reits ist, indem sie das Individuum aus amorphen und diffu-sen Trieben, das Ich aus dem Es herleitet, in gewissem Sinndem spezifisch Psychologischen entgegen. Die Person wirdaus einem Substantiellen zum bloßen Organisationsprinzipsomatischer Impulse. Bei Freud wie bei Kafka ist die Gel-tung des Beseelten ausgeschaltet; ja Kafka hat eigentlich vonAnbeginn kaum Notiz davon genommen. Er unterscheidetvon dem viel Älteren, naturwissenschaftlich Gesinnten sichnicht durch zartere Spiritualität, sondern indem er ihn in derSkepsis gegen das Ich womöglich noch überbietet. Dazutaugt die Kafkasche Buchstäblichkeit. Wie in einer Versuchs-anordnung studiert er, was geschähe, wenn die Befunde derPsychoanalyse allesamt nicht metaphorisch und mental, son-dern leibhaft zuträfen. Er pflichtet ihr bei, soweit sie Kulturund bürgerliche Individuation ihres Scheins überführt; ersprengt sie, indem er sie genauer beim Wort faßt als sie sich sel-ber. Freud zufolge widmet die Psychoanalyse ihre Aufmerk-samkeit dem »Abhub der Erscheinungswelt«. Er denkt dabeian Psychisches, an Fehlleistungen, Träume und neurotischeSymptome. Kafka versündigt sich gegen eine althergebrachteSpielregel, indem er Kunst aus nichts anderem fertigt als ausdem Kehricht der Realität. Das Bild der heraufziehendenGesellschaft entwirft er nicht unmittelbar - denn Askeseherrscht bei ihm wie in aller großen Kunst gegenüber derZukunft -, sondern montiert es aus Abfallsprodukten, wel-che das Neue, das sich bildet, aus der vergehenden Gegen-wart ausscheidet. Anstatt die Neurose zu heilen, sucht er inihr selbst die heilende Kraft, die der Erkenntnis: die Wun-den, welche die Gesellschaft dem Einzelnen einbrennt, wer-den von diesem als Chiffren der gesellschaftlichen Unwahr-heit, als Negativ det Wahrheit gelesen. Seine Gewalt ist einedes Abbaus. Er reißt die beschwichtigende Fassade vormUnmaß des Leidens nieder, der die rationale Kontrolle mehrstets sich einfügt. Im Abbau - nie war das Wort populärerals in Kafkas Todesjahr - hält er nicht, wie die Psychologie,

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beim Subjekt inne, sondern dringt auf das Stoffliche, bloßDaseiende durch, das im ungeminderten Sturz des nach-gebenden, aller Selbstbehauptung sich entäußernden Be-wußtseins auf dem subjektiven Grunde sich darbietet. DieFlucht durch den Menschen hindurch ins Nichtmenschliche -das ist Kafkas epische Bahn. Dies Fallen des Ingeniums, diekrampfhafte Widerstandslosigkeit, die mit Kafkas Moral soganz übereinkommt, wird paradox belohnt durch die zwin-gende Autorität ihres Ausdrucks. Der zum Zerreißen an-gespannten Entspannung fällt, was Metapher, Bedeutung,Geist war, unmittelbar, intentionslos zu, als »spirituellerLeib«. Es ist, als würde die philosophische Lehre von derkategorialen Anschauung, die zur gleichen Zeit sich aus-breitete, als Kafka schrieb, in der Hölle honoriert. Diefensterlose Monade bewährt sich als Laterna magica, Mutteraller Bilder wie bei Proust und Joyce. Worüber Individua-tion sich erhebt, was sie verdeckt und was sie selber aus sichhervortrieb, ist allen gemein, aber nirgends als in der Ver-lassenheit und der Versenkung, die nicht um sich blickt, läßtes sich greifen. Wer nachvollziehen will, wie es zu den ab-normen Erfahrungen kommt, die bei Kafka die Norm um-schreiben, muß einmal in einer großen Stadt einen Unfall er-litten haben: ungezählte Zeugen melden sich und erklärensich als Bekannte, als hätte das ganze Gemeinwesen sich ver-sammelt, um dem Augenblick beizuwohnen, da der mäch-tige Autobus in die schwache Autodroschke hineinfuhr. Daspermanente dejä vu ist das dejä vu aller. Daher der ErfolgKafkas, der zum Verrat wird erst, wenn das Allgemeine ausseinen Schriften abdestilliert wird und die Anstrengung dertödlichen Verschlossenheit erspart. Vielleicht ist das ver-borgene Ziel seiner Dichtung überhaupt die Verfügbarkeit,Technifizierung, Kollektivierung des dejä vu. Das Beste,das man vergißt, wird erinnert und in die Flasche gebanntwie die cumäische Sibylle. Nur verwandelt es sich dabei insSchlimmste: »Sterben will ich«, und das wird ihm versagt.Die verewigte Vergängnis ereilt ein Fluch.

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Verewigte Gesten bei Kafka sind ein erstarrt Momentanes.Der Schock ist wie die surrealistische Veranstaltung dessen,den alte Photographien dem Betrachter erteilen. Eine solche,undeutlich, fast verblichen, spielt im Schloß ihre Rolle. DieWirtin, die sie als Überbleibsel ihrer Berührung mit Klamm-und dadurch mit der Hierarchie - aufbewahrt, zeigt sie K.,der nur mühsam etwas darauf erkennen kann. Vorgestriggrelle Tableaux, der Zirkussphäre entstammend, zu derKafka mit der Avantgarde seiner Generation Affinität fühlte,sind vielfach in sein Werk eingelassen; vielleicht hätte allesTableau werden sollen, und einzig ein Überschuß an Inten-tion hat es durch lange Dialoge verhindert. Was auf derSpitze des Augenblicks balanciert wie ein Pferd auf denHinterbeinen, wird geknipst, als solle die Pose für immerwähren. Das grausigste Exempel enthält wohl der Prozeß:Josef K. öffnet die Rumpelkammer, in der am Tag zuvorseine Wächter geprügelt wurden, um die Szene getreu, auchmit der Anrufung seiner selbst, wiederholt zu finden. »So-fort warf K. die Tür zu und schlug noch mit den Fäustengegen sie, als sei sie dann fester verschlossen.« Das ist dieGebärde von Kafkas eigenem Werk, das, wie manchmalschon das Poes, von den äußersten Gesichten sich abwendet,als könnte kein Auge den Anblick überleben. In diesemdurchdringen sich das Immergleiche und das Ephemere.Stets wieder malt Titorelli jenes abgestandene Genrebild,die Heidelandschaft. Gleichheit oder intrigierende Ähnlich-keit einer Mehrzahl rechnet zu den hartnäckigsten MotivenKafkas; alle möglichen Halbgeschöpfe treten paarweise auf,oftmals mit der Signatur des Kindischen und Albernen, oszil-lierend zwischen Gutmütigkeit und Grausamkeit wie Wildeaus Kinderbüchern. So schwer ist den Menschen die Indivi-duation geworden, und so schwankend blieb sie bis zumheutigen Tag, daß sie tödlich erschrecken, wenn ihr Schleierum ein weniges sich hebt. Proust wußte von dem leisen Un-behagen, das den überrieselt, der auf seine Ähnlichkeit miteinem ihm fremden Verwandten aufmerksam gemacht wird.Bei Kafka ist es zur Panik gesteigert. Das Reich des dejä vuwird von Doppelgängern bevölkert, Wiederkehrern, Po-

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jatzen, chassidischen Tänzern, Knaben, die den Lehrer nach-machen und plötzlich uralt aussehen, archaisch; einmalzweifelt der Landvermesser, ob seine Gehilfen ganz amLeben sind. Zugleich aber Abdrücke des Heraufziehenden,Menschen, die im Fließbandverfahren hergestellt sind, me-chanisch reproduzierte Exemplare, Huxleysche Epsilons.Der gesellschaftliche Ursprung des Individuums enthülltsich am Ende als die Macht von dessen Vernichtung. KafkasWerk ist ein Versuch, diese zu absorbieren. Nichts Irres -wie bei dem Erzähler, dem er Entscheidendes absah, RobertWalser - ist in seiner Prosa, jeden Satz hat der seiner selbstmächtige Geist geprägt, aber jeden Satz hat er auch zuvorder Zone des Wahnsinns entrissen, in die wohl im Zeitalterder universalen Verblendung, welche der gesunde Men-schenverstand bloß befestigt, jegliche Erkenntnis sich ge-trauen muß, um eine zu werden. Das hermetische Prinziphat unter anderem die Funktion einer Schutzmaßnahme: denandrängenden Wahn draußen zu halten. Das heißt aber: dieeigene Kollektivierung. Das Werk, das die Individuationzerrüttet, will um keinen Preis nachgeahmt werden: darumwohl ordnete er an, es zu vernichten. Wohin es sich begab,dort soll kein Fremdenverkehr aufblühen; wer aber so sichgebärdete, ohne dort gewesen zu sein, verfiele der purenUnverschämtheit. Er möchte den Reiz und die Gewalt derVerfremdung ohne Risiko einheimsen. Ohnmächtige Manierwäre die Folge. Karl Kraus, zu gewissem Maß auch Schön-berg, haben darin ähnlich reagiert wie Kafka. Solche Un-nachahmbarkeit affiziert aber auch die Lage des Kritikers.Seine Position Kafka gegenüber ist nicht mehr zu beneidenals die des Nachfolgers: sie wäre vorweg Apologie derWelt. Nicht daß es an Kafkas Werk nichts zu kritisierengäbe. Unter den Mängeln, die in den großen Romanen oben-auf liegen, ist der empfindlichste die Monotonie. Die Dar-stellung des Vieldeutigen, Ungewissen, Versperrten wirdendlos wiederholt, oft auf Kosten der überall angestrebtenAnschaulichkeit. Die schlechte Unendlichkeit des Darge-stellten teilt sich dem Kunstwerk mit. Wohl mag in diesemMangel einer des Gehalts zutage kommen, ein Übergewichtder abstrakten Idee, die selber der Mythos ist, den Kafka be-fehdet. Die Gestaltung will das Unsichere nochmals unsicher

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machen, aber provoziert die Frage: wozu die Anstrengung?Wenn ohnehin alles fraglich ist, warum dann nicht ans ge-gebene Minimum sich halten. Kafka würde darauf erwidern,gerade zur hoffnungslosen Anstrengung forderte er auf, ähn-lich wie Kierkegaard durch Weitschweifigkeit den Leserverärgern und damit aus der ästhetischen Kontemplationaufscheuchen wollte. Erwägungen über Recht und Unrechtsolcher literarischen Taktik sind aber darum so fruchtlos,weil Kritik sich immer nur auf das an einem Werk beziehenkann, worin es Muster sein will; wo es spricht: so wie ichbin, so soll es sein. Genau dieser Anspruch wird von demungetrösteten So ist es Kafkas emphatisch fortgewiesen.Trotzdem hat die Gewalt der Bilder, die er beschwört, ihreIsolierschicht zuweilen zerrissen. Einige stellen die Selbst-besinnung des Lesers, vom Autor zu schweigen, auf eineharte Probe: Strafkolonie und Verwandlung, Berichte, wiesie erst durch die von Bettelheim, Kogon und Rousset ein-geholt wurden, etwa wie Aufnahmen der von Bomben zer-störten Städte aus der Vogelperspektive den Kubismusdurch die Verwirklichung dessen, worin er die Wirklichkeitaufgekündigt hatte, gleichsam versöhnten. Kennt KafkasWerk Hoffnung, dann eher in jenen Extremen als in denmilderen Phasen: im Vermögen, noch dem Äußerstenstandzuhalten, indem es Sprache wird. Sind es auch dieseWerke, welche den Schlüssel zur Deutung bieten? Fast wärees zu vermuten. In der >Verwandlung < läßt sich die Bahnder Erfahrung an der Wörtlichkeit rekonstruieren, als Ver-längerung der Linien. »Diese Reisenden sind wie Wanzen«,heißt die Redensart, die Kafka aufgegriffen haben muß, auf-gespießt wie ein Insekt. Wanzen, nicht wie die Wanzen. Waswird aus einem Menschen, der eine Wanze ist, so groß wieein Mensch? So groß aber müßten einem Kind die Erwach-senen aussehen und so verschoben, mit riesigen, zertreten-den Beinen und fernen, winzigen Köpfen, wenn der kind-liche Blick des Schreckens ganz isoliert, festgebannt würde;mit schräger Kamera läßt sich das photographieren. Einganzes Leben reicht bei Kafka nicht aus, um ins nächsteDorf zu kommen; und das Schiff des Heizers, das Wirtshausdes Landvermessers sind von so unmäßigen Dimensionen,wie nur in verschollener Frühe dem Menschen das von Men-

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sehen Gemachte dünkt. Der so blicken will, muß sich insKind verwandeln und vieles vergessen. Er erkennt denVater wieder als den Oger, den er immer schon in winzigenAnzeichen gefürchtet hat, der Ekel vor Käserinden erweistsich als die schmähliche vormenschliche Begierde nach ihnen.Sichtbar umdunstet die Zimmerherren, als ihre Emanation,der Horror, der vordem unmerklich fast in dem Wort mit-schwang. Die schriftstellerische Technik, die durch Asso-ziation an Worte sich heftet, wie die Proustische der unwill-kürlichen Erinnerung an Sinnliches, bewirkt deren Gegen-teil: anstelle des Eingedenkens ans Menschliche die Probeaufs Exempel der Entmenschlichung. Ihr Druck nötigt dieSubjekte zu einer gleichsam biologischen Rückbildung, wiesie den Kafkaschen Tierparabeln den Boden bereitet. DerAugenblick des Einstands aber, auf den alles bei ihm abzielt,ist der, da die Menschen dessen innewerden, daß sie keinSelbst - daß sie selbst Dinge sind. Die langen und ermüden-den bilderlosen Partien verfolgen, seit dem Gespräch mitdem Vater im >Urteil<, den Zweck, den Menschen zu demon-strieren, was kein Bild vermöchte, ihre Unidentität, das Kom-plement ihrer kopienhaften Ähnlichkeit untereinander. Dieminderen Beweggründe, die dem Landvermesser von derWirtin und dann auch von Frieda schlüssig nachgewiesenwerden, sind ihm fremd - den späteren psychoanalytischenBegriff des Ichfremden hat Kafka großartig antizipiert. Aberder Landvermesser gibt jene Motive zu. Sein individuellerund sein Sozialcharakter klaffen auseinander wie bei Chap-lins Monsieur Verdoux; Kafkas hermetische Protokolle ent-halten die soziale Genese der Schizophrenie.

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Trist und ramponiert ist die gesamte Bilderwelt Kafkas, auchdort, wo sie hoch hinaus will, im >Naturtheater von Okla-homa< - als hätte er die Wanderungen von Arbeitern ausdiesem Staat vorausgesehen - oder in der Sorge des Haus-vaters ; der Schatz der Blitzlichtaufnahmen kreidig und mon-goloid wie eine kleinbürgerliche Hochzeit Henri Rousseaus;der Geruch der von ungelüfteten Betten, die Farbe das Rot

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von Matratzen, deren Überzüge abhanden kamen; die Angst,die Kafka hervorruft, die vorm Erbrechen. Und doch ist dasmeiste in seinem Werk Reaktion auf grenzenlose Macht.Benjamin hat diese Macht, die wütender Patriarchen, para-sitär genannt: sie zehrt von dem Leben, auf dem sie lastet.Aber das parasitäre Moment ist eigentümlich verschoben.Gregor Samsa, nicht sein Vater wird zur Wanze. Nicht dieMächte, sondern die ohnmächtigen Helden erscheinen über-flüssig, keiner leistet gesellschaftlich nützliche Arbeit; selbstdaß der angeklagte Bankprokurist Josef K., vom Prozeßpräokkupiert, nichts Rechtes zustande bringt, wird verbucht.Sie kriechen eigentlich zwischen Requisiten umher, dielängst amortisiert sind und ihnen ihr Dasein nur als Almosengewähren, indem sie über die eigene Lebensdauer hinausfortexistieren. Die Verschiebung ist der ideologischen Ge-wohnheit nachgebildet, welche die Reproduktion des Le-bens zum Gnadenakt der Verfügenden, der »Arbeitgeber«verklärt. Sie beschreibt ein Ganzes, in dem die überzähligwerden, die es umklammert und durch die es sich erhält.Aber darin erschöpft das Schäbige bei Kafka sich nicht. Esist das Kryptogramm der auf Hochglanz polierten kapita-listischen Spätphase, die er ausspart, um sie desto genauer inihrem Negativ zu bestimmen. Kafka nimmt die Schmutz-spuren unter die Lupe, welche von den Fingern der Macht inder Prachtausgabe des Lebensbuchs zurückbleiben. Dennkeine Welt könnte einheitlicher sein als die beklemmende,die er durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zu-sammenpreßt; geschlossen logisch durch und durch und desSinnes bar wie jegliches System. Alles, was er erzählt, gehörtder gleichen Ordnung an. Alle seine Geschichten spielen indemselben raumlosen Raum, und so gründlich sind dessenFugen verstopft, daß man zusammenzuckt, wenn einmaletwas erwähnt wird, was nicht in ihm seinen Ort hat, wieSpanien und Südfrankreich an einer Stelle des Schlosses,während ganz Amerika, als imago des Zwischendecks, jenemRaum einverleibt ist. So hängen Mythologien untereinanderzusammen wie Kafkas labyrinthische Schilderungen. DasMindere, Abstruse, Angestochene ist aber ihrem Kontinuumso wesentlich wie Korruption und verbrecherische Asozia-lität der totalitären Herrschaft und wie die Liebe zum Kot

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dem Kultus der Hygiene. Systeme des Gedankens und derPolitik wollen nichts, was ihnen nicht gleicht. Je mehr siesich jedoch verstärken, je mehr sie was ist gleichnamigmachen, desto mehr unterdrücken sie es zugleich, destoweiter entfernen sie sich davon. Deshalb gerade wird ihnendie geringste »Abweichung« als Bedrohung des gesamtenPrinzips so untragbar, wie den Mächten bei Kafka Fremdeund Einzelgänger es sind. Integration ist Desintegration,und in ihr findet der mythische Bann mit der herrschaftlichenRationalität sich zusammen. Das sogenannte Problem derZufälligkeit, an dem die philosophischen Systeme sich ab-quälen, wird von ihnen selbst gezeitigt: nur um ihrer eige-nen Unerbittlichkeit willen wird ihnen zum Todfeind, wasdurch ihre Maschen schlüpft, so wie die mythische Königinkeine Ruhe hat, solange weit über den Bergen eine lebt, dieschöner ist als sie, das Kind des Märchens. Kein Systemohne Bodensatz. Aus ihm weissagt Kafka. Wenn alles, wasin seiner Zwangswelt sich ereignet, mit dem Ausdruck desschlechthin Notwendigen den des schlechthin Zufälligenkombiniert, der dem Schäbigen eignet, so entziffert er dasverruchte Gesetz in seiner Spiegelschrift. Die vollendeteUnwahrheit ist der Widerspruch ihrer selbst, darum brauchtihr nicht ausdrücklich widersprochen zu werden. Kafkadurchschaut den Monopolismus an den Abfallsproduktender liberalen Ära, die von jenem liquidiert wird. Dieser ge-schichtliche Augenblick, nicht ein angeblich durch Ge-schichte hindurch scheinendes Überzeitliches ist die Kristalli-sation seiner Metaphysik, und Ewigkeit bei ihm keine andereals die des endlos wiederholten Opfers, aufgehend am Bildedes jüngsten. »Nur unser Zeitbegriff läßt uns das JüngsteGericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht.« Dasjüngste Opfer ist immer das gestrige. Darum gerade wirdfast jeder offene Hinweis auf Historisches - der aus derKohlennot herausgesponnene Kübelreiter ist eine selteneAusnahme — bei Kafka vermieden. Hermetisch verhält sichsein Werk auch zur Geschichte: über ihrem Begriff liegt einTabu. Der Ewigkeit des geschichtlichen Augenblicks korre-spondiert die Ansicht von der Naturverfallenheit und Inva-rianz des Weltlaufs; der Augenblick, das absolut Vergäng-liche, ist Gleichnis der Ewigkeit des Vergehens, der Ver-

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dammnis. Der Name von Geschichte darf nicht genannt wer-den, weil das, was Geschichte wäre, das Andere noch nichtbegonnen hat. »An Fortschritt glauben, heißt nicht glauben,daß ein Fortschritt schon geschehen ist.« Inmitten scheinbarstatischer, oft handwerkerlicher oder bäuerlicher Verhält-nisse, solcher der einfachen Warenwirtschaft, wird Ge-schichtliches von Kafka nur als Gerichtetes vorgeführt, sowie jene Verhältnisse selber gerichtet sind. Seine Szenerie istimmer obsolet; von dem »niedrigen langen Gebäude«, dasals Schule fungiert, wird gesagt, es vereinige »merkwürdigden Charakter des Provisorischen und des sehr Alten«.Schwerlich sind die Menschen anders. Das Veraltete ist dasSchandmal des Gegenwärtigen; von solchen Malen hat Kafkaein Inventar aufgenommen. Zugleich aber das Bild dessen,woran Kindern, die es mit dem Abfall der historischen Weltzu tun haben, Geschichtliches überhaupt aufgeht, das »Kin-derbild der Moderne«, die ihnen vermachte Hoffnung, daßeinmal noch Geschichte sein könnte. »Das Gefühl eines, derin Not ist, und es kommt Hilfe, der sich aber nicht freut, weiler gerettet wird — er wird gar nicht gerettet —, sondern weilneue junge Menschen kommen, zuversichtlich, bereit, denKampf aufzunehmen, zwar unwissend hinsichtlich dessen,was bevorsteht, aber in einer Unwissenheit, die den Zu-schauenden nicht hoffnungslos macht, sondern ihn zur Be-wunderung, zur Freude, zu Tränen bringt. Auch Haß gegenden, dem der Kampf gilt, mischt sich ein.« Zu diesem Kampfgibt es einen Aufruf: »In unserem Haus, diesem ungeheurenVorstadthaus, einer von unzerstörbaren mittelalterlichenRuinen durchwachsenen Mietskaserne, wurde heute amnebeligen eisigen Wintermorgen folgender Aufruf verbrei-tet:

An alle meine Hausgenossen!Ich besitze fünf Kindergewehre. Sie hängen in meinem

Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu denandern kann sich melden, wer will. Melden sich mehr als vier,so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbrin-gen und in meinem Kasten deponieren. Denn Einheitlich-keit muß sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vor-wärts. Übrigens habe ich nur Gewehre, die zu sonstiger Ver-wendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist ver-

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dorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knackennoch. Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch wei-tere solche Gewehre zu beschaffen. Aber im Grunde sindmir für die erste Zeit auch Leute ohne Gewehre recht. Wir,die wir Gewehre haben, werden im entscheidenden Augen-blick die Unbewaffneten in die Mitte nehmen. Eine Kampfes-weise, die sich bei den ersten amerikanischen Farmern gegen-über den Indianern bewährt hat, warum sollte sie sich nichtauch hier bewähren, da doch die Verhältnisse ähnlich sind.Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzich-ten, und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig,und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sieauch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andernnicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. Dann werde alsoich allein als Führer eines tragen. Aber wir sollen keinenFührer haben, und so werde auch ich mein Gewehr zerbre-chen oder weglegen.

Das war der erste Aufruf. In unserem Haus hat man keineZeit und keine Lust, Aufrufe zu lesen oder gar zu über-denken. Bald schwammen die kleinen Papiere in demSchmutzstrom, der, vom Dachboden ausgehend, von allenKorridoren genährt, die Treppe hinabspült und dort mitdem Gegenstrom kämpft, der von unten hinaufschwillt.Aber nach einer Woche kam ein zweiter Aufruf:

Hausgenossen!Es hat sich bisher niemand bei mir gemeldet. Ich war, so-

weit ich nicht meinen Lebensunterhalt verdienen muß, fort-während zu Haus und für die Zeit meiner Abwesenheit, wäh-rend welcher meine Zimmertür stets offen war, lag auf mei-nem Tisch ein Blatt, auf dem sich jeder, der wollte, einschrei-ben konnte. Niemand hats getan.« Das ist die Figur der Re-volution in Kafkas Erzählungen.

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Klaus Mann hat auf der Ähnlichkeit des Kafkaschen Reichesmit dem Dritten bestanden. So fern gewiß die unmittelbarepolitische Anspielung einem Werk liegt, dessen »Haß gegenden, dem der Kampf gilt«, viel zu unversöhnlich war, als

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daß es die Fassade durch die leiseste Konzession an einen wieimmer gearteten ästhetischen Realismus, durchs Hinnehmendessen, wofür sie sich gibt, hätte bestätigen dürfen — jeden-falls zitiert der Stoffgehalt jenes Werkes eher den National-sozialismus als das verborgene Walten Gottes. Seine Be-schlagnahmung für die dialektische Theologie mißglückt,außer wegen des mythischen Charakters der Mächte, vondem Benjamin mit Recht handelt, weil bei Kafka Vieldeutig-keit und Unverständlichkeit keineswegs bloß, wie in >Furchtund Zittern<, dem schlechthin Anderen zugeschrieben wer-den, sondern ebenso den Menschen und ihren Verhältnissen.Gerade der »unendliche qualitative Unterschied«, den Barthmit Kierkegaard lehrt, ist eingeebnet; zwischen Dorf undSchloß sei eigentlich kein Unterschied. Kafkas Methodeward verifiziert, als die veraltet liberalen, der Anarchie derWarenproduktion abgeborgten Züge, die er überhöht, inder politischen Organisationsform der sich überschlagendenÖkonomie wiederkehrten. Nicht bloß Kafkas Prophezeiungvon Terror und Folter ward erfüllt. »Staat und Partei«: sotagen sie auf Dachböden, hausen in Wirtshäusern wie Hitlerund Goebbels im Kaiserhof, eine als Polizei installierte Ver-schwörerbande. Ihre Usurpation offenbart das Usurpato-rische am Mythos der Macht. Im Schloß tragen die Beamteneine Spezialuniform wie die SS, die man als Paria zur Notauch sich selber zusammenflicken kann; auch die Eliten imFaschismus haben sich selber ernannt. Verhaftung ist Über-fall, Gericht Gewalttat. Mit der Partei gab es für deren po-tentielle Opfer immerzu einen fragwürdigen, korrupten Ver-kehr wie mit Kafkas verrammelten Behörden; das WortSchutzhaft hätte er erfinden können, wäre es nicht bereitswährend des Ersten Krieges im Schwang gewesen. Dieblonde Lehrerin Gisa, wohl das einzige schöne Mädchen,grausam und tierlieb, das unverletzt, als spotte seine Härtedes Kafkaschen Strudels, von ihm geschildert wird, ist ausder präadamitischen Rasse der Hitlerjungfrauen, welche dieJuden hassen, längst bevor es diese gibt. Ungezügelte Ge-walt wird ausgeübt von Gestalten der Subalternität, Typenwie Unteroffizieren, Kapitulanten und Portiers. Das sindallemal Deklassierte, die im Sturz vom organisierten Kollek-tiv aufgefangen werden und überleben dürfen gleich dem

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Vater Gregor Samsas. Wie im Zeitalter des defekten Kapi-talismus wird die Last der Schuld von der Produktions-sphäre abgewälzt auf Agenten der Zirkulation oder solche,die Dienste besorgen, auf Reisende, Bankangestellte, Kell-ner. Arbeitslose - im >Schloß<-und Emigranten - in >Ame-rika< - werden wie Fossilien der Deklassierung präpariert.Die ökonomischen Tendenzen, deren Relikte sie darstellen,schon ehe jene sich durchgesetzt haben, waren Kafka keines-wegs so fremd, wie die hermetische Verfahrensweise ver-muten läßt. Eine merkwürdig empirische Stelle aus demAmerikaroman, dem frühesten, verrät das: »Es war eineArt Kommissions- und Speditionsgeschäft, wie sie, soweitsich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zufinden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwi-schenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Pro-duzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händ-lern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung allerWaren und Urprodukte für die großen Fabrikkartelle undzwischen ihnen besorgte.« Genau dieser monopolistischeVerteilungsapparat, »riesigen Umfangs«, hat den Handelund Wandel vernichtet, dessen hippokratisches AntlitzKafka verewigt. Das geschichtliche Verdikt ergeht von dervermummten Herrschaft. So bildet es sich dem Mythos ein,der blinden, endlos sich reproduzierenden Gewalt. In derenneuester Phase, der bürokratischen Kontrolle, erkennt erdie erste wieder; was sie ausscheidet, als urgeschichtlich.Risse und Deformationen der Moderne sind ihm Spuren derSteinzeit, die Kreidefiguren auf der Schultafel von gestern,die keiner wegwischte, die wahre Höhlenzeichnung. Dieabenteuerliche Verkürzung, in der solche Rückbildungen er-scheinen, trifft aber zugleich die gesellschaftliche Tendenz.Mit seiner Übersetzung in Archetypen verendet der Bürger.Die Preisgabe seiner individuellen Züge, die Aufdeckungdes wimmelnden Grauens unter dem Stein der Kultur mar-kiert den Verfall von Individualität selber. Das Grauen je-doch ist, daß der Bürger keinen Nachfolger fand; »niemandhat's getan«. Das meint vielleicht die Erzählung von Grac-chus, dem nicht mehr wilden Jäger, einem Mann der Ge-walt, dem das Sterben mißlang. So ist es dem Bürgertummißlungen. Zur Hölle wird bei Kafka die Geschichte, weil

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das Rettende versäumt ward. Diese Hölle hat das späte Bür-gertum selber eröffnet. In den Konzentrationslagern desFaschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Lebenund Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebendeSkelette und Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord miß-rät, das Gelächter Satans über die Hoffnung auf Abschaffungdes Todes. Wie in Kafkas verkehrten Epen ging da zu-grunde, woran Erfahrung ihr Maß hat, das aus sich herauszu Ende gelebte Leben. Gracchus ist das vollendete Wider-spiel der Möglichkeit, die aus der Welt vertrieben ward: altund lebenssatt zu sterben.

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Die hermetische Prägung von Kafkas Schriften verführtdazu, nicht nur ihre Idee so abstrakt der Geschichte gegen-überzustellen, wie über weite Strecken hin bei ihm verhan-delt wird, sondern auch das Werk selbst mit wohlfeilemTiefsinn aus der Geschichte zu sekretieren. Aber gerade alshermetisches hat es teil an der literarischen Bewegung desDezenniums um den Ersten Krieg, deren einer BrennpunktPrag war und deren Milieu das Kafkas. Nur wer aus denschwarzen Broschüren Kurt Wolffs, dem >Jüngsten Tag<,das >Urteil<, die >Verwandlung<, das >Heizer<-Kapitel kennt,hat Kafka in seinem authentischen Horizont erfahren, demdes Expressionismus. Seine epische Gesinnung hat dessenSprachgestus zu vermeiden getrachtet, obwohl Sätze wie:»Pepi, stolz, mit zurückgeworfenem Kopf, ewig gleichemLächeln, ihrer Würde unwiderlegbar sich bewußt, schwen-kend den Zopf bei jeder Wendung, eilte hin und her« oder:»Auf die wildumwehte Freitreppe trat K. hinaus und blicktein die Finsternis« großartig beherrscht ihn zeigen. Eigen-namen, zumal aus der Kleinen Prosa, der Vornamen beraubt,wie Wese und Schmar, mahnen an die Personenverzeich-nisse expressionistischer Stücke. Nicht selten desavouiertKafkas Sprache den Inhalt so verwegen wie bei jener rau-schenden Beschreibung des kleinen Hilfsausschankmäd-chens: ihr Schwung reißt den Vortrag mit weit ausgreifenderGebärde aus dem trostlos Stagnierenden der Fabel. Mit der

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Liquidation des Traums durch dessen Allgegenwart ver-folgte der Epiker Kafka den expressionistischen Impuls soweit wie nur die radikalen Lyriker. Sein Werk hat den Tondes Ultralinken: wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert,verfälscht ihn bereits konformistisch. Anfechtbare Formu-lierungen wie die von der »Trilogie der Einsamkeit« behal-ten ihren Wert, weil sie eine Voraussetzung hervorheben,die jedem Satz Kafkas innewohnt. Das hermetische Prinzipist das der vollendet entfremdeten Subjektivität. Nicht um-sonst hat er in den Kontroversen, von denen Brod berichtet,jeglicher sozialen Eingliederung widerstrebt; diese ist nurum solchen Widerstrebens willen im Schloß thematisch ge-worden. Schüler Kierkegaards ist er einzig im Zeichen »ob-jektloser Innerlichkeit«. Sie erklärt extreme Züge. WasKafkas Glaskugel umfängt, ist einstimmiger und darumgräßlicher noch als das System draußen, weil im absolut sub-jektiven Raum und in absolut subjektiver Zeit nichts Platzhat, was deren eigenes Prinzip stören könnte, das der un-abdingbaren Entfremdung. Immer wieder wird das Raum-Zeit-Kontinuum des »empirischen Realismus« durch kleineSabotageakte lädiert wie die Perspektive in der zeitgenössi-schen Malerei; etwa wenn der umherwandernde Landvermes-ser vom viel zu frühen Einbruch der Nacht überrascht wird.Das Differenzlose der autarken Subjektivität verstärkt dasGefühl der Ungewißheit und die Monotonie des Wieder-holungszwangs. Der widerstandslos in sich kreisenden In-nerlichkeit wird versagt und zum Rätsel, was immer derschlecht unendlichen Bewegung Einhalt geböte. Ein Bannliegt über Kafkas Raum; das in sich verschlossene Subjekthält den Atem an, als dürfe es nichts anfassen, was nicht istwie es. Unter diesem Bann schlägt reine Subjektivität inMythologie, der konsequente Spiritualismus in Naturver-fallenheit um. Kafkas absonderliche Neigung zu Nacktkulturund Naturheilverfahren, seine sei's auch gebrochene Tole-ranz für den wüsten Aberglauben Rudolf Steiners sind nichtRudimente intellektueller Unsicherheit, sondern gehorcheneinem Prinzip, das, indem es unerbittlich das Unterschei-dende sich verbietet, die Kraft zur Unterscheidung einbüßtund von derselben Regression bedroht wird, über die Kafkaals Darstellungsmittel so souverän verfügt, vom Vieldeuti-

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gen, Amorphen, Namenlosen. »Geist setzt gegen Natur sichfrei und autonom, weil er sie als dämonisch erkennt: wie inder auswendigen Realität so bei sich selber. Indem aber derautonome Geist als leibhaft erscheint, nimmt Natur vomGeist Besitz, wo er am geschichtlichsten auftritt: im objekt-losen Innen . . . Der Naturgehalt bloßen, in sich geschicht-lichem Geistes mag mythisch heißen.« Die absolute Sub-jektivität ist zugleich subjektlos. Das Selbst lebt einzig inder Entäußerung; als sicherer Rest des Subjekts, der vormFremden sich verkapselt, wird er zum blinden Rest der Welt.Je mehr das Ich des Expressionismus auf sich selber zurück-geworfen wird, um so mehr ähnelt es der ausgeschlossenenDingwelt sich an. Vermöge dieser Ähnlichkeit zwingt Kafkaden Expressionismus, dessen Schimärisches er wie keinerseiner Freunde muß verspürt haben und dem er doch treublieb, zu einer vertrackten Epik; die reine Subjektivität, alsnotwendig auch sich selber entfremdete und zum Ding ge-wordene, zu einer Gegenständlichkeit, der die eigene Ent-fremdung zum Ausdruck gerät. Die Grenze zwischen demMenschlichen und der Dingwelt verwischt sich. Das machtden Grund der oft bemerkten Verwandtschaft mit Klee aus.Kafka nannte sein Schreiben »Kritzeln«. Das Dinghaftewird zum graphischen Zeichen, die gebannten Menschenhandeln nicht von sich aus, sondern als wäre ein jeglicher inein magnetisches Feld geraten1. Genau dies gleichsam äußer-liche Bestimmtsein inwendiger Figuren verleiht KafkasProsa den abgründigen Schein nüchterner Objektivität. DieZone des Nichtsterbenkönnens ist zugleich das Niemands-land zwischen Mensch und Ding: in ihm begegnet sichOdradek, den Benjamin als einen Engel Kleeschen Stils be-trachtete, mit Gracchus, dem bescheidenen Nachbild Nim-rods. Vom Verständnis dieser vorgeschobensten, inkommen-surabeln Produktionen und einiger anderer, die ebenfalls derkurrenten Vorstellung von Kafka sich entziehen, dürfte ein-

1 Das verurteilt alle Dramatisierungen. Drama ist nur so weit möglich, wie Freiheit, wäre esauch als sich entringende, vor Augen steht; alle andere Aktion bliebe nichtig. Die FigurenKafkas sind von einer Fliegenklatsche getroffen, ehe sie nur sich regen; wer sie als Helden aufdie tragische Bühne schleppt, verhöhnt sie bloß. Der Dichter von >Paludes< wäre Andre Gidegeblieben, wenn er nicht am >Prozeß< sich vergriffen hätte; er wenigstens hätte nicht im Zugedes fortschreitenden Analphabetismus vergessen dürfen, daß Kunstwerken, die es sind, ihrMedium nicht zufällig ist. Adaptations wären der Kulturindustrie vorzubehalten.

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mal das Ganze abhängen. Durchs gesamte Werk hindurchjedoch geht Depersonalisierung im Bereich des Sexuellen.Wie nach dem Ritus des Dritten Reichs die Mädchen denHoheitsträgern nicht nein sagen durften, so hat der Kafka-sche Bann, das große Tabu, alle jene geringeren Tabus aus-gelöscht, die der individuellen Sphäre zugehören. Der Schul-fall dafür ist die Bestrafung Amalias und ihrer Familie -Sippenhaft -, weil sie Sortini nicht zu Willen war. In denMächten triumphiert die Familie als archaisches Kollektivüber ihre spätere, individuierte Gestalt. Widerstandslos, auf-einander gehetzt wie Tiere müssen Männer und Frauen zu-sammenkommen. Kafka hat das eigene neurotische Schuld-gefühl, seine infantile Sexualität wie seine Obsession mit»Reinheit«, zum Instrument geschaffen, das den approbier-ten Begriff von Erotik wegkratzt. Das Wahl- und Erinne-rungslose der Verhältnisse von Angestellten in den Groß-städten des zwanzigsten Jahrhunderts wird, wie später ineiner berühmten Stelle aus Eliots >Waste Land<, zur imagoeines seit undenklichen Zeiten vergangenen Zustands. Erist alles eher als hetärisch. In der Suspension der Regeln derpatriarchalischen Gesellschaft wird deren eigenes Geheim-nis entblößt, das unmittelbarer barbarischer Unterdrückung.Frauen sind verdinglicht als bloßes Mittel zum Zweck: alsSexualobjekte und als Konnexionen. Aber mitten im Trübenfischt Kafka nach dem Bild vom Glück. Es ist aus dem Stau-nen des hermetisch abgeschlossenen Subjekts über das Para-doxon erzeugt, daß es gleichwohl geliebt werden kann. Sounbegreiflich wie die Neigung aller Frauen zu den Gefange-nen im Prozeß ist jegliche Hoffnung; Kafkas entzauberterEros ist zugleich überschwengliche männliche Dankbarkeit.Wenn die dürftige Frieda sich Klamms Geliebte nennt, sostrahlt die Aura des Wortes heller als in den erhobenstenAugenblicken bei Balzac oder Baudelaire; wenn sie, wäh-rend sie die Anwesenheit des unter dem Tisch Verstecktenvor dem forschenden Wirt verleugnet, ihm »ihren kleinenFuß auf die Brust setzt« und dann sich zu ihm hinabneigtund ihn »flüchtig küßt«, so findet sie die Geste, auf welchedie Sehnsucht eines Menschenlebens vergebens warten mag,und die Stunden, welche die beiden »in den kleinen PfützenBiers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt

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war«, zusammenliegen, sind die der Erfüllung in einerFremde, »in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Hei-matluft« hat. Diese Schicht wurde von Brecht der Lyrik auf-geschlossen. Wie bei diesem jedoch ist bei Kafka die Spracheder Ekstase ganz fern der expressionistischen. Er hat dieQuadratur des Zirkels, dem Raum der objektlosen Inner-lichkeit die Worte zu finden, während doch der Umfangeines jeglichen über das absolute Dies da hinausreicht, dasangerufen werden soll - den Widerspruch, an dem alle ex-pressionistische Dichtung scheiterte -, ingeniös gemeistertdurchs visuelle Element. Als das der Gesten behauptet esden Vorrang. Nur von Sichtbarem läßt sich erzählen, wäh-rend es zugleich vollkommen zum Bilde verfremdet wird.Wahrhaft zum Bilde. Kafka rettet die Idee des Expressionis-mus, indem er, anstatt Urlauten vergebens nachzuhorchen,den Habitus expressionistischer Malerei auf die Dichtungüberträgt. Zu jener verhält er sich ähnlich wie Utrillo zu denAnsichtspostkarten, nach denen er seine fröstelnden Straßensoll gemalt haben. Dem panischen Blick, der alle affektiveBesetzung von den Objekten abgezogen hat, erstarren diesezu einem Dritten, weder Traum, der nur sich fälschen läßt,noch Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zu-sammengefügt aus ihren zerstreuten Bruchstücken. Mancheentscheidenden Partien Kafkas lesen sich, als wären sie ex-pressionistischen Gemälden nachbuchstabiert, die hätten ge-malt werden müssen. Am Ende des Prozesses fallenjosef K.sBlicke »auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch an-grenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren dieFensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch,schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich miteinem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus.Wer war es? Ein Freund, ein guter Mensch?« Solche Trans-positionsarbeit bereitet Kafkas Bilderwelt. Sie beruht aufdem strikten Ausschluß alles Musikalischen im Sinn desMusikähnlichen, dem Verzicht auf die antithetische Abwehrdes Mythos; Kafka ist, Brod zufolge, nach den üblichen Be-griffen unmusikalisch gewesen. Sein stummes Schlacht-geschrei gegen den Mythos ist: ihm nicht widerstehen. Unddiese Askese beschenkt ihn mit der tiefsten Beziehung zurMusik an Stellen wie jenem Gesang des Telephons im

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>Schloß<, der Musikwissenschaft aus den Forschungen einesHundes< und in einer der letzten vollendeten Erzählungen,>Josefine<. Indem seine spröde Prosa alle musikalischen Wir-kungen verschmäht, verfährt sie wie Musik. Sie bricht ihreBedeutungen ab wie Lebenssäulen auf Friedhöfen des neun-zehnten Jahrhunderts, und erst die Bruchlinien sind ihreChiffren.

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Expressionistische Epik ist paradox. Sie erzählt von dem,wovon sich nicht erzählen läßt, dem ganz auf sich einge-schränkten und damit zugleich unfreien, ja eigentlich garnicht recht seienden Subjekt. Dissoziiert in die Zwangs-momente der eigenen Befangenheit, der Identität mit sichselbst beraubt, kennt es keine Lebensdauer; die objektloseInnerlichkeit ist Raum in dem genauen Sinn, daß alles, wassie stiftet, dem Gesetz zeitfremder Wiederholung gehorcht.Dies Gesetz nicht zuletzt verhält das Kafkasche Werk zurGeschichtslosigkeit. Keine durch Zeit als Einheit des inne-ren Sinns konstituierte Form ist ihm möglich; er vollstreckteinen Richtspruch über die große Epik, dessen GewaltLukacs schon an so frühen Autoren wie Flaubert und Jacob-sen beobachtet hat. Das Fragmentarische der drei großenRomane, die übrigens kaum mehr vom Begriff des Romansgedeckt werden, wird bedingt von ihrer inneren Form. Sielassen sich nicht als zur Totalität gerundete Zeiterfahrungzu Ende bringen. Die Dialektik des Expressionismus resul-tiert bei Kafka in der Angleichung an Abenteuererzählungenaus aufgereihten Episoden. Er hat solche Romane geliebt.Durch die Übernahme ihrer Technik sagt er zugleich deretablierten literarischen Kultur ab. Seinen bekannten Mo-dellen wären außer Walser wohl etwa der Anfang von PoesArthur Gordon Pym und manche Kapitel aus KürnbergersAmerikamüdem wie die Beschreibung einer New YorkerWohnung hinzuzufügen. Vor allem aber solidarisiert sichKafka mit apokryphen literarischen Gattungen. Den Zugdes universal Verdächtigen, tief eingegraben der Physio-gnomie des gegenwärtigen Zeitalters, hat er dem Kriminal-

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roman abgelernt. In diesem hat die Dingwelt das Über-gewicht übers abstrakte Subjekt gewonnen, und Kafka be-nutzt es dazu, die Dinge zu allgegenwärtigen Emblemenumzuschauen. Die großen Werke sind gleichsam Detektiv-romane, in denen die Entlarvung des Verbrechers mißlingt.Aufschlußreicher noch das Verhältnis zu Sade, von dem da-hinsteht, ob er Kafka bekannt war. Wie Unschuldige beiSade - auch im amerikanischen Groteskfilm und in den»Funnies« - gerät das Kafkasche Subjekt, insbesondere derAuswanderer Karl Roßmann, aus einer verzweifelten undausweglosen Situation in die nächste: die Stationen epischerAbenteuer werden zu solchen der Leidensgeschichte. Dergeschlossene Immanenzzusammenhang konkretisiert sichals Flucht von Gefängnissen. Das Ungeheuerliche, zu demder Kontrast fehlt, wird wie bei Sade zur ganzen Welt, zurNorm, im Gegensatz zum unreflektierten Abenteuerroman,der es stets auf außergewöhnliche Begebenheiten abgesehenhat und damit die gewöhnlichen bestätigt. In Sade aber undKafka ist Vernunft am Werk, durchs principium stilisationisdes Wahns den objektiven hervortreten zu lassen. Beidegehören, auf verschiedenen Stufen, der Aufklärung an. BeiKafka ist ihr Entzauberungsschlag das »So ist es«. Er berich-tet, wie es eigentlich zugeht, doch ohne Illusion übers Sub-jekt, das im äußersten Bewußtsein seiner selbst - seiner Nich-tigkeit — sich auf den Schrotthaufen wirft, nicht anders alsdie Tötemaschine mit dem ihr Überantworteten verfährt.Er hat die totale Robinsonade geschrieben, die einer Phase,in der jeder Mensch sein eigener Robinson wurde und aufeinem mit zusammengerafftem Zeug beladenen Floß ohneSteuer umhertreibt. Die Verbindung von Robinsonade undAllegorie, die ihren Ursprung in Defoe selber hat, ist derTradition der großen Aufklärung nicht fremd. Sie gehörtdem frühbürgerlichen Kampf gegen die religiöse Autoritätan. Im VIII. Stück der wider den orthodoxen HauptpastorGoeze gerichteten Axiomata des von Kafka als Dichter hoch-geschätzten Lessing steht der Bericht von einem »abgesetz-ten, lutherischen Prediger aus der Pfalz« und seiner Familie,»die aus zusammengebrachten Kindern beiderlei Geschlechtsbestand«. Das Schiff scheitert, und die Familie rettet sichsamt einem Katechismus auf eine kleine unbewohnte Gruppe

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der Bermudas. Generationen später findet ein hessischer Pre-diger die Nachkommen auf der Insel. Sie sprechen einDeutsch, »in welchem er nichts als Redensarten und Wen-dungen aus Luthers Katechismus zu hören glaubte«. Sie sindorthodox, »einige Kleinigkeiten ausgenommen. Der Kate-chismus war, wie natürlich, in den anderthalbhundert Jahrenaufgebraucht, und sie hatten nichts davon mehr übrig als dieBretterchen des Einbands. In diesen Bretterchen, sagten sie,steht das alles, was wir wissen. - Hat es gestanden, meineLieben! sagte der Feldprediger. - Steht noch, steht nochweiter! sagten sie. Wir können zwar selbst nicht lesen, wis-sen auch kaum, was Lesen ist: aber unsere Väter haben esihre Väter daraus herlesen hören. Und diese haben den Manngekannt, der die Bretterchen geschnitten. Der Mann hießLuther und lebte kurz nach Christo.« Womöglich nochnäher dem Kafkaschen Duktus ist die >Parabel<, die mit ihmein gewiß ungewolltes Moment des Verdunkelten teilt. DerAdressat Goeze hat sie ganz mißverstanden. Die parabo-lische Form selbst aber ist von der aufklärerischen Intentionschwerlich zu trennen. Indem naturhaften Stoffen - stammtnicht der äsopische Esel von dem des Oknos ab? - mensch-liche Bedeutungen und Lehren eingelegt werden, erkenntder Geist in ihnen sich wieder. So bricht er den mythischenBann, dem sein Blick standhält. Einige Stellen der Lessing-schen Parabel, die er unter dem Titel >Der Palast im Feuer <neu herausbringen wollte, sind dafür um so exemplarischer,als ihnen das Bewußtsein mythischer Verstrickung ganz fernlag, zu dem sie in analogen Passagen bei Kafka erwachtsind. »Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Rei-ches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz un-ermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.Unermeßlich war der Umfang, weil er in demselben alle umsich versammelt hatte, die er als Gehülfen oder Werkzeugeseiner Regierung brauchte. Sonderbar war die Architektur:denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln.. .. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren nochin eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcherdie Baumeister die letzte Hand angelegt hatten: von außenein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zu-sammenhang. Wer Kenner von Architektur sein wollte,

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ward besonders durch die Außenseiten beleidigt, welche mitwenig hin und her zerstreuten großen und kleinen, rundenund viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aberdesto mehr Türen und Tore von mancherlei Form undGröße hatten . . . Man begriff nicht, wozu so viele und vie-lerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jederSeite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tunwürde. Denn daß durch die mehreren kleinen Eingänge einjeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzestenund unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, woman seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinn. Und soentstand unter den vermeintlichen Kennern mancherleiStreit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten,die von dem Inneren des Palastes viel zu sehen die wenigsteGelegenheit gehabt hatten. Auch war da etwas, wovon manbei dem ersten Augenblick geglaubt hätte, daß es den Streitsehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade ammeisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigstenFortsetzung die reichste Nahrung verscharrte. Man glaubtenämlich verschiedene alte Grundrisse zu haben, die sich vonden ersten Baumeistern des Palasts herschreiben sollten:und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichenbemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als ver-loren war . . . Einsmals, als der Streit über die Grundrissenicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war - einsmalsum Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter:Feuer 1 Feuer in dem Palaste! . . . Da fuhr jeder von seinemLager auf; und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste,sondern in seinem eigenen Hause, lief nach dem Kostbarstenwas er zu haben glaubte - nach seinem Grundrisse. Laßt unsden nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nichteigentlicher verbrennen, als er hier steht! . . . Über diese ge-schäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennenkönnen, der Palast, wenn er gebrannt hätte. - Aber die er-schrockenen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuers-brunst gehalten.« Es bedürfte bloß der geringsten Akzent-verschiebungen, um aus der Geschichte, einem Bindegliedzwischen Pascal und Kierkegaards Diapsalmata ad me ip-sum, eine von Kafka zu machen. Er hätte nur die bizarrenund monströsen Züge des Baus auf Kosten seiner Zweck-

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mäßigkeit stärker hervorzuheben, nur den Satz, der Palastkönnte nicht eigentlicher verbrennen, als er im Grundrißsteht, als Bescheid einer jener Kanzleien vorzubringen brau-chen, deren einziger Rechtsgrundsatz ohnehin quod non estin actis non est in mundo lautet, und es wäre aus der Apolo-gie der Religion gegen ihre verknöcherte Auslegung dieDenunziation der numinosen Macht selber durchs Mediumihrer eigenen Auslegung geworden. Die Verdunkelung, dasAbbrechen der parabolischen Intention sind Konsequenzender Aufklärung. Je mehr Objektives sie auf den Menschenreduziert, desto trostloser, undurchdringlicher liegen dieUmrisse des bloß Seienden vor ihm, das er nie vollends inSubjektivität aufzulösen vermag und aus dem er doch dasVertraute heraussaugte. Kafka reagiert im Geiste der Auf-klärung auf deren Rückschlag in Mythologie. Man hat ihnoft mit der Kabbala verglichen. Mit welchem Recht, könneneinzig die der Texte Kundigen entscheiden. Wenn aber in derTat die jüdische Mystik in ihrer späten Phase in Aufklärungverschwindet, dann ist Einsicht geboten in die Affinität desspäten Aufklärers Kafka zur antinomistischen Mystik.

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Antinomistisch ist Kafkas Theologie - wenn anders voneiner solchen die Rede sein kann - gegenüber demselbenGott, dessen Begriff Lessing gegen die Orthodoxie verfocht,dem der Aufklärung. Das ist aber ein deus absconditus. Kafkawird zum Ankläger der dialektischen Theologie, der manihn irrig zurechnet. Ihr schlechterdings Verschiedenes kon-vergiert mit den mythischen Mächten. Der völlig abstrakte,unbestimmte, von allen anthropomorph-mythologischenQualitäten gereinigte Gott verwandelt sich in den schicksal-haft vieldeutigen und drohenden, der nichts erweckt alsAngst und Schauer. Seine »Reinheit«, dem Geiste nachge-schaffen, den bei Kafka die expressionistische Innerlichkeitals absolute aufrichtet, stellt im Entsetzen vorm radikal Un-bekannten das uralte der naturbefangenen Menschheit wie-der her. Kafkas Werk hält den Schlag der Stunde fest, da dergereinigte Glaube als unreiner, die Entmythologisierung als

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Dämonologie sich enthüllt. Aufklärer jedoch bleibt er imVersuch, den Mythos, der dergestalt hervortritt, zu rekti-fizieren, den Prozeß gegen ihn gleichwie vor einer Revi-sionskammer nochmals anzustrengen. Die Variationen vonMythen, die in seinem Nachlaß sich gefunden haben, bezeu-gen sein Bemühen um solche Korrektur. Der Prozeßromanselber ist der Prozeß über den Prozeß. Als Kritiker, nichtals Erbe hat er Motive aus Kierkegaards Furcht und Zitternverwandt. In Kafkas Eingaben an den, welchen es betreffenmag, wird das Gericht über den Menschen beschrieben, umdas Recht zu überführen. Am mythischen Charakter desletzteren hat er keinen Zweifel gelassen. Eine Stelle im Pro-zeß handelt von der Göttin der Gerechtigkeit, des Kriegesund der Jagd als Einer. Kierkegaards Lehre von der objek-tiven Verzweiflung greift auf die absolute Innerlichkeit selbstüber. Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein,von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durch-forscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierke-gaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung.Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objek-tive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legi-timation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, vondem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt er-scheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle seinmüßte. Im Mittelalter hat man Folter und Todesstrafe anden Juden »verkehrt« vollzogen; schon an der berühmtenStelle des Tacitus wird ihre Religion als verkehrt angepran-gert. Delinquenten wurden mit dem Kopf nach unten auf-gehängt. So wie diesen Opfern in den endlosen Stundenihres Sterbens die Erdoberfläche muß ausgesehen haben,wird sie vom Landvermesser Kafka photographiert. Nichtum Geringeres als um solche ungemilderte Qual bietet ihmdie Optik des Heils sich dar. Seine Einreihung unter diePessimisten, die Existentialisten der Verzweiflung ist ver-fehlt wie die unter die Heilslehrer. Nietzsches Verdikt überdie Worte Optimismus und Pessimismus hat er geehrt. DieLichtquelle, welche die Schrunde der Welt als höllisch auf-glühen läßt, ist die optimale. Aber was der dialektischenTheologie Licht und Schatten war, wird vertauscht. Nichtwendet das Absolute dem bedingten Geschöpf seine ab-

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surde Seite zu - eine Doktrin, die schon bei Kierkegaard zuÄrgerem führt als bloß der Paradoxie und die bei Kafka aufdie Inthronisierung des Wahns hinausliefe. Sondern dieWelt wird als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectusarchetypus wäre. Das mittlere Reich des Bedingten wird in-fernalisch unter den künstlichen Engelsaugen. So weitspannt Kafka den Expressionismus. Das Subjekt objekti-viert sich, indem es das letzte Einverständnis aufkündigt.Dem freilich widerspricht scheinbar, was an Lehre aus Kafkaherauszulesen ist, ebenso wie die Berichte vom byzantini-schen Respekt, den er als Person absonderlichen Mächtenskurril zollte. Aber die oft bemerkte Ironie dieser Züge rech-net selbst zu dem Lehrgehalt. Nicht Demut hat Kafka ge-predigt, sondern die erprobteste Verhaltensweise wider denMythos empfohlen, die List. Ihm ist die einzige, schwächste,geringste Möglichkeit dessen, daß die Welt doch nicht rechtbehalte, die, ihr recht zu geben. Wie der Jüngste im Mär-chen soll man ganz unscheinbar, klein, zum wehrlosen Opfersich machen, nicht auf dem eigenen Recht bestehen nach derSitte der Welt, der des Tausches, welcher ohne Unterlaß dasUnrecht reproduziert. Kafkas Humor wünscht die Versöh-nung des Mythos durch eine Art von Mimikry. Auch darinfolgt er jener Tradition von Aufklärung, die vom homeri-schen Mythos bis Hegel und Marx reicht, bei denen diespontane Tat, der Akt der Freiheit, gleichkommt dem Voll-zug der objektiven Tendenz. Seitdem aber ist die lastendeSchwere des Daseins außer allem Verhältnis zum Subjektangewachsen und mit ihr die Unwahrheit der abstraktenUtopie. Wie vor Jahrtausenden wird von Kafka Rettung ge-sucht bei der Einverleibung der Kraft des Gegners. DerBann von Verdinglichung soll gebrochen werden, indem dasSubjekt sich selbst verdinglicht. Was ihm widerfährt, soll esvollziehen. »Zum letztenmal Psychologie« - Kafkas Figurenwerden angewiesen, ihre Seele in der Garderobe zurückzu-lassen, in einem Augenblick des gesellschaftlichen Kampfes,in dem die einzige Chance des bürgerlichen Individuums beider Negation seiner eigenen Zusammensetzung steht undder der Klassenlage, die es zu dem verdammt hat, was es ist.Gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mitden Deserteuren. Anstelle der Menschenwürde, des obersten

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bürgerlichen Begriffs, tritt bei ihm das heilsame Eingeden-ken der Tierähnlichkeit, von der eine ganze Schicht seinerErzählungen zehrt. Die Versenkung in den Innenraum derIndividuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet,stößt aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen,das die Philosophie sanktionierte, den mythischen Trotz.Wiedergutmachung wird gesucht, indem das Subjekt ihnfahren läßt. Kafka verherrlicht nicht die Welt durch Unter-ordnung, er widerstrebt ihr durch Gewaltlosigkeit. Vor die-ser muß die Macht sich als das bekennen, was sie ist, unddarauf allein baut er. Dem eigenen Spiegelbild soll der My-thos erliegen. Schuldig werden die Helden von Prozeß undSchloß nicht durch ihre Schuld - sie haben keine -, sondernweil sie versuchen, das Recht auf ihre Seite zu bringen. »DieErbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat,besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und vondem er nicht abläßt, daß ihm Unrecht geschehen ist, daß anihm die Erbsünde begangen wurde.« Darum haben ihreklugen Reden, zumal die des Landvermessers, ein Törichtes,Tölpelhaftes, Naives: ihre gesunde Vernunft verstärkt dieVerblendung, gegen welche sie aufbegehrt. Kafka will durchdie Verdinglichung des Subjekts, die ohnehin von der Weltverlangt wird, diese womöglich noch überbieten: Toten-haftes wird zur Botschaft der sabbatischen Ruhe. Das istdie Kehrseite der Kafkaschen Lehre vom mißlingendenTod: daß die beschädigte Schöpfung nicht mehr sterbenkann das einzige Versprechen von Unsterblichkeit, das derAufklärer Kafka nicht mit dem Bilderverbot ahndet. Esknüpft sich an die Rettung der Dinge; derer, die nicht län-ger in den Schuldzusammenhang verflochten, die untausch-bar, unnütz sind. Auf sie hat es die innerste Bedeutungs-schicht des Obsoleten bei ihm abgesehen. Seine Ideenweltgleicht - wie im Naturtheater von Oklahoma - einer vonLadenhütern: kein Theologumenon könnte ihm näher kom-men als der Titel eines amerikanischen Filmlustspiels: Shop-worn Angel. Während in den Interieurs, in denen Menschenwohnen, das Unheil haust, sind Schlupfwinkel der Kindheit,verlassene Stätten wie das Treppenhaus, solche der Hoff-nung. Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Auto-friedhof stattfinden. Die Schuldlosigkeit des Unnützen setzt

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den Kontrapunkt zum Parasitären: »Müßiggang aller LasterAnfang, aller Tugenden Krönung.« Nach dem Zeugnis vonKafkas Werk befördert in der verstrickten Welt jeglichesPositive, jeglicher Beitrag, fast könnte man denken, die Ar-beit selbst, die das Leben reproduziert, bloß die Verstrik-kung. »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt: das Po-sitive ist uns schon gegeben.« Heilmittel gegen die halbeNutzlosigkeit des Lebens, das da nicht lebt, wäre einzig dieganze. So verbrüdert sich Kafka mit dem Tode. Die Schöp-fung gewinnt den Vorrang übers Lebendige. Das Selbst, dieinnerste Position des Mythos, wird zertrümmert, verworfender Trug bloßer Natur. »Der Künstler wartete, bis K. sichberuhigt hatte, und entschloß sich dann, da er keinen andernAusweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erstekleine Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, derKünstler brachte ihn aber offenbar nur mit dem äußerstenWiderstreben zustande; die Schrift war auch nicht mehr soschön, vor allem schien es an Gold zu fehlen, blaß und un-sicher zog sich der Strich hin, nur sehr groß wurde derBuchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, dastampfte der Künstler wütend mit einem Fuß in den Grab-hügel hinein, daß die Erde ringsum in die Höhe flog. End-lich verstand ihn K.: ihn abzubitten war keine Zeit mehr;mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen Wider-stand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein wareine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnetesich mit abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K.,von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, ver-sank. Während er aber unten, den Kopf im Genick nochaufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufge-nommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zie-raten über den Stein. Entzückt von diesem Anblick er-wachte er.« Der Name allein, der offenbar wird durch dennatürlichen Tod, nicht die lebendige Seele steht ein fürsunsterbliche Teil.

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Vom selben Verfasser erschienen:

Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Tübingen1933Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben,Berlin und Frankfurt 1951, 2. Auflage Frankfurt 1962Versuch über Wagner, Berlin und Frankfurt 1952Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen1956, 2., erweiterte Auflage 1958Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserlund die phänomenologischen Antinomien, Stuttgart 1956Aspekte der Hegelschen Philosophie, Frankfurt 1957Noten zur Literaturl, Frankfurt 1958, 3. Auflage 1961Klangfiguren. Musikalische Schriften I, Berlin und Frank-furt 1959Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt i960Noten zur Literatur II, Frankfurt 1961Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vor-lesungen, Frankfurt 1962

Max Horkheimer und T. W. Adorno:Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente,Amsterdam 1947Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt 1962

In englischer Sprache:The Authoritarian Personality by T. W. Adorno, Else Fren-kel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford (Stu-dies in Prejudice, edited by Max Horkheimer and SamuelH. Flowerman, Volume 1), New York 1950

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Theodor W. Adorno

Noten zur Literatur I

Bibliothek Suhrkamp Band 47. Essays. 195 Seiten, DM 4.80

Noten zur Literatur II

Bibliothek Suhrkamp Band 71. Essays. 238 Seiten, DM 5.80

Man muß schon die einzelnen Denkprozesse mit- und nachvollziehen.Die Mühe lohnt sich; denn die Intensität der Gedankenführung unddie argumentative Dichte beglücken den Leser und bringen ihn indie Nähe eines Denkers, der weiß, daß der Geist aufhört, er selberzu sein, wenn er >erbaulich< wird. Hans Kudszus, Tagesspiegel Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

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überall spüren Mitarbeiter der DEUTSCHENZEITUNG wichtigen Geschehnissen undihren Zusammenhängen nach. Ununterbro-chen gehen die Meldungen eigener Redak-tionsbüros und Korrespondenten aus demIn- und Ausland sowie die Informationender großen Weltnachrichtenagenturen einund werden von einem Stab erfahrenerRedakteure gesichtet und ausgewertet. DasWesentliche aus der Fülle dieses Berichts-materials bildet zusammen mit dem Leit-artikel aus der Feder eines namhaften Publi-zisten, mit lebendigen Kommentaren undanderem interessanten Stoff die täglich er-scheinende

Die DZ ist am Kiosk erhältlich bzw. durch die Postzu beziehen. Probenummern unverbindlich durch denVerlag DEUTSCHE ZEITUNG, 5 Köln 1, Postfach 490

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